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Liebe! Verrat! Sex! Tod! Benjamin Vogel war nicht so, wie die anderen. Eine Kindheit in St. Pölten ist nicht eine Kindheit in New York, aber wenn Bernhard Moshammer die Dinge beschriebt, dann kommt die Welt herein ... und zwar mit Stil und Authentizität. Benjamin Vogel lebt allein, hat seinen eigenen kleinen Buchladen und bevorzugt Tiefkühlkost. Er ist eben erst 40 geworden und schon scheint sich alles zu ändern. Der plötzliche Tod des Vaters ist eine Befreiung für ihn, das bessere Kennenlernen seiner Mutter ein Gewinn. Dann trifft er auf Maria. Fanfaren erklingen, Glocken läuten - sein alter Erzfeind, die Liebe, fordert ihn aufs Neue heraus. Das unerwartete Glück weckt aber auch die Erinnerungen an sein Trauma: Denn im zarten Alter von fünfzehn hat das Leben Benjamin zwei Erkenntnisse beschert. 1. Die romantische Liebe ist ein Spiel. 2. Benjamin ist kein Spieler. Dieser Roman handelt von der Liebe. Und von Sexualität. Von den Anfängen, von den Zielen, von den anfänglichen Schwierigkeiten, die doch aber immerhin ... ähm, auch immer schwierig bleiben. Warum lässt Benjamin sich mit fünfzehn das Herz brechen und wird süchtig nach diesem Schmerz? Ist eine einzige Fahrt im Liebeskarussell schon genug für ein Leben oder macht Benjamin sich da etwas vor? Ist er möglicherweise nur ein Spießer - ein, wie sein bester Freund meint, ins falsche Jahrhundert Hineingeborener? Ein Mensch, der in Idealen aufgeht, doch an deren Umsetzung nicht zwingend interessiert ist? Benjamin Vogel kämpft um Antworten.
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Seitenzahl: 255
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Here comes Mr MiseryHe’ll never be any goodWith a mouth full of gold and bloodHe’s contemplating murder againHe must be in loveElvis Costello
Fallend und steigend, nie auf ebner Höh’,Wird all ihr Glück nicht gleich sein ihrem Weh.William Shakespeare
– Wir leiden doch alle.– Ja, aber ich will nicht mehr.Aus: Drei Farben: Weiß
And I’d change my waysIf I knew how else to beLyle Lovett
Ach, das ist doch alles Pimpelkram!Johannes Brahms
Zur Einstimmung hörenwir Fanfaren oder fernes Glockengeläut.
Mutter sagt, dass das Tiefgekühlte mich noch umbringen wird. Keine Frau plus Tiefkühlkost – der perfekte Selbstmord, sagt Mutter. Totes Futter könne nur zum Tod führen. Das sei leb- und wertlose Pseudokost. Ja, sie redet viel. Mehr als je zuvor. Die Tiefkühltruhe ist die Pathologieabteilung des Supermarktes, sagt sie. Ein Friedhof. Und die Toten auftauen ist pervers. Unmöglich und pietätlos. Mutter hat’s auch nicht leicht.
Ich mag es aber, wenn sie solche Sachen sagt. Sie pfeift auf wissenschaftlich fundierte Informationen, sie sagt einfach etwas. Sätze, die sie aus irgendwelchen Gründen eben für richtig hält. Das macht ihre Aussagen dann aus, sie werden so zu Mutteraussagen. Sie redet viel in letzter Zeit und dauernd davon, dass mein Lebensstil keiner ist. Sie ist aus verständlichen Gründen verändert und todesfixiert. Sie hat mein konsequentes Alleinesein schon immer für fragwürdig und eigenbrötlerisch gehalten. Und dann noch das Tiefgekühlte!
