Warten auf die Beinhaare - Marcus Werner - E-Book

Warten auf die Beinhaare E-Book

Marcus Werner

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Beschreibung

Pubertieren kann so grausam sein … Mit Humor, Herz und ohne Beinhaare stolpert der Held dieses Buchs durch eine ganz normale Jugend voller Katastrophen. Auf der Sesamstraße ins Schullandheim, vom Kleinstadtrand zur Kirchenfreizeit – und ohne Führerschein zur ersten Fete. Die Stationen sind bekannt, die Folgen auch: Aus Klingelstreich wird Flaschendrehen, wird Schlimmeres. Nämlich alles Peinliche, was einem Teenager in den achtziger Jahren passieren kann. Zum Glück. Weil schlimmer meistens auch lustiger ist.

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Seitenzahl: 264

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Marcus Werner

Warten auf die Beinhaare

Eine irgendwie überhaupt nicht richtig verrückte Jugend

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Pubertieren kann so grausam sein …

Mit Humor, Herz und ohne Beinhaare stolpert der Held dieses Buchs durch eine ganz normale Jugend voller Katastrophen. Auf der Sesamstraße ins Schullandheim, vom Kleinstadtrand zur Kirchenfreizeit – und ohne Führerschein zur ersten Fete. Die Stationen sind bekannt, die Folgen auch: Aus Klingelstreich wird Flaschendrehen, wird Schlimmeres. Nämlich alles Peinliche, was einem Teenager in den achtziger Jahren passieren kann. Zum Glück. Weil schlimmer meistens auch lustiger ist.

Über Marcus Werner

Marcus Werner, geboren 1974, verlebte seine irgendwie überhaupt nicht verrückte Jugend im ostfriesischen Aurich und im Schwarzwald. Heute präsentiert der studierte Jurist als Moderator und Autor Wissenswertes im Kinder- und Jugendfernsehen.

Inhaltsübersicht

Für MelanieEine irgendwie überhaupt nicht richtig verrückte JugendKatzen sind SchweineWeihnachten lässt einen früher sterbenKlassenfahrt auf dem LiebeskarussellDie Sammelumkleide des GrauensHer mit den kleinen Französinnen!Kleine Städte, große SorgenMut zum Unfall568036 799 Sekunden machen noch keinen MannEj, danke, Mann!

Eine irgendwie überhaupt nicht richtig verrückte Jugend

Ich sage es, wie es ist: Ich bereue keine einzige Jugendsünde. Eher schon grämt mich, dass ich überhaupt nie eine nennenswerte begangen habe – zumindest keine, die heute für eine nette Anekdote herhalten könnte. Dabei stand ich häufiger kurz davor.

Ein gutes Beispiel ist die Schwarzwald-Klassenfahrt in der Achten, als die Neue in unserer Klasse, die Sandra, sich bei uns Jungs beliebt machen wollte. Die neue Sandra ließ sich während unserer Exkursion an den Baggersee überreden, im ufernahen Unterholz jedem der Reihe nach einen Blick unter ihren Badeanzug zu gewähren. Währenddessen aß ich gerade nichtsahnend mit meinem Kumpel Jöckl ein Eis.

Nach unserer Rückkehr bemerkten wir die freudige Unruhe unter unseren Kameraden. Alle tuschelten aufgeregt und waren irgendwie ganz aus dem Häuschen. Als wir erfuhren, was wir aus reiner Fressgier verpasst hatten, beschlossen wir, Sandra unter sechs Augen zu sprechen und ihr den denkbar unglücklichen Grund für unser Versäumnis zu erläutern. Wir versprachen Diskretion und stellten ihr ehrliche Freundschaft in Aussicht. Doch unser Plan, einen individuellen Nachholtermin für die Aktion zu vereinbaren, scheiterte an Sandras plötzlicher Frigidität. Vielleicht hatten ihr auch ihre artigen Freundinnen ins Gewissen geredet. Zumindest sagte Sandra: «So einen kindischen Scheiß mache ich nicht mehr.»

 

Einige Jahre zuvor – es war mein zehnter Geburtstag – wollte ich meine Partygesellschaft mit einem besonders spektakulären Programm unterhalten. Nach Bananenkuchen und Limo schwatzte ich meinen Freunden auf: «Lasst uns Klingelstreich spielen. Aber heute mal die richtig große Nummer. Die ganze Nachbarschaft soll sich ärgern.»

Der Gag dabei: Nachdem wir bei den Leuten an der Haustür geklingelt hätten, würden wir einfach stehen bleiben. Öffnete sich dann die Tür, würden wir den verdutzten Nachbarn zurufen: «Oh, wir haben vergessen wegzulaufen.» Was wir dann aber schleunigst nachholen würden. Das versprach Originalität und Nervenkitzel.

Bei dem älteren, kinderlosen Ehepaar Steiger versuchten Katja und Uta als Erste ihr Glück. Sie klingelten und warteten. Dann flog die Tür auf, Katja rief voller Begeisterung: «Oh, wir haben vergessen wegzulaufen», Herr Steiger packte Uta blitzschnell am Handgelenk, Katja rannte davon, und Uta schrie: «Hilfe.»

