Ein Joghurt namens Annika - Marcus Werner - E-Book

Ein Joghurt namens Annika E-Book

Marcus Werner

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Beschreibung

Chaos im Kühlschrank, Chaos im Bett Erstsemester Jan ist mit Jugendliebe Silvia in der Hoffnung nach Köln gezogen, dort bald das Ende seiner Jungfräulichkeit sowie wilde Studentenpartys feiern zu können. Silvia möchte auch Partys feiern. Vor allem aber möchte sie warten. Womöglich bis zur Ehe. Ist es ein Wunder, dass sich Jan bald beim versuchten Seitensprung erwischen lässt? Silvia zieht aus, und Jan macht sich auf die Suche nach interessanten Mitbewohnern. Die findet er auch. Und er fragt sich bald, ob was dran ist an dem Spruch: Das erste Semester verbringt man mit der Suche nach neuen Freunden – und die folgenden damit, sie wieder loszuwerden …

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Marcus Werner

Ein Joghurt namens Annika

WG-Roman

Für Christian

1.

«Verdammtnochmal, das ist doch Irrsinn, oder nicht? Die macht mich noch fertig!», dröhnte Jan nach ein paar Kölsch am Tresen im Polatze, einer Studentenbar irgendwo am Zülpicher Platz. Sein Jura-Kumpel Clemens presste mit dem Kölschglas feuchte Kreise auf seinen Bierdeckel und nickte artig mit hochgezogenen Augenbrauen. Seit über einer Stunde saß Clemens Jan nun schon stumm wie ein Karpfen gegenüber und bemühte sich mit aller Kraft, einen erschütterten Gesichtsausdruck zu machen. «Mann, Clemens, jetzt denk endlich mal mit. Da stimmt doch was nicht! Oder? CLEMENS!»

«Mann, Jan, ich blick da nicht mehr durch. Silvia, das Biest– Silvia, der Glückstreffer– Silvia, die dumme Kuh– Silvia, der Engel– Silvia, der Albtraum aller gesunden Männer. Was denn nun?»

Jan warf einen Blick auf seine Armbanduhr: «Hast du Zeit?»

Clemens hob die Hand und orderte zwei frische Kölsch. Dann ließ er sich grinsend in den Winkel der Eckbank fallen: «Aber versuch’s kompakt.»

Die Feier zu Jans Achtzehntem war ein Flop. Anders konnte man das nicht sagen, ohne dreist zu lügen. Der einzige Höhepunkt: So kurz nach zehn wurde aus lauter Verzweiflung die Glotze angeschmissen. Eine Stunde lang «Sieben Tage, sieben Köpfe». Mike Krüger erzählte, dass sein Auto schon wieder in der Werkstatt war. Seine Frau hatte es rückwärts aus der Garage rausfahren wollen. Sie hatte nur vergessen, dass sie am Tag zuvor schon rückwärts hineingefahren war.

Das war ein bisschen lustig. Danach wurde die Party richtig schlimm. Jans verzweifelter Vorschlag an seine Gäste «Wollen wir ein Partyspiel machen?» verhallte im Nichts, und damit war es offiziell: Die Feier brachte es nicht. Was für eine Scheißblamage.

Gegen Mitternacht hörte Jan dann, wie einer seiner besten Freunde einem anderen Typen zuraunte: «Ich glaub, ich fahr noch zu André. Der Weinkeller von dem seinen Eltern ist voll bis unter die Decke mit geilstem Zeug und so.»

Geilstes Zeug. Genauer definiert brauchte es keiner. Wein unterschied man in Jans Kreisen in dieser Zeit nach rot, weiß und Schorle, außerdem nach einer Skala von «bringt nix» bis «birnt hammer». Die Aussicht auf Rausch löste sofort allgemeine Aufbruchstimmung aus. Immer mehr der fünfzehn Gäste griffen zu ihrer letzten Salzstange, dann zu den Jacken und schließlich zur Türklinke, alles dank des Alkohols – den es bei Jan nicht gab, solange dieser noch seine riesigen Füße (Schuhgröße 46) unter den elterlichen Tisch (Kiefernholz, klar lackiert) im Wohn- und Esszimmer ihres Reihenhauses (Endhaus!) in niedersächsischen Lohne (vierundzwanzigtausend Einwohner) streckte.

Zwei Minuten später war die Menschenmasse keine mehr, sondern in alle Richtungen verschwunden – bis auf Silvia, die dem Herdentrieb tapfer widerstanden hatte. Als Jan den vorletzten undankbaren Gast an der Haustür verabschiedet hatte («Hej, danke, dass du da warst.» – «Bitte, bitte, gern geschehen.») und wieder in den Partykellerraum zurückschlurfte, waren die Dire Straits verstummt und Silvia dabei, das Knabberzeugbuffet abzuräumen, indem sie übriggebliebene Chipsletten in deren Plastikbettchen zurücksortierte. Na, das war ja nun echt Quatsch. Aber Jan wollte Silvia nicht albern finden. Immerhin war sie der einzige Gast und auch die einzige Frau ringsherum.

«Warum räumst du auf? Willst du, dass ich auch heimgehe?»

Silvia fuhr japsend vor Schreck herum und lächelte nervös. Jan fand seinen Spruch super. War ihm einfach so eingefallen. Willst du, dass ich auch heimgehe? Sehr geil. Jan hielt sich für einen schlagfertigen Menschen. Seiner Oma hatte er dieses Kompliment durch beharrliches Nachfragen auch schon einmal abgerungen.

Silvia streifte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht: «Ach, ich finde es immer so schade, wenn die Chips so Feuchtigkeit und so ziehen. Dann kann man sie am nächsten Morgen nur noch wegschmeißen.»

So Feuchtigkeit und so.

Jan wurde mit einem Mal bewusst, dass haarscharf nach dem Ende seines achtzehnten Geburtstages die Chancen auf sein erstes Sexerlebnis so günstig standen wie nie zuvor in den sechs Jahren seiner Geschlechtsreife. Der Weinkeller im Haus von Andrés Eltern würde ihm, dem ausgebooteten Gastgeber, den Abend vielleicht noch gehörig veredeln. Per Kavalierstart in die Volljährigkeit! Und dann ausgerechnet mit Silvia. Wenn er sich bislang vorgestellt hatte, mit einer Frau zu schlafen, war Silvia eine der Starbesetzungen des Films in seinem Kopf. Die anderen stammten aus peinlichen Videos und neuerdings auch irgendwo aus diesem Internet.

Silvia hatte diese Platzierung in Jans Ranking wirklich verdient, denn sie sah einfach… ach! Schmaler, runder Po, Bauch flach wie ein Brett, ordentliche Brüste in bester Lage, intelligenter Blick aus braunen Augen, und die Länge ihrer braunen Haare erlaubte es den Strähnen, neckisch über die Schultern auf ihr Dekolleté zu fallen, bevor Silvia sie mit einem Shampoowerbungskopfschütteln wieder nach hinten schleuderte. Dazu natürlich noch die obligatorischen inneren Werte, klar. In aller Kürze (was jetzt nicht oberflächlich wirken soll): witzig, schlau, redegewandt. Und wenn es in der Schule mal ungerecht zuging, dann war Silvia zur Stelle. Zivilcourage. Unter Abiturienten ein als exzellent angesehener Zug.

Ja, und ihre Brüste, wie gesagt.

