Ein Herz voll Leben - Violet Thomas - E-Book
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Ein Herz voll Leben E-Book

Violet Thomas

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Beschreibung

Lebe dein Leben, Isabella. Versprich es mir

Die junge Isabella Kramer lebt ein glückliches Leben an der Ostseeküste: Ihr kleiner Cupcake-Laden läuft ausgezeichnet, und ihre beste Freundin Melanie und deren kleine Tochter Leni sind fast wie eine eigene Familie für sie. Doch als Melanie stirbt, bricht diese Welt zusammen. Ohne zu zögern, übernimmt Isabella die Vormundschaft für Leni. Das kleine Mädchen ist ihr zwar ein Trost, aber es ist auch eine Herausforderung, für die trauernde Leni da zu sein. Dann bekommt Isabella eines Tages eine E-Mail von Melanie, die diese noch vor ihrem Tod geschrieben hat. Darin gibt sie Isabella kleine Aufgaben, um besser mit dem Verlust klarzukommen. Keine Frage, dass Isabella Melanies Aufgaben erfüllen wird - nicht ahnend, dass diese ihr Leben vollständig auf den Kopf stellen werden.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 445

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumKapitel 1 – IsabellaKapitel 2 – MaximilianKapitel 3 – IsabellaKapitel 4 – MaximilianKapitel 5 – IsabellaKapitel 6 – MaximilianKapitel 7 – IsabellaKapitel 8 – MaximilianKapitel 9 – IsabellaKapitel 10 – MaximilianKapitel 11 – IsabellaKapitel 12 – MaximilianKapitel 13 – IsabellaKapitel 14 – MaximilianKapitel 15 – IsabellaKapitel 16 – MaximilianKapitel 17 – IsabellaKapitel 18 – MaximilianKapitel 19 – IsabellaKapitel 20 – MaximilianKapitel 21 – IsabellaKapitel 22 – MaximilianKapitel 23 – IsabellaKapitel 24 – MaximilianKapitel 25 – IsabellaKapitel 26 – MaximilianKapitel 27 – IsabellaKapitel 28 – Maximilian

Über das Buch

Lebe dein Leben, Isabella. Versprich es mir Die junge Isabella Kramer lebt ein glückliches Leben an der Ostseeküste: Ihr kleiner Cupcake-Laden läuft ausgezeichnet, und ihre beste Freundin Melanie und deren kleine Tochter Leni sind fast wie eine eigene Familie für sie. Doch als Melanie stirbt, bricht diese Welt zusammen. Ohne zu zögern, übernimmt Isabella die Vormundschaft für Leni. Das kleine Mädchen ist ihr zwar ein Trost, aber es ist auch eine Herausforderung, für die trauernde Leni da zu sein. Dann bekommt Isabella eines Tages eine E-Mail von Melanie, die diese noch vor ihrem Tod geschrieben hat. Darin gibt sie Isabella kleine Aufgaben, um besser mit dem Verlust klarzukommen. Keine Frage, dass Isabella Melanies Aufgaben erfüllen wird – nicht ahnend, dass diese ihr Leben vollständig auf den Kopf stellen werden.

Über die Autorin

Violet Thomas ist ein Pseudonym von Ann-Kathrin Karschnick, geboren 1985, die als »Frau im grünen Kleid« in der Phantastik-Szene bekannt ist.

Sie veröffentlichte bereits zahlreiche phantastische Romane bei verschiedenen Verlagen und wurde für »Phoenix – Tochter der Asche« 2014 mit dem Deutschen Phantastikpreis ausgezeichnet.

Als Violet Thomas schreibt sie die beiden Liebesroman-Serien Hotel California (moments, 2018) und Mercy Grace Hospital (SP, 2017/18).

VIOLETTHOMAS

Ein

Herz

voll

Leben

Roman

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Friederike Haller, Berlin

Titelillustration: © shutterstock: Kiriko357

Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-0375-8

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Kapitel 1 – Isabella

»Bist du endlich so weit, oder muss ich den Kassenabschluss für dich machen?«, fragte Melanie und tippte mit ihren Fingernägeln gespielt nervös auf ihre verschränkten Arme.

»Gib mir noch eine Sekunde«, erwiderte ich und übertrug die letzten Daten in das Buchhaltungssystem. »Du weißt doch, je eher dran, desto weniger Arbeit am Jahresende.«

»Dafür kommen wir zu spät zu unserem Treffen.« Melanie ging in meinem Laden auf und ab; zehn Schritte genügten, um vom Tresen zur hinteren Wand zu gelangen. Ihre kurzen Absätze klackerten auf den holzfarbenen Fliesen. Ich hatte mir den Boden vor zwei Jahren so ausgesucht, nachdem ich die Bäckerei von meiner Großmutter übernommen und renoviert hatte. Beinahe vier Monate ackerte ich Tag und Nacht, um den beschaulichen Laden von einer klassischen Bäckerei zu einem Cupcake-Shop umzugestalten. Die Gäste liebten die Brote und Kuchen meiner Oma, dennoch waren die Umsätze kontinuierlich zurückgegangen, seitdem jeder Supermarkt frische Brötchen verkaufte. Schließlich hatte meine Oma aufgegeben oder vielmehr beschlossen, ihr Ein und Alles an »die nächste Generation weiterzugeben«, wie sie sagte.

Da war es gerade recht gekommen, dass ich nach meiner Ausbildung zur Einzelhandelsfachkraft noch keine konkreten Pläne hegte. Inspiriert von einem Praktikum in einem Londoner Cake-Shop erarbeitete ich ein Konzept, mit dem Omas Bäckerei eine Zukunft bekam. Ich gestaltete die Räume zeitgemäßer und verpasste dem altmodischen Holzinterieur einen modernen Anstrich. Warme Frühlingsfarben, dezente Cupcake-Bilder an den Wänden und farblich passende Tischdekorationen für diejenigen, die vor Ort essen wollten. Um Omas frühere Stammgäste nicht zu vertreiben, hatte ich mich auf eine leichte Holzoptik bei den Fliesen und den Bilderrahmen eingelassen sowie einige Traditionsrezepte beibehalten. Den klassischen Butterkuchen gab es weiterhin, wie es ihn schon seit Eröffnung des Ladens vor mehr als fünfzig Jahren gegeben hatte.

Mit einem letzten Klick beendete ich das Buchhaltungsprogramm und fuhr den Computer in meinem Büro herunter. Wobei das Wort »Büro« eine falsche Vorstellung weckt. Vor meiner Übernahme war es die Abstellkammer für Putzmittel gewesen und diente zusätzlich als Lagerraum. Entsprechend beengt war es darin. Doch es reichte, um einen schmalen Schreibtisch aufzustellen, an dem ich meinen Papierkram erledigen konnte.

»Hast du eigentlich den Kerl getroffen, der dich über Parship angeschrieben hat?«, rief Melanie aus dem Verkaufsraum.

»Nein, der war mir zu schmierig mit seinen Wünschen nach Familie und einer neuen Heimat.« Ich zog die dünne, gelbe Strickjacke von der Lehne meines Schreibtischstuhls und schlüpfte hinein, bevor ich zu meiner Freundin trat.

»Warum das denn? Ich meine, wir haben dich da nicht angemeldet, damit du dir nur die Bilder anschaust. Dafür hätte auch ein Instagram-Account gereicht.« Melanie lehnte am Tresen und starrte mich ungläubig an.

»Mir ist sowieso schleierhaft, wieso ihr das gemacht habt. Ich komme gut ohne Mann aus.« Rasch schloss ich die Tür zu meinem Abstellbüro und griff meine Handtasche, die in einer Kiste unter dem Tresen lag.

»Es geht doch nicht darum, dass du ohne Mann nicht klarkommst, du sollst einfach die Vorzüge genießen, die er dir bieten kann. Dein letztes Date liegt bestimmt ein halbes Jahr zurück, und das habe nicht einmal ich geschafft.« Melanie hob bedeutungsvoll die Arme vor die Brust. »Und ich habe eine Vierjährige zu Hause, die meine Babysitterin in den Wahnsinn treibt. Ich hoffe, heute macht sie nicht wieder so einen Terz.«

Ich lächelte und kam hinter dem Tresen hervor. »Du hättest sie auch zu mir bringen können. Immerhin bin ich ihre Patentante. Wir hätten den ganzen Abend Eis gegessen, Anna und Elsa geschaut und die Nacht zum Tag gemacht.«

»Und genau deswegen bekommst du sie nicht unter der Woche.« Melanie schüttelte den Kopf und schnaubte. »Bei dem einen Mal haben mir die Beschwerden der Erzieherin am nächsten Tag gereicht.«

»Dafür hatte Leni einen wunderschönen Abend, und ich habe festgestellt, dass ich noch auf der Couch schlafen kann, wenn ich muss.«

Wir verließen den Laden, und ich schloss ab. Mein Patenkind war ein echter Wirbelwind, nicht unbedingt frech, aber definitiv nicht auf den Mund gefallen. Sie gehörte zu den Kindern, die überall hinaufklettern, drunter durchkriechen und darüber balancieren müssen; die jeden Hebel oder Knopf ausprobieren und deren Energie unbegrenzt erscheint oder zumindest länger hält als die ihrer Eltern, Erzieher, Freunde. Zum Glück war es als Patentante nicht meine Aufgabe, ihr diese Flausen auszutreiben, sondern sie zu fördern.

