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Eine bittersüße Geschichte über Liebe und Loslassen
Die deutsche Ärztin Christina braucht dringend eine Auszeit. Das Angebot, als Urlaubsvertretung eine kleine Landarztpraxis hoch oben im Norden Schottlands zu übernehmen, kommt ihr da gerade recht. Einer ihrer ersten Patienten ist jedoch kein Mensch, sondern mangels Tierarzt ein verletztes Fohlen, das der Farmbesitzer Aidan zu ihr bringt. Christina ist sofort fasziniert von diesem Mann, der für seine Tiere anscheinend alles tun würde. Doch zunächst bleibt Aidan merkwürdig zurückhaltend. Erst als Christina herausfindet, dass Aidan genau wie sie schmerzhafte Verluste in der Vergangenheit erlebt hat, kommen sie sich näher. Können die beiden unter dem weiten Himmel Schottlands ihr Glück finden?
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Seitenzahl: 457
Eine bittersüße Geschichte über Liebe und Loslassen Die deutsche Ärztin Christina braucht dringend eine Auszeit. Das Angebot, als Urlaubsvertretung eine kleine Landarztpraxis hoch oben im Norden Schottlands zu übernehmen, kommt ihr da gerade recht. Einer ihrer ersten Patienten ist jedoch kein Mensch, sondern mangels Tierarzt ein verletztes Fohlen, das der Farmbesitzer Aidan zu ihr bringt. Christina ist sofort fasziniert von diesem Mann, der für seine Tiere anscheinend alles tun würde. Doch zunächst bleibt Aidan merkwürdig zurückhaltend. Erst als Christina herausfindet, dass Aidan genau wie sie schmerzhafte Verluste in der Vergangenheit erlebt hat, kommen sie sich näher. Können die beiden unter dem weiten Himmel Schottlands ihr Glück finden?
Violet Thomas ist ein Pseudonym von Ann-Kathrin Karschnick, geboren 1985, die als »Frau im grünen Kleid« in der Phantastik-Szene bekannt ist. Sie veröffentlichte bereits zahlreiche phantastische Romane bei verschiedenen Verlagen und wurde für »Phoenix – Tochter der Asche« 2014 mit dem Deutschen Phantastikpreis ausgezeichnet. Als Violet Thomas schreibt sie die beiden Liebesroman-Serien Hotel California (moments, 2018) und Mercy Grace Hospital (SP, 2017/18).
Weitere Titel der Autorin:
Jeden Tag ein neuer Himmel
Ein Herz voll Leben
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Langenbuch & Weiß Literaturagentur.
Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Friederike Haller, Berlin
Titelillustrationen: © shutterstock: Kiriko357 | Robusta
Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-2117-2
luebbe.de
lesejury.de
Zitternd saß ich auf dem gynäkologischen Stuhl. Grauweißes Papier bedeckte das schwarze Leder, das die Hitze meines Körpers dort reflektierte, wo das Papier nicht hinreichte. Alles an mir schien zu brennen. Meine Haut, meine Organe, mein Denken. Vor allem jedoch mein Herz. Nur meine Finger nicht. Die lagen eiskalt auf meinem nackten Bauch, und ich war mir sicher, dass sie niemals wieder warm werden würden.
Ich starrte an die Decke, zwang mich dazu, den Monitor nicht anzusehen. Auf keinen Fall wollte ich auf dem Ultraschallbild das erkennen, was mein Verstand längst ahnte, mein Herz jedoch nicht akzeptieren wollte. Dieses bescheuerte, hoffnungsvolle Herz, das mir beständig zuflüsterte: Vielleicht sind es nur Schmierblutungen. Vielleicht hast du eine Vorderwandplazenta, die an die richtige Stelle wandert und deswegen Blutungen verursacht. Vielleicht …
All die Hoffnungen, die mir dieses dumme Herz gab, obwohl ich es besser wusste. Helles Blut. Kein geronnenes, dunkles Rot. Nein. Aus mir heraus floss glühende Lava. Ein unbarmherziges Rot, das mich mit seiner Intensität verhöhnte. Mir vorhielt, was offensichtlich war: Nichts überlebt, wenn solch ein Strom den Vulkan verlässt.
Dr. Ines Mußhorn, eine ältere Kollegin in der Äskulap-Klinik, in der ich selbst arbeitete, steckte das Ultraschallgerät zurück in die Halterung und strich sich mit dem Handrücken über die Stirn.
»Christina, es fällt mir nicht leicht, das zu sagen, aber so wie es aussieht, sind deine Befürchtungen korrekt.«
Ihre sanfte, klare Stimme durchdrang die Mauer aus Eis kaum, die sich in mir aufbaute und sämtliche Hitze erstickte. Kälte, die mich wehrlos zurückließ. Immer noch starrte ich an die Decke, konnte mich nicht rühren. Nur meine Finger krallten sich in meinen Bauch, kniffen fest zu. Ich wollte den Schmerz überdecken, den ich nur zu gut kannte. Der mich bereits zum zweiten Mal in meinem Leben ereilte und dem ich erneut hoffnungslos ausgeliefert war.
Überspielen. Mehr wollte ich nicht. Vergessen, die Konsequenz von Ines’ Aussage ignorieren und nicht darüber nachdenken. Weitermachen wie vorher.
Mein eigener Organismus machte mir einen Strich durch die Rechnung. Ich spürte, wie es in mir brodelte, wie meine aufschäumenden Gefühle den Wunsch, alles zu unterdrücken, überdeckten und mich in einer steilen Spirale hinabrissen. In die Dunkelheit, in der es kein Licht gab, das mich durch die Zukunft hätte leiten können.
Ines stand von ihrem Stuhl auf, wusch sich die Hände und legte ihre Finger schließlich auf meinen Oberarm. Heiße Punkte auf meiner eiskalten Haut. »Christina?«
»Ja, ich höre zu.« Die Worte stolperten aus meinem Mund, abgehackt, brüchig, kaum wahrnehmbar. »Entschuldige, ich …«
Weiter kam ich nicht, denn meine Stimme versagte, und ich musste mich abwenden, um die Tränen zu verbergen, die mir in die Augen schossen.
»Nimm dir ein paar Minuten«, sagte Ines und streichelte meine eisige Haut. Ihre Wärme hätte sicher gutgetan, wäre ich empfänglich dafür gewesen. Aber in diesem Augenblick wollte ich einfach nur heulen, mich in eine Decke einkuscheln und mich von der Außenwelt verabschieden. »Hast du Steffen schon angerufen oder soll ich das für dich erledigen?«
»Er weiß Bescheid und ist auf dem Weg hierher«, erwiderte ich unter Schluchzern, sodass ich nicht wusste, ob Ines mich verstanden hatte.
Sie drückte erneut meinen Arm, bevor sie zu ihrem Computer ging. Sie wusste, dass ich Tränen in der Öffentlichkeit hasste. Sowas machte ich mit mir aus. Eventuell noch mit Steffen, alle anderen jedoch ertrug ich nicht um mich herum. So war ich Ines dankbar, dass sie mich für den Moment allein ließ und doch in der Nähe blieb. Dass sie für mich da war, ohne sich aufzudrängen.
Ich stand von dem Stuhl auf. Bereits beim Aufrichten merkte ich, dass meine Beine mich nicht tragen würden. Alles um mich herum drehte sich. Also lehnte ich mich wieder zurück und schloss die Augen, ließ meiner Verzweiflung freien Lauf. Stumm zitternd lag ich da und versuchte, zu atmen. Einfach atmen, um die Kontrolle über meinen Körper zurückzuerlangen.
Um mich abzulenken, dachte ich an etwas Banales, Gutes, wie der Tagesbeginn, der so entspannt verlaufen war. Ein wunderschöner Frühlingsmorgen mit Vogelgezwitscher und Sonnenstrahlen, die durchs Fenster fielen. Steffen war früh wach geworden und zum Bäcker in der Innenstadt gejoggt, um mir meine Lieblingsbrötchen zu bringen. Das Einzige, was ich aktuell in mir behielt, waren diese Roggenbrötchen mit Leinsamenschrot. Steffen hatte mir zwei geschmiert, damit ich sie zur Arbeit mitnehmen konnte – für eine ausführliche Mahlzeit blieb mir als angehende Ärztin meist keine Zeit.
Während er mich zur Arbeit fuhr, unterhielten Steffen und ich uns über die geplanten Umbauten unserer Eigentumswohnung. Ein Kinderzimmer wollte eingerichtet werden, und wir überlegten, ob wir eine Wand ziehen sollten, um ein Stück des riesigen Wohnzimmers abzutrennen, oder ob ich mein Arbeitszimmer leerräumte, das ich ohnehin nicht benutzte, weil ich viel zu selten zu Hause war.