«Dich behalte ich als Pfand», brummte Herr Steiger. Dann zerrte er Uta ins Haus und donnerte die Tür ins Schloss. Katja begann zu heulen, und wir klingelten erneut. Durch die verschlossene Tür höhnte Herr Steiger: «Die Eltern können sie hier abholen. Damit die mal mitkriegen, was die Göre nach der Schule mit ihren missratenen Freunden so treibt.»

Meine Eltern, die wir sofort holten, konnten Utas Eltern telefonisch nicht erreichen und riefen stattdessen die Polizei, die meine Geburtstagsgeisel nach halbstündiger Haft endlich befreite. Danach war natürlich die Stimmung am Boden, und Uta und Katja wollten sofort nach Hause. Mein Streich war kläglich gescheitert. Und dabei war es der schlimmste überhaupt gewesen.

 

Da mir aus diesen Gründen keine spektakulären Geschichten zu meiner Kindheit und Jugend einfallen wollten, erfasste mich kürzlich panische Angst. Eigentlich hätte ich schrecklich gerne ein ganzes Buch über derartige Erlebnisse geschrieben. Aber womit sollte ich die vielen weißen Seiten füllen? Einen kurzen Moment lang überlegte ich, auf Schriftgröße 54 zu wechseln, verwarf den Gedanken aber direkt nach einem kurzen Telefonat mit dem Verlag.

Dann gab mir ein guter Freund den Tipp, ich solle mich gefälligst zusammenreißen. Und siehe da: Plötzlich lief alles wie am Schnürchen. Ich schrieb einfach über meine irgendwie überhaupt nicht richtig verrückte Jugend. Die folgenden Seiten sind das Resultat.

Katzen sind Schweine

Das perfekte Haustier ist der Blauwal. Er ist anschmiegsam, gelehrig, akzeptiert den Menschen als sein Leittier, und stubenrein ist er auch. Und durch die Straßen geführt, bietet er Anlass für allerlei freundliche Schwätzchen mit fremden Leuten: «Och Jesses, ist der süß. Was ist das denn für einer? Ist das noch ein junger?»

Ich gebe zu: Mir war nach einem Scherz. Natürlich spreche ich von einem Hund. Blauwale sind schließlich niemals stubenrein. Der Hund ist meiner Ansicht nach das perfekte Haustier. Und dieser Meinung bin ich schon von Kindheit an. Meine drei Jahre jüngere Schwester Melanie übrigens auch.

Und eines Tages war es endlich so weit: Wir bekamen Wellensittiche. Wellensittiche. Wellensittiche, die wir nicht wollten. Wir wollten einen Hund. Wir wollten so sehr einen Hund, dass wir jede Gelegenheit nutzten, unsere Eltern zu überreden, uns einen zu kaufen.

 

Masche Nummer eins: das Tierheim-Tränendrüsen-Argument. («Die armen Wauzis in ihren Zwingern! Sie haben keine Mama, sie haben keinen Papa, niiiemand hat sie lieb.») Diesem Argument konnten meine Eltern eigentlich nur zustimmen. Da wir aber jung und rhetorisch unerfahren waren, schafften wir es nicht, das Gespräch im nächsten Schritt auf eine höhere Ebene zu hebeln und aus ihrer Zustimmung tatsächlich den moralischen Zwang abzuleiten, einen Hund aus dem Tierheim zu erretten. So parierte die übermächtige Gegenseite einfach mit «Wir haben das doch schon tausendmal besprochen. Nein. Diskussion Ende» oder Ähnlichem. Es klappte einfach nicht.

 

Auch Masche Nummer zwei funktionierte nur für kurze Zeit. Meine Schwester begann wie folgt: «Oh, Mama, Papa, guckt mal. Wie findet ihr diesen Hund da hinten? Ist der nicht süß?»

«Ja. Der ist echt süß», sagte meine Mutter dann.

Ich sagte: «Ach, dann können wir ja einen kaufen. Wenn ihr den auch süß findet.» Die Falle schnappte zu.

Mein Vater sagte dann so etwas wie: «Ich finde ihn süßer von Weitem.»

Die Falle stand wieder sperrangelweit offen.

«Hahaha! Sehr witzig.» Mit dieser Äußerung gestand meine Schwester indirekt unsere Niederlage ein. Diskussion wieder Ende.

Bei nächster Gelegenheit versuchten wir es erneut. Melanie: «Oh, der süße Hund da drüben. Wie der so niedlich macht. Mama, Papa, guckt mal. Ist der nicht total süß?»

Meine Mutter: «Nein.»

 

Masche Nummer drei: Ich, heulend, im Bett strampelnd: «Ich WILL aber einen Hund. Sonst springe ich aus dem Fenster.»

Mein Vater: «Ja, aber sieh zu, dass du dir nicht wehtust.» Das meinte er natürlich nur scherzhaft. Meine Eltern waren und sind zwei Seelen von Menschen.

Ernst meinten sie allerdings Folgendes: «Wir haben keine Lust, nach zwei Wochen diejenigen zu sein, die das arme Tier jeden Tag mehrmals um den Block führen. Euch wird das bestimmt bald langweilig, und wir haben den Hund dann an der Backe. Und wenn wir zum Beispiel nach Schweden fahren wollen, dann muss der Hund erst einmal vier Jahre in Quarantäne. Ganz alleine in einem Käfig am Zoll. Ohne Liebe, ohne Freunde. Das wäre Tierquälerei. Vier Jahre lang.» Vielleicht sprachen sie auch von vier Wochen, mir kam es jedenfalls unendlich lange vor.