»Schon gut.« Melanie hakte sich bei mir unter, und wir schlenderten die Promenade entlang.

Mit einem tiefen Atemzug sog ich die frische Meeresbrise ein. Ich liebte meinen Arbeitsplatz. Gleich vor meinem Laden erhoben sich die Dünen, und dahinter lag die Ostsee. Ein einfaches Holzhäuschen blockierte die direkte Sicht vom Laden aufs Meer, doch wenn im Sommer die Fenster offen standen, reichten die anderen Sinne aus, um zu wissen, wo man sich befand. Jeder roch die salzige Luft, jeder hörte die tobenden und mit Wasser spritzenden Kinder, und jeder spürte den feinen Sand im Gesicht, wenn die nächste steife Brise durch unsere Bucht wehte.

Meine Großmutter hatte ihre Bäckerei vor etwas mehr als fünfzig Jahren eröffnet, als die Immobilienpreise noch nicht utopisch gewesen waren, und sie hatte mir das Geschäft zu einem moderaten Preis überlassen. Die einzige Bedingung, die meine Großmutter gestellt hatte, war, dass sie weiterhin in der Wohnung über dem Laden wohnen wollte. Seit mehr als einem halben Jahrhundert war es ihr Zuhause – wie hätte sie das aufgeben können?

»Sag mal, hast du eigentlich mal darüber nachgedacht, selbst Kinder zu bekommen?« Melanies Frage riss mich aus meinen Gedanken.

»Wie bitte?«

Sie schaute zu mir herüber. In ihrem Blick lag etwas, das ich nicht deuten konnte. Und das wollte etwas heißen, denn normalerweise las ich die Gedanken meiner längsten und besten Freundin an ihrer Nasenspitze ab. »Kinder? Kannst du dir das vorstellen?«

»Klar, aber nicht im Moment. Erst mal muss der Shop laufen. Dann kann ich es mir zeitlich leisten, ein Kind zu kriegen.« Ich tippte ihr gegen den Oberarm. »Nicht jeder hat so flexible Arbeitszeiten wie du, Frau Onlinebusiness.«

Melanie besaß eine Firma, die vegane Seife mit maritimen Inhaltsstoffen vertrieb. Sie hatte eine Angestellte, die ihr dabei half, die Seife zu gießen, sodass ihr mehr Zeit für ihre Tochter Leni blieb und für das Sammeln von Verzierungen ihrer einzigartigen Produkte.

»Manchmal muss man halt Glück haben«, erklärte Melanie mit einem Schulterzucken. »Aber lenk nicht ab. Zeit ist nur eine Ausrede, warum man keine Kinder will.«

»Woher kommt denn das plötzliche Interesse an meiner Familienplanung?« fragte ich amüsiert. »Hatte Leni wieder einen ihrer Trotzanfälle, und du willst sie verschenken?« Ich löste mich von ihr, um meine Strickjacke enger um den Körper zu legen. Auch wenn der Sommer bevorstand, war es in den Abendstunden manchmal noch unangenehm kühl.

»Nein, das ist es nicht. Ach, alles gut.« Melanie fuhr sich durch die rotblonden Haare und wandte den Blick von mir ab. Stattdessen betrachtete sie interessiert die Düne zu ihrer Rechten, ehe sie sich erneut zu mir drehte und mir in die Seite pikte. »Ich wollte nur mal wissen, ob du deine biologische Uhr schon ticken hörst.«

Mir lag eine Erwiderung auf der Zunge, eine dunkle Spur in Melanies Blick ließ mich jedoch innehalten. »Alles in Ordnung?«

»Bei mir?« Melanie streckte die Arme aus und drehte sich wie ein Schulkind im Kreis. »Ich habe ein gut laufendes Geschäft, eine tolle Tochter. Na ja, die meiste Zeit über. Ich lebe an einem Ort, an dem andere Urlaub machen, und ich habe wunderbare Freundinnen, mit denen ich jederzeit einen gemütlichen Abend verbringen kann. Was denkst du, wie es mir geht?«

Ihre Worte beruhigten mich nur zum Teil, denn auch wenn sie lachte, so schien doch ein winziger Schatten über dem Funkeln in ihren Augen zu liegen. Eine Dunkelheit, die im Verborgenen lauerte und nur darauf wartete, sich auszubreiten.

»Gut, das freut mich«, erwiderte ich und schaute kurz auf mein Handy. »Hat Ella gesagt, was es heute zu essen gibt?«

Melanie zuckte mit den Schultern. »Sie macht wie immer ein großes Geheimnis darum. Aber ich lehne mich wohl nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich behaupte, dass es uns schmecken wird.«

Wir passierten einige niedliche Souvenirshops und einen Eisladen, bogen nach rechts ab, um die Strandpromenade zu verlassen. Ellas Restaurant lag nur etwa zehn Minuten zu Fuß von meinem Cupcake-Shop entfernt. Von außen bot es das Klischee des maritimen Fischrestaurants: Netze hingen als Dekoration über dem Eingang. Ein rostiger, roter Anker stand in dem schmalen Vorgarten, den man über einen Kiesweg durchquerte. Auf den Fensterbänken ragten rot-weiße Leuchttürme auf, in deren Spitzen Lichter wie Kerzenflammen flackerten. Ein breites Schild hing über dem blau gestrichenen Eingang. Mit Mann und (Sch)Maus.

Ella hatte das Restaurant sehr zum Missfallen ihres inzwischen geschiedenen Ex-Manns eröffnet. Es war ein lange gehegter Traum, den sie sich vor vier Jahren endlich erfüllt hatte. Mittlerweile war sie glücklich Single und flirtete hemmungslos mit jedem Mann, der nicht bei drei auf den Bäumen war. Mit ihren Mitte vierzig war sie die Älteste in unserer Mädelsrunde, und ich liebte ihre offene Art und den frischen Wind, den ihre manchmal altmodisch anmutenden Ideen aufwirbelten. Wenn sie vorschlug, einen Plattenspieler in der Lobby von Alyxandras Pension aufzustellen. Oder Tamina erzählte, dass sie für die Kunden in ihrem Juweliergeschäft immer ein Glas Wasser bereitstehen haben sollte. Selbst wenn derjenige nichts kaufte.

Als wir das Restaurant durch die helle Eingangstür betraten, umfingen uns augenblicklich die typischen Düfte der deutschen Seemannsküche. Ella beschäftigte zwei Köche, die für sie arbeiteten, aber ab und an stellte sie sich auch selbst in die Küche. Vor allem, wenn sie sich an einem neuen Rezept versuchte. Meistens probierte sie das Ergebnis an unseren Frauenabenden an uns aus.

»Ihr seid einfach die besten Versuchskaninchen«, wie sie uns stets versicherte.

Ich schaute mich um. Obwohl das Restaurant äußerlich extrem klischeehaft dekoriert war, wirkte es im Innern umso frischer. Ella ließ sich von uns »Junggemüse« regelmäßig inspirieren und beraten, wenn es um die Gestaltung der Räume ging. Als ich sie irgendwann mal fragte, warum sie ihren Laden nicht auch von außen zeitgemäßer gestaltete, winkte sie ab und argumentierte, dass der normale Ostseebesucher älteren Semesters sei und der traditionelle erste Eindruck da gut ankomme. Jeder wollte erst einmal das haben, was er kannte. Um dann mit etwas Neuem wie den modern gestalteten Gipsfiguren von örtlichen Künstlern überrascht zu werden. Aus dem gleichen Grund hatte ich einige alte Bäckerei-Elemente in meinem Cupcake-Shop beibehalten. Etwas Vertrautes schadete nie.