Das Problem: Silvia galt allgemein als die unknackbare Auster: «Sex, Sex, Sex. Könnt ihr Jungs auch mal an was anderes denken?» Die Antwort hatte vier Buchstaben und viele Ausrufezeichen. Aber Silvia wollte auf den Traumprinzen warten. Das hatten ihre Freundinnen ausgeplaudert und damit Silvias Marktwert in eine kribbelnde Höhe getrieben.

Die Lösung: Jan! Er traute es sich ehrlicherweise zu, die Gute rumzukriegen. Und hier fiel Ehrlichkeit leicht. Wenn nicht er, wer bitte schön dann in der Klasse? Er war die Sportskanone, ein leidenschaftlicher Schwimmer, und das sah man ihm auch an.

Also: nicht lange fackeln: «Und, was machen wir zwei beiden Hübschen jetzt noch Schönes?» Shit! Der Anmachspruch war so spontan wie dämlich. Jan spürte einen kalten Schauer in seinen Achseln: Toll, die Schweißdrüsen sprangen an. Merken: Die Arme bleiben unten. Wie immer, wenn es spannend wurde.

«Pfff», sagte Silvia, «keine Ahnung.»

Na großartig! Prompt lief es scheiße. Alternativbefriedigung: Erdnüsse oral. Jan quetschte sich eine Handvoll vom Buffet direkt in den Kopf.

Da trat Silvia niedlich (und höchstens eine Spur nervös) lächelnd an ihn heran. Ach so, erst hott und dann hü. Jan hätte zu gern befreit und sinnlich mitgelacht. Aber das hätte bedeutet, den Blick auf den Speisebrei in seinem Mund freizugeben. Und Speisebrei, das wussten selbst Jungfrauen wie er, war eine wirksame Barriere auf dem Weg zum Liebesglück.

Silvia griff in seine Hand und fummelte ihm ein paar Nüsse zwischen die Lippen. Jan verspürte nicht die rechte Muße für langes Geturtel: «So, komm, reicht.» Er pfefferte die Nüsse irgendwo auf den Tisch, ergriff mit röstfettigen Salzhändchen Silvias Hüften und näherte sich mit seinem Mund ihren Lippen. Instinktiv huschte seine Zunge die Zahnreihen entlang, nahm an Nusspampe mit, was sie ergattern konnte, und schaufelte sie in den Rachen. Präzisionsarbeit: Alles frisch gewischt und bereit zur Mundraumfusion. Doch Silvias blöde Gosch machte gnadenlos dicht. Kein Zutritt. Und auch ihre Zunge wollte heute nicht mehr vor die Tür. Silvia zog ihren Kopf zurück und hauchte: «Lass es uns langsam angehen.» Jans Halsschlagadern pochten. Der Rest pochte für die Katz.

Viel mehr passierte nicht an diesem 20.Februar 1999.Der 20.Februar wurde zu «unserem Tag», wie Silvia und Jan ihn fortan titulierten (fehlte nur noch ein Bausparvertrag). Wenn Silvia ihren Schatz von da an etwa einmal pro Tag abfragte, ob er sie denn auch liebe, konnte er immer aufrichtig bejahen. Der Beweis: Er begehrte sie wie Sau. Und fieberte seit jener Nacht seinem allerersten Beischlaf mit ihr entgegen – und damit, Klartext, seinem allerersten Mal überhaupt.

Doch die Angebetete kam sexuell nicht in die Pötte.

Nach einem halben Jahr libidinöser Öde versuchte es Jan stumpf mit einem Appell an Silvias Hormone. Er lud seine Prinzessin zum Essen in die sturmfreie Bude ein. Nur Sekunden, nachdem sie geklingelt hatte, riss er die Haustür aus dem Schloss – bekleidet mit einer knappen Unterhose, Socken und einer fleckigen Kochschürze um die Hüfte. Seine Oberarme glühten und ließen am Bizeps eine dicke Ader erkennen. Dafür hatte Jan zuvor in seinem Zimmer mit einem brachialen Hanteltraining gesorgt.

«Huch, ich dachte, du kommst erst um acht. Wie viel Uhr ist es denn?»

Dann leckte er, verführerisch mit seinen legendären Lachgrübchen lächelnd, den Kochlöffel ab, der gerade noch in Spaghetti-Fertigsoße gerührt hatte. Silvia lachte kurz verdutzt und marschierte an ihm vorbei: «Es ist 20Uhr 10.So stehst du am Herd, wenn du alleine bist? Komm, zieh dir was an, Janni, ich hab totalen Kohldampf. Hm, riecht das aber leckerschmeckerschmackofatz.»

Gelernt: Anders als Männer reagierten Frauen offenbar nicht per Knopfdruck auf optische Reize. Stattdessen ließen sie sich durch die olfaktorischen Reize einer schwachsinnigen Fertigtomatensoße lenken.

Einige asexuelle Monate später – die Wunden der Demütigung waren halbwegs vernarbt – startete Jan mitten im brutalsten Abistress den nächsten Anlauf. Während einer Picknickpause auf ihrer turteligen Jubiläumsradtour an «ihrem Tag» wurde auf einer Parkbank in einer abgelegenen Waldeslichtung zwar getechtelt und gemechtelt, dass es nur so krachte im feuchtkalten Gehölz. Aber als Silvia bei rund acht Grad über null schließlich begann, ihre Hände unter seinem T-Shirt zu wärmen, interpretierte Jan ihr Gesuch auf Austausch von Körpertemperatur als feierlichen Startschuss in die neue Ära «Liebe plus Sex», und das war ein Fehler. Er wühlte aufgeregt in seinen Hosentaschen, bis er endlich erleichtert und andächtig vor den Augen seiner Prinzessin ein Kondom hervorzauberte. (Kondome hatte Jan seit Jahren vorrätig. Er hatte sogar schon zweimal welche gekauft, weil bei der ersten Packung schließlich das Verfallsdatum abgelaufen war.) Doch beim Anblick des Präservativs sackte die ganze schöne Turtelstimmung in Silvias Gesicht zusammen wie ein Soufflé, das man zu früh aus dem Ofen gezogen hatte: «Verstehst du denn nicht? Ich will warten.»

Jan warf das Kondom wütend ins braune Gras: «Worauf? WORAUF? Immer wenn ich dich das frage, zuckst du mit den Schultern.»

Silvia zuckte mit den Schultern. Dann schwiegen beide blöde. Schließlich sagte Silvia leise: «Vielleicht fühle ich mich zu jung. Vielleicht ist mir das alles zu schmuddelig. Vielleicht will ich keinen Sex, bevor wir nicht geheiratet haben. Keine Ahnung. Ich will einfach nicht.»

Hätte Jan eine Krawatte getragen, jetzt wäre der Zeitpunkt gewesen, sie sich gestresst und mit gerecktem Hals von der Gurgel zu zerren. Zu jung! Zu schmuddelig! Kein Sex vor der Ehe! Herrgott nochmal!

Jan zwang sich zu seinem Lieblingslächeln mit den Grübchen, kniete zitternd vor sie und ergriff ihre Hand: «Liebste Silvia Vogtmann, hiermit frage ich, Jan Erhardt, dich feierlich: Möchtest du meine Frau werden?»

Die Holde gepresst: «Damit du mich endlich ficken kannst, ja?»

Soso, sie wollte also nicht. Stattdessen sprang sie auf: «Am besten holst du dir erst mal einen runter und überlegst dann mal, was du da gerade alles kaputt gemacht hast.»