Natürlich war die Stichhaltigkeit der elterlichen Argumente nicht ganz von der Hand zu weisen. Der Hund sollte es schließlich gut haben bei uns. Aber das sture Nein zum Hund hätte noch so abwegig und dumm begründet werden können. Es änderte nichts: Wir bekamen einfach keinen Köter. Schluss. Aus. Ende.

Basta!

Ich war damals acht, meine Schwester fünf Jahre alt. Was sollten wir tun? Heimlich nach Schule und Vorschule in geheimen Hundehaltertreffen abhängen und gegen geringe Gebühr die Hunde fremder Leute streicheln? So etwas gab es doch gar nicht. Und wenn doch: Wer hätte uns hinfahren sollen?

So entschloss ich mich, klein beizugeben, um zumindest das bisschen Haustier zu ergattern, das noch zu kriegen war. Um noch einen Rest Ehre zu bewahren, sagte ich: «Dann nehmen wir halt diese Scheiß-Wellensittiche.»

Auch meine Schwester schwenkte auf meinen Kurs ein. Meine Mutter fand den Auftritt unangemessen.

«Komm, komm, komm. Wenn du was haben möchtest, dann aber nicht in diesem Ton.»

 

Ein paar Wochen später brachte mein Vater von einem Flohmarkt in der Innenstadt einen alten Vogelkäfig heim, und wir fuhren zu einer Gärtnerei mit Wellensittich-Voliere. Darin saßen rund achtzig Vögel, die meisten grün oder blau, auch ein paar gelbe waren darunter. Ringsherum herrschte ein schreckliches Gekreische, was mir aber nichts ausmachte, sondern ein Gefühl von Gemütlichkeit vermittelte. Melanie und ich hätten ewig zuschauen können, wie sich die Vögel gegenseitig bissen und einander die Schwanzfedern rausrupften. Und wie die auf den oberen Sitzstangen die unteren vollkackten. Es waren eben doch Scheiß-Wellensittiche!

Ein Verkäufer kam hinzu. Er stellte sich meinem Vater als der Züchter der Vögel vor. Der Mann war ein wahrer Kinderschreck. Sein verschwitzter Kopf war von einem zotteligen Bart überwuchert, sein Gesicht grünlich blass, und an seiner Nase konnte man rote Adern erkennen. Wie bei Frau Müller-Hagedorn, dachte ich und meinte damit meine kettenrauchende Grundschullehrerin.

Der Züchter trug eine grüne Latzhose und ein schmuddeliges Feinrippunterhemd, das mit Erde und Sittichkacke verschmiert war. Seine Achseln verströmten einen beißenden Geruch. Als er sich in die Hocke begab, um meine Schwester und mich zu begrüßen, entdeckte ich mit Begeisterung und Abscheu, dass seine Nasenhaare Teil des Oberlippenbartes geworden waren.

«Ihr zwei Hübschen dürft euch heute also einen Vogel aussuchen, wa?», fragte er und stank dabei aus dem Mund. Meine kleine Schwester griff hilfesuchend nach der Hand meines Vaters. «Habt ihr euch schon für eine Farbe entschieden?»

Ich wollte einen gelben. Die waren am seltensten und sahen aus wie Kanarienvögel. Wer jetzt fragt: «Warum dann nicht gleich einen Kanarienvogel?», der übersieht, dass ich darauf keine Antwort weiß. Oder doch: Meine Schwester sollte natürlich auch einen Wellensittich bekommen, und die beiden würden ja zusammen in einem Käfig leben. Wer weiß, ob eine Liaison Wellensittich-Kanarienvogel geklappt hätte?

Um es vorwegzunehmen: Die Liaison gelber Wellensittich – grüner Wellensittich funktionierte definitiv nicht. Zum Nachteil meines gelben.

Dazu muss man wissen, dass er nicht gerade der genetischen Premiumklasse angehörte. Er zählte vielmehr zur Murks-Truppe. Trotz engagierten Geflatters bekam er seinen Vogelhintern nicht vom Teppichboden hoch. Und das als Vogel! Es war ein Trauerspiel.

Vor allem gelbe Wellensittiche scheinen von dieser Behinderung betroffen, denn ich habe seither von drei weiteren Fällen in meinem Bekanntenkreis gehört. Man nennt diese armen gelben Kreaturen «Hopser» oder «Renner». Als mitfühlende Tierfreunde sollten wir jubeln vor Erleichterung, dass die körperlich behinderten Vögel diese überhebliche Betitelung nicht verstehen, geschweige denn selbstkritisch auslegen können.

Ich wollte also einen Hopser. Die Unterentwicklung des Tieres schien mir sogar das beste Kaufargument zu sein. Das nicht nur seltene, sondern auch hübsche und darüber hinaus noch bedauernswert missgebildete Geschöpf brauchte einen Fürsprecher: mich.