»Melanie, Isabella!« In einer Nische am anderen Ende des großen Raums saßen Tamina und Alyxandra und winkten uns zu sich heran. Es war unser üblicher Platz, wenn wir fünf uns trafen. In der Nähe der Küche und doch weit genug weg, um den Trubel dort nicht mitzubekommen. Wir gingen zu ihnen, und ich setzte mich neben Tamina in das Rund.

»Wie geht’s euch?«, fragte Tamina und winkte einen Kellner heran. Jede Bedienung im Restaurant wusste, wer wir waren, und bewirtete uns zuvorkommend.

»Gut, danke. Und euch?« Melanie griff sich die Karte, obwohl sie bei jedem Treffen das Gleiche bestellte: einen Kaffee und ein Radler.

Zweimal im Monat saßen wir fünf zusammen und tauschten uns über die aktuellsten Entwicklungen in unseren Läden aus. Denn zwei Dinge hatten wir alle gemeinsam: Wir waren Geschäftsfrauen und arbeiteten hier im Ort. Tamina war Geschäftsführerin bei einem angesehenen Juwelier und trug stets die neuste Mode. Das letzte Mal, dass ich sie in einer Jeans gesehen hatte, musste anderthalb Jahre zurückliegen.

Alyxandra war gebürtige Kanadierin, lebte aber seit zwanzig Jahren in Deutschland. Sie besaß ein kleines Hotel am Rand der Stadt, das besonders in der Saison heiß begehrt war, da es nicht weit vom Leuchtturm entfernt lag, wo viele Hochzeiten stattfanden.

»Tamina hat bereits die Schale mit Nüssen verputzt, die Ella uns hingestellt hat, also ist ihre Laune jetzt deutlich besser als noch vor einer halben Stunde.« Alyxandra hob vielsagend die Augenbrauen, ehe sie ihr Handy zückte, um ihre Mails zu checken. Genau wie Ella war sie süchtig nach ihrem Smartphone – alle E-Mails und jeder Social-Media-Kommentar mussten sofort beantwortet werden. Wir hatten uns daran gewöhnt, dass die Handys zum Alltag der beiden dazugehörten. Seltsamer hätte ich es gefunden, wenn ich sie ohne ihre Telefone in der Hand getroffen hätte.

»Wartet ihr schon lange?« Ich bestellte einen Roibostee und dazu einen Cocktail.

»Wir waren viel zu früh dran. Alyxandra hat mich schon vor einer Stunde abgeholt, weil ihr sexy Koch wieder da war.« Tamina griff nach einer Serviette und spielte damit. »Du hättest nicht mit ihm schlafen sollen. Sex in der Firma führt nur zu Komplikationen, hab ich dir gleich gesagt.«

»Ja, hast du mir gesagt. Ja, habe ich ignoriert. But Boy, what a Night«, schwärmte Alyxandra mit einem wohligen Seufzer. »Schaut mich nicht so vorwurfsvoll an. Ihr hättet bei dem Typen genauso gehandelt.«

Ich lachte und lauschte dem Gespräch meiner Freundinnen über ihre letzten Eroberungen. Daran beteiligen konnte ich mich nicht, da ich Männer, wie Melanie vorhin richtig angedeutet hatte, privat momentan ignorierte. Ich mochte Männer, keine Frage, aber aktuell hielten sie mich einfach davon ab, mein Geschäft am Laufen zu halten. Und das war mir wichtiger als eine belanglose Liebschaft mit einem Feriengast. Und unter den hier ansässigen Männern fiel mir niemand ein, der für eine längerfristige Beziehung in Frage kam. Ab und an flirtete ich mal mit einem Mann, aber für mehr blieb mir keine Zeit.

»Was meinst du, Isabella?« Melanie riss mich aus meinen Gedanken und deutete auf den Tee und den Cocktail vor mir. Ich war so in meine Gedanken vertieft gewesen, dass ich nicht mitbekommen hatte, wie der Kellner die Getränke brachte. Geschweige denn, dass sich Ella zu uns gesetzt hatte.

»Wie bitte?«

»Träumerin«, sagte Ella und knuffte mich in die Seite. »Ob du mit uns anstoßen willst?«

Ich griff nach meinem Cocktail und hob das Glas. »Worauf trinken wir?«

Es war ein Ritual, das wir bei jedem Treffen pflegten, und jeder kannte die Antwort auf meine Frage.

»Auf weitere zwei Wochen, die wir erfolgreich gemeistert haben«, erwiderten alle im Chor.

Jeder nippte an seinem Glas, nur Melanie trank einen großen Schluck, hielt kurz inne und nahm noch einen. Irritiert beobachtete ich meine beste Freundin. Auch wenn ich Tamina, Ella und Alyxandra ebenfalls als gute Freundinnen bezeichnete, so fühlte ich mich ihnen nicht mit der gleichen Intensität verbunden wie mit Melanie, die ich seit der Schulzeit kannte. Ich hatte sie während meiner Ferien kennengelernt, die ich regelmäßig bei meiner Großmutter verbrachte. Eines schönen Ferientages, ich war zwölf und Melanie dreizehn, hatte ich am Strand gesessen und in einem Buch über ein Mädchen gelesen, das dreißig Minuten in die Zukunft schauen kann, und Melanie hatte sich neben mich in den Sand fallen lassen und gefragt: »Und? Ist es gut?«

»Ja, bislang schon.«

Sie hatte mir das Buch aus den Händen genommen und den Klappentext gelesen. »Krass, wenn man weiß, was gleich passieren wird, oder?«

»Ja, schon irgendwie.« Ich war zu verdutzt, um das fremde Mädchen zu fragen, wer sie war, und antwortete einfach. Im Folgenden verloren wir uns in einem mehrstündigen Gespräch über Bücher, Filme und Geschichten allgemein, und teilten uns später, weil unser beider Taschengeld für mehr nicht reichte, eine Kugel Zimteis, bevor wir uns für den nächsten Tag verabredeten. Seitdem waren wir unzertrennlich und sehnten die Ferien herbei. Denn ich wohnte zwar in der Nähe, aber nicht nah genug, um mich nachmittags mit Melanie zu treffen.

»Isabella, sag mal, hast du schon jemanden eingestellt?«, wollte Ella wissen.

Ich stellte meinen Cocktail ab. »Bisher nicht. Die Bewerber sind alle nicht geeignet. Vor einer Woche habe ich eine Bewerbung von einem Studenten bekommen, die komplett mit Kaffee bekleckert war.« Ich seufzte, als ich daran dachte. »Was denkt der sich bloß dabei?«

Amüsiert schüttelte Ella den Kopf. »Wenn du möchtest, kann ich bei meinen Kellnerinnen mal nachhaken. Die kennen sicher jemanden, der sich ein paar Euro dazuverdienen will.«

Dankbar nickte ich ihr zu. »Das wäre super.«

»Wird Zeit, dass du Unterstützung bekommst. Sonst kommen wir nie mehr pünktlich zu den Treffen.« Melanie zwinkerte mir zu, ehe sie einen weiteren Schluck trank.

»Ich schaffe das schon. Meine Großmutter hat die Bäckerei schließlich auch jahrelang allein geleitet.«

Mein Alleinunternehmerdasein war ein ewiger Diskussionspunkt bei unseren Mädelsabenden. Seit einiger Zeit drängten meine Freundinnen mich immer mehr dazu, eine Hilfskraft einzustellen. Ab und an beschäftigte ich zwar eine Aushilfe, vor allem während der Sommerferien, irgendwelche verlässlichen Schüler, deren Eltern schon bei meiner Oma im Laden geholfen hatten. Doch ich wusste nicht, ob ich dazu bereit war, die Verantwortung zu übernehmen, die es mit sich brachte, wenn man jemanden fest einstellte. Derjenige wäre auf meine Liquidität und Zuverlässigkeit angewiesen, und wenn ich das Gehalt nicht rechtzeitig bezahlte, würde derjenige in Bedrängnis kommen. Auf diese Weise für ein anderes Leben als für mein eigenes verantwortlich zu sein, schreckte mich ab. Manchmal fragte ich mich, ob ich zu viel nachdachte. Immerhin beschäftigte jede meiner Freundinnen Angestellte, alle außer Melanie sogar mehrere, und keine hatte ein Problem damit.