In der Klinik angekommen hatte ich die Morgenvisite mit Dr. Abraham erledigt und mich gerade auf den Weg zu einer weiteren Patientin begeben, als ich ein feines Stechen im Unterleib spürte. Nur kurz, aber deutlich, und ich war sofort auf die Toilette gerannt. Das Blut war nicht zu übersehen gewesen.
Ruckartig riss ich die Augen auf. Nein, nicht daran denken. Ich atmete tief ein, sog die unfreundliche Klinikluft in mich ein, stieß sie wieder aus. Wiederholte diesen Ablauf zehn Mal, bis mein Herz nicht mehr bis in meinen Hals pochte, sondern nur noch in meiner Brust zu explodieren drohte.
Mühsam richtete ich mich auf und zwang mich dazu, das Zittern zu ignorieren. Mit meinen eiskalten Fingern klammerte ich mich an die Armlehnen des Stuhls, um mich von dort in die Umkleidekabine hinter den simplen Vorhang zu schieben. Ich spürte Ines’ Blick auf mir, aber noch wollte ich sie nicht ansehen, und sie war einfühlsam genug, mir den Moment zu geben.
Mit einem lauten Rascheln zog ich den Vorhang zu und lehnte den Kopf gegen die Wand. Warum? Warum passierte mir das zum zweiten Mal? Die Frage stürzte auf mich ein, als hätte sie nur darauf gewartet, dass ich aufstand und mich bewegte und mein Herz all die Vorwürfe in mich hineinpumpen konnte.
Bei der ersten Fehlgeburt hatte ich geglaubt, dass ich etwas falsch gemacht hatte. Zu viel Sport getrieben oder zu viel Stress bei der Arbeit gehabt. Ohne einen tatsächlichen Grund zu finden, hatte ich zumindest Erklärungen angenommen. Doch diesmal? Diesmal hatte ich in derselben Sekunde auf sportliche Aktivitäten verzichtet, in der meine Frauenärztin mit einem breiten Lächeln im Gesicht das positive Ergebnis des Schwangerschaftstests bestätigte. Sogar beruflich war ich kürzer getreten, obwohl ich mich als gerade ausgelernte Ärztin erst einmal beweisen musste und entsprechend viel zu tun hatte. Dem Kopfschütteln einiger Teammitglieder zum Trotz hatte ich meine Stunden reduziert, mich gesund ernährt und mich bewegt, ohne zu übertreiben. Und bis heute früh hatte ich mich, abgesehen von der morgendlichen Übelkeit, wunderbar gefühlt.
Das alles ließ nur den einen Schluss zu, der wie eine Lawine auf mich herabstürzte und mich unter sich begrub: Es war die Strafe für meine Entscheidung vor zehn Jahren.
»Christina, bist du bereit?« Ines musste direkt vor dem Vorhang stehen, denn ihre Stimme war zwar leise, jedoch nah genug, damit ich sie deutlich hörte.
Ich antwortete nicht, zog mich wie in Trance an. Die Hoffnung, die mein Herz bis vor wenigen Minuten gehegt hatte, verkroch sich in die Ecke zurück, aus der sie hervorgeschlüpft war. Zurück in die Dunkelheit, die mich immer stärker in Besitz nahm.
Wie ein Zombie schob ich den Stoffvorhang schließlich beiseite und sah Ines mit besorgtem Blick vor mir. »Brauchst du Hilfe beim Laufen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Geht schon.« Noch immer klang meine Stimme tränenerstickt, und meine Worte waren gelogen, das wussten wir beide. Ines jedoch akzeptierte meine Lüge, während wir zu ihrem Schreibtisch schlichen, auf dem ein Monitor stand. Das Dokument mit meiner Akte war geöffnet, und ich konnte das eine Wort lesen, das sofort wieder mein unkontrolliertes Zittern auslöste. Teilabort.
Ines öffnete das Fenster hinter sich, bevor sie sich mir gegenübersetzte. Die Sonne schien noch immer und blendete mich durch den halb geöffneten Lamellenvorhang. Ich senkte den Kopf.
»Auch wenn es nicht leicht für dich ist, müssen wir darüber reden, wie wir weiter vorgehen. Bist du bereit dafür oder sollen wir einen neuen Termin machen?«
Ich schloss die Augen, Tränen kullerten über meine Wangen und tropften auf meine Hände, die ich knetete. »Jetzt. Ich weiß nicht, ob ich noch mal die Kraft habe, herzukommen.«
»In Ordnung.« Ines räusperte sich und drehte den Monitor. »Normalerweise würde ich jetzt erklären, was passiert ist. Aber da du bereits eine Fehlgeburt hattest, lasse ich das weg. Es war ein Teilabort, sodass wir eine Ausschabung vornehmen müssen, für die wir in den nächsten Tagen einen Termin benötigen.«
»Mhm, ja. Sag einfach, wann du was frei hast.« Die Dunkelheit umschlang mich immer stärker, breitete eine Wolke der Bedeutungslosigkeit über mich aus. Alles war egal. Nichts war mehr wichtig. Ich hatte das zweite Baby innerhalb eines Jahres verloren.
Aus Medizinersicht hätte ich sie noch nicht als Babys bezeichnen dürfen, denn beide befanden sich noch im fötalen Stadium. Doch mein Mutterherz sagte mir, dass auch diese erst wenig entwickelten Wesen genau das gewesen waren: meine Babys.
Unwillkürlich legte ich eine Hand auf meinen Bauch, wollte nicht wahrhaben, dass ich erneut keine Mutter sein würde. Es hatte sich diesmal besser angefühlt, sicherer. Ich war positiv in die Schwangerschaft gegangen, hatte lediglich in den ersten Tagen Anflüge von Panik gespürt.
Und jetzt sollte alles wieder vorbei sein? Einfach so? Warum? Wieso machte mir das Universum erst Hoffnungen, nur um sie im nächsten Augenblick zu zerstören? Ich verstand es nicht.
»Christina?« Ines lehnte sich vor, deutete auf ein Datum auf dem Monitor. »Passt dir das?«
»Ja, ja. Schreib’s mir auf, ich bin dann da.«
Zehn Minuten später lief ich mit dem weißen, rechteckigen Terminzettel in der Hand aus dem Vordereingang des Krankenhauses und wartete an der Haltebucht der Taxen auf Steffen. Die Sonne versuchte alles, um meine eiskalte Haut aufzuwärmen, scheiterte jedoch. Innerlich war ich so tot wie meine Babys.
Mir hallte durch den Kopf, was ich neben Mitgefühl zu hören bekommen hatte von ein, zwei Kolleginnen, nachdem sie von meiner ersten Fehlgeburt erfuhren.
»Du kennst doch die Statistiken, Christina, zwanzig Prozent aller diagnostizierten Schwangerschaften enden in einer Fehlgeburt. Das ist die Natur. Du bist jung – beim nächsten Mal klappt es bestimmt.«
Gut gemeinte Worte, die sich stahlhart in mein Innerstes bohrten, sodass ich am liebsten gebrüllt hätte: »Ach ja? Schon mal drüber nachgedacht, dass einhundert Prozent aller Menschen sterben? Ist es deshalb egal, wenn morgen euer Ehemann vom LKW überfahren wird?«
Ich hatte es mir verkniffen, genickt und tatsächlich probiert, mich mit dem Gedanken abzulenken, dass ich einem anderen Kind das Leben schenken konnte. Es hatte nicht funktioniert. Man kann keinen Menschen durch einen anderen ersetzen, gleichgültig ob er bereits sein eigenes Leben lebt oder erst zu einem eigenständigen Individuum heranwächst.
Doch offenbar stand ich mit dieser Ansicht mutterseelenallein da, und es hatte mich Monate gekostet, meinen Kolleginnen wieder in ihre Stell-dich-nicht-so-an- oder Schwamm-drüber-Gesichter zu blicken.
Als ich daran dachte, dass nun alles von vorn losging, hielt ich es nicht länger auf der hölzernen Sitzbank aus, die für die wartenden Patienten unter einem gläsernen Wartehäuschen stand. Sitzen fühlte sich an wie Stillstand – das kleine Herz stand still –, und das konnte ich nicht ertragen. Nicht jetzt. Nicht heute.
Ich sprang auf, lief ohne Ziel über den Parkplatz, drehte am Zaun um und stolperte zurück. Während ich einen Fuß vor den anderen setzte, kam mir in den Sinn, einfach weiterzugehen. Loszulaufen, wohin auch immer. Die Pragmatikerin in mir hatte sich allerdings einen letzten Funken Verstand vor der alles vernichtenden hellroten Lava bewahrt und erinnerte mich daran, dass ich nach Hause gehen musste, um mich auszuruhen.