«Willst du denn wirklich einen Vogel haben, der nicht fliegen kann?», fragte mein Vater fairerweise. Eigentlich war es ihm egal. Schlimmstenfalls würde das Tier in Kürze sterben. Dann wären bummelig zwanzig Mark zum Teufel gewesen. Eher schon schmerzten meinen Vater wohl die vielen Tränen, die sein Sohn über den Tod des Hopsers würde vergießen müssen. Das Tier dürfte ein spürbares Loch in der Kinderseele seines Herrchens a.D. hinterlassen. Gleichzeitig bietet der Tod des ersten eigenen Haustiers bekanntlich eine gute Gelegenheit für junge Menschen, sich erstmals mit der Tatsache auseinanderzusetzen, dass es auch die eigenen Eltern und am Ende einen selber dahinraffen wird. (Im Idealfall in dieser Reihenfolge. Da sind sich Eltern und Kinder ausnahmsweise einig.)

Dies alles und noch viel mehr in einem Sekundenbruchteil überschlagend, gab mein Vater also der Form halber zu bedenken, dass ein Vogel, der nicht fliegen kann, nicht unbedingt etwas sei, womit man sich als moderner Vogelkäufer klaglos bescheiden müsse.

Ich schlug seine Bedenken in den Wind: «Dann bringe ich ihm das Fliegen halt bei.»

Heute meine ich, meine Eltern hätten diesen Flugunterricht dringend unterbinden müssen – dazu später mehr.

Da ich mich schon für einen gelben Wellensittich entschieden hatte, verbot es sich für meine Schwester automatisch, einen weiteren gelben auszusuchen. Obwohl ich mir sicher bin, dass es sie gewurmt haben muss. Aber mir alles nachzumachen, das wäre extrem uncool gewesen. Das wusste sie. Und wollte daher einen grünen.

Der Züchter lächelte in seinen schäbigen Vollbart. «Gerne. Einen gelben und einen grünen. Wie ihr wollt.» Das klang, als sei er froh, wieder einen Deppen gefunden zu haben, der ihm den gelben Schrott abkaufte. Aber mich bestärkte es in meiner Entscheidung, den süßen kleinen Nichtsnutz den Fängen dieses Widerlings zu entreißen und ihm ein neues, besseres Zuhause zu geben – inklusive regelmäßigen Flugtrainings.

Dann ging es los. Der Züchter griff zu einem Netzkescher, öffnete die mit Maschendraht bespannte Tür und stapfte in seinen grünen Gummistiefeln durch die mit Zeitungspapier ausgelegte Voliere. Unter seinen Sohlen knackten die Kotkügelchen. Einige verschmierten zu meiner Freude, so frisch waren sie. Die Sittiche umschwirrten seinen vollbärtigen Schwitzkopf wie bekloppt, einige ließen weitere Stresskotkügelchen fallen, und als ich mich zu meiner Schwester umdrehte, konnte ich das Leuchten in ihren Augen sehen. Bezeugte es Vorfreude über ihr neues Haustier oder schadenfreudiges Verlangen nach Vogelkot im Schwitzgesicht des Züchters? Nun, woher soll ich das heute noch wissen? – Aber wie ich sie kenne und wenn ich mir den groben Vogelfritzen in Erinnerung rufe, tippe ich auf das Zweite.

«Ich nehme den da!», rief meine Schwester und deutete mit dem Zeigefinger auf einen Schwarm von etwa dreißig herumflatternden Vögeln in der hinteren linken Ecke.

«Welchen?», rief der Züchter mit zusammengekniffenen Augen. Mehrere kleine Vogelfedern schmückten seinen Bart.

«Den grünen da!», rief Melanie.

«Den da oben am Seitengitter?»

«Nein, den mit dem lustigen Schnabel.»

Melanie deutete wieder mit dem Finger. Offenbar musste der Vogel seine Position verändert haben, denn nun zeigte sie nach rechts unten.

«Lustiger Schnabel …», murmelte der Züchter und stolperte in die rechte Ecke, wohl in der Hoffnung, der Vogel würde ihm dann schon ins Auge springen. Etwa fünfzig Vögel flogen auf und davon – offenbar fürchteten auch sie den Atem ihres Schöpfers und flüchteten aus der Schusslinie.

«Ach, der auf der Stange neben dem blauen?», mischte sich unser Vater hilfsbereit ein.

«Welcher blaue?», fragten Melanie und der Züchter unisono.

«Ach, egal. Jetzt ist er gerade weggeflogen», antwortete unser Vater lachend und winkte ab.

«Jetzt seh ich ihn gar nicht mehr», sagte Melanie.

«Dann nimm doch einfach den hier», warf der Züchter ein, schlug den Kescher über einen grünen Wellensittich, der offenbar kurz vor dem Herzinfarkt stand und hilflos in der oberen rechten Ecke der Drahtwand kauerte. Wahrscheinlich betete er gerade, von den achtzig Leidensgenossen nicht ausgerechnet derjenige zu sein, dem es jetzt an den Kragen ging. Er konnte ja nicht ahnen, wie viel Liebe meine Schwester schon in ihrem Herzen für ihn reserviert hatte.

Der Vogel kreischte kurz auf, als er im Netz herumgewirbelt wurde, und verstummte in der riesigen Hand des Züchters. Nur sein winziges ausdrucksloses Köpfchen lugte noch unter dem straff gespannten Netz hervor. Der Kleine tat das Einzige, was ihm noch blieb: Er hackte mit seinem scharfen Schnabel nach den wurstigen Fingern seines fiesen Züchters.

Vergeblich. Das Netz des Keschers erlaubte es ihm noch nicht einmal, den Kopf in Kampfposition zu bringen. Sein Plan wurde im Keim erstickt.