»Deine Großmutter musste sich damals auch noch nicht mit dem Finanzamt, dem Gesundheitsamt und wer weiß wie vielen Behörden herumärgern«, warf Alyxandra ein und nippte an ihrem zweiten Kaffee. »Heutzutage muss man viel mehr Papierkram ausfüllen als vor fünfzig Jahren. Allein damit könntest du jemanden Vollzeit beschäftigen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht. Ich möchte es gern allein schaffen. Das macht es leichter.«

Ein leises Stöhnen neben mir lenkte mich ab. Melanie hatte ihren Kaffeebecher abgestellt und rieb sich mit der freien Hand über die Brust. Ihr Gesicht war verzogen, als hätte sie Schmerzen.

»Alles in Ordnung?«, fragte ich und legte ihr eine Hand an den Oberarm.

»Ja, schon gut. Das ist nur der Stress«, winkte sie ab und lächelte gleich darauf wieder. Doch ich konnte sehen, dass sie die Schmerzen, die sie anscheinend quälten, lediglich wegsperrte. »Seitdem alle auf den Klimaschutz achten, gehen die Bestellungen nach oben. Ich beschwere mich nicht, wenn das Geschäft läuft, aber ab und an eine kleine Pause wäre gut.«

»Was ist denn mit Biggi? Hilft sie dir nicht mehr?« Ella legte ihr Handy beiseite und beobachtete Melanie neugierig.

»Doch, Biggi ist klasse. Aber auch sie schafft nur ein bestimmtes Kontingent am Tag. Und wenn ich ehrlich bin, ist es nicht die Produktion, die schleift, sondern meine Verwaltung und Logistik.« Melanie zuckte mit den Schultern, schob die Kaffeetasse beiseite und widmete sich ihrem Radler. »Aber das geht wieder vorbei.«

»Wie wäre es denn, wenn du jemanden einstellst, der die Verwaltung für dich erledigt?«, drehte ich den Spieß um. »Einen Mini-Jobber, der dich unterstützt.«

»Vielleicht mache ich das wirklich.«

Erstaunt betrachtete ich Melanie. So schnell ging sie sonst nie auf meine Vorschläge ein. Was war nur los mit ihr? Ich nahm mir vor, sie auf dem Heimweg darauf anzusprechen, falls es etwas war, das die anderen nicht erfahren sollten.

Wir redeten noch eine Weile über Angestellte und wie schwer es war, kompetentes Personal zu finden. Es war ein gemütlicher Abend, wie jedes Mal, wenn wir uns trafen. Bis weit nach Mitternacht, als das Restaurant längst geschlossen hatte, saßen wir beisammen und plauderten.

Wie immer gingen Melanie und ich im Anschluss gemeinsam nach Hause. Die kühle Nachtluft des aufkommenden Sommers erfrischte meine Gedanken, die nach dem vierten Cocktail etwas benebelt waren.

»Was war das vorhin eigentlich mit deinen Brustschmerzen?«, fragte ich meine Freundin, kurz bevor wir ihre Wohnung erreichten.

»Welche Schmerzen?«, wiegelte sie ab, mied jedoch meinen Blick.

Ich hielt sie am Arm fest, sodass sie stehen bleiben und sich zu mir umdrehen musste. »Du weißt genau, wovon ich spreche. Ist alles in Ordnung bei dir?«

»Natürlich. Mir könnte es nicht besser gehen.« Melanie schnaubte. »Du machst dir zu viele Sorgen, Isa. Mir geht es gut. Wirklich.«

Auch wenn sie die Worte voller Überzeugung sagte, nagte ein winziger Zweifel an mir, und das konstante Gefühl, dass etwas nicht stimmte, blieb.

»Und jetzt ab ins Bett mit dir, Küken.« Melanie scheuchte mich mit den Händen beiseite. »Die letzten Meter schaffe ich allein.«

Ich zögerte kurz, ehe ich sie umarmte und mich von ihr verabschiedete. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Isabella.« Melanie klang unbeschwert und winkte mir zum Abschied.

Kapitel 2 – Maximilian

»Endlich Feierabend«, murmelte ich und steckte mir die Kopfhörer ins Ohr, während ich den Hof überquerte und zu meinem Stellplatz vorn an der Straße ging. Die Charts spielten leise genug, damit ich die Umgebung wahrnahm, aber laut genug, um die Gedanken auszublenden.

Ich ließ die Scheune und damit meinen offiziellen Arbeitsplatz und gleichzeitig inoffiziellen Wohnsitz hinter mir. Das alte Hofgebäude gehörte meinem Onkel, und er ließ mich darin wohnen. Er war Immobilienvermittler und Vermieter, und ich arbeitete für ihn als Mädchen für alles. Unser Arrangement bestand darin, dass mich mein Onkel anrief, wenn es in seinen Häusern oder Wohnungen etwas zu reparieren gab, Klempneraufgaben oder Hausputz anstanden, er mir einen entsprechenden Auftrag erteilte und danach bezahlte. Daneben hatte ich ein paar feste Aufgaben wie die Gartenpflege der noch nicht vermittelten Grundstücke, was mich täglich ein paar Stunden beschäftigte, ohne dass es ein regelmäßiger Job gewesen wäre, bei dem man morgens um neun Uhr anfing und um siebzehn Uhr den Stift fallen ließ.

Alles in allem kam am Ende des Monats keine übermäßig große Summe zusammen, aber es reichte, um mich über Wasser zu halten.

Ich erreichte die Straße und sog die salzige Ostseeluft ein, die den ganzen Ort erfrischte und die ich morgens nach dem Aufstehen besonders gern auf der Zunge schmeckte. Sie erinnerte mich daran, was für ein entspanntes Leben ich führte, und genau so sollte es bleiben. Natürlich war es nicht perfekt. Dafür fehlten mir ein paar Millionen auf dem Konto und mein Sohn in meiner Nähe, doch das waren beides Dinge, die sich nicht ändern ließen.

Ein Grinsen stahl sich auf mein Gesicht, als ich an meiner Maschine ankam, meinem ganzen Stolz. Eine vollständig restaurierte 1977 BMW R100 RS, die straßentauglich und zugelassen war. Es hatte mich vier Jahre meines Lebens und all mein Erspartes gekostet, aber nun lief sie und brachte mich überallhin.

»Hi Max«, begrüßte mich Tilda, die Nachbarin meines Onkels, mit einem koketten Lächeln. Sie war mit einem deutlich älteren Mann verheiratet, der die meiste Zeit im Ausland arbeitete, und flirtete gern. Ich hatte nichts dagegen, auch wenn es definitiv dabei bleiben würde. Eine verheiratete Frau brachte zu viele Verstrickungen und Probleme mit sich, die ich mir nicht aufhalsen wollte.

»Hi Tilda«, erwiderte ich und setzte meinen Helm auf. Ich konnte ihre Blicke auf mir spüren und schmunzelte. In ein paar Tagen würde ihr Mann von seiner Geschäftsreise zurückkommen und ihr teure Kimonos und die neusten technischen Spielereien aus Japan schenken, wo er viel Zeit verbrachte. Ich hingegen war froh, wenn ich morgen mein Essen bezahlen konnte.

»Nimmst du mich irgendwann mal auf deiner Maschine mit?« Tildas Stimme drang gedämpft durch den Helm zu mir durch.

»Klar. Wenn ich Zeit habe, machen wir das«, antwortete ich wie jedes Mal. Ihr genügte dieses lose Versprechen, das mir Aufschub gab bis irgendwann.

»Ich freue mich darauf.«

Bevor Tilda mich in ein Gespräch verwickeln konnte, startete ich mit einem einzigen harten Kick den Motor und fuhr los. Die Straßen und Gassen des Ostseebads waren verwinkelt und klein, ideal für mein Motorrad. Ich schlängelte mich hindurch, legte mich in die Kurven, genoss die Einheit, die die Maschine und ich bildeten. Die BMW zu fahren bedeutete Freiheit, und jene Menschen, die behaupten, nur Fliegen sei schöner, sind noch nie Motorrad gefahren. Mochten sich ab und an die Anwohner über den Krach beschweren – meine BMW würde ich für nichts und niemanden aufgeben.

An diesem Tag wollte ich zu einer Werkstatt einige Orte weiter fahren in der Hoffnung, dort ein fehlendes Teil für meine Maschine zu finden. Der Weg führte mich von der Ostsee weg landeinwärts. Malerische Küstenstraßen wie im Film sucht man in der Realität an der Ostsee fast überall vergeblich. Stattdessen bretterte ich eine Allee entlang, die Melodie in meinen Kopfhörern mitsummend.

Um den Abend ein wenig zu genießen, wählte ich nicht den direkten Weg, sondern nahm eine kleinere Straße durch die Ortschaften hindurch, brauste an reetgedeckten Häusern vorbei. Auf meiner Maschine vergaß ich die Sorgen und Probleme, die mich im Alltag immer wieder einholten. Wenn die Landschaft an mir vorbeiflog, war ich frei und konnte für den Moment vergessen.