Da hielt der silberne Ford Focus neben mir, den wir erst vor einem halben Jahr gekauft hatten – Steffens Belohnung für das Großbauprojekt, für das er in seinem Architektenbüro die Leitung übernommen hatte.
»Engelchen, was ist passiert?«, fragte er, als er sich über den Beifahrersitz lehnte, um mir die Tür aufzumachen.
»Fahren wir einfach nach Hause, ja?«, brachte ich mit brüchiger Stimme heraus. Der Gedanke, dass ich ihm vor dem Krankenhaus in einem Auto davon erzählen musste, dass ich zum zweiten Mal unser gemeinsames Kind verloren hatte, trieb mir erneut die Tränen in die Augen.
»Tina?«, hakte er nach, doch ich schloss nur die Beifahrertür und schnallte mich an, ohne zu reagieren.
Zum Glück ließ er mich daraufhin in Ruhe. Seit sieben Jahren waren wir zusammen, hatten uns auf der Uni kennengelernt. Eine stürmische Liebe, die ihre Hochs und ihre Tiefs durchlebte, bis er mir vor zwei Jahren einen Antrag gemacht hatte. Den ich ablehnte, weil ich erst meine Assistenzzeit beenden wollte. Steffen hatte verständnisvoll reagiert, seine Enttäuschung jedoch nicht vollständig verbergen können.
Während er das Auto durch den Verkehr lenkte, warf er mir immer wieder kurze Seitenblicke zu, die ich ignorierte. Ich schwieg, war froh, überhaupt atmen zu können. Wie in Trance beobachtete ich, wie die Welt an mir vorbeizog, wie sie sich weiterdrehte. Sie war von mir abgekapselt und ich nicht mehr als ein stiller Beobachter. Nicht mal die Musik aus dem Radio drang zu mir durch. Ich existierte. Mehr nicht. Keine Gefühle, keine Gedanken, keine Schmerzen.
Erst als ich den dünnen Mantel an die buchenfarbene schlichte Garderobe gehängt und meine Schuhe in den dazu farblich passenden Schuhschrank geräumt hatte, spürte ich, dass sich Steffen nicht mehr lange zurückhalten würde. Und mit dieser Erkenntnis kehrten die qualvollen Erinnerungen zurück. All die Emotionen, die ich in den letzten Minuten so mühsam zurückgehalten hatte, schlugen über mir zusammen und begruben mich.
»Christina, soll ich dir einen Tee machen?«, fragte Steffen und hängte seine Jacke ebenfalls auf, ehe er in Richtung Küche verschwand, ohne eine Antwort abzuwarten.
Ich schleppte mich ins Wohnzimmer und ließ mich dort nieder, starrte die schwarze Leere des Fernsehers an. Ohne nachzudenken, schaltete ich ihn ein und ließ das erstbeste Programm laufen. Es war eine Kochsendung, in der ein Sterne-Gourmet einfache Gerichte zeigte, wenn es mal wieder schnell gehen musste.
Irgendwann spürte ich Steffen neben mir, seine Hand auf meinem Arm und eine Decke, die er mir umlegte. »Komm schon, rede mit mir.«
»Ich kann nicht!«, krächzte ich. Die Tränen zurückzuhalten, forderte allmählich seinen Tribut von meinen Stimmbändern.
»Hast du Ärger bei der Arbeit gehabt? Ist einer deiner Patienten gestorben?« Sanft streichelte er meine Hand mit seinem Daumen. »Aus deiner Nachricht konnte ich nicht herauslesen, was genau passiert ist.«
Ich schluckte schwer, und es fühlte sich an, als ob mein Speichel aus spitzen Steinen bestand, die das Innere meines Halses aufrissen. Jeder dieser Kiesel sagte mir, dass ich nicht bis in alle Ewigkeit schweigen konnte. Ich musste reden, ich musste es ihm erklären. Steffen war der Vater, und er hatte ein Recht darauf, es zu erfahren. Aber was, wenn ich es nicht tat? Wenn ich es verschwieg und einfach weitermachte wie bisher?
Kopfschüttelnd sackte ich zusammen, und eine stumme Träne brach aus mir heraus.
»Es geht um Würmchen«, murmelte ich schließlich, als er nicht weiter nachhakte. Das war alles, was er wissen musste.
Sofort versteifte er sich. Seine vorher so beruhigenden Bewegungen hörten auf, und die Wärme, von der ich bis eben nicht gewusst hatte, dass er sie mir mit seinem Streicheln gegeben hatte, verschwand. Die Kälte kehrte in mein Herz zurück, und ein Taubheitsgefühl ergriff mich.
Ich wagte es nicht, Steffen ins Gesicht zu sehen. Den Anblick konnte ich nicht ertragen. Egal was er zeigte. Ob Mitleid, Angst oder Enttäuschung. Nichts davon würde mir helfen.
Im nächsten Moment wurde mir klar, dass es keine Rolle spielte, wie Steffen reagierte. Ich musste damit klarkommen. Allein.
Also stand ich auf und ging ins Schlafzimmer. Dort konnte ich weinen, mich darauf konzentrieren, den Schmerz tief in mir zu vergraben und niemals wieder heraufzuholen. Ich musste es tun, denn diese Qualen, das viele Reden über meine Gefühle und alles zu durchleben wie nach der ersten Fehlgeburt, würde ich kein zweites Mal durchstehen. Vor sechs Monaten hatte ich mich eingeigelt, war zwei Wochen lang nicht zur Arbeit gegangen, hatte niemanden getroffen außer Steffen, bis ich halbwegs wieder in der Lage war, unter Menschen zu treten.
Ich hatte mir einreden können, dass es einfach Pech gewesen war. Aber diesmal? Zwei Fehlgeburten hintereinander? Nein, das war kein Zufall. Das war eine Bestrafung.
Ich warf mich auf das sauber gerichtete Bett und rollte mich in eine der Decken ein.
Bestrafung. Dieser Gedanke war mir gleich nach der Diagnose gekommen. Dass mein Körper keines unserer Kinder behielt, war die Abrechnung des Universums für etwas, das ich vor zehn Jahren begangen hatte. Dessen war ich mir absolut sicher. Und wie von selbst wanderte mein Verstand in die Vergangenheit und spielte in einem fiesen Flashback jene Momente ab, die mich kurz vor dem Beginn meines Medizinstudiums fast meine gesamte Zukunft gekostet hätten. Der positive Schwangerschaftstest. Die Sorgen über das Leben. Der Streit mit meinem Ex. Und die Entscheidung zur Abtreibung, die ich damals rein rational begründete. Mit Kind ein Medizinstudium zu schaffen, war faktisch unmöglich. Vor allem, da meine Eltern zu weit weg wohnten, um mir zu helfen, und mein Ex keine Lust auf ein Kind hatte. Vielmehr war er damit beschäftigt gewesen, mit dem Motorrad neue Stunts für YouTube zu drehen. Ich war im zweiten Monat gewesen, als ich die Entscheidung traf, dass es nicht die richtige Zeit für ein Baby war. Erzählt hatte ich es niemandem, nicht einmal meiner Mutter. Meine erzkonservative Familie hätte es nicht verstanden, und so war ich Diskussionen aus dem Weg gegangen. Nur mein Ex wusste Bescheid. Ich selbst hatte diese Erinnerung bis heute erfolgreich verdrängt, sie aus meinem Leben verbannt.
»Christina!« Steffen kam ins Schlafzimmer. »Was ist mit unserem Kind?«
»Kannst du dir das nicht denken? Muss ich es wirklich aussprechen?« Ich blieb unter der Decke. Darunter war ich sicher, konnte nicht sehen, was ich ihm mit dieser Nachricht antat. Solange ich das Problem nicht sah, konnte ich daran glauben, dass es nicht existierte. Was ich nicht betrachtete, war nicht da. Schrödingers Wahrnehmung.
Natürlich vollkommener Blödsinn. Das war mir in der Sekunde klar, in der Steffen sich zu mir aufs Bett setzte und die Decke von mir zog.
»Rede mit mir. Was ist passiert?«
»Ich habe es verloren. Schon wieder!«, brach es aus mir heraus. Laut und schrill. »Zufrieden?«
Steffen saß neben mir und starrte mich an. Ich konnte die Enttäuschung sehen. Sie sprang mir förmlich entgegen, schlug mir ins Gesicht, und ich wusste, dass es meine Schuld war. Meine Entscheidung vor so langer Zeit war verantwortlich. Vielleicht war bei der Abtreibung etwas schiefgegangen, ohne dass der Arzt es mitbekommen hatte. Eine Verletzung, die irreparable Schäden zurückgelassen hatte. Und warum? Weil ich mir die Zukunft nicht hatte versauen lassen wollen.