Silvia griff sich ihr Fahrrad und gurkte einfach davon. Jan und Schlagfertigkeit. Was hatte ihm seine Oma damals nur eingeredet? Als er endlich wieder in seine warmen Klamotten schlüpfte, war er sich nicht einhundertprozentig sicher, ob er noch eine Freundin hatte.

Das ließ sich aber schnell klären. Acht Wochen der Funkstille und diverse Frustsaufnächte später war wieder alles im grünen Bereich. Da ließ Silvia Liebe vor Recht walten. Und Jan war wieder das überglückliche Honigkuchenpferd.

Sie hatte Jan infiziert, wie ein Virus einen Computer. Silvia, der I-love-you-Virus. Ja, genau! Wie der, der soeben weltweit Tausende Festplatten von Menschen ruiniert hatte, die davon ausgegangen waren, einen Liebesbrief in ihrem Posteingang zu haben. Genauso hatte Jan seine Silvia angeklickt, und sie hatte sofort sein Herzstück infiziert. Nun wollte sie sich nicht mehr deinstallieren und versuchte, sein (Be-)Triebssystem lahmzulegen.

Ansonsten lief alles wie am Schnürchen. Abi: eins Komma vier. Bei der Bundeswehr war er wegen einer fünf Millimeter langen Narbe an der linken Ferse ausgemustert worden. Die Uni konnte also kommen. Alles prima außer Sex.

Silvia schloss eine halbe Note schlechter ab als ihr Freund, dies aber nur, weil sie, wie sie bei jeder halbwegs passenden Gelegenheit hervorhob, sich «keine Sportnoten in eine Bescheinigung über die geistige Reife für ein Hochschulstudium» hineinrechnen lassen konnte.

Das war im Mai 2000.Angela Merkel war gerade CDU-Vorsitzende geworden, unddasgroßeThema, das die Menschen in Deutschland bewegte, war ihre Frisur (Jan konnte nicht unbefangen mitlästern, denn seine Mutter hatte denselben Topfschnitt). Eine neue Sendung namens «Big Brother» lief auf Hochtouren und markierte den Untergang des Abendlandes (Silvias Überzeugung: «So aufgesetzt bescheuert ist doch kein Mensch; das müssen Schauspieler sein»). Und Jan bewarb sich für ein Jurastudium. Das war etwas Solides und hielt ihm alle Türen offen. Einfach mal gucken.

Silvia war da zielstrebiger. Ihr Vater war Zahnarzt, warum sollte sie das nicht auch werden? Eines Tages bekam Jans kleine Zahnfee eine Zusage für Köln.

Jan auch. Ach, super, Köln. Genau dort wollten die zwei hin. In die schnuckelige Metropole am Rhein.

Und das passte einem Menschen ganz hervorragend in den Kram: Silvias Vater. Dr. med. dent. Roland Vogtmann hatte nämlich einen alten Studienfreund, den Meyer Erich, der kürzlich in Köln eine kleine Villa in guter Lage geerbt hatte, die nun leer stand, weil er sie vorerst nicht selbst beziehen konnte. Denn Dr.Erich Meyer hatte seine Praxis in der Nähe von Heidelberg, und das sollte die nächsten Jahre auch so bleiben. Ein Verkauf des Hauses in Köln kam aber anscheinend nicht in Frage. Es war das Elternhaus seines verstorbenen Vaters. Und der hätte sich in diesem Fall wahrscheinlich im Grabe herumgedreht, wäre er zuletzt nicht von der Brust abwärts gelähmt gewesen. Das Anwesen sollte daher in Familienhand bleiben. Aber auch mit dem Vermieten tat sich Dr.Meyer schwer. Vermieten bedeutete nix als Ärger. Er konnte sich noch zu gut daran erinnern, wie seine Eltern in den Sechzigern ihr Reihenendhaus in Köln-Rodenkirchen an eine Familie vermietet hatten, über die sich im Laufe des Mietverhältnisses herausstellte, dass sie es in brillanter Weise verstand, die Mietsache zu verwohnen – was auf Dauer nicht nur der Bausubstanz zusetzte, sondern auch dem Nervenkostüm von Dr.Meyers Mutter. Die ganze Misere gipfelte damals in einem verheerenden Küchenbrand. Laut Sachverständigengutachten musste sich Folgendes abgespielt haben: Die Mutter der Mieterfamilie hatte für ihre Kinder Fischstäbchen zubereiten wollen, dann aber durch einen Anruf einer angeblich guten Freundin die Pfanne aus den Augen gelassen. Am Ende waren die Fischstäbchen bis zur Ungenießbarkeit verkokelt und die Küche bis zur Unbewohnbarkeit gleich mit. Frau Meyer bekam daraufhin irgendwelche sehr starken Tabletten zur Beruhigung.

Dr.Meyer wollte solche Unannehmlichkeiten sicherlich gerne aus seinem Leben heraushalten. So wirkte denn auch er ganz entzückt, von seinem alten Kumpel Vogtmännchen zu hören, dass dessen Tochter mit ihrem Freund (beides Einser-Abiturienten) in Köln eine Unterkunft suchte. Schnell waren sich die alten Burschen einig, dass es besser war, das Haus von den jungen Leuten bewohnen zu lassen, als das Risiko einzugehen, irgendwelchen Mietgaunern und ihrem Mieterschutzverein zum Opfer zu fallen. Das war Erich Meyer sogar einen Freundschaftsmietzins wert.

Dies alles erzählte Dr. med. dent. Roland Vogtmann seinem Schwiegersohn in spe, wie er Jan zu dessen Unwohlsein seit neuestem betitelte, bei einem konspirativen Treffen am Gartenteich der Familie Vogtmann, während Silvia sich gerade beim Rhönradkursus in der städtischen Turnhalle austobte. Ihr Vater hatte sich vorgenommen, Silvia mit dem Haus in Köln zu überraschen. Wirklich zuvorkommend, dass er Jan in seine Pläne einweihte, wie er Tochter samt zukünftigem Gatten unterzubringen gedachte. Er musste ihn wirklich in sein großes, saftiges, väterliches Herz aufgenommen haben.

«Aber wenn Silvia das Haus gar nicht gefällt?», gab Jan zu bedenken. «Dann viel Spaß.»

Herr Vogtmann zog an seinem Zigarillo und dann die Augenbrauen hoch: «Hm, das kann ich mir nicht vorstellen. Aber du kennst den Geschmack von meiner kleinen Süßen.»

Den Geschmack meiner Süßen. Ja, was ihren Wohnstil anging. Nein, wenn es darum ging, wie wohl Brust, Bauch, die Innenseiten ihrer Oberschenkel und so weiter mundeten.

«Am besten guckst du dir bei Gelegenheit das Haus vor Ort an. Du musst ja sowieso demnächst mal nach Köln, oder nicht?»

Damit hatte Jan den Ärger offiziell an der Backe. Der Knatsch begann schon, als Jan seiner Zahnfee klarzumachen versuchte, warum er nun alleine nach Köln fahren wollte, um sich einzuschreiben.