Die Werkstatt, die ich eine halbe Stunde später erreichte, befand sich in einem Hinterhof, der von der Straße aus schlecht einsehbar war, sodass sie nur entdeckte, wer wusste, wo sie sich befand. Das hatte den einfachen Grund, dass sie kein angemeldetes Gewerbe war.

Holger, der Betreiber, besaß eine große Halle auf seinem Hof, die er nutzte, um Auto- und Motorradteile zu lagern. Wer etwas Bestimmtes suchte, der konnte sich dort umschauen und sein Glück versuchen. Manchmal half Holger bei der Suche, doch meistens war man auf sich allein gestellt. Zumindest lagerte er inzwischen die Ersatzteile nach Auto und Motorrad getrennt; als ich die Werkstatt vor zwei Jahren durch den Tipp eines Kumpels entdeckt hatte, stand ich vor einem heillosen Durcheinander und niemand, nicht einmal Holger, hätte sagen können, ob sich unter dem Stapel von Auspuffrohren nicht doch eine Zündspule für meine BMW verbarg.

»Maximilian«, begrüßte mich der dickbauchige, bärtige Mann in dem blauen Overall, den er immer trug. Wäre mir Holger auf der Straße begegnet – in Jeans und Hemd gekleidet, hätte ich ihn sicher nicht erkannt.

Wir schlugen die Hände ineinander. »Holger, alles klar bei dir?«

»Der Ischias nervt seit einigen Tagen, aber das ist nix, was ein guter Korn nicht richten kann.« Holger deutete auf die Scheune. »Suchst du was Bestimmtes?«

»Ja, ich brauche einen neuen Vergaser für die Zündapp.«

»Du schraubst immer noch daran? Hast du sie nicht bald mal fertig? Selbst meine Mutter wäre schneller.« Holger steckte die Fäuste in die tiefen Taschen seines Blaumanns. »Und die sitzt im Rollstuhl.«

»Die arbeitet aber vermutlich nicht nebenbei.« Ich zwinkerte ihm zu und machte einen Schritt auf die Scheune zu. »Hast du eine Idee, wo ich so ein Teil finde?«

Holger zog aus seiner rechten Tasche ein Feuerzeug und aus der linken sein Zigarettenetui hervor. Beides war mit schwarzen Flecken übersät und sicherlich das letzte Mal direkt nach dem Kauf sauber gewesen. Er steckte sich eine Zigarette an und betrachtete mich unter seinen wulstigen Augenbrauen. Holger war ein Bär von einem Mann und aus zweierlei Gründen niemand, mit dem ich mich anlegen wollte. Erstens hatte er zwölf Jahre in der Bundeswehr gedient und war so manches Mal auf Auslandseinsatz gewesen. Angeblich in Afrika, aber das hatte ich nur aus seinen Andeutungen geschlossen. Details verriet Holger grundsätzlich nicht. Und zweitens war er der einzige Händler im Umkreis, der die Teile besaß, die ich brauchte. Zumindest zu Preisen, die ich mir leisten konnte. In den offiziellen Werkstätten verlangten sie eine unverschämte Summe für die alten Ersatzteile und wollten sie meistens auch noch selbst einbauen. Natürlich bestand die Möglichkeit, sich die Teile übers Internet zusammenzusuchen, doch das hatte den Nachteil, dass ich sie vor dem Kauf nicht auf eventuelle Makel untersuchen konnte. Holger blieb die einzige Option.

»Bist du denn wieder flüssig?« Die Frage kam nicht überraschend, trotzdem schluckte ich.

»Weißt du, Holger, was bedeutet schon …«

»Also nicht«, brummte er und drehte mir den Rücken zu. Er zog an der Zigarette und machte sich auf den Weg zu seinem Büro.

»Hey, du weißt doch, dass ich meine Schulden bei dir immer bezahle.« Ich eilte ihm hinterher.

»Ich kann dir nicht ständig alles vorstrecken. Du bist bereits der Kunde mit den meisten Schulden.«

»Nur weil ich so ein guter Kunde bin.« Ich setzte ein strahlendes Lächeln auf. »Komm schon, Holger. Ich such mir einen weiteren Job und stottere die Kohle bei dir ab. Auf mich kannst du dich verlassen.«

Holger blieb stehen und verzog das Gesicht, die Zigarette hing locker in seinem Mundwinkel. »Ich kann mich zumindest darauf verlassen, dass du wiederkommst.« Er stöhnte, machte kehrt und schlenderte zur Lagerhalle, in der er seine Ware aufbewahrte. »Ein letztes Mal. Dann musst du erst mal was abbezahlen.«

»Versprochen. Ich kümmere mich gleich heute Abend darum.«

»Wenn nicht, schicke ich dir Erpel auf den Hals.«

Ich verkniff mir ein Schmunzeln. Erpel war ein Deutscher Schäferhund, der zwar lauter bellte als jeder andere, den ich kannte, aber noch nie jemandem etwas getan hatte. Im Gegenteil. Erpel war das entspannteste Tier, das man sich vorstellen konnte, was vielleicht auch daran lag, dass ich mich mit ihm von Anfang an gut gestellt und stets ein Leckerli für ihn in der Tasche hatte.

»Er kann mich zerfleischen oder was auch immer er gern tut.«

»Ach«, brummte Holger und winkte ab. »Wahrscheinlich springt er dich nur an und schleckt dir das Gesicht, bis dein dämlicher Dreitagebart freiwillig abfällt.«

Ich hob eine Hand an mein Kinn. »Was hast du gegen meinen Bart?«

»Das ist kein Bart, das ist pure Faulheit.« Holger deutete auf seine eigene Gesichtsbehaarung, einen Vollbart, der ihm beinahe bis zur Brust reichte. »Das, Junge, ist ein Bart, der seinen Namen verdient. ZZ Top wären stolz auf mich.«

Ich runzelte die Stirn und fragte mich, wen er meinte, als er jedoch nichts weiter erklärte, nickte ich nur und lächelte. Immer mit Holger gut stellen. Ein Lebensmotto, das mir so manchen Rabatt eingebracht hatte.

Holger schloss das Lager auf und machte mir das Licht an. »Irgendwo hinten rechts in der Ecke findest du mit Glück dein Teil.«

»Danke schön. Ich komm nachher zu dir ins Büro.«

Holger grunzte zum Abschied, ehe er davonschlenderte, die Zigarette noch im Mund und die Hände in der Tasche. Diesmal lief er zu den Garagen, in denen er die Autos parkte, die er gerade reparierte.

»Na dann mal los«, motivierte ich mich selbst und klatschte in die Hände.

Eine Stunde später und auf einem anderen Stapel, als Holger vermutet hatte, fand ich endlich das passende Ersatzteil. Es war zerkratzt und ein wenig verbeult, aber nichts, was sich mit einem Hammer und etwas Polieren nicht ausbessern ließ. Zufrieden klemmte ich mir den Vergaser unter den Arm und ging zu Holger ins Büro hinüber.

»Was kriegst du dafür?«

»Lass mal schauen. Ist schon recht alt, aber auch selten«, murmelte Holger und griff nach der nächsten Zigarette.

»Komm schon. Wir wissen beide, was der Vergaser wert ist.«

»Na, meinetwegen. Zweihundert Euro, und er gehört dir.«

Ich schnaufte und rieb mir den Hinterkopf. Meine schulterlangen Haare verfingen sich in meinen Fingern. Ich hätte sie längst mal wieder schneiden lassen sollen. »Eigentlich hatte ich gehofft, dass es nicht mehr als hundertachtzig Euro kostet. Ich muss ihn ja noch polieren und alles.«

Holger zog eine seiner buschigen Augenbrauen hoch, ehe er den Kopf schüttelte. »Ehrlich, du bist schlimmer als meine Ex-Frau. Die ist auch chronisch pleite, kauft sich aber trotzdem alles Mögliche, weil sie es ›unbedingt braucht‹.«

Bei dem Wort Ex zog eine düstere Sturmwolke über meine Gedanken. Ich war nie verheiratet gewesen, doch es gab eine bestimmte Ex-Freundin, auf die ich nicht gut zu sprechen war.