Es konnte gar nicht anders sein. Doch wie sollte ich das jemals jemand anderem gegenüber zugeben? Unmöglich. Zu sehr schämte ich mich für meine Gedanken, für meinen Egoismus damals.
»Bist du verrückt?«, fragte Steffen und zog die Decke noch weiter herunter. Gleich darauf sprang er auf und lief im Zimmer auf und ab. Mit der Hand fuhr er sich durch die blonden, kurzgeschorenen Haare. Er wirkte hektisch, und ich sah, dass er im Kopf durchging, wie er mir einen Vorwurf machen konnte, um seiner Enttäuschung ein Ventil zu geben. Der gleiche Gesichtsausdruck, den ich an ihm gesehen hatte, nachdem ich unseren alten Wagen gegen eine Leitplanke gesetzt hatte, weil ich eine Nachricht auf dem Handy las. Die pure Missbilligung, etwas wider besseren Wissens getan zu haben. »Wieso glaubst du, dass ich damit zufrieden wäre?«
Ich zerrte an meiner Decke, wollte wieder verschwinden. »Du wolltest, dass ich es ausspreche. Ich will aber nicht reden. Ich will gar nichts. Lass mich einfach in Ruhe.«
»Beruhige dich, Tina. Wir müssen darüber reden«, sagte er und warf die Decke endgültig beiseite.
»Was bringt das denn? Du und ich sind scheinbar nicht dazu bestimmt, Kinder zu bekommen. Wer weiß, vielleicht ist es besser so.«
Steffens Mund klappte auf. »Das denkst du?«, hauchte er. »Du glaubst, dass wir beide keine Kinder kriegen sollten?«
Ich zuckte mit den Schultern und drehte mich von ihm fort. Es war nicht der erste Streit, den wir in den letzten Wochen gehabt hatten. Ich hatte nicht vorgehabt, eine lange Elternzeit zu beantragen, sondern wollte sie mit ihm teilen, was für ihn bedeutet hätte, dass er die finale Phase seines Projekts verpasste. Abende lang hatten wir darüber diskutiert, Debatten geführt über Gleichberechtigung, Feminismus, Gerechtigkeit. Hatten uns mit Argumenten beworfen, finanzielle Überlegungen angestellt, uns angebrüllt und wieder vertragen. Ohne einen gemeinsamen Nenner zu finden.
»Rede mit mir, Christina!«, forderte Steffen und fasste mich an der Hüfte an, um mich umzudrehen.
»Was willst du hören?«, schnappte ich. »Dass ich glaube, dass das Baby gespürt hat, wie viel wichtiger uns scheinbar unsere Arbeit ist?« Ich spürte, wie der Druck der Wut in meinem Herzen stieg, und war mir sicher, demnächst zu platzen. Meine Stimme, die durch die unterdrückten Tränen bereits rau war und sich wund anfühlte in meinem Hals, stolperte immer wieder. »Oder willst du hören, dass ich uns beiden die Schuld gebe?«
»Wieso mir?«, fragte Steffen ehrlich verwirrt.
Ich schnaubte, und nun rannen die Tränen doch über meine Wangen. Ich schwang mich aus dem Bett und stand auf. »Klar, ist alles meine Schuld. Danke auch. Vielleicht sollte ich besser gehen.«
»Christina, das habe ich nicht gesagt.« Steffen versuchte, mich aufzuhalten, aber ich sah ihn mit meinem verwässerten, harten Blick an.
»Aber du hast es gedacht, und das kannst du nicht leugnen!« Ich zischte die Worte lediglich, aber es reichte, damit er mich losließ.
Einige Sekunden lang standen wir uns gegenüber, starrten einander an, wobei ich ihn nur undeutlich erkennen konnte. Dann senkte er den Kopf und seufzte schwer.
»Ich schlafe heute Nacht bei einer Freundin.« Ich ging zur Tür, griff mir im Vorbeigehen den Rucksack, der stets bereitstand, damit Steffen mir Wechselklamotten und eine Zahnbürste ins Krankenhaus bringen konnte, wenn ich eine spontane Doppelschicht schieben musste. Was regelmäßig vorkam.
»Nein, bitte. So war das nicht gemeint. Ich wollte nur …«
»Was?!«, brüllte ich ihn an. »Was wolltest du nur? Ganz ehrlich? Vergiss es einfach. Es ist mir scheißegal, was du denkst.«
»Scheißegal?« Steffen klang fassungslos. Und das nervte mich und regte mich auf. »Ich will mit dir reden und dir ist es scheißegal? Christina, was soll ich denn bitte machen? Ich kann meine Gedanken nicht davon abhalten, zu denken. Aber …«
»Nein!« Ich presste den Rucksack an mich und verließ das Schlafzimmer. »Wir haben unser Kind verloren, und ich will mir von dir keine Vorwürfe anhören. Ich verschwinde, und wenn du einen Funken Anstand in dir hast, lässt du mich in Ruhe!«
»Christina.« Seine Rufe verfolgten mich durch die Wohnung, als ich mir die Schuhe, die Autoschlüssel und die Jacke schnappte und in den Hausflur trat. Er lief mir nicht nach. Zum Glück. Das hätte ich nicht ertragen. Keinen weiteren Streit. Es war einfach zu viel.
Ich rannte bis zum Auto, stieg ein und startete den Motor. Doch als ich aus der Windschutzscheibe sah, konnte ich nicht einmal die alte, knorrige Eiche vor unserem Parkplatz erkennen. Also drehte ich den Zündschlüssel zurück und fing hemmungslos an zu schluchzen.
Mein Leben war ein einziger Scherbenhaufen.
Eine Woche war vergangen. Eine Woche, in der ich kaum ein Wort mit Steffen geredet hatte. Die erste Nacht hatte ich tatsächlich bei einer Freundin verbracht. In der zweiten war ich in die Wohnung zurückgekehrt, aber die Stimmung ließ sich nicht reparieren. Ich hatte versucht, mit ihm zu sprechen. Doch sofort begann der Streit von vorn. Jedes Mal, wenn er zu reden anfing, fühlte sich seine Stimme an wie Gift, das sich in meinem Herzen ausbreitete. Keine Ahnung, ob es an mir lag.
Mir fehlte die Kraft, um mich auf ihn zu konzentrieren und jedes seiner Worte zu analysieren. Es fühlte sich einfach schlecht an, wenn ich mit Steffen sprach. Gleichzeitig war mir bewusst, dass er im Grunde nichts dafürkonnte.
Nach der ersten Fehlgeburt war Steffen für mich da gewesen, hatte mich getröstet und mir Halt gegeben, in der Dunkelheit geleuchtet, in der ich mich andernfalls verloren hätte. Doch diesmal wollte ich nicht in seiner Nähe sein, ertrug sie schlicht nicht. Vielleicht, weil es das zweite Kind war, das ich mit ihm verlor, und wusste, was mir bevorstand. Mitleid und betroffene Mienen, die irgendwann in Augenrollen übergingen und in Getuschel, stell dich nicht so an. Hunderttausend Frauen verlieren ihr Baby. Als ob es dadurch besser würde. Ich fühlte mich unzulänglich und unfähig, wie in einem beschädigten Körper, der das Natürlichste der Welt nicht zustande brachte. Gleichzeitig machte es mich wütend, dass andere darüber bestimmten, ab wann der Tod eines Kindes betrauernswert war und wann man es aufgrund statistischer Überlegungen einfach hinzunehmen hatte. Ab wann durfte man um sein Baby weinen? Wenn es drei Monate in einem gewachsen war? Fünf? Sieben? Warum wogen neuneinhalb Wochen weniger als fünfundzwanzig?
Für mich zählte der erste Tag, und ich machte mir Vorwürfe, weil ich Steffen bis heute nichts von meiner Abtreibung erzählt hatte. Auch wenn er nicht der Vater war und ich ihn damals nicht einmal gekannt hatte.
Wie von selbst dachte ich an den Augenblick, als ich mit gerade mal achtzehn Jahren vor der Klinik stand. Ich war allein dorthin gegangen, denn nicht einmal meiner besten Freundin hatte ich von der Schwangerschaft erzählt. Die Kälte der Türklinke hatte sich in meinem Herzen verankert, und ich wusste, dass ich nie vergessen würde, wie eisig und ablehnend sich das Metall an meiner Haut anfühlte. Als wie grausam ich mein Vorhaben empfunden hatte, obwohl mein Verstand mich davon überzeugte, ich täte das Richtige. Minutenlang stand ich vor der Abtreibungsklinik, die Hand auf dem Griff, ehe ich mich dazu durchrang, einzutreten.