«Ich dachte, wir wollten uns in Köln einen schönen Tag machen, mit Shoppen und Kino und allem Pipapo», schmollte Silvia. Dann log ihr Jan alles Mögliche vor, was ihm einigermaßen glaubhaft erschien:

Er erläuterte, dass er einen Termin mit einem Professor haben würde, der just in den Zeitraum fiele, in dem Silvia mit zwei Freundinnen an die Ostsee fahren wollte (Silvia: «Vielleicht kann ich meinen Ausflug mit Biggi und Evelyn ja noch verschieben…»),

dass der Termin außerdem sehr lange dauern und vom Tag nicht viel übrig bleiben würde (Silvia: «Was quatscht ihr denn da die ganze Zeit? Macht der Prof das mit allen fünfhundert Erstsemestern so oder was?»),

dass sie nicht die ganze Zeit quatschen würden, sondern dass Jan auch sehr viele Formalitäten zu erledigen habe (Silvia: «Kannst du mir bitte mal sagen, wofür man vor Studienbeginn stundenlang Zettel ausfüllen muss? Wie heißt denn dieser Bürokraten-Lehrstuhl?»),

dass er noch nicht wisse, bei welchem Prof der Termin letztendlich stattfinden würde (Silvia: «Ach, und warum ist dann schon klar, dass der Termin nicht verschoben werden kann?»),

dass Silvia das jetzt verdammt nochmal einfach mal seine Sorge sein lassen solle (Silvia: «Schon gut. Vielleicht studiere ich übrigens doch Tiermedizin in Hannover.»).

Zur Strafe stellte sich Jan vor, mit Angelina Jolie auf einer einsamen Insel zu stranden. Und zwar NACKT!

Nach einem kurzen Telefongespräch zwischen Jan und Dr.Meyer stand das Treffen in Köln. Am 28.Juni um Punkt 11Uhr 30 wollten sie sich vor dem Haus in der Ida-Schug-Allee in Köln-Sülz treffen. Das «Punkt» lag besonders Dr.Meyer am Herzen. Deswegen war Jan am 28. dann auch viel zu früh. Das Haus war zwar eins der kleineren in der Nachbarschaft, aber für sich genommen stand da doch ein sehr beeindruckender Bau in der strahlenden Sonne: Kiesweg zum Eingangsbereich, an der rechten Hausseite ragte eine große Veranda hervor, auf der polsterlose Gerippe alter Metallgartenmöbel vor sich hin rosteten. Und die Front war gekrönt von einer großen geschwungenen Fensterreihe im ersten Stock. Eine putzige Villa im Miniaturformat – ein Villalein, eine Villi. Ob das Jugendstil war? Dieser Kram hatte ihn im Kunstunterricht nie sonderlich gereizt. Aber Jugendstil passte gut zum Wort Villa – eine schnuckelige Jugendstilvilli eben. Im Vorgarten stand ein hoher Baum. Jan identifizierte ihn auf den ersten Blick als Ahorn (in Bio war er ein Ass gewesen), entdeckte dann aber Kastanien an den Zweigen und revidierte seine Meinung. Der Garten war zwar stark verwildert, er ließ aber erahnen, wie prächtig das Grundstück noch vor kurzem dagestanden haben musste. Mit ein paar Tagen Arbeit würde man hier wieder das Paradies aus dem Urwald hervorschnippeln können. Fragte sich nur, wer dies tun sollte. Jan hasste Gartenarbeit, seitdem er im Alter von sechs in einem Anflug von gutgemeintem Tatendrang mit der Heckenschere genau die Teile der Rosen im Garten seiner Eltern kupiert hatte, die den Pflanzen das Überleben gesichert hätten. Seine Mutter sprach danach noch lange vom «hässlichsten Garten in der ganzen Straße».

«Sind Sie Heinz Erhardt?» Jan fuhr herum. Vor ihm stand ein stämmiger kleiner Mann mit schütterem Haar – zumindest an den Stellen, an denen es nicht komplett ausgefallen war. Er trug eine hellbraune Wildlederjacke, Bundfaltenjeans und eine Art Trekkingschuhe.

«Äh, Jan. Ich heiße Jan Erhardt.»

«War ja auch nur ein Witz. So zum Warmwerden.» Der Mann lachte. Jan lachte höflich mit. Der Mann zog sich ein Stofftaschentuch aus der Hose, das offenbar schon mehrfach Verwendung gefunden hatte, schnaubte sich ruckartig die Nase, bohrte sodann kurz in beiden Nasenlöchern parallel und starrte Jan dabei an, als wolle er sagen: «Sekündle, gleich hab ich’s.» Nach einem kurzen Kontrollblick auf das Ergebnis knüllte er das Tuch wieder in die Tasche, zog die Hand heraus und streckte sie Jan entgegen: «Aber jetzert: Meyer. Oder nennen Sie mich einfach Erich, für Ihren Schwiegervater bin ich ja sowieso immer nur der Meyer-Erich, gell?»

Er lachte schon wieder. Jan reichte ihm tapfer seine rechte Hand, kratzte sich mit der linken am Kopf: «Na ja, Schwiegervater noch nicht.» Um Himmels willen. Hoffentlich hatte Vogtmann nicht schon den Kölner Dom für die Trauung geblockt. Was hatte diese Familie nur immer mit Heiraten?

«Jaaa, aber so wie Vogtmännchen am Telefon sagte, sieht das doch alles ganz vielversprechend aus, gell? So, dann wollen wir ja mal keine Zeit verlieren, gell? Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr neues Reich. Also Ihr neues Mietreich.»

Jan schlich diesem Dr.Meyer durch das Gestrüpp hinterher zum Eingang des Hauses.

«So, am besten Schuhe mal aus hier, gell? Der Garten ist doch arg erdig.» Der Zahnarzt bückte sich und öffnete seine Schnürsenkel. Jan streifte sich seine blau-weißen Chucks mit den Füßen ab.

«Na, das ist aber nicht gerade gut für die Schuhe, gell? Davon geht die Sohle hinten ab», bemerkte Dr.Meyer mit angestrengter Stimme in Bückhaltung von unten.

Jan verdrehte die Augen. Dann sagte er freundlich: «Och, die sind schon alt, da ist es egal.»

«Na ja», keuchte Dr.Meyer und mühte sich rotköpfig wieder in die Vertikale, «sind ja nicht meine. Hauptsache, Sie gehen mit meinem Haus sorgsamer um, gell? Das ist nämlich auch alt.»

Jan schwieg. Wenn das hier was werden sollte, dann musste er sich jetzt zusammennehmen.

Dr.Meyer steckte den Schlüssel in die schwere Haustür, die daraufhin knarrend den Blick in den hellen Flur und auf die sonnenüberflutete Holztreppe preisgab. Sie traten ein. Jan stieg der Geruch des Hauses in die Nase. Typischer Rentnerduft, das roch hier exakt so wie im Treppenhaus bei Oma Ildi in Wiesbaden: süßlich, holzig, desinfiziert.

Ob es das gleiche Gebäudereinigungsmittel war oder die Wandfarbe? Oder die Mischung aus alten Polstermöbeln und furnierter Eiche? Der erste Eindruck von der Villa war durchaus positiv, denn Häuser, die rochen wie das seiner Oma, konnten keine bösen Häuser sein.

Dr.Meyer ging voran und sagte: «Stören Sie sich bitte nicht an dieser fürchterlich abgestandenen Luft.»

Die Zimmer des Erdgeschosses reihten sich offenbar rings um den Eingangsbereich mit dem Treppenhaus herum. Ganz links neben der Haustür befand sich die Küche. Sie imponierte Jan sofort, erstens, weil seine Kochkünste noch in den Kinderschuhen steckten und Küchen ihm ähnlich vertraut waren wie das Cockpit eines Space Shuttles, und zweitens war sie riesig.