Das wusste Holger, er seufzte und deutete auf einen Zettel. »Soll ich es anschreiben?«

Ich nickte und hob den Vergaser zum Gruß. »Bis zum nächsten Mal.«

»Hoffentlich bis bald. Ich will mein Geld sehen, Maximilian. Sonst komme ich bei dir vorbei. Und ich weiß nicht, was dein Onkel dazu sagt.«

Diese Drohung überschattete die Wolke über meinen Gedanken. Mein Onkel wusste zwar, dass ich an meinem Motorrad schraubte, von den Schulden jedoch hatte er keine Ahnung, und das sollte auch so bleiben. Obwohl er sich um mich kümmerte, mich sozusagen unter seine Fittiche genommen hatte und mir ein Dach über dem Kopf gewährte, war er streng, besonders was finanzielle Dinge betraf. »Ein Mann muss von seiner Hände Arbeit leben können«, lautete sein Leitspruch, und ich hatte es nur ein einziges Mal gewagt, im Scherz hervorzuheben, dass er als Immobilienmensch strenggenommen weniger mit den Händen, als mehr mit dem Hirn arbeitete.

»Schon gut. Ich besorge dir das Geld«, sagte ich zu Holger. »Versprochen. Ich will mir sowieso noch einen zweiten Job suchen, um jetzt im Sommer öfter was mit Henry unternehmen zu können.«

»Ah, dein Junge kommt zu dir?«

»In ein paar Wochen. Ich kriege ihn jedes Jahr für zwei Wochen während der Sommerferien.« Bei dem Gedanken an meinen Sohn wurde mir warm ums Herz. Ich hatte ihn gern um mich, doch leider erlaubte meine Ex viel zu selten, dass ich ihn sah. Sie behauptete, mein Lebensstil sei nicht gefestigt genug, um dem Jungen ein angemessenes Umfeld bieten zu können. Vollkommener Quatsch. Mit mir verbrachte Henry die beste Zeit, wie er selbst jedes Mal beteuerte. Wir zockten bis spät in die Nacht am Computer und schauten seine liebsten Youtube-Channels. Trotzdem wollte ich ihm dieses Jahr mehr bieten. Er war inzwischen acht Jahre alt, und ich plante einen Wochenendbesuch im Hansapark, um dort so lange Achterbahn zu fahren, bis uns übel werden würde.

»Dann drück ich dir die Daumen, dass du schnell was findest. Soll ich mich mal umhören?«

»Das wäre super. Am besten etwas abends oder nachts. Tagsüber muss ich für meinen Onkel arbeiten.«

»Klar. Ich halte Ausschau. Vielleicht findet sich ja was.«

Ich nickte Holger dankbar zu, verstaute den Vergaser in meinem Rucksack und schwang mich auf meine Maschine. Die Sonne ging langsam unter, und ich brauste durch ein Farbspektakel, das seinesgleichen suchte. Viel Zeit, den Anblick zu genießen, blieb mir allerdings nicht, denn ich musste dringend an den Computer. Die Jobbörsen der Umgebung riefen nach mir.

Es gab immer wieder Wochen, in denen bei meinem Onkel kaum Aufträge für mich anfielen, und in solchen Phasen verdiente ich mir mit kurzfristigen Engagements nebenbei ein paar Euro dazu. Dadurch kannte ich die Kniffe der Minijob-Anbieter inzwischen, wusste, wo sie inserierten. Vor einem Jahr hatte ich es mal mit einer Instagram-Seite versucht, auf der ich meine Arbeitszeit anbot, bekam jedoch nur seltsame Angebote von Fitness- und Lifecoaches, die mir »eine ganz neue Perspektive« boten. Also hatte ich weitergesucht und mich bei eBay angemeldet. Dort gab es mehr Hilfesuchende, als ich zunächst erwartet hatte.

Auch heute begann ich meine Suche dort, klickte mich durch die Gesuche und fand eine ältere Frau, die nach einem Beinbruch Hilfe bei der Gartenarbeit und beim Einkaufen brauchte. Sie bot fünf Euro pro Stunde, wenn man ihre Anweisungen genau befolgte. Obwohl mir der Nachsatz zu denken gab, klang es nach leicht verdientem Geld. Ein paar Wochen lang ein oder zwei Stunden am Abend Rasenmähen, Unkraut zupfen und Lebensmittel kaufen, und ich hatte genug Geld zusammen, um zumindest Holger zu bezahlen. Und wenn ich zusätzlich einen Job für die Wochenenden fand, konnte ich den Urlaub mit Henry finanzieren.

Allein der Gedanke an meinen Sohn ließ mich lächeln. Beinahe zwei Monate hatte ich ihn nicht gesehen und hätte ihn am liebsten sofort abgeholt. Leider wohnte seine Mutter nicht gerade in der Nähe, und auf dem Motorrad durfte ich ihn nicht mitnehmen, weil sie es für zu gefährlich hielt. Als ich ihn doch einmal mitfahren ließ, nachdem er stundenlang darum gebettelt hatte, hielt sie mir einen Vortrag, zitierte Unfallstatistiken mit Todesfällen und drohte mir am Ende damit, mir auch das letzte bisschen Umgangsrecht zu entziehen, wenn ich es noch einmal wagte, Henry diesem »vollkommen hirnrissigen Risiko auszusetzen, nur damit du deinen Spaß hast«.

»Es hat ihm genauso gefallen, und ich fahre vorsichtig«, hatte ich erwidert und Henrys Blick gemieden, der zwischen uns stand und traurig von einem zum anderen schaute.

»Mit einem Motorrad kann man nicht vorsichtig fahren. Was wenn dich ein Autofahrer übersieht?« Sie ratterte erneut irgendwelche Fallzahlen herunter und funkelte mich böse an. »Ich verbiete dir, meinen Sohn auf dem Motorrad mitzunehmen.« Meinen Sohn. Pah.

Meine Faust ballte sich um die Maus. Wie automatisch glitt mein Blick zu dem eingerahmten Bild neben dem Computer. Darauf waren Henry und ich zu sehen, wie wir in einem Rutschenpark bei selbstauslösender Kamera eine steile Röhre hinabgeschliddert waren. Henry jubelte und hatte die Hände nach oben gerissen, während ich ihn fest in meinen Armen hielt. Es war ein wundervoller Nachmittag gewesen, vier Jahre her, kurz bevor Lisa und ich uns getrennt hatten.

Henry hatte gerade erst Geburtstag gehabt, als Lisa mit einem Mal immer unzufriedener wurde. Sie forderte mich auf, mehr im Haushalt zu helfen, mich mehr in die Familie einzubringen, mich mehr um Henry zu kümmern. Dabei war sie es, die den Großteil des Tages unterwegs war, um zu arbeiten, während ich dank einer Teilzeitstelle in einer Spielothek tagsüber zu Hause bleiben konnte, den Haushalt schmiss und mich darum kümmerte, dass Henry in den Kindergarten kam.

Nach wie vor packte mich der Zorn, wenn ich daran dachte, und ich musste ein paarmal tief durchatmen, ehe ich mich wieder entspannte. Lisas Vorwürfe waren nicht gerechtfertigt, auch wenn all ihre Freunde, mit denen ich mich immer gut verstanden hatte, auf einmal das Gegenteil behaupteten.

Inzwischen war ich froh, nicht mehr Teil ihres Lebens zu sein und lediglich dann mit ihr zu tun zu haben, wenn ich mit Henry telefonierte oder er mich besuchen durfte.

Bald war es wieder so weit. Ich würde ihn mit der Bahn abholen und hätte ihn zwei herrliche Wochen lang um mich. Die Sehnsucht nach ihm biss mir ins Herz und blieb stecken. Je öfter ich an Henry dachte, desto schlimmer wurde es. Am meisten jedoch schmerzte mich Lisas regelmäßiger Vorwurf, dass ich mich nicht um meinen Sohn kümmern wolle, was man daran sähe, wie selten ich mich blicken ließe. Wenn ich einwandte, dass ich Henry jederzeit zu mir genommen hätte, gern auch mehrmals pro Woche, mir jedoch schlicht das Geld für die Bahntickets fehlte, grinste sie kalt und sagte: »Siehst du. Anderen Väter sind ihre Söhne wichtig genug, dass sie sich einen anständigen Job suchen.«

»Boa, du bist es doch, die mir regelmäßige Besuche untersagt!«

»Ja, weil du meinem Sohn nichts zu bieten hast, Maximilian.«

Ein Seufzer verließ meine Kehle, wie so oft, wenn ich an Henry und die Zeit dachte, die mir verlorenging. Und ich schwor mir nicht zum ersten Mal, dass ich eines Tages genug Geld verdienen würde, um alles mit ihm unternehmen zu können, was er sich nur wünschte.