Die Überzeugungsarbeit, die mein Kopf damals meinem Herzen gegenüber geleistet hatte, brach nun über mir zusammen, und ich spürte, wie sich die Kälte erneut durch meine Hände fraß. Ein zweites Mal suchte sie sich einen Weg zu meinem Herzen, das wie bei der Eiskönigin einfach zu Eis gefror. Damals taute es auf, als ich einige Monate später Steffen kennenlernte. Gesagt hatte ich es ihm nie, obwohl wir mittlerweile so lange zusammen waren, dass es normal gewesen wäre, ein solches Geheimnis zu teilen. Zumal nach dem Verlust unseres ersten Kindes …
»Christina, kannst du den Zugang bei Frau Müller auf der 7 neu legen? Ich muss dringend eine Runde schlafen, sonst kipp ich noch aus den Latschen.« Mein Assistenzarzt Philipp hatte in der letzten Woche mehrere Dienste für mich übernommen, um mir Zeit zur Erholung zu geben. Er war verständnisvoll gewesen, aber allmählich wuchsen die Ringe unter seinen Augen, und es wurde Zeit, ihm etwas zurückzugeben.
»Klar, mache ich. Ruh dich aus.« Ich verabschiedete ihn in die Abstellkammer des Todes, wie wir den Schlafraum für uns Ärzte gern nannten, weil das winzige Zimmer kein Fenster besaß und es aufgrund der mangelnden Lüftungsmöglichkeit so muffig darin roch, dass man es nie lange aushielt. Vielleicht lag darin gerade die Intention der Krankenhausleitung.
Ich machte mich auf den Weg zu Frau Müller und versuchte, so normal wie möglich zu wirken, um keine fragenden Blicke auf mich zu ziehen. Einige der Patienten schienen dennoch zu spüren, dass mich etwas beschäftigte, doch bevor sie die Fragen stellen konnten, die sich auf ihren Gesichtern anbahnten, überspielte ich meinen inneren Aufruhr mit einem falschen Lächeln und winkte ab.
Zu Hause war Steffen ins Gästezimmer gezogen und überließ mir das Schlafzimmer. Jedes Mal, wenn ich ihm in der Wohnung begegnete, drehte ich um und schlurfte zurück. Obwohl es das Einfachste der Welt gewesen wäre, mit ihm zu reden, ihm zu sagen, wie es mir ging, fühlte ich mich nicht in der Lage dazu. Wenn ich nur daran dachte, was uns zum zweiten Mal widerfahren war, fing ich an zu weinen und stürzte in die altbekannte Dunkelheit aus Vorwürfen, Verzweiflung, Reue. Das konnte ich mir nicht erlauben. Zwar hatte meine Frauenärztin angeboten, mich länger krankzuschreiben, aber das wollte ich nicht. Was hätte ich mit der freien Zeit denn anderes getan, als Gedankenkarussell zu fahren, bis mir schlecht wurde? Nein, Ablenkung. Das war es, was ich brauchte. Von den Gedanken, die mich mit ihren Tentakeln einfangen und hinabziehen wollten.
Ja, es war leichter, wenn ich arbeitete und vergaß. Dann konnte ich weitermachen. Und vielleicht, vielleicht wäre ich dann irgendwann sogar in der Lage, Steffen in die Augen sehen.
Ich stieg in den Fahrstuhl, um auf Station 7 zu fahren. Das feine Surren des Lifts hämmerte in meinem Kopf. Es erinnerte mich daran, dass mir in den letzten Tagen immer häufiger ein Gedanke gekommen war, der sich beharrlich in meinen Verstand bohrte.
Was, wenn das mit Steffen nicht für die Ewigkeit war? Was, wenn ich die Kinder verloren hatte, weil wir niemals hätten zusammen sein sollen? Es erschreckte mich, das zu denken, immerhin waren wir seit sieben Jahren ein Paar und hatten mit dem Kauf der gemeinsamen Wohnung quasi unseren Lebensabend geplant. Und dennoch nagte es in mir wie eine fixe Idee: Was, wenn die wiederholte Katastrophe mir zeigen wollte, was mein Herz längst wusste? Dass wir eingefahren waren, weil ich zwar mit Steffen zusammenwohnte, aber es sich nicht mehr so prickelnd und spannend anfühlte wie am Anfang. Und dass mich jedes einzelne Wort von ihm im Moment wütend machte. All diese Gefühle trieben den Gedanken voran, dass Steffen und ich nicht füreinander bestimmt waren.
Ich schüttelte den Gedanken ab, als sich die Türen öffneten und den Blick auf eine junge Familie freigaben. Die Mutter trug ein Neugeborenes auf dem Arm, und ich presste die Lippen zusammen, bevor ich kurz und abgehackt nickte. Tränen schossen mir in die Augen, und ich rettete mich ins gläserne Schwesternzimmer gegenüber des Fahrstuhls. Zu meinem Glück hielt sich niemand dort auf, sodass mir die Schmach erspart blieb, heulend vor den Schwestern zu stehen. Was mir nicht nur verwirrte Blicke eingebracht hätte. Denn sobald man als Ärztin Schwäche zeigte, machte das augenblicklich im ganzen Krankenhaus die Runde.
Ich atmete ein paar Mal tief durch und nickte schließlich meinem traurigen Spiegelbild in der Glasscheibe zu. Irgendwie würde ich es schon durchstehen, auf der Gynäkologie immer wieder neugeborenen Babys zu begegnen. Auch wenn ich mich dafür in mein Schneckenhaus zurückziehen musste. Die Alternative wäre, meinen Beruf aufzugeben, und das kam nicht infrage.
Einige Minuten später war Frau Müllers Zugang gelegt, und ich konnte mich zurück auf meine Pneumologie-Station begeben, auf der ausgerechnet heute wenig los war. Wäre ich normalerweise dankbar gewesen für eine Schicht, in der endlich einmal Zeit blieb, um mit den Patienten mehr als nur das Nötigste zu sprechen, wünschte ich mir jetzt die übliche Hektik herbei. Denn nur der Stress vermochte es, mich von allem abzulenken. Für wenige Stunden wollte ich nicht an den Tag vor einer Woche denken, sondern ausschließlich ich sein und als Ärztin meiner Arbeit nachgehen. Das schien aber fast unmöglich.
Stattdessen saß ich in dem gemütlichen Pausenraum meiner Station und knabberte an ein paar trockenen Keksen, die eine Patientin für uns dagelassen hatte, nachdem wir sie nach einem Schlaganfall behandelt hatten.
Da vibrierte mein Handy in meiner Kitteltasche. Verwirrt schaute ich auf die Nummer im Display. Keine, die ich kannte. Vermutlich irgendein Werbeanruf oder eine Umfrage. Dass ich mit dem Gedanken spielte, das Gespräch anzunehmen, zeigte mir, wie verzweifelt ich nach Ablenkung suchte. Ich berührte das Display und tippte auf das grüne Symbol. »Guten Tag?«
»Christina?« Die junge, weibliche Stimme kam mir bekannt vor, dennoch konnte ich sie im ersten Moment nicht einordnen.
»Wer spricht denn da?«
»Hier ist Melina. Entschuldige, ich rufe vom Festnetz an, weil die Handyverbindung hier einfach zu schlecht ist. Ich wollte fragen, wie es dir geht.«
Melina. Eine Freundin aus der gemeinsamen Studienzeit. Nach der Uni war sie ins Ausland gegangen, hatte dort ihre Assistenzzeit absolviert und lebte mittlerweile in Schottland. Wir hielten sporadisch Kontakt, weil wir uns zu Unizeiten gut verstanden und uns sogar ein Semester lang eine Wohnung geteilt hatten, bis sie etwas mit einem Typen namens Hannes anfing und ich Steffen kennenlernte. Allerdings sind angehende Ärzte schlechte Freunde – seit fast einem halben Jahr hatten wir uns nicht mehr geschrieben und sicher bereits drei Jahre nicht telefoniert.