Ja, ich ernähre mich beinahe ausschließlich von Tiefgekühltem. Seit sie jedem noch so blöden Gemüse eine Philosophie und jedem Gewürzkorn magische Heilkräfte umgehängt haben und das Fernsehen von verdammten Köchen beherrscht wird, interessiere ich mich nicht mehr für Essen. Es ist nicht mehr als reine Notwendigkeit – etwas, das mein Körper, diese primitive Maschine, braucht, um nicht umzufallen. Soll er haben.
Mutter kocht heute nicht, also entscheide ich mich für Spinatpizza. Salami hatte ich gestern Abend, und die soll ja die ungesündeste sein – noch dazu abends! Heute schaue ich wieder einmal auf meine Gesundheit. Obwohl – etwas Süßes hatte ich schon länger nicht: Mohnnudeln, Germknödel, Nougattascherl. Nein, ich darf mich nicht zu sehr gehen lassen. Also Spinatpizza. Die mit dem hohen Teigboden aus Luft und Fett und Mandelsplitter obenauf, weswegen sie auch American heißt. Ich finde das grade schön und witzig, dass die Mischung aus Luft und Fett für Amerika steht. Das ist natürlich sehr oberflächlich betrachtet, aber wir betrachten ja nur mehr oberflächlich. Wir. Ich hasse das. Dauernd kippe ich ins Pauschalieren. Wenn ich so einen Wir-Gedanken denke, finde ich mich selbst höchst lächerlich und könnte mich ohrfeigen. Und wenn er gleich auch noch das Ende der Welt und aller guten Dinge miteinbezieht, wird’s noch lächerlicher. Aber so denken wir eben. Verdammt.
Das Areal des Stadtfriedhofs St. Pölten ist wie die Stadt selbst – überschaubar und unaufgeregt. Ganz normal. Seine einzige Besonderheit ist ein kleiner Bereich vor dem Haupteingang, in dem russische Soldaten begraben sind. Der eigentliche Friedhof ist wie alle Friedhöfe: die leblose Miniatur einer Kleinstadt mit all ihren Straßen, Wegen und architektonischen Ungereimtheiten. Alles in einer bestimmten Ordnung, die zur Expansion tendiert. Die Toten werden nicht weniger. Die Gräber gleichen einfallslosen Reihenhäusern mit ihren sinnlosen kleinen Grünflächen und sich wiederholenden, unoriginellen Inschriften – selbst dem Tod werden noch Sinnsprüche und Mottos nachgeworfen! Kurzum, ein zutiefst menschlicher Ort, vielleicht der menschlichste. Ein Rotlichtviertel der anderen, friedlicheren Art. Hier wird keine Liebe angeboten, verkauft oder verhandelt, hier wird nichts mehr verhandelt, nichts mehr verunstaltet oder missbraucht, falsch verstanden oder überbewertet. Wer braucht die Vorstellung eines Himmels, wenn doch der Friedhof selbst erwiesenermaßen das Paradies ist?
Mein Vater, Franz Vogel, liegt da jetzt ruhig in seinem finalen Bett, einem schlichten Holzsarg um siebenhundertfünfzig Euro – wenn man die Ewigkeit bedenkt, ein Spottpreis. Wenn man davon ausgeht, dass die Ewigkeit eine unvorstellbare Zahl mit, sagen wir, mehr als tausend Nullen ist, haben wir sogar ein super Geschäft gemacht. Vater ist im Alter von neunundsechzig Jahren gestorben. Er ist eines Abends zu Bett gegangen und am nächsten Morgen nicht mehr aufgestanden. Herzversagen, sagen die Ärzte. Der perfekte, von allen ersehnte Tod. Keine Schmerzen, keine Angst, keine Sterbensbewusstheit. Mutter sieht das natürlich ganz anders. Der schönste Tod ist für die Zurückbleibenden der größte Horror. (Für die Toten sind wir nur die Zurückgebliebenen.) Nach zweiundvierzig Ehejahren will sie sich das Alleinesein gar nicht vorstellen, hat sie gesagt. Sie hätte weder Lust darauf noch Talent dafür und würde es auch verweigern. Das war vor zwei Monaten. Aber alles geht immer weiter. Sie ist in eine kleine Wohnung gezogen und meistert da ihren Alltag bravourös. So läuft das. Ob man das will oder nicht, alles geht immer weiter.