Mein Blick glitt zurück zum Computerbildschirm. Bis es so weit war, würde ich eben so viele Mini-Jobs annehmen, wie ich erledigen konnte.

Kapitel 3 – Isabella

»Wir treffen uns an der Eisdiele, in Ordnung?« Melanie hatte gefragt, ob ich Lust hatte, mit ihr eine »Abkühlung zu genießen«, was ich nicht ausschlagen konnte, da es nicht weit von ihrer Wohnung das beste Eis der ganzen Gegend gab. Hergestellt von einem Italiener, der nicht müde wurde, herumzuexperimentieren und jeden Tag andere Geschmackssorten bot. Mal gab es Karamelleis, mal Smarties-Eis, und neulich hatte er es mit einer Kiwi-Ananas-Kreation versucht. Egal was er auftischte, es war so lecker, dass ich mich nie entscheiden konnte, ob ich eine der altbewährten Sorten oder eine neue ausprobieren sollte. Meist endete es damit, dass wir uns jede drei Kugeln bestellten, um im Anschluss mit vollen Bäuchen in die gemütlichen Korbmöbel zu sinken.

»In Ordnung. Kommt Leni auch mit?«, fragte ich nach. »Ich habe einen neuen Cupcake für meine beste Testerin.«

Melanie stöhnte und lachte zugleich. »Was ist es diesmal?«

»Eine Kreation mit eisblauem Frosting und Vanillecreme obendrauf, in Form eines Elsa-Zopfes.«

»Du weißt, dass sie den lieben wird, oder?«, erwiderte Melanie. »Egal wie er schmeckt. Du verwöhnst sie viel zu sehr.«

»Es ist doch nur ein Cupcake!« Ich lachte und wusste, dass meine beste Freundin recht hatte. Aber wozu waren Patentanten da, wenn nicht zum Verwöhnen?

»Sie schon, aber was ist mit meinen Nerven, wenn ich sie nach dem Zuckerschock am Abend ins Bett bringen muss?«

»Die Wirkung von Zucker lässt irgendwann nach, und dann ist man müde und schlapp. Du musst also nur lang genug warten«, erklärte ich voller Überzeugung.

Eine junge Familie trat ein.

»Ich muss Schluss machen. Wir sehen uns um kurz nach sechs an der Eisdiele.«

»Bis nachher. Wir freuen uns.«

Ich legte auf und steckte das Handy zurück in meine pastellblaue Schürze mit dem lachsfarbenen, rundgewellten, schwarz umrandeten Logo darauf. »Willkommen im Cupcakes by the Sea. Was kann ich für Sie tun?«

»Hallo, ich habe zwei Kuchenliebhaberinnen zu befriedigen, und uns wurde Ihr Laden empfohlen.« Der Vater deutete hinter sich, wo sich die Mutter und Zwillinge in Lenis Alter ans Fenster setzten. »Was schmeckt denn besonders gut?«

Ich deutete auf das Sortiment in der Auslage. »Hier haben wir die Klassiker. Einfache Schoko-Cupcakes mit bunten Streuseln oder glutenfreie Carrot-Cupcakes.« Bereits während ich ihm die verschiedenen Sorten vorstellte, merkte ich, in welche Richtung er tendierte. Cremefrosting für ihn, Streuseltopping für die Kinder und etwas Veganes für seine Frau. Ich reichte ihm ein Tablett, auf dem ich die georderten Cupcakes auf bunten Tellern arrangierte.

Je weiter der Nachmittag voranschritt, desto leerer wurde die Auslage. Und schließlich konnte ich absperren und zu meiner Verabredung mit Melanie aufbrechen. Den Cupcake für Leni verstaute ich in einer Transportbox, die perfekt in meine Handtasche passte und das gute Stück sicher verwahrte.

Als ich bei der italienischen Eisbude eintraf, saßen Melanie und Leni bereits an einem Tisch im Außenbereich und winkten mir, als sie mich sahen.

»Tante Bella!« Leni rannte freudestrahlend auf mich zu. »Wir haben heute im Kindergarten am Strand mit Seetang geworfen. Und ich hatte ganz viel davon in meinen Haaren.« Sie plapperte drauflos und berichtete mir von ihrem Tag, bevor ich überhaupt dazu kam, sie zu begrüßen.

Am Tisch angekommen beugte ich mich zu Melanie, und wir umarmten uns. Dabei fiel mir auf, wie blass sie war. Leni erzählte von einer riesigen Monsterqualle und einem Stock, den sie zur Verteidigung benutzt hatte, während ich Melanie leise fragte: »Alles gut? Du siehst fertig aus.«

»Ach, die Arbeit, das Kind. Es war ein anstrengender Tag.« Sie sprach leise, hob kurz die Arme und ließ sie wieder sinken. »Du hörst ja, was sie heute erlebt hat. Ich durfte mir das schon sieben Mal anhören.«

»… da hat Frau Meissner uns die Stöcke weggenommen und weit ins Meer geworfen. Greta wollte ihren zurückholen, aber sie hatte keine Gummistiefel an.«

Amüsiert lauschte ich Lenis Erzählung, bis sie schließlich mit den Worten »So war das heute« endete.

»Das war ja ereignisreich. Habt ihr mit dem Seetang etwas vor? Wollt ihr morgen im Kindergarten damit basteln?«

Leni zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Frau Meissner hat nur gesagt, wir sollen den Seetang in eine Tüte packen. Mama, holen wir jetzt ein Eis?«

»Aber sicher doch, kleiner Schlumpf. Was möchtest du für eines?« Schwerfällig erhob sich Melanie von ihrem Stuhl.

»Erdbeere!«, rief Leni so laut, dass es vermutlich auch der Verkäufer im Inneren schon gehört hatte.

»Gut. Ich bin gleich wieder da. Wartest du hier mit Tante Bella?«

Leni nickte und griff nach meiner Hand. »Mama sagt, du hast ein Geschenk für mich?«

Ich griff in meine Handtasche und zog die Transportbox heraus. Leni wusste genau, was sich darin befand – es war beileibe nicht die erste solche Schachtel, die ich ihr mitbrachte.

Lenis Augen begannen zu strahlen, und sie grapschte danach, ohne zu überlegen. »Ein Cupcake!«, brüllte sie und lachte wie ein kleiner, hysterischer Kobold. »Juhu!«

»Willst du ihn auspacken? Ich bräuchte deine Meinung, ob er gut aussieht und schmeckt.«

»Natürlich, Tante Bella. Ich bin immer für dich da«, sagte sie mit so ernster Stimme, als ginge es nicht um ihre Meinung, sondern um mein Leben.

»Danke schön. Ich freue mich, dass du mir hilfst.«

Langsam und bedächtig öffnete sie die Box, obwohl ich ihr die Neugier an der Nasenspitze ansah. Als ich Leni das erste Mal einen Cupcake mitgebracht hatte, war die Transportbox jener kindlichen Ungeduld zum Opfer gefallen, die Geschenkpapier zerreißt, Pappdeckel zerstört und Briefumschläge niedermacht. Zahlreiche Transportbehälter später hatte Leni endlich gelernt, dass sie kaputtgingen, wenn sie nicht vorsichtig war, was sie schade fand, weil sie das bunte Muster auf der Pappe liebte.

Vorsichtig schob sie den Deckel auseinander, und kaum erblickte sie das eisblaue Topping, quietschte sie vergnügt. »Das ist Elsas Zopf! So was hab ich ja noch nie gesehen!«

Ihre übersprudelnde Freude über so etwas Einfaches wie einen Cupcake wärmte mein Herz, und ich konnte nicht anders, als zu lächeln. »Gefällt er dir?«

»Der sieht toll aus. Darf ich ihn essen?«

»Darum möchte ich doch bitten«, erwiderte ich und half Leni, den Cupcake unbeschadet aus der Box zu heben.

Genüsslich biss sie hinein. Die Vanillecreme verteilte sich über ihre Lippen, aber sie leckte sie sofort weg. »Der schmeckt.«

»Ach, das freut mich.«

Während Leni den Cupcake genoss, schaute ich ins Innere der Eisdiele. Melanie stand in der Schlange und wartete darauf, dass sie drankam. Vor ihr warteten nur noch zwei Personen. Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf Leni, die mit strahlenden Augen jeden Krümel des Cupcakes vom Tisch auflas und in den Mund steckte. So sollte es sein!