Kein Wunder, dass ich Melina nicht sofort erkannt hatte, obwohl ich mit ihr so viele intensive Erinnerungen verband. Gemeinsam durchlittene Anatomieseminare, legendäre Abende in unserer Stammkneipe, an denen Melina nicht nur einmal auf dem Tisch getanzt hatte, ein Lagerfeuer neben dem Brunnen in der Innenstadt und unsere Flucht vor dem Polizisten, der uns das verbieten wollte. Oder das eine Mal, als Melina beschloss, einen Umweg einzuschlagen, statt den üblichen Heimweg von unserer Lieblingsbar zu nehmen. Es war ein lauer Abend gewesen, und ich hatte ihren Vorschlag mit einem Achselzucken hingenommen. Im Nachhinein war dieser Impuls das Beste, was uns passieren konnte, denn während wir kichernd und untergehakt durch eine Nebenstraße spazierten, explodierte in der leerstehenden Lagerhalle, an der wir sonst vorbeigekommen wären, eine Gasleitung und setzte mehrere Gebäude in Brand. Wir hörten lediglich den Knall und erfuhren erst am nächsten Morgen von dem Unglück, das einige Verletzte und einen Toten gefordert hatte.
Als ich Melina entsetzt und erleichtert zugleich dafür dankte, dass sie uns quasi gerettet hatte, winkte sie ab und bestritt, dass es so etwas wie Vorsehung gibt. Allerdings war es nicht das einzige Mal, dass sie etwas entschied, das uns später den Hintern rettete.
Erst gegen Ende des Studiums, nachdem wir uns eines Abends mit Gin Tonic unsere Examensergebnisse schöngetrunken hatten, gestand sie mir, dass ihre Großmutter regelmäßig behauptete, das dritte Auge zu besitzen. An sowas glaubte wiederum ich nicht, vermutete jedoch, dass Melina ein Glückskind war, das auf wundersame Weise richtige Entscheidungen zur richtigen Zeit traf.
»Ach, schön, dass du dich meldest. Wie geht es dir?« Zwar hatte sie mich das Gleiche gefragt, doch ich hoffte, mit meiner Gegenfrage davon abzulenken, dass ich ihr die Antwort schuldig geblieben war. Ich wusste einfach nicht, ob ich es schaffte, die Wahrheit zu sagen, ohne dabei tränenreich zusammenzubrechen. Und eine Notlüge kam nicht infrage – ich hasste jene höflichen oder auch dreisten Unwahrheiten, die heutzutage zuhauf kursierten und fast so etwas wie ein Trend zu sein schienen. Alles musste immer toll, toll, toll sein.
»Ganz gut so weit. Aber ich bin ständig im Stress, ehrlich gesagt. Erwische ich dich gerade in einer Schicht oder hast du kurz Zeit, um dir was anzuhören?«
»Kurze Pause. Schieß los.«
Ein Telefonat zwischen jungen Ärzten lief meistens so ab. Eigentlich hatte keiner Zeit und doch versuchten wir, wenigstens ein paar Augenblicke miteinander zu reden. Und mit Melina zu sprechen, war immer schön, weil ihr sonniges Gemüt mir sogar in den dunkelsten Momenten ein Lächeln auf die Lippen zaubern konnte.
»Wunderbar. Also, ich habe ein Angebot bekommen und wollte fragen, ob du mir helfen kannst.«
»Wie sollte ich dir helfen können?«, fragte ich verwundert, während ich mir einen weiteren Keks aus der Packung fischte. »Du lebst in Schottland und ich in Good Old Germany.« Kurz überlegte ich, den Keks beiseitezulegen, weil ich Zucker sonst so weit wie möglich vermied. Seit einer Woche fehlte mir jedoch die Kraft zu widerstehen, und ich redete mir ein, dass der Süßkram mir half, mich durch die Tage zu hangeln und die mitleidigen Blicke zu ertragen, die mich immer streiften, wenn mir mal wieder Tränen in die Augen schossen.
Als ich den Keks ganz in den Mund schob, kam mir der Gedanke, dass ich in ein paar Wochen, wenn der Sommer an die Tür klopfte, endlich mal den lang geplanten Besuch bei Melina einlösen könnte. Es war jetzt drei Jahre her, dass ich ihr versprochen hatte, nach Schottland zu kommen. Und nie hatte ich es getan. Nicht, weil ich nicht wollte. Es hatte sich einfach nicht ergeben.
»Also, man hat mich gefragt, für Ärzte ohne Grenzen nach Mosambik zu gehen. Dort brauchen sie Hilfe beim Impfen, und Allgemeinmediziner sind eh immer gesucht. Auf jeden Fall würde ich das wahnsinnig gern machen, das ist ein Angebot, das aktuell super in mein Leben passt.«
Melina machte eine Pause, und mir fiel nur ein Grund ein, weshalb sie mich in dieser Sache anrief: Sie hatte die Zusage noch nicht endgültig und brauchte eine Empfehlung. Aber dann wäre es doch sinnvoller, ein Schreiben von einem ihrer ehemaligen Ausbilder einzufordern. Immerhin war sie eine der Besten unseres Jahrgangs gewesen.
»Soll ich dir ein Empfehlungsschreiben aufsetzen?«
»Nein, nein. Das ist alles schon geritzt. Ich kann auf jeden Fall fliegen. Die haben meinen Lebenslauf gesehen und finden toll, was ich gemacht habe. Deswegen muss ich mir keine Sorgen machen.«
Verwirrt richtete ich mich auf. »Und warum rufst du dann an? Wenn du mich fragen willst, ob ich mitkomme …«
Für einen kurzen Moment überlegte ich tatsächlich, ob ich nach Mosambik reisen könnte. Alles stehen und liegen lassen und mich in der Fremde verlieren. Der Gedanke ließ mein Herz höherschlagen, und zu meiner eigenen Überraschung verwarf ich ihn nicht sofort. Mit dem Handy am Ohr ging ich zu dem weißen Hängeschrank, in dem die Becher standen, angelte einen herunter und trat an den Pad-Automaten. Eine ordentliche Tasse Kaffee würde mich zur Besinnung bringen. Ich konnte doch nicht einfach mit Ärzte ohne Grenzen reisen. Nach Mosambik.
Oder doch?
»Ach, was du immer gleich denkst. Das ist kein kitschiger Heftroman aus den Neunzigern.« Melina lachte mit Begleitung eines leichten Knarzens in der Leitung. Ihr Festnetzanschluss schien nicht viel besser zu sein als der Handyempfang. »Ich brauche jemanden, der mich hier vertritt.«
Ich hielt inne, schluckte die letzten Krümel des Kekses herunter, während ich darauf wartete, dass der Kaffee in meinen Becher floss. »Und da denkst du an mich?«
»Ja, keine Ahnung. War so ein Gefühl. Seit zwei Wochen versuche ich jemanden zu finden, aber das ist in etwa so leicht, wie ein Schaf mit der Schere zu scheren, wenn du selbst keine Ahnung davon hast. Frag nicht. Hier auf dem Land erlebt man seltsame Dinge.« Wieder lachte sie. Es klang so frei, so glücklich. So weit entfernt von meinem aktuellen Zustand, dass ich glaubte, niemals wieder so unbeschwert sein zu können. Zu tief saß die Enttäuschung über Steffens Reaktion. Zu schwer wogen der Verlust und mein Schuldgefühl, weil ich davon überzeugt war, dass mich eine Strafe des Universums getroffen hatte. »Ich habe heute Morgen daran gedacht, dich mal wieder anzurufen, und da wurde mir klar, dass du die perfekte Wahl wärst.«
»Ähm …«, sagte ich nur und sah mich im Zimmer um. Ich war allein. Der Chirurg, der bis vor ein paar Minuten zwei Tische weiter noch sein Frühstücksbrot gegessen hatte, war zu einem Notfall gerufen worden und hinausgeeilt. Zumindest offen reden konnte ich. »Aber ich habe doch hier einen Job. Den kann ich nicht einfach aufgeben.«
»Der läuft dir nicht weg. Hast du inzwischen nicht einen unbefristeten Vertrag bekommen? Es wäre nur für ein Dreivierteljahr. Danach kannst du wieder zurück. Nenn es ein Sabbatical oder so. Die Erfahrungen, die du hier machst, werden dir definitiv auch im Krankenhaus weiterhelfen. Ich könnte dir Geschichten erzählen, die glaubt dir kein Mensch. Und du wärst ideal dafür. Jung, gutaussehend, was dir vor allem bei den alten Kerlen hier Tür und Tor öffnen wird. Die nehmen ihre Medizin viel lieber, wenn sie die pfiffige, adrette Ärztin dazu auffordert, als wenn ihre granteligen, alten Frauen es ihnen befehlen.«
Ich musste schon wieder lächeln. Nur zu gut konnte ich mir Melina vorstellen, wie sie einem mürrischen Rentner erklärte, wie er seine Medizin zu nehmen hatte. Mit einem Augenzwinkern und einem leichten Stoß an den Oberarm. Sie hatte noch nie Scheu vor ihren Patienten gehabt. Vielleicht war sie deswegen nach Schottland in eine abgelegene Gegend gezogen, wo man jeden Stein beim Namen kannte und die Menschen ganz anders miteinander umgingen als unter korrekten Deutschen und hier in der Großstadt. Wenn man Melina zuschaute, gewann man den Eindruck, dass sie ihre Patienten eher als Teamkollegen verstand oder Kumpel, denen es zu helfen galt. Es hatte mehrere Oberärzte gegeben, denen ihre scheinbar distanzlose Art übel aufstieß, doch Melinas Erfolg und Beliebtheit unter den ihr Anvertrauten sprachen für sie.