Ich besuchte das Grab beinahe täglich – nicht, um es zu pflegen, nein, ausschließlich um zu denken habe ich viele Stunden davor verbracht. Stehend, hockend und sitzend, leise oder laut sprechend, sinnierend – viel weniger emotional, als ich das erwartet hätte. Aber wahrscheinlich ist da eine Logik dahinter, wenn ein Mann wie ich, der sich das Unemotionale antrainiert hat wie ein anderer das Nichtrauchen, nicht gleich zusammenbricht, wenn der Vater stirbt. Manchmal habe ich drei, vier Stunden dort verbracht – der Tod ist ansteckend in seinem Ignorieren des Zeitlichen –, jetzt muss aber Schluss sein. Heute muss Schluss sein. Ja, heute. Dies war mein letzter Besuch. Irgendwann haftet diesen Grabbesuchen etwas Unsinniges an; wahrscheinlich gleich von Beginn an, aber mit dem Vergehen der Zeit wird einem dieses Unsinnige immer bewusster. Man steht vor einem Stein, einem Kreuz. Vor einem zugeschütteten Loch, in dem Menschenteile drei Meter unter einem verrotten, und der Verstorbene selbst gar nicht mehr ist. Das wird einem ganz plötzlich klar, auch wenn es offensichtlich sein sollte. Spätestens am Grab eines geliebten Menschen wird einem klar, dass das Religiöse oder Spirituelle entweder ein Blödsinn oder aber ganz einfach der nächste Gedankenschritt nach Psyche ist. Ein Teil der Natur. Wenn man an die Existenz von Gefühlen glaubt, kann man auch gleich an Gott glauben. Wenn man so etwas wie Liebe oder das Unterbewusstsein für real hält, ist auch die Dreifaltigkeit möglich. Mein Vater, das was ihn ausmachte, ist entweder ausgelöscht oder irgendwo, was weiß ich – jedenfalls ist sein Grab nur der Komposthaufen seiner Überreste. Und trotzdem: Ein Grab ist eine schöne Metapher oder ein probater Menschenersatz für schwierige Zeiten. Manche greifen lieber auf Hunde oder Wellensittiche zurück – aber ein Grab scheißt dir weder in die Wohnung noch kann es von Autos überfahren werden oder von der Stange plumpsen, nur weil du vergessen hast, Wasser nachzufüllen. Ein Grab ist dein konstantester Freund und garantiert dir eine unkomplizierte Beziehung.
Diese zwei Monate waren sehr wichtig für mich. Die Besuche haben mich befreit. Die imaginären Gespräche mit ihm, die selbstverständlich und ausschließlich Monologe waren, haben mich erlöst. Andere mögen sich in diesen Momenten eine Erscheinung wünschen, ein Zeichen oder eine Stimme, die von da unten oder dort oben kommt und antwortet. Die Antworten meines Vaters waren Stille und Schweigen – genau das, was ich hören wollte.
Eigentlich muss ich so weit gehen, zu sagen, dass der Tod meines Vaters meine Befreiung und meine Erlösung war, auch wenn das nicht sehr nett klingt.
Wir schreiben das Jahr 24 nach Feli, und ich bin immer noch bemüht, ein netter Mensch zu sein.