Perfekt für Pizza-Fressorgien mit Freunden, dachte er, hier lassen wir es richtig krachen.

Der Raum war professionell ausgestattet, mit einem Gasherd und von der Decke ragender Abzugshaube in der Mitte. An den zwei Fensterfronten reihten sich meterlange Marmor-Arbeitsplatten, und Jan dachte: Wer hier auf dem Küchentisch eine wilde Orgie feiern möchte, muss vorher noch nicht einmal mit dem Unterarm Töpfe und Kochlöffel runterfegen.

An einer der fensterlosen Wände ragte ein großer, moderner Kühlschrank mit Eiswürfelmaschine empor. Jan dachte an die von diesen Geräten ausgehende Salmonellen-Gefahr, die seine Mutter angeführt hatte, um zu erklären, warum bei Erhardts daheim nur ein kleiner Kühlschrank mit Vier-Sterne-Gefrierfach stand. Er freute sich auf die Mutprobe, in Zukunft jedes Getränk on the rocks einzunehmen.

Unter der Decke hingen große Geschirrschränke. Dr.Meyer öffnete die zur Seite schwingenden Klappen. «Hier. Sehen Sie. Alles da. Das Haus ist nicht nur voll möbliert, sondern auch voll betellert, gell?»

Er lachte. Jan grinste. Meyer übertrieb nicht. Die Küche war vom Parkettboden bis unter die hohe Decke mit modernen Geräten, feinem weißem Geschirr und Koch- und Essbestecken vollgepfropft. Das reicht für Minimum dreißig Personen, überschlug Jan, und vor seinem geistigen Auge tanzte seine ganze Jahrgangsstufe, die an dieser Stelle Platzhalter spielen musste für die neuen Kölner Freunde, die es ja noch nicht gab.

Rechts neben der Küche tat sich ein großer freundlicher Raum mit einem gigantischen Erker auf. Dieser ragte halbrund nach außen, und in ihm stand ein ovaler, dunkelbrauner massiver Esstisch. So ähnlich stellte Jan sich Clintons Schreibtisch im Oval Office vor. Die Möbel passten zwar nicht im Ansatz zu Jans Einrichtungsstil, aber ein solches Haus mit Ikea-Möbeln vollzustellen, wäre wohl auch Frevel gewesen. Ob die Möbel Biedermeier waren? Zumindest sahen sie bieder aus.

«Bleiben die Möbel alle hier drin?»

«Ja, Herr Erhardt, und ich wäre Ihnen auch sehr verbunden, wenn Sie sie nicht umstellen würden. Das Geschleppe täte ihnen nicht gut. Und Vorsicht: keine Kratzer bitte, gell? Sonst verpasse ich Ihnen nämlich auch welche, gell?»

Dr.Meyer lachte bellend, aber dann wurde sein Blick ernst, und er guckte Jan abwartend an.

«Nö, klar. Ist absolut klar.»

Jan hatte schon den nächsten Knaller entdeckt. An der vom Erker abgewandten Seite war ein bulliger Kamin in die Wand eingelassen. Jan ballte die Faust vor Vergnügen. Wieder hatte er seine alten Freundinnen und Freunde vor Augen. Dieses Mal lümmelten sie wild durcheinander vor dem knackenden Kamin herum, nippten sich gegenseitig an den Gläsern, lachten, fummelten, träumten, fummelten, starrten ins Feuer. Und fummelten. Er würde zum Gastgeber Nummer eins in Köln aufsteigen. «Ich bin bei Jan E. eingeladen»: Dieser Satz würde bald Dutzende Frauen und Männer vor Neid erblassen lassen.

Vom Kaminzimmer aus ging nach links noch ein kleines Wohnzimmer ab. Klein im Sinne von groß. Denn das kleine Wohnzimmer war geräumiger als Jans Zimmer daheim. Und zur Rechten tat sich das offizielle Wohnzimmer auf, mit Fenstern ringsumher und Veranda. Dort, wo sich die Außenwände rechtwinklig treffen sollten, war ein kleiner Turm als kreisrunder Erker angebaut. Ein irrer Traum. Und der perfekte Platz für ein Doppelbett. Zum ersten Mal stellte Jan sich nun auch Silvia in diesem Haus vor. Ihr Vater hatte recht: Sie würde sich nassmachen vor Freude – also im übertragenen Sinne.

Das ganze Haus sah aus wie einer Fernsehserie entrissen. Wie hieß die noch? Guldenburgs, oder so. Mit so einer Adelsfamilie. Alles nur ein bisschen kleiner und niedlicher. Einfach schnuckelig. Und schneller zu putzen als das im ZDF.

Oben ging es gerade so weiter. Im Badezimmer war eine kleine Sauna eingebaut, einer der Schlafräume hatte einen begehbaren Kleiderschrank mit Tageslicht, das Zimmer direkt über dem Kaminzimmer bot einen großzügigen Balkon, wo eine Etage tiefer der Erker war. Und von der Galerie im Treppenhaus aus konnte man nicht nur in den Eingangsbereich hinunter, sondern durch ein großes halbkreisförmiges Fenster in den kleinen, verwilderten Vorgarten schauen. Und zu den Nachbarn hinein. Hoppla! Offenbar waren die Menschen von gegenüber deutlich jünger als das Haus selbst und trieben auch sehr viel mehr Sport. Zumindest galt das für eine junge Dame, die sich schon daran gewöhnt zu haben schien, dass in den letzten Monaten keine Nachbarn aus der leerstehenden Meyer-Villi in ihr Schlafzimmer spannen konnten. Oben ohne lief sie gemütlich vor dem offenen Fenster umher und suchte ihre Garderobe für den nicht mehr ganz so jungen Tag aus, indem sie sie sich immer wieder probeweise vor den halbnackten Körper hielt.

«Der Blick ist herrlich, nicht wahr?» Dr.Meyer rieb sich grinsend die Hände.

«Äh, wie bitte?»

Jan erschauderte. Bitte nicht, du alter Sack!

«Na ja, ich gebe zu, der Vorgarten ist ziemlich verwildert. Da müsste eigentlich mal ein Gärtner ordentlich ran. Im Herbst dann, gell?»

«Hier können ja gut und gerne fünf Personen leben», schwärmte Jan auf dem Rückweg treppab. «Jeder ein eigenes Zimmer und das Kaminzimmer als Gemeinschaftsraum.»

«Ja, ja, aber zu zweit geht es auch, gell?» Herr Meyer sah Jan besitzerstolz an. «Wollen Sie die nächsten Monate auf mein Haus aufpassen?»

Jan strahlte zurück. Ging es noch abgefahrener? Und das als erste Studentenbude? So dekadent würde er vielleicht danach nie wieder hausen.

«Ja, sehr gerne. Aber wie läuft das denn jetzt alles mit dem Vertrag und so?»

«Ist alles schon mit Vogtmännchen geklärt. Ihr hütet das Haus ab Oktober für zwei Jahre wie eure vier Augäpfel zusammen, heißt: Ihr beheizt und lüftet alles ganz normal und mäht regelmäßig den Rasen. Ende 2002 will ich meine Praxis in Heidelberg aufgeben und hier im Haus piekfein neu eröffnen. Dann geht’s für euch ab in ein olles Studentenwohnheim, gell?»

«Ja, und die Miete?»

«Also, dreitausend Mark mit allem Drum und Dran.»

«Im Monat?»

«Ja sicher. In der Woche wäre ja auch etwas happig, gell?»