»Ich bin nicht der richtige Typ dafür.«
»Das glaube ich nicht. Es wäre eine neue Perspektive, und dafür bist du doch immer zu haben. Oder hast du es aufgegeben, neue Bereiche im Arztleben zu entdecken?«
Ich presste die Lippen zusammen und nahm den Becher aus dem Automaten. »Nein, hab ich nicht.«
Melina wusste genau, dass ich auch nach dem Studium fleißig in Fachzeitschriften gelesen hatte und immer nach den neusten Behandlungsmethoden suchte, um mich zu verbessern.
»Und glaubst du, dass es für deine berufliche Laufbahn von Nachteil wäre, wenn du ein Jahr Auslandserfahrung vorweisen könntest?«
»Das ist es nicht. Aber …«
Melina unterbrach mich: »Was hält dich dann davon ab? Du könntest deinen Lebenslauf aufpolieren und lernen, wie es ist, eine eigene Praxis zu führen. Auf dem Land. Wenn du das schaffst, schaffst du es überall. Glaub mir.«
Ich suchte nach einem weiteren Grund, den ich vorlegen konnte. Eine Ausrede, die vor mir selbst funktionieren würde. »Es wäre doch viel zu lange. Was wäre mit Steffen?«
In der Sekunde, in der ich sie aussprach, wusste ich, dass meine Frage nur ein Vorwand war und ich diese Entscheidung selbst treffen würde. Unabhängig davon, was irgendjemand, was Steffen mir riete. Und je tiefer Melinas Vorschlag in meine Gedanken sickerte, desto mehr wollte ich ihn zu Ende denken. Das war die Gelegenheit. Einfach verschwinden. Woanders neu anfangen. Wo niemand mich und meine Geschichte kannte. Wo niemand wusste, was ich durchgemacht hatte. Wo niemand mich mitleidig ansah, belächelte oder mir Vorwürfe machte.
»Der kann doch auch von Schottland aus arbeiten. Immerhin ist er Projektarchitekt, oder nicht? Nach der ganzen Pandemiegeschichte haben so viele Berufe gelernt, im Homeoffice zu funktionieren. Und ab und an kann er ja auch mal nach Deutschland fliegen, wenn es notwendig ist. Neues inspiriert, und Schottland wird ihm gefallen. Wirklich. Schlag es ihm doch wenigstens vor.«
Ich stellte es mir vor, sah Steffen vor mir, wie ich ihm von Melinas Anruf erzählte, ihm vom Dorfleben vorschwärmte, von einer schönen Landschaft, der Chance durch Veränderung und schließlich darum bat, mich nach Schottland zu begleiten.
Er würde mir einen Vogel zeigen, dessen war ich mir sicher. Er war kein Abenteurer und hatte andere Vorstellungen vom Leben. Immerhin war längst ein Kind geplant gewesen. Und mit Nachwuchs baute man ein Nest und blieb, wo man war.
»Wozu haben wir denn gerade erst die Wohnung gekauft?«, hörte ich ihn sagen. Ja, solche Dinge hatten mein Leben schon immer bestimmt. Das, was andere von mir erwarteten. Nicht, was ich wollte.
Der Gedanke an eine berufliche Reise nach Schottland festigte sich immer mehr. Es wäre ja wirklich nur für neun Monate. Eine Auszeit, die Steffen und mir vielleicht sogar guttat. Eventuell wäre das ein Argument, mit dem ich ihn überzeugen konnte.
In diesem Moment setzte mein Verstand aus, und zum ersten Mal seit Jahren entschied ich mit dem Herzen. »Soll ich dir was sagen? Ich mache es.«
»Wirklich?« Melina wirkte überrascht, als hätte sie nicht damit gerechnet, dass ich ihrem Vorschlag zustimmen würde. »Das ist toll. Ich freue mich. Wow. Wann kannst du kommen? Ich plane die Übergabe und organisiere deine Anreise und alles.«
»Das muss ich mit dem Krankenhaus klären, aber ich vermute, dass ich Ende nächster Woche da sein könnte.« Ich dachte an die Krankschreibung, die meine Gynäkologin mir angeboten hatte. Sollte mich das Krankenhaus nicht freistellen, konnte ich die ausspielen. Notfalls würde ich kündigen. Mein Puls pochte mir in den Ohren, und ich spürte plötzlich, wie sehr mein Herz sich danach sehnte zu verschwinden, rauszukommen aus allem Vertrauten. Wenn ich dem jetzt nicht nachkam, würde ich vielleicht für immer in meinem depressiven Kreislauf festhängen.
»Das reicht mit Sicherheit. Ach, das ist ja klasse. Christina, du bist eine Wucht. Ohne dich wäre ein Traum von mir vielleicht nie wahr geworden.«
»Schon gut. Noch bin ich nicht da. Schickst du mir bitte deine Adresse, damit ich weiß, wohin ich fliegen muss?«
»Ich schicke dir sogar den Flugplan. Der ist nämlich relativ simpel – ab London geht nur alle drei Tage ein Flug in meine Gegend. Wollen wir heute Abend telefonieren? Ich habe gleich den nächsten Patienten.«
»Klar. Die Nummer hast du ja. Meld dich einfach. Ich gehe auf jeden Fall ran.«
Ich spürte ein breites Schmunzeln auf meinem Gesicht. Da war es wieder: Melina hatte nur eben zwischen zwei Patienten angerufen. Weil sie so ein Gefühl hatte, das ewige Glückskind. Manchmal gab es wohl doch so etwas wie Schicksal, das sich nicht beeinflussen ließ.
Nachdem ich aufgelegt hatte, kam ich mir auf einmal jedoch ziemlich naiv vor. Machte ich es mir nicht zu leicht, wenn ich so überstürzt das Land verließ? Wenn ich einfach vor meinen Problemen floh?
Andererseits wäre es das erste Mal in meinem Leben, dass ich den leichteren Weg nähme. Denn Medizin zu studieren, obwohl meine Eltern darauf drängten, dass ich mir einen Job suchte, um die Familie zu unterstützen, hatte viel Kraft gekostet. Sie erwarteten von mir, mich und meine zwei Geschwister durchzufüttern, weil mein Vater als Garten- und Landschaftsbauer und meine Mutter als Kassiererin nicht genug verdienten, um uns alles bieten zu können, was ihnen wichtig war. Bis heute steckten meine Eltern bis über beide Ohren in Schulden. Inzwischen konnte ich ihnen finanziell unter die Arme greifen, was sie dankbar annahmen, aber in den ersten Jahren meines Studiums hatte ich hart kämpfen müssen, das durchzuziehen.
Die Mühen hatten sich gelohnt, denn jetzt ging ich einer Arbeit nach, die ich liebte und die mich jeden Tag neu herausforderte auf eine Art, die ich so nie erwartet hätte.
In meinen Gedanken tauchte ein Bild auf. Ich in einer Praxis, draußen im Warteraum einige Patienten. Vor dem Fenster die unberührte Schönheit Schottlands. Eine kleine, beschauliche Wohnung in der Nähe, von der aus ich am Wochenende Ausflüge machte. Wanderungen unternähme und vielleicht mit einem Kanu an der Küste entlangführe.
Einige Minuten lang träumte ich mich davon, stellte mir vor, wie es wäre, tatsächlich dort zu leben. Und erst als sich die Tür öffnete, erwachte ich zuckend.
Die ältere Stationsärztin ging zum Radio und stellte es an. »Es stört Sie doch nicht, oder? Ich mag es nicht so still beim Frühstück«, sagte sie mit ernster Miene, die mir gar keine andere Möglichkeit ließ, als den Kopf zu schütteln.
Ein wunderschönes und zugleich trauriges Lied von Sam Lewis füllte den Raum. Ich lauschte mit geschlossenen Augen, versuchte mir vorzustellen, dass ich wie der Adler im Song weit hinaus in die Welt flog, um dort nach einer neuen Bestimmung zu suchen.