Es ist, als hätte mein Vater einen unsichtbaren Mantel über mich gelegt und ihn irgendwie vergessen; als hätte er mir in meiner Kindheit eine zweite Haut übergezogen, die er jetzt für seine Reise in den Tod gebraucht und sich also wiedergenommen hat. Vielleicht ist das ein katholischer Zauber. Wer weiß, was so ein Sakrament alles bewirkt? Der Zauberspruch des Taufsakraments zieht dir diese Vaterhaut über und der Zauberspruch seines Todessakraments nimmt sie wieder von dir. Wer weiß? Jedenfalls war ich noch nie in meinem Leben so nackt. Noch nie so leicht. In dieser Haut war die Schwere meines ganzen Lebens enthalten, die dann doch nur der Rucksack meines Vaters war. Das klingt – zumindest in meinen Ohren – plausibel. Ja, vielleicht bekommen wir Kinder, um ihnen einen Teil unseres unerträglichen Marschgepäcks durchs Leben aufzuhalsen. Und ich, der ich den Frauen immer ausgewichen bin wie ein Allergiker den Katzen – ich Depp habe natürlich keine Kinder und mühe mich mit meiner ganzen Last alleine ab, einer Last, die nur zum Teil meine eigene war oder immer noch ist; und wer weiß, was meine Mutter mir alles umgehängt hat!
Wie auch immer – jetzt bin ich um so vieles erleichtert und kann ein neues Kapitel im Buch meines Lebens beginnen, ein weniger paranoides und pessimistisches. Eines mit Möglichkeiten. Bin ich jetzt erwachsen? Mit vierzig? Ist das gut? Ist das Erwachsensein gut? Habe ich mich all die Jahre nur dagegen gewehrt? Nicht, dass ich keine Gründe dafür gehabt hätte – ich will nicht einmal so weit gehen, zu sagen, dass ich wirklich bereit bin für diese Veränderung. Ich war immerhin der Einzelne.
Und vielleicht werde ich der auch bleiben, vielleicht liegt es gar nicht in meiner Macht, diese Rolle je abzulegen. Vielleicht ergeht es mir wie einem Schauspieler, der in einer Rolle gefangen bleibt und zeit seines restlichen Lebens keinen Ausweg aus dieser findet. Eine schreckliche Vorstellung, denn in meiner Vorstellung bin ich nicht Macbeth oder Mephisto, sondern ein Statist, ein Eleve, der zu Beginn seiner Laufbahn alles, sein ganzes Wissen und Talent, seine Seele in die Rolle eines unbedeutenden Beobachters am Bühnenrand investiert hat. Vielleicht durfte er einen Satz sprechen, der schönen Hauptdarstellerin einen ängstlichen Blick zuwerfen oder gleich zu Beginn des Stücks sterben? Wie jämmerlich heroisch!
Als im März des Jahres 1984 meine große Liebe mich wegen eines anderen fallen ließ, fasste ich einen Entschluss: Mit meinen fünfzehn Jahren und nach nur einer Verliebtheitserfahrung gelobte ich, der Liebe abzuschwören. Ich erfuhr ihre zerstörerische Kraft am eigenen, jungfräulichen Leib – was also lag näher, als mich vor sie hinzustellen, ihr ins lächelnde Antlitz zu spucken, mich für diese existentielle Lektion zu bedanken und Nein zu sagen? Warum sollte ich nach dieser Demütigung das Bedürfnis nach einer Wiederholung verspüren? Und was sollte den Glauben in mir erzeugen, dass beim sogenannten nächsten Mal alles anders oder besser sein würde? Ich war der Liebe begegnet. Der einen, wahren, unaussprechlichen, alles erfüllenden und bestimmenden, heiligen Liebe. Ich erkannte ihr Wesen, durchschaute ihr Spiel. Ich war fünfzehn und fühlte mich wie dreitausend. Ich glaubte allen anderen – der ganzen Menschheit – etwas voraus zu haben. Und ich, Benjamin Vogel, hatte es.
Seit jenem Tag wurde mir das unzählige Male als Arroganz oder Sturheit ausgelegt. Kopfschüttelnd winkten meine Freunde später ab, wenn ich die Avancen eines hübschen und netten Mädchens ignorierte oder ihr ausführlichst die Unmöglichkeit einer Annäherung an mich erklärte, anstatt ihr meine Zunge in den Mund zu stecken, nach ihren Brüsten zu fassen und mich lustvoll dem hinzugeben, wonach unser aller Sehnsucht sich doch streckt seit Anbeginn der Zeit.
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