Dr.Meyer lachte laut und putzte sich dann hektisch die Nase mit dem klammen Stofftaschentuch: «Wissen Se, normal könnt ich hier ohne Probleme das Doppelte verlangen. Aber wie gesagt: Ich vermiete nicht gerne an Wildfremde. Aber ist doch nicht dein Problem, Junge, gell? Der gute Vogti zahlt doch. Hast du ein Glück, dass du in eine solch solide Familie reinheiratest.»

Jan durchblitzte es den Magen. Reinheiraten. Das klang ja wie reingeraten. Klappe zu, Affe tot.

Meyer legte die Mietverträge in doppelter Ausführung auf die Kommode: «Wie gesagt, alles besprochen. Sie entschuldigen mich. Ich werde mal überprüfen, ob die Toiletten noch ihren Dienst tun, gell?»

Kurzes Lachen. Dann eilte der Doktor zum Gäste-WC.

Jan griff sich einen der Verträge und überflog hektisch die erste Seite. Die Zeile für den Namen des Mieters war noch frei. Er blickte nach oben auf die kleine, aber feine Galerie. Wie hell sie erstrahlte im Licht, das durch das große halbrunde Fenster fiel. Dann erinnerte er sich an die ergreifende Aussicht von dort oben auf den Vorgarten und so. Entschlossen griff er zum Kugelschreiber. Aus dem Gästeklo hörte er Nasenschnauben. Auf der letzten Seite war bereits Meyers Unterschrift zu sehen. Die Zeile für den Mieter war noch frei. Jan lächelte das Lächeln eines Siegers, dann unterschrieb er seinen ersten, richtigen Vertrag und dachte: Ach, Silvia, ich liebe dich und deine Familie. Also, ich würde dich ja auch ohne das Haus lieben, aber so ein Haus manifestiert unsere Liebe natürlich. Also, im positiven Sinne. Ohne Heiraten natürlich. Alles ganz easy. Und mit easy kommt vielleicht auch –

Das Rauschen der Toilettenspülung reinigte Jans Gedanken von allen triebhaften Illusionen. Die Tür sprang auf, und Jan beeilte sich, Dr.Meyer, der sich gerade die Hände an der Bundfaltenjeans trocken rieb, das vervollständigte Exemplar entgegenzustrecken.

«Was ist damit?» Dr.Meyer lächelte zaghaft.

«Alles erledigt. Hier ist Ihr Exemplar.»

Dr.Meyer griff wortlos zu und blätterte auf die letzte Seite.

«Ach so. Na, eigentlich dachte ich, dass Vogtmännchen unterschreibt, gell?»

«Oh, Entschuldigung, ich dachte, ich sollte das hier, weil, ich dachte, weil ich ja dann hier mit meiner Freundin wohne, bin ich auch der Mieter.» Jan, der Vollblutjurist.

«Ja, nein, eigentlich nicht. Aber – ist mir egal, ich hab Vogtis Wort, das reicht mir. Dann machen wir’s so: Du mietest, er zahlt. Herzlichen Glückwunsch, Partner, hier sind die Schlüssel.»

Auf der Heimfahrt im Zug erinnerte Jan sich an die halbnackte Schönheit im Fenster und dachte: Köln, ich komme. Dann nahm er sich zusammen: Köln, wir kommen.

Dr. med. dent. Vogtmann war es ebenfalls piepe, wer denn nun schließlich seinen Willi unter den Vertrag gesetzt hatte. Er war eher froh, dass Jan seinerseits Fakten geschaffen hatte und die Überraschung für seine Tochter nun fast perfekt war. Dr. med. dent. Vogtmann hatte auch schon detailliert ausbaldowert, wie die Überraschung inszeniert werden sollte, und dazu brauchte er zu Jans Verzweiflung wieder dessen Hilfe. Es würde so sein, dass Dr. med. dent. Vogtmann seine Tochter zur Immatrikulation kutschieren, sich dann aber im Kölner Stadtverkehr verfransen und schließlich ganz zufällig vor der Jugendstilvilla halten würde. Dann würde er gemeinsam mit seiner Tochter an der Haustür nach dem Weg fragen wollen. Dort sollte dann Jan mit großer Geste die Tür öffnen und zum Tee im Kaminzimmer bitten, sofern Silvia nicht auf der Stelle ins Freudenkoma fiel. Je nach Witterung wäre der Tee auch auf der Veranda einnehmbar.

Jans Einwand, dass es schwierig würde, Silvia zu vermitteln, warum Jan nicht mit nach Köln kommen würde, fand Silvias Vater weniger relevant: «Jan, dir fällt schon was ein. Da habe ich aber auch nicht den geringsten Zweifel. Außerdem: Warum du allein zur geheimen Besichtigung gefahren bist, hast du doch auch gut verkaufen können.»

Jan presste Unterkiefer auf Oberkiefer.

Auf seinen vorsichtigen Hinweis, dass es doch eher ungewöhnlich sei, zu zweit auszusteigen, dann durch ein wildfremdes Gartentor zu schreiten, dann auf gut Glück an der Tür zu läuten, um nach dem Weg zu fragen, wo man doch umstandslos aus dem Auto heraus durch das geöffnete Seitenfenster einen Passanten ansprechen konnte, fand Dr. med. dent. Vogtmann «null Prozent» stichhaltig: «Jan, lerne bitte eins: Nicht der eingetretene Pfad ist immer der erfolgversprechende.»

Jan stellte sich kurz vor, wie er Silvia für immer verlassen und ihr zuvor in das von Tränen überströmte Gesicht flüstern würde: «Es liegt nicht an dir, aber ich habe Angst vor deinem Vater.»

Dass Jan seine Silvia nicht nach Köln begleiten konnte, begründete er vor ihr mit einer Familienfeier im Raum Wiesbaden. «Warum fährst du denn mit dem Zug und nicht bei deinen Eltern mit dem Auto mit?», fragte Silvia skeptisch.

«Meine Eltern fahren auch mit dem Zug. Unser Auto ist kaputt.»

«Echt? Ich hab deine Eltern aber noch heute Nachmittag bei der Stadtbücherei parken sehen.»

«Das Auto war ja auch nicht ab Werk kaputt. Erst ging es noch, dann war es irgendwann im Arsch.»

«Soso.»

«Ja.»

Puh! Gegen Silvia war die spanische Inquisition wie Wattepusten. Jans heiße Ohren kühlten nur langsam aus.

Die zweite Herausforderung: Seine Eltern dazu breitzuschlagen, am Tag seiner Abfahrt nach Köln das Haus abends zu verdunkeln, als sei die ganze Familie auf Reisen. Das ging leichter als gedacht. Denn dass die Vogtmanns den allergrößten Teil der Miete übernehmen wollten (für Jan sollten monatlich nur fünfhundert Mark anfallen), war den Erhardts natürlich recht, wenn in den ersten Tagen auch erkennbar peinlich. Noch peinlicher wäre es ihnen allerdings vorgekommen, wenn sie die große Überraschung für den Schatz ihres Sohnes ins Wanken gebracht hätten. Also willigten sie ein, abends bei herabgelassenen Rollläden vor dem Fernseher zu versauern und das angeblich defekte Auto in der Garage zu lassen, bis Silvia die Stadt Richtung Köln verlassen hatte.