Ein Adler. Kein Adlerpärchen. Keine Adlerfamilie. Augenblicklich wurde mir eines klar: In all meiner Tagträumerei von Schottland war Steffen nicht ein einziges Mal aufgetaucht. Nicht mal ein Ausflug, den wir gemeinsam unternahmen. Nur ein Adler. Still und heimlich hatte ich meinen Partner aus meiner Zukunft gestrichen, ohne dass es mir bewusst gewesen war. Ja, wir hatten Probleme, aber gingen sie wirklich so tief, dass ich mir ein weiteres Leben mit ihm gar nicht mehr vorstellen konnte?
Mir wurde übel und meine Finger zitterten. Unabhängig davon, ob ich nach Schottland ging oder nicht, würde ich die Beziehung mit Steffen vorerst auf Eis legen. Wir hatten viel durchgemacht. Er hatte mir geholfen, als meine beste Freundin vor Jahren im Urlaub einen schweren Motorradunfall gehabt hatte und ich nicht bei ihr sein konnte, um ihr beizustehen. Tag und Nacht hatte er mit mir das Telefon bewacht und mich geweckt, wenn eine neue Nachricht reingekommen war. Oder als wir unsere erste Wohnung von heute auf morgen verloren, weil der Vermieter Eigenbedarf angemeldet hatte. Angeblich hätte er drei Monate zuvor einen Brief mit einer entsprechenden Ankündigung geschrieben. Innerhalb einer Woche hatten wir uns eine neue Bleibe gesucht, den Umzug gestemmt und waren trotzdem ein paar Tage später wieder arbeiten gegangen.
Ich fühlte mich schlecht, diesen Mann jetzt loszulassen, aber im Moment konnte ich nicht an ihm festhalten. Vielleicht brauchte ich den Abstand, um den Kopf freizukriegen. Und vielleicht war die Pause in Schottland lang genug, um anschließend neu zueinander zu finden.
Als der Song endete, fühlte ich mich in meinem Entschluss bestärkt. Ich klatschte mir auf die Oberschenkel und machte mich auf den Weg ins Personalbüro. Dort würde ich die Formalitäten klären, um Ende nächster Woche eventuell schon in Schottland zu sein.
Auch wenn ich immer noch diese überbordende Finsternis in mir spürte, glitzerte da nun ein winziger Hoffnungsschimmer. Irgendwo in der hintersten Ecke meines Herzens glomm er und flüsterte: Du kannst das überstehen.
Der Flughafen in Oban war winzig. Er erinnerte mich an einen Sportflughafen, auf dem vor drei Jahren eine Architektentagung stattgefunden hatte, zu der ich Steffen begleitet hatte. Am Ende der Veranstaltung waren die Teilnehmer fast alle betrunken gewesen und hatten versucht, in einen Sportflieger einzubrechen, der auf dem Rollfeld parkte. Zum Glück erfolglos.
Es gab nur eine Landebahn, direkt neben einem Gewässer. Zwar hatte ich mir die Landkarten angesehen, aber keine Ahnung, wie der See oder Sound hieß, der hinter dichtem Nebel verschwand. Statt eines Tunnels, durch den ich in ein Hauptgebäude gelangt wäre so wie an den Flughäfen, die ich von zu Hause kannte, empfing mich beim Ausstieg aus der Maschine lediglich ein rotgepflasterter Platz, auf dem die Flugzeuge vor dem Tower aufgereiht parkten. Eine freundliche Stewardess begleitete mich zum Empfangsgebäude, da ich die Einzige war, die hier ausstieg. Alle anderen flogen weiter bis nach Coll.
In dem schmalen weißen Haus gab es nicht viel zu sehen. Kein Duty Free Shop und auch sonst keine touristischen Angebote. Dafür war das Toilettenschild überdimensional groß.
Nachdem ich die Einreiseformalitäten erledigt hatte, trat ich auf den Parkplatz hinter dem Gebäude. Melina hatte versprochen, mich dort einzusammeln. Ich warf einen Blick in jeden der vier Wagen, aber sie war nicht da.
Gab es einen Notfall in ihrer Praxis? Ich schaute auf mein Handy. Der Empfang war mehr schlecht als recht, und ich wollte schon zurück in die Halle gehen, als auf einmal ein schmutziger und leicht zerbeulter Ford Ranger mit quietschenden Bremsen durch den Kreisel hinter dem Parkplatz bretterte und die Ausfahrt zum Flughafen nahm. Sicherheitshalber trat ich einige Schritte beiseite, um nicht aus Versehen unter die Räder zu geraten.
Der Wagen hielt direkt neben mir und die Scheibe der Fahrerseite wurde händisch heruntergekurbelt. Melina grinste mich an. Seit unserem letzten Treffen hatte sie sich deutlich verändert. Früher trug sie gern Kostüme, körperbetont geschnittene Blusen und Blazer, dazu schicke, nicht zu hohe High Heels. Ihre blonden, gewellten Haare hatte sie stets offen getragen. Eine Zeit lang hatte sie sogar eine Fake-Brille aufgesetzt, um klüger zu wirken. Als ich sie kennenlernte, dachte ich noch, dass sie im falschen Kurs saß, und wollte sie zu den Juristen schicken. Dann stellte sich heraus, dass es ihre Art war.
Jetzt jedoch saß dort eine Frau in einem legeren grünen Oberteil, einer simplen Jeans und Turnschuhen. Ihre Haare hatte sie zu einem Dutt zusammengebunden, der offensichtlich in Eile entstanden war, denn die Haare standen in alle Richtungen ab. Dafür strahlte Melina wie der hellste Sonnenschein, und die Frühlingssonne hatte ihre Sommersprossen wachgeküsst.
»Christina, spring rein. Wir müssen die Fähre erwischen und in die Praxis zurück. Ich habe da noch einen Bäcker mit leichten Verbrennungen sitzen.«
Erschrocken riss ich die Tür auf, warf meinen Koffer auf die offene Ladefläche und stieg rasch ein.
»Wie schlimm ist es?«, fragte ich, sofort im Ärztinnenmodus.
Melina winkte ab und fuhr mit röhrendem Motor an. »Greg ist hart im Nehmen. Der verbrennt sich jede zweite Woche, wenn er mal wieder einen über den Durst getrunken hat und frühmorgens schwankend gegen seinen heißen Ofen taumelt.«
»Ähm, okay.« Ich hob eine Augenbraue und sah meine Freundin verwirrt an. Sie langte nach einem halb verspeisten Apfel, der vor dem Schaltknüppel lag, und biss herzhaft hinein. »Sowas lässt du zu? Wäre es nicht besser, ihm zu sagen, dass er nicht so viel trinken sollte?«
»Habe ich am Anfang versucht, aber er ist 65, ein sturer Esel und macht das beste Shortbread in der ganzen Council Area. Dafür nehme ich in Kauf, dass er alle paar Wochen bei mir auftaucht. Immerhin habe ich ihn davon überzeugen können, zu mir zu kommen, statt die Verletzungen einfach mit Mehl zu bestreuen, wie seine Mutter es ihm beigebracht hat.« Vielsagend schnaubte sie.
»Wow, das klingt sehr …« Mir fiel nur ein Wort dafür ein, aber ich wollte Melinas Wahlheimat nicht beleidigen.
»Hinterwäldlerisch?« Melina lachte und fuhr über eine Brücke, die über das Gewässer führte. Der Nebel kroch über das Wasser und schien alles um uns herum zu verschlucken, inklusive der traumhaften Landschaft, die sich hinter den Schleiern erstrecken musste.
»So wollte ich es nicht ausdrücken«, sagte ich.
»Nimm dich nicht zurück, Süße. Die Menschen hier schätzen eine ehrliche Haut. Zwar ist es manchmal echt verletzend, was sie sagen, aber du weißt immer, woran du bist. Und tatsächlich ist es nicht so hinterwäldlerisch, wie du annimmst. Es gibt nur einfach noch einige echte, schottische Originale. Lass dich überraschen.«
Einen Moment lang saßen wir schweigend nebeneinander. Im Radio spielte irgendein peppiger Song, den ich nicht kannte, und Melina trommelte den Rhythmus auf dem Lenkrad mit.
»Es ist schön, dich zu sehen«, sagte ich, als mir klar wurde, dass wir uns noch gar nicht begrüßt hatten. Melina war so stürmisch wie eh und je, und ich bedauerte, dass uns lediglich eine Woche für die Übergabe blieb, ehe sie nach Mosambik aufbrach. Ihre freche, frische Art hätte mir sicher gutgetan.