«Nein, der sieht total blöd aus.» Meine Schwester wusste genau, was sie wollte: nicht diesen Wellensittich.

«Die sehen doch praktisch alle gleich aus», schnauzte der Züchter.

Peng. Damit hatte er in Melanies und meinen Augen das letzte Quäntchen Respekt verspielt. Dass er abstoßend aussah und widerlich roch, war das eine. Aber dass er so despektierlich von seinen Schützlingen sprach – das war vollkommen inakzeptabel. Ich fing an, ihn zu hassen, und stellte mir rachelüstern vor, wie ich die Tür der Voliere aufreißen und allen Vögeln die Flucht in die Freiheit ermöglichen, wie der Züchter hysterisch und mit wehendem Bart herumspringen und brüllen würde: «Du Ungeheuer von einem Jungen, du Irrsinniger. Meine Vögel! Ich bringe dich um! Ich sperre dich in meinen Keller zu den Milliarden toter Wellensittiche, die ich dort trockne, um daraus Ostergestecke zu basteln. Und du wirst von mir zum Osterhasen ausgestopft, du kleine Ratte!»

Jetzt fällt mir wieder ein, warum ich kein Kind mehr sein möchte. Ein Übermaß an Phantasie macht das Leben zwar bunt, aber deshalb noch lange nicht friedlich und heiter.

 

«Ich will den mit dem lustigen Schnabel», moserte Melanie und stampfte so kräftig mit dem Fuß auf, dass ich aus meinem frustrierenden, weil entgleisten Rachetraum aufschreckte.

«Dann musst du dem Mann jetzt aber genau zeigen, welchen du meinst», merkte mein Vater an. Wie konnte er sich nur mit diesem Ekel verbünden?

Das Ekel wiederum stand mit hochgezogenen Augenbrauen in der Voliere und starrte Melanie ungeduldig an. Unruhig und mit wandernden Blicken drückte sich Melanie ans Gitter und scannte das Federvieh.

«Da!», schrie sie erleichtert. Die Vögel, die sich wieder ein wenig beruhigt hatten und aufgeplustert auf ihren Ästen saßen, wurden vor Schreck auf einen Schlag alle wieder glatt und dünn. «Der auf dem krummen Ast mit der Knabberstange dran. Neben dem anderen grünen.»

Diese Koordinaten reichten dem Züchter völlig aus. Sein angespanntes Schwitzgesicht verriet, dass er das Anschlagsziel ausgemacht hatte.

«Und welcher von den beiden?», flüsterte er.

«Der mit dem lustigen Schnabel», flüsterte meine Schwester höflich und hilfsbereit zurück.

«Der vordere oder der in Richtung Wand?», zischte der Alte, nun hörbar verzweifelt.

«Der vorne!»

Diese Information vervollständigte den Angriffsplan. Eine Sekunde später rauschte der Kescher durch die Luft und auf das grüne Pärchen zu. Durch eine Wolke kreischenden Geflügels und umherwirbelnder Federn torkelte der Züchter ans Gitter.

«Ich habe mir sicherheitshalber beide Viecher geschnappt. Jetzt guck.»

Er schleuderte uns den Kescher mit den zuckenden Vogelleibern vor die Nasen. Im Gesicht meiner Schwester las ich wie in einem Buch:

Ich weiß nicht mehr, welchen Schnabel ich so lustig fand.

Ich finde beide Vögel blöd.

Ich muss jetzt einen nehmen.

Ich will auch einen gelben.

Eigentlich will ich einen Hund.

«Ist der mit dem lustigen Schnabel überhaupt dabei?», fragte mein Vater sanft. Wenn ich im Gesicht meiner Schwester lesen konnte wie in einem Buch, dann konnte mein Vater darin lesen wie in einem Buch mit extragroßen Buchstaben plus Sekundärliteratur. Die Frage traf ins Schwarze.

«Nee», antwortete Melanie und schmiegte sich geniert an seine Seite.

«Mensch, Melanie, jetzt ist es aber bald gut. Letzte Chance: Guck nochmal, such dir schnell einen aus, und den nehmen wir dann», sagte mein Vater, und in seiner Stimme lag gleich viel Erheiterung wie Ungeduld.

Melanie sammelte all ihre Konzentration, klemmte die Zungenspitze zwischen die Lippen und starrte nach oben. Sie starrte so lange, dass ich demonstrativ auf meine Armbanduhr schaute, die ich damals noch gar nicht besaß.

«Ich nehme den da.»

Melanies Zeigefinger wies in eine Ecke, in der ein einzelner grüner Wellensittich ganz alleine hockte, und mir war, als hätte sich Melanie für den am einfachsten zu fangenden Vogel entschieden, um dem Züchter entgegenzukommen.

Der Kescher sauste augenblicklich darnieder, doch der Vogel hatte den Braten gerochen und dampfte ab. Der Züchter fluchte aufs übelste, jedenfalls so wüst, dass ich es hier nicht wiedergeben möchte. Ich überwinde mich dennoch: Erst rief er «Scheiße» – das ging ja noch. Aber dann: «Verdammtes Hurenvieh!»

«Na, was sind das denn für Töne?» Mein Vater war verstimmt. Schließlich waren seine Kinder anwesend. Jawoll! Nun stand er endlich wieder auf unserer Seite.