Mit gut zwei Stunden Verspätung fuhr am großen Tag der 7er BMW der Vogtmanns vor. Durch das vordere Fenster des Turmzimmers konnte Jan erkennen, wie Silvia energisch mit den Fingern auf der Straßenkarte herumdeutete, während sich Dr. med. dent. Vogtmann vorbeugte, um das Haus in Augenschein zu nehmen.

Jan jagte los und stellte die Kanne mit dem bereits kalten Tee in den Mikrowellenherd. Als er zurückkam: im 7er immer noch das gleiche Tamtam. Silvia sichtlich verärgert, ihr Vater genervt. Schließlich stieg er aus und riss die Beifahrertür auf. Augenblicklich konnte Jan mithören:

«Nein!»

«Jetzt komm.»

«Paps, ich weiß, wo wir sind und wie wir fahren müssen. Wir sind nicht so weit weg. Hier, hier auf der Karte kann ich es dir zeigen.»

«Ja, aber sicher ist sicher. Komm mal mit.»

«So ein Quatsch. Klingel halt die ganze Nachbarschaft raus. Ich bleib jedenfalls hier.»

Dann verschränkte sie ihre Arme und begann damit offiziell mit dem Schmollen. Typisch Silvia, die süße Zimtzicke, die Zimt- und Zuckerzicke.

«Silvia, du steigst jetzt aus. Die Straßenkarte ist – veraltet. Wir müssen jetzt hier mal klingeln.»

«Mann!» Silvia schnallte sich ab, stieg aus, knallte die Tür zu. «Erst gurken wir hier völlig bekloppt durch Köln, weil du seit neuestem ständig links und rechts verwechselst – und jetzt müssen wir zu zweit an irgendeiner Haustür bimmeln.»

Sie stürmte zur Haustür und drückte wütend die Türklingel. Jan öffnete und Silvia begann sofort: «Guten–», dann kreischte sie hell und mit viel Vibrato, warf sich Jan um den Hals und versaute mit ihrem augenscheinlich nicht tränenfesten Mascara seine Schulterpartie. Die Überraschung war gelungen. Und mit Gallseife und bei sechzig Grad – mal abwarten. Jan blickte zu den Nachbarn. Aber Silvias Freudenschrei schien die halbnackte Frau nicht aus der Reserve gelockt zu haben.

Jan war baff: Die Überrumpelungstaktik eliminierte in Silvias Köpfchen offenbar jeden Diskussionsbedarf. Ohne Bedenken, ohne Murren, ohne Ja-Abers passierte er einfach: der Umzug. Um sich auch einmal nützlich zu machen, übernahmen die Erhardts die Überführung des wenigen benötigten Hausrats nach Köln. Sie fuhren hin, waren ganz hin und weg und wieder weg.

Als Silvia und Jan winkend an der Haustür standen, seufzte sie zufrieden: «Ach, ich kann es gar nicht erwarten, in unserem schweren Eichenbett im Türmchen mit Blick in den Himmel in deinem Arm einzuschlafen.»

Einschlafen. Jan drückte Silvia fest an sich und küsste ihre Haare. Silvias Brust rieb an seinen Rippen, und das spürte Jan in seinen Lenden. Einschlafen. Für Jan ging Romantik anders: Er hatte gute Lust, seine Freundin zur Feier des Tages nach allen Regeln der Kunst flachzulegen.

Nun gut, zur Feier des Tages küsste er noch einmal ihre Haare.

2.

DreihundertzwanzigQuadratmeter Wohnfläche, so viel stellte sich bald heraus, sind für zwei Studenten viel Auslauf. Es war gar nicht so einfach, dem Haus eine individuelle Silvia-und-Jan-Atmosphäre einzuhauchen. Silvias Foto von sich mit ihrer besten Freundin Steff feixend mit Softeis in der Hand am Timmendorfer Strand, eingefasst von einem original Tigerenten-Bilderrahmen, sah zusammen mit dem hundert Jahre alten französischen Jugendstilsekretär, auf dem er im Flur vor dem Kaminzimmer stand, so unpassend aus, wie eine Flugbegleiterin von Thai Airways mit einem Wikingerhelm auf dem Kopf.

Und neben den in Ölfarben gebannten Helgoländer Sonnenuntergängen im Schlafzimmer verblassten Jans Poster von den Simpsons mit den Tesafilm-Schäden an den Ecken trotz all ihrer knalligen Farbigkeit.

Andererseits fanden Jans Pokale, die er seit Kindheit an bei diversen Lokal- und Regionalmeisterschaften erschwommen hatte, nach Jahren des lieblosen Zwischenparkens auf einem weißen Billy-Regal in zweiter Reihe hier nun endlich einen angemessen würdigen Platz auf dem Kaminsims.

Um täglich Wegstrecke und Zeit zu sparen, beschlossen die beiden, neben Küche und Bad nur drei der sechs Wohnräume zu nutzen. Ein Wohnzimmer, ein Speisesaal und ein Schlafzimmer reichten ihnen dicke. Die anderen Räume ernannten sie zu Gästezimmer (zweiundzwanzig Quadratmeter), Meditationszimmer mit Blick nach hinten hinaus (zweiunddreißig Quadratmeter) und Gäste-Kinderzimmer (siebzehn Quadratmeter) direkt neben der Küche und dem Speisesaal. Jan setzte noch durch, dass dieses Gäste-Kinderzimmer mangels Kindern im Freundeskreis alternativ auch als Bierkästenzimmer genutzt werden könne. Nach längeren Diskussionen über das Für und Wider solcher aus Silvias Sicht einfach nur macho-prolliger Wünsche durfte Silvia als fairen Ausgleich das Meditationszimmer alternativ als Frauenzimmer nutzen. Auch wenn Jan die Bezeichnung Frauenzimmer sehr unterhaltsam fand, bestand Silvia darauf, dass hinter dem möglicherweise für einige leicht zu erheiternde Zeitgenossen spaßigen Titel durchaus ein ernstes Anliegen steckte. Und wenn sie sich einmal mit zukünftigen Kölner Freundinnen dort hinein verziehen würde, bräuchte Jan gar nicht erst zu klopfen.

Bevor das Semester begann, hatten Silvia und Jan noch zwei Wochen Zeit, ihre Studienstadt Köln zu beschnuppern. Köln ist damals ja fast die Seele aus dem Leib gebombt worden, aber die Stadt hat trotzdem enorm Flair und lebt total von der lustigen, toleranten Art der Rheinländer, und so weiter.

Mit derartigem Small-Talk-Input grundversorgt, begannen die beiden ihren ersten Studientag an der Universität zu Köln. Dann kam der zweite Tag, dann der dritte, plötzlich war der erste Monat vorbei, ein Gärtner peppte im Auftrag von Dr.Meyer den Garten wieder auf, die Heizperiode begann, Weihnachten stand vor der Tür, dann kam Silvester, dann George W.Bush, der trübe Februar, und bums war der Alltag eingekehrt. Und Alltag bedeutete für Jan:

Kein Sex, aber dauernd daran denken.

Eines Nachmittags, Silvia hockte in irgendeiner Zahnmedizin-Werkstatt und schliff zur Übung Kunstzähne kaputt, paukte Jan zu Hause emsig am Schreibtisch, der im Schlafzimmer stand. Und als die Grundzüge des Schuldrechtes sein Gehirn gerade so richtig schön zugespachtelt hatten, beschloss er, es sei Zeit, eine Pause zu machen und ein wenig auf Moorhuhnjagd zu gehen. Seitdem das Ballerspiel ein Jahr zuvor die Runde gemacht hatte, diente es Jan als willkommene Ablenkung von der Arbeit – oder als erfrischende Abwechslung vom Faulenzen. Ein paar tote Moorhühner würden jetzt guttun. Und dazu einen fein mit Automateneis auf Trinktemperatur runterregulierten Tee!

