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Frauen im Wald, die sich um sich selbst kümmern und niemandem vertrauen, in einer Welt, in der das Gesetz des Stärkeren regiert. Der große Erzähler Bernhard Moshammer entwirft in seinem neuen Roman ein archaisches Sittengemälde, er singt das Lied der menschlichen Natur – aber es ist kein sanftes Wiegenlied. Mitten im Wald führen die Schwestern Maria und Regina Holzapfel ein karges, archaisches Leben; ohne Strom, ohne technische Errungenschaften schlagen sie sich durch. Wir schreiben das Jahr X nach dem Kollaps; was den Kollaps herbeiführte, lässt der Roman offen, aber der Mensch ist in Moshammers Geschichte sich selbst überlassen. Eines Tages bekommen die Schwestern unerwarteten Besuch: Halbschwester Sarah stößt zu ihnen und erbittet hochschwanger Einlass. Das Leben der Schwestern ändert sich schlagartig, Sarah bringt den kleinen Adam zur Welt, Maria entdeckt durch das Kind die Liebe , Regina versinkt noch mehr in Verzweiflung. Die Jahre vergehen, da meldet sich eines Tages auch Adams Vater, der Felsenreiter, zurück. Ihm gehört ein Bordell, und er entführt den Fünfjährigen, um ihm ein Leben in der Stadt zu ermöglichen, wo der Bub von den Mädchen der Sunshine Bar erzogen wird. Die Holzapfelschwestern verlassen den Wald, um nach ihm zu suchen, aber sie passen nicht in die ihnen fremde Welt. Als Adam seine Bezugspersonen nach und nach verliert, wird seine Sehnsucht nach dem Wald und seinen Tanten immer größer.
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Seitenzahl: 409
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BERNHARD MOSHAMMER
ROMAN
MILENA
Die Welt ist eine Räuberhöhle, und es wird finster zur Nacht.
Teil I
1. Mitten im Wald
2. Evelina
3. Joseph
4. Der Spiegel
5. Das Buch der Heiligen
6. Weihnachten
7. Der Engel
8. Sarah
9. Adam
10. Das ist Musik
11. Das ist ein Mann
12. Der Kopf des Zacharias
13. Ins Dorf
14. Klara
15. Der Rand der Welt
Teil II
16. Der Turm
17. Der Felsenreiter
18. Die Sunshine Bar
19. Die nackte Welt
20. Die Kapelle
21. Arbeit und Alltag
22. Herr Paul
23. Signore Adam
24. Ein Wiedersehen
25. Die Entscheidung
Teil III
26. Zuhause
27. Abschiede
28. Der Plan
29. Regen
30. Veronika reicht Jesus das Schweißtuch
31. Der erste Schritt
32. Walter
33. Der letzte Weg
34. Mitten im Wald
35. Mutter Natur
Quellen
HÄTTE DER WALD EINEN LAUTSTÄRKEREGLER und stünde der auf zehn, das Getöse wäre nicht zu ertragen, so jedoch spricht man von der friedlichen Waldstille. Seine Brutalität ist also nur verdrängt, ruhig gestellt. Es ist früh am Morgen, Vogelrufe hängen im Hall, Tau tropft von Blättern, Schnecken gleiten über Wurzeln, Harz glänzt golden, eine kleine Raupe klebt daran, sie zappelt und windet sich hilflos. Keiner hier, dem es einfallen würde, sie zu retten, sie wird sich wohl ihrem Schicksal fügen müssen. Oder wird doch noch ein Vogel sie befreien, um sie gleich im nächsten Augenblick zu fressen? Noch hält der Nebel die Umgebung gefangen, aber nicht mehr lange, da drüben im Osten gibt er sie schon frei. Ein schwerer Duft von feuchter Erde, Bärlauch und Pilzen hängt in der Luft. Mutter Natur, die alte Jungfer, streichelt sich selbst.
Was ist das? Ein Verschlag, eine Behausung? Eine Hütte zwischen nadellosen, von pelzigen Läusen befallenen Tannen und ein paar schäbigen, wurmstichigen Latten, die ein Zaun sein wollen. Aus dem Schornstein streckt sich ein dünner Rauchfaden nach den Baumkronen. Nach einer Nacht voller Regen, schlagender Fensterläden, unheimlicher Geräusche, dämonischer Besucher, Alkohol und wilder Träume knarzt es wieder unschuldig im Unterholz, Amseln singen archaische Schlager, ein Specht klopft mystische Morsezeichen, Ameisenstaatsapparate funktionieren korruptionsfrei. Die ersten Sonnenstrahlen drängeln durchs dichte Geäst des hochhaushohen Mischwaldes, das schmatzende Nass ist reinste Musik.
Die Natur, die hier herrscht, ist die immerwährende, wenngleich fast schon nachmenschliche; zumindest wird die nachmenschliche dieselbe sein. Der Kreislauf der Ewigkeit dreht die nächste Runde, bedeutungslos und schön. Hier ist niemand, der ihm Bedeutung schenken oder sein moosbewachsenes