Der Züchter angelte hasserfüllt nach dem Flüchtling. Plötzlich baumelte das Tier im Netz. «So, bitte schön. Da isser. Macht zwanzig Mark.» Damit griff er den Vogel, fummelte ihn aus dem Netz, handelte sich einen kleinen Biss ein und schob das Tier in einen Pappkarton.

Melanie brach in Tränen aus.

«Was ist denn?», fragte mein Vater mitleidig.

Meine Schwester schluchzte und wischte sich vergeblich die großen nassen Tränen mit dem imprägnierten Ärmel ihrer Kinderjacke aus dem Gesicht.

«Schon wieder der falsche?», fragte mein Vater und verkniff sich das Lachen.

Schweigen.

Meine Schwester traute sich nicht, es auszusprechen. Exklusiv für meinen Vater und dennoch deutlich sichtbar für den aufgestachelten Züchter nickte sie mit hängendem Kopf.

«Sie haben schon wieder den falschen Vogel gefangen!», gab ich dem Züchter zu bedenken. So weit konnte ich mich vorwagen. Mein Vater stand schließlich wieder in unserem Lager.

Jetzt kochte das Ungeheuer endgültig über: «Wissen Sie was? Ich kann hier nicht jedes einzelne meiner Tiere einfangen und wieder freilassen. Entweder Sie nehmen diesen grünen und suchen sich schnell noch einen gelben aus, oder ich kann nichts mehr für Sie tun. Mir reicht das Theater jetzt, ehrlich gesagt. Eine fünfjährige Göre, die den ganzen Betrieb lahmlegt –»

«Wisst ihr was, Kinder», sagte mein Vater freundlich und demonstrativ gefasst, mit einem nur für seine Sprösslinge aufschlussreichen Vibrato in der Stimme, «wir gehen irgendwohin, wo man zum einen kinderfreundlich und zum anderen tierfreundlich ist.»

Und mit einem Lächeln nahm er meine Schwester an der Hand und gab mir mit einem seitlichen Kopfnicken das Zeichen zum Aufbruch. Dann traute ich mich etwas, worauf ich heute noch stolz bin. Im Gehen sagte ich: «Und übrigens: Ihr Hosenstall steht offen.»

Ich gebe zu, das ging im wahrsten Sinne unter die Gürtellinie. Aber als der Züchter irritiert an seiner mit Vogelkot und Federn verklebten Hose hinuntersah, wusste ich: Der Punkt geht an mich.

Die Latzhose hatte nämlich gar keinen Hosenstall.

 

Noch am selben Tag kauften wir einen grünen Wellensittich in der Zooabteilung des PLAZA-Marktes. Die Auswahl war übersichtlich. Es waren nur drei grüne Tiere vorrätig. Und so entschied sich meine Schwester resolut und mit fester Stimme für den mit dem lustigen Schnabel. Leider war kein fluguntüchtiger gelber auf Lager. Aber bei einem anderen Züchter am Stadtrand bekamen wir schließlich doch noch einen.

Mit zwei Schachteln voll Vogel kehrten wir heim. Meine Schwester und ich stürzten die Stufen zur Haustür hoch. Wir konnten es gar nicht erwarten, dass meine Mutter endlich öffnete. Schließlich war es kurz vor sechs. Sesamstraße fing gleich an. Wir rannten in den Windfang, streiften uns die Schuhe ab, ohne die Schnürsenkel zu öffnen, und rasten durch den Flur ins Wohnzimmer. Während ich den Fernseher anschmiss, hüpfte Melanie mit wehender Mähne aufs Sofa, zog die Knie ans Kinn, umschlang die Unterschenkel mit den Armen und hatte damit ihre TV-Position erreicht. Nach der ganzen Plackerei hatten wir uns den gemütlichen Fernsehabend wirklich verdient!

Die Sendung fing gerade an, die dämliche Tiffi mit ihrer spießigen Weckersammlung hatten wir glücklicherweise exakt verpasst.

«Ich möchte nicht unhöflich sein und störe nur ungern …» Das war natürlich ironisch gemeint. In Wirklichkeit störte meine Mutter mit voller Absicht und hätte den Vogelkäfig wahrscheinlich am liebsten mit voller Wucht aus dem Fenster geschmissen, dann den Fernseher und eines ihrer undankbaren Kinder obendrein. (Am besten meine Schwester. Die wog mindestens zwanzig Kilo weniger und wäre für meine Mutter viel leichter zu werfen gewesen.)

Auch Melanie und ich hätten die Ironie verstehen müssen. Schließlich waren wir mit fünf und acht dazu alt genug. Das Verständnis für Ironie beginnt bekanntlich im Alter von fünf Jahren und keine Sekunde später. Allerdings schenkten wir den Worten unserer Mutter nicht die gebotene Aufmerksamkeit.

Der Grund lag auf der Hand: Eben versuchte das Krümelmonster, mit einer blonden Perücke als Prinzessin verkleidet, in einem mittelalterlichen Schloss zur Nachtruhe zu kommen, was aber trotz eines Stapels mehrfach und in aller Ausführlichkeit nachgezählter 14 Matratzen nicht gelingen wollte. Grund hierfür war, wie sich später herausstellen sollte, ein Keks, der unter der untersten Matratze des Stapels versteckt war. Davon konnten Melanie und ich uns heute zum etwa 37. Male überzeugen. Wir gehörten nämlich zur Sesamstraßen-Stammseherschaft, und die lustige Geschichte mit der Prinzessin auf dem Keks war ein Klassiker.