Wie jedes Mal, seitdem er die halbnackte hübsche Nachbarin beim Besichtigungstermin im Fenster gegenüber hatte umherhüpfen sehen, huschte auch jetzt sein Blick reflexartig im Vorbeigehen durch das halbrunde Fenster hinüber zum Haus auf der anderen Straßenseite. Moment, was war das? Jan klammerte sich an das Treppengeländer, zog seinen noch abwärts strebenden Körper wieder zurück, sprang die Stufen hinauf und starrte gebannt nach drüben. Da war sie! Die fröhliche Schöne. Die Gardinen waren wieder beiseitegeschoben und die Brüste blank. Wie eine Gazelle nach Einbruch der Regenzeit tänzelte sie fröhlich im Zimmer umher. Mit ihren langen, dunklen Haaren. Dann verschwand die Erscheinung hinter der Wand, und eine helle Deckenlampe wurde eingeschaltet. Aber die half Jan nichts mehr, der Rollladen rappelte herab. Die Revue von gegenüber war vorbei. Aber in Jans Kopf hatte die Vorstellung gerade erst Premiere. Dort, wo eben noch die Paragraphen brav den Walzer tanzten, tobten jetzt die Gelüste einen wilden Pogo. Testosterongesättigt starrte er auf den geschlossenen Rollladen. In einem solchen Zustand wichtige Entscheidungen zu treffen, würde man wohl keinem Präsidenten empfehlen, dessen Land über Atomraketen verfügt. Aber Jan riss in diesem Augenblick aus voller Fahrt mit quietschenden Reifen das Steuer herum und bog ein auf den neuen Weg mit dem umständlichen Namen «Liebe ohne Sex plus Sex ohne Liebe». Auch auf die Gefahr hin, dass er nun auf dem Holzweg war, denn die Alternative war die schnurgerade Autobahn in die sexuelle Depression. Und Jan war schon lange übel von der Fahrt. Er musste diese fröhliche Gazelle kennenlernen – hinter Silvias Rücken, ohne ihr etwas davon zu sagen, ohne sie zu verletzen, und vor allem: ohne sie zu verlieren. Eine Art diskrete, einseitig offene Partnerschaft. Ein schlechtes Gewissen brauchte ihm das ja eigentlich nicht zu bereiten. Wenn Silvia keinen Sex wollte, musste sie ja nicht. Aber er wollte – und er musste. Außerdem würde er sie ja weiter lieben, Vier-Gänge-Menüs unter ihrer Anleitung kochen, ins Kino gehen («Was kommt?» – «Keine Ahnung, ist doch egal.»), Urlaubspläne schmieden, kuscheln, sie leidenschaftlich mit spitzer Zunge küssen. Aber endlich rauslassen, was in ihm pochte, das sollte nun endlich jemand anderes tun.

Jetzt schwirrte in Jans Kopf nur noch ein großes Wie, umgarnt von vielen bunten Fragezeichen. Alles hing nun von der fröhlichen Gazelle ab. Jans Mund war ganz trocken. Er brauchte jetzt dringend einen heißen Tee auf Eis.

Die frühen Abendstunden investierte Jan nicht ins Schuldrecht, sondern in den Angriffsplan. Denn so wollten es seine Hormone, und die waren Jan zahlenmäßig überlegen. Relativ schnell kam er zu der Erkenntnis, dass die einzige Möglichkeit zur Kontaktaufnahme darin bestand, während des Tages unter einem Vorwand gegenüber an der Haustür zu läuten. Wie gut, dass er als Studienfach Jura gewählt hatte. Denn anders als im Zahnmedizin-Studium, bei dem in den Praxis-Kursen strenge Anwesenheitspflicht herrschte, und dreimaliges Fehlen eine Ehrenrunde im nächsten Semester bedeutete, sahen es die Juristen nicht so eng. Und weil die alten Jura-Professoren ihre Vorlesungen meist ohnehin nur lustlos herunterplapperten wie eine ellenlange Einkaufsliste für Bürobedarf, konnte man sich den Stoff ebenso gut zu Hause mit dem Lehrbuch eintrichtern – und damit seinen Zeitplan selbst zusammenstellen.

Über Erfolg oder Scheitern seines Vorhabens entschieden die nächsten zwei Wochen, denn danach würden die Semesterferien beginnen. Und ab dann würde auch Silvia während des Tages zu Hause sein. Jan durfte keine Zeit vergeuden. Deshalb sah sein Plan für den nächsten Tag so aus:

8Uhr: Schwimmtraining an der Sporthochschule

11Uhr: Fitnessstudio

13Uhr: bei der Gazelle um ein rohes Ei bitten

ab 13Uhr 01: abhängig vom Verlauf des 13-Uhr-Termins

Der Plan war gerade festgezurrt, da kam Silvia nach Hause. Jan hatte sich mit seinem Tee und einem großen Samtkissen vor den Kamin gelegt und hörte sie von der Haustür aus rufen: «Jan? Jahan! Schatz, ich bin zu Hause.»

Jan sah den Flammen beim Blecken zu und ging in aller Eile noch einmal seine Argumente gegen das schlechte Gewissen durch.

Die Tür zum Flur knarrte, und Silvia streckte den Kopf herein: «Überraschung!»

Sie kramte in einer Stüssgen-Einkaufstüte und zog nacheinander eine Flasche Sekt, Vanille-Eis und Erdbeeren heraus. Jan war verunsichert: «Hab ich meinen Geburtstag vergessen?» «Bullshit, einfach nur so für meinen süßen Freund. War mal wieder Zeit, fand ich.»

Sie tänzelte am Kamin vorbei in die Küche.

Jan grinste ihr hinterher. Danke, lieber Gott, ausgerechnet heute die volle Ladung Romantik.

Um dem Allmächtigen zu demonstrieren, worum es ihm ging, entschied Jan sich, das alte Spiel zu spielen, das er immer verlor. Er rief Silvia nach: «Jetzt sag nicht, nur weil ich so süß bin, vögeln wir zwei gleich auf den Kissen, bis die Glut im Kamin daneben wirkt wie lauwarmer Kartoffelsalat!»

Aus der Küche kam ein Kichern: «Quatschkopf!»

Jan seufzte stumm. Siehste, lieber Gott, da haben wir es wieder. Verstehst du jetzt, warum ich vorhabe, was ich vorhabe? Du hast uns Männer so geschaffen, jetzt lass mich auch machen.

Zunächst jedoch spendierte der liebe Gott Jan einen neuen Morgen, den er wie geplant im Schwimmbecken und danach im Kraftstudio verbrachte.

Als er nach Hause kam: Licht bei der Gazelle. Her-vor-ra-gend! Sofort sprang er die mit Raureif überzogenen Treppenstufen der Villi hoch, um seine vom Nachschwitzen feuchten Klamotten zu wechseln. Im Schlafzimmer zog er sich vor dem riesigen Spiegel splitternackt aus, um seinen Körper eingehend zu begutachten. Die extralange Plackerei am Vormittag hatte seine Muskeln aufgehen lassen wie einen Hefeteig. So sollte es sein. Jan ging seine kleine Theaternummer noch einmal durch und schaute sich dabei selbst in die Augen.