Auf einmal hörte ich aus dem Innern der Eisdiele eine Frau aufschreien, und um uns herum brach Unruhe aus. Verwirrt schaute ich mich um. Was war los? War das Eis leer, oder hatte jemand kein Geld, um zu bezahlen? Das kam ab und an mal vor. Aber meistens half dann irgendjemand in bester Urlaubsstimmung aus. Spätestens Melanie würde das tun.

»Tante Bella, wo ist denn Mama?«, fragte Leni.

Ich deutete auf die Schlange im Inneren des Ladens, doch die hatte sich aufgelöst und war zu einer Menschentraube geworden, die sich um etwas in ihrer Mitte herum drängte. Melanie konnte ich nicht sehen.

»Bestimmt ist sie da drin und gibt unsere Bestellung auf«, beruhigte ich Leni.

Die Unruhe in der Eisdiele nahm zu. »Was ist mit ihr?« und »Ist ein Arzt hier?«, hörte ich aufgeregte Stimmen fragen. Ich konnte nicht sagen, was mich dazu trieb, mich zu erheben und ein paar Schritte auf den Verkaufsraum zuzugehen. Als ich den rotblonden Haarschopf auf dem Boden erblickte, sackte mir sämtliches Blut in die Beine, und ich taumelte. Diese Haare hätte ich überall erkannt. Dieses Haar, das auf der Anhöhe einer Düne im Ostseewind flattern konnte wie die Flagge eines Königreiches.

Irgendetwas war mit meiner besten Freundin. Sie lag auf dem Boden, und zwei Menschen knieten neben ihr.

»Melanie«, hauchte ich kraftlos. Ich wollte hinlaufen, als mir Leni einfiel. Sie saß auf ihrem Stuhl und leckte sich die Finger ab, an denen noch die Reste der Glasur klebten.

»Leni, warte mal kurz hier«, sagte ich mit der ruhigsten Stimme, die ich zustande brachte.

»Ich will nicht allein bleiben. Das soll ich nicht, hat Mama gesagt.«

Ich schwankte, ehe ich die Arme zu ihr ausstreckte. »Gut, dann komm bitte her.«

»Was ist, Tante Bella?«

Ich ging zu ihr und hob sie auf meine Arme. Sie schlang ihre klebrigen Finger um meinen Hals und schaute mich an. »Wo wollen wir hin?«

»Wir müssen mal nach deiner Mutter schauen.«

»Hat sie ihre Medikamente wieder vergessen?« Leni klang unbekümmert und suchte die Umgebung ab. »Sie hat mir gesagt, dass sie die in ihrer Handtasche hat, ich aber nicht da rangehen darf.«

»Medikamente?« Ich sah Leni an, während wir in die Eisdiele eilten. »Was für Medikamente?«

Leni hob die Arme an. »Keine Ahnung. Die, die Mama nehmen muss.«

»Lassen Sie mich bitte durch. Das ist meine Freundin«, rief ich, als die Menschenmenge dichter wurde. Nur mühsam kam ich voran. »Machen Sie Platz.«

»Tante Bella?« Jetzt schwang Unsicherheit in Lenis Stimme mit. Ich versuchte sie anzulächeln, doch es wollte mir nicht gelingen. Die Sorge, die sich in meinem Innern ausbreitete, lähmte meine Gesichtsmuskeln.

»Melanie.« Ich kniete mich neben sie und die beiden Menschen, einen Mann und eine Frau. Melanies Augen flatterten, und sie rieb sich über die Brust.

»Kennen Sie die Frau?«, wollte der Mann wissen.

»Das ist meine beste Freundin.« Ich legte eine Hand an Melanies Schulter und rüttelte sanft. »Melanie, was ist los?«

»Hören Sie, ich bin Arzt. Treten Sie bitte beiseite und kümmern sich um Ihre Tochter. Das ist das Beste, was Sie aktuell machen können.«

»Das ist nicht meine Tochter, sondern ihre«, entgegnete ich. »Was ist mit ihr?«

»Können Sie mir etwas zur Vorerkrankung Ihrer Freundin sagen?« Der Arzt hielt die Hand an Melanies Handgelenk und tastete nach ihrem Puls.

»Warum liegt Mama auf dem Boden?« Leni schob sich an mich heran und starrte mit erschrecktem Gesichtsausdruck auf ihre Mutter hinab.

»Sie ruht sich kurz aus«, sagte ich reflexartig. Fahrig fuhr ich mir über die Augen. Mein Verstand wollte nicht so schnell arbeiten, wie ich es von ihm verlangte. Es war, als ob auf einmal eine zähflüssige Masse sämtliche Erinnerungen ummantelte, sodass ich sie nicht greifen konnte. »Sie ist kerngesund, bis auf ein paar normale Erkältungen im letzten Winter.«

»Sonst irgendetwas, das ich wissen müsste? Schwangerschaften? Krankheiten? Allergien?« Der Arzt tastete über Melanies Oberkörper.

»Sollten wir nicht einen Krankenwagen rufen?« Ich atmete, hatte aber dennoch das Gefühl, keine Luft zu kriegen. Mir fiel es schwer, die Kontrolle über meine Gedanken zu behalten und nicht in Panik zu verfallen.

»Das habe ich schon getan.« Der Arzt redete mit ruhiger Stimme auf mich ein. »Können Sie meine Fragen beantworten? Ich möchte Ihrer Freundin helfen. Das kann ich aber nur, wenn ich alles weiß.«

»Sie hat, glaube ich, eine Allergie gegen Paracetamol, aber Ibus kann sie nehmen.« Ich drückte Leni an meine Schulter, wollte verhindern, dass sie das schmerzverzerrte Gesicht ihrer Mutter weiterhin ansah.

Ich selbst würde es nicht mehr vergessen, so tief hatte es sich bereits in meinem Hirn eingebrannt. Noch nie zuvor hatte ich so viel Schmerz in der Mimik eines Menschen gesehen, und ich konnte mir nicht einmal vorstellen, was Melanie in diesem Moment durchmachte.

»Tante Bella, ich will zu Mama.« Lenis Stimme hatte sich gewandelt und war fordernd geworden. Ich kannte die Anzeichen. Wenn sie ihren Willen nicht bekam, würde sie gleich anfangen zu weinen. Das Jammern in ihrer Stimme klang bereits durch.

»Gleich, Schätzchen. Warte kurz. Sie braucht einen Moment Ruhe. Was für ein Eis möchtest du denn?«

»Habe ich doch schon gesagt!«, meckerte sie und hob ihren Kopf. Mit sanfter Gewalt drückte ich sie zurück an meine Schulter. »Erdbeere. Lass mich runter.«

»Du musst kurz bei mir bleiben, Leni.« Ich spürte, wie das Zittern in meiner Stimme Leni zusehends verunsicherte.

»Lass mich sofort runter.« Sie strampelte auf meinem Arm, drückte sich von mir, sodass ich sie kaum halten konnte.

»Leni, hör zu. Deiner Mama geht es nicht gut. Sie muss vom Doktor untersucht werden. Du musst bei mir bleiben, damit wir ihn nicht stören. Verstehst du das?« Ich hatte keine Ahnung, wie viel Ehrlichkeit eine Vierjährige vertragen konnte, wusste mir jedoch nicht anders zu helfen.

Leni hielt in ihren Bewegungen inne und sah mich aus zusammengekniffenen Augen an. »Hat sie ihr Aua in der Brust wieder?«

Da sich Melanie immer wieder stöhnend mit der Hand über den Oberkörper fuhr, wusste Leni offenbar mehr als ich.

»Was für ein Aua hat sie denn da?«

Im Augenwinkel nahm ich den Arzt wahr, der auf Melanie einredete und versuchte, ihr eine Antwort zu entlocken. Doch sie reagierte nicht. Es schien, als ob der Schmerz sie weit weggetragen hätte.

Alles in mir wollte zu ihr, sich neben sie knien, ihre Hand fassen, sie schütteln, selbst mit ihr sprechen. Doch ein letzter Funken Verstand erinnerte mich daran, dass sie bei dem Arzt in besseren Händen war.

»Weiß nicht. Sie hat nur manchmal Aua da.«

»Besteht vielleicht doch eine Vorerkrankung des Herzens?«, mischte sich der Arzt ein.

Ich schüttelte den Kopf, ohne dass ich den Blick von Leni abwandte. »Nicht dass ich wüsste. Leni, war deine Mama in letzter Zeit öfter beim Arzt?«

Leni nickte, und in ihre Augen traten Tränen. »Aber ich soll das nicht verraten, hat sie gesagt.« Sie schlug sich die Hand vor den Mund und schaute zu ihrer Mutter. »Entschuldige, Mama. Das wollte ich nicht.«