Falls bei dem ein oder anderen Leser nun die Frage aufploppen sollte, warum ein achtjähriger Junge noch Vorschulfernsehen guckte: Was hätte ich denn sonst gucken sollen? Es gab ja nichts anderes, weder den Grundversorger Super RTL noch den coolen wilden NICK, noch den gutmütigen KiKa. Da wurde halt geglotzt, was angeboten wurde.

Außerdem sind die Muppets in der Sesamstraße lustig, basta, aus. Auf die Muppets lohnte es sich zu warten. Da nahm man es als Drittklässler gerne auf sich, zwischendurch per Zeichentrick demonstriert zu bekommen, wie der Buchstabe heißt, der so lustig gebogen ist und aussieht wie eine Schlange, wobei dieses superschlaue Reptil auch noch in der Lage ist, den gesuchten Buchstaben auszusprechen, wenn auch etwas verlispelt.

«Achtung, Achtung, hier spricht eure Mutter», rief unsere Mutter. (Wer sonst hätte dies gekonnt, ohne zu lügen?) Im Kommandoton einer Polizeidurchsage fuhr sie fort: «Im Spielzimmer warten zwei Wellensittiche auf ihre Freilassung.»

Das Krümelmonster hüpfte unbeholfen von den 14 Matratzen und fummelte an der untersten herum.

Meine Mutter wechselte die Tonlage: «Freunde. So haben wir nicht gewettet. Jetzt kümmert euch mal bitte um eure neuen Tiere. Die brauchen euch jetzt.»

Der Keks war entdeckt, und Krümelmonster führte seine Leibspeise zum Schlund, ohne zu vergessen, den Keks dabei schön klein zu brechen und die Kekskrümel wild an seinem Maul vorbeizuwerfen. Denn schließlich hatte das Krümelmonster keine Halsöffnung. Das schwarze Loch mit dem Gaumenzäpfchen war nur aufgeklebt. Und das Krümelmonster – ganz Profi – wusste dieses Handicap aufs eleganteste vor seinem Publikum zu verbergen. Zum Glück! Wie hätten die meist kindlichen Zuschauer auch mit dem Wissen leben sollen, im Rumpf des Monsters stecke ein auf Höhe des Hinterns bis zum Ellenbogen eingeführter Arm? – Horror! Es reichte damals schon, dass Ernie und Bert im selben Zimmer schliefen.

Meine Mutter stürmte mit einem energischen «So!» (mit kurz gesprochenem o) zum Fernseher, schaltete ihn mit spitzen Fingern aus, stellte sich vor den erloschenen, noch leicht nachglimmenden Bildschirm und knatterte: «Ganz flott zum Vogelkäfig jetzt. Sonst kommen die Wellensittiche ins Tierheim, bevor ihr noch guten Morgen sagen könnt!»

Kurz dachte ich darüber nach, dass dies ja lange dauern könne, wenn meine Schwester und ich einfach nie wieder guten Morgen sagten. Aber der Blick meiner Mutter ließ mich diesen Gedanken verwerfen.

Außerdem hatten unsere Eltern ja recht, das spürten Melanie und ich. Die Pappschachteln waren wirklich sehr, sehr kompakt. Darin will man nicht eine einzige Nacht verbringen, insbesondere dann nicht, wenn man für gewöhnlich nicht in Embryonalstellung nächtigt, sondern gerne mal die Krallen ausstreckt. Das ging in diesen Kartons einfach nicht. Schon klar: Die Vögel mussten raus.

Mein Vater saß schon am geöffneten Vogelkäfig, die Schachteln lagen daneben. Wir gesellten uns dazu. Meine Schwester lugte durch die Atemlöcher des ersten Kartons, erkannte Grün und öffnete ihn mit gekonntem Griff.

«Vorsicht, nicht dass er abhaut!», platzte mein Vater noch heraus, da haute der grüne Wellensittich schon ab und flatterte aufgeregt in seinem neuen kleinen Universum, unserem Spielzimmer, umher.

«Oh, nee. Scheiße!», rief meine Schwester.

Ihr Glück im Unglück war, dass meine Mutter zu entsetzt über den entflogenen Vogel war, um ihre Abhandlungen zum Thema Fäkalvokabular aus Kindermündern runterzubeten. «Ja, und jetzt?», fragte sie stattdessen bestürzt und starrte meinen Vater hilflos an, der seinerseits den Vogel beobachtete, der gerade etwas unbeholfen auf der Gardinenstange gelandet war und in sicherer Entfernung nach Atem rang.

Mein Vater sagte in die Runde: «Das ist ja ein toller Einstand für den Kleinen. Ich fürchte, wir brauchen schon wieder einen Kescher.»

«Vielleicht geht er in den Käfig, wenn wir den gelben schon mal reinsetzen?», schlug ich vor, begeistert von meiner eigenen Idee. «Der gelbe kann nicht abhauen, wenn wir den Käfig für den grünen offen lassen. Er kann ja nicht fliegen.» Und mein Beitrag wäre unvollständig geblieben, wenn ich nicht noch angefügt hätte: «Gut, dass ich unbedingt einen fluguntüchtigen gelben wollte.»

Wir setzten den Behinderten also mit der gebotenen Rücksicht in den Käfig. Er hüpfte über den sandbestreuten Boden, kletterte an den Gitterstäben hinauf zur Sitzstange und war dort erst einmal geparkt. Wir warteten. Der grüne regte sich nicht. Hassten die sich?

Meine Mutter scheuchte den Ausreißer ungeduldig mit wildem Geklatsche und «Kschksch» von der Gardinenstange. Doch der flog bloß einen Halbkreis und setzte sich wieder auf bekanntes Terrain. Es wäre aus seiner Sicht auch wirklich dämlich gewesen, über unsere Köpfe hinweg direkt in den Käfig auf der Fensterbank zu fliegen.

Der Kescher wurde aus dem Keller hervorgekramt, und schon der erste Versuch offenbarte: Auch die PLAZA-Vögel hatten im Laufe ihrer Karriere als Verbrauchermarkt-Zuchttiere bereits Bekanntschaft mit einem solchen Gerät gemacht. Der Vogel sah das Netz und fing an, wie verrückt im Zimmer herumzuflattern. Ein Abfangen aus der Luft traute mein Vater weder sich noch irgendeinem anderen Mitglied unserer Familie zu. Meine Mutter hingegen schon,

«Ruf doch mal deinen Vater an.»

«Quatsch. Das mache ich auf keinen Fall. Wegen eines Wellensittichs bei meinem Vater anrufen – ich bitte dich!»

Gesagt und trotzdem getan. Was blieb Papa schon übrig? Und letztendlich gab es wirklich Schlimmeres, als seinen eigenen Vater um Rat zu fragen.

Damit wir alle mithören konnten, kramte mein Vater den alten grauen Verstärkerkasten heraus, den man ans Telefon anschließen konnte. Er stammte aus den Siebzigern und passte farblich nicht zum Beige des neuen Apparats. Deshalb musste er auch immer im Telefonschränkchen verschwinden, wenn er gerade nicht gebraucht wurde. Aber jetzt wurde er gebraucht. Und tutete krachend das Freizeichen umher.

Mein Opa zeigte sich herzlich amüsiert. Als er erfuhr, wie eindeutig seinem Sohn die Situation entglitten war, prustete er laut los. Das Lachen dauerte sehr lange und klang wie ein Presslufthammer. Mein Vater nahm den Hörer einige Zentimeter vom Ohr und guckte uns mit einer mitleiderregenden Miene an, die uns vermitteln sollte: «Genau das hatte ich befürchtet.»

Nach einer langen Minute stummen Wartens stöpselte er den dröhnenden Kasten hektisch vom Telefon ab. Jetzt klang Opas Lachen eher entenartig durch die Hörmuschel. Meine Schwester fand: Wie eine kleine Dampflok. Unsere Mutter: Eindeutig wie eine verrückt gewordene Kröte. Unser Vater fand, wir sollten diese Vergleiche unterlassen, schließlich ginge es hier um seinen Vater, unseren Opa. Außerdem klinge es eher nach einem röhrenden Elch. Dann seufzte er: «Papa, bitte. Die Kinder müssen ins Bett. Wie kriegen wir das Mist …», er blickte uns kurz irritiert in die Augen, «den, den Vogel hinter Gitter?»

Nach sehr kurzer Beratungszeit wurde das Gespräch abrupt, aber freundlich beendet. Mein Vater wusste nun Bescheid: «Wir müssen das Zimmer mit den Rollläden komplett abdunkeln. Im Stockdunkeln traut er sich nicht zu fliegen. Jetzt haben wir ihn!»

Also zurück ins Spielzimmer. Der grüne vegetierte immer noch auf der Gardinenstange vor sich hin, der gelbe saß aufgeplustert im Käfig. Ich bekam Anweisung, mich am Lichtschalter zu postieren, meine Mutter ließ die beiden Rollläden herab und sperrte damit die letzte Dämmerung und den Schein der Laternen aus. Meine Schwester schloss die Zimmertür. Kurzer Test: Ich schaltete das Licht für einen Moment aus. Sehr gut, man sah die Hand vor Augen nicht. Ich machte wieder hell. Das Licht blendete sofort.

Dann stellte sich mein Vater vorsichtig unter die Gardinenstange, den Kescher hinter seinem Rücken verborgen, und prägte sich die Sitzposition des grünen ein. «Verdunkeln!», rief er schließlich. Ich schritt zur Tat, knipste das Licht aus und lauschte. Ein leises Kratzen. «Licht!», zischte mein Vater, schon triumphierend.

Wir blickten auf den leeren Kescher, dann auf die Gardinenstange. Der Vogel war rund einen Meter auf der Stange nach links gekraxelt. Aber er war nicht geflogen. Der Trick funktionierte also.

«Verdunkeln!»

Ich verdunkelte. Wieder ein leises Kratzen, dann knallte der Kescher gegen die Gardinenstange. Ich riss unsinnigerweise meine Augen weit auf und lauschte. Plötzlich ein Flattern und Piepsen. Ich schaltete das Licht wieder an. Der grüne war in die Falle getappt. Zwanzig Sekunden später saß er wild atmend neben seinem stutzenden Gefährten. Willkommen bei den Werners!

Ich nannte meinen gelben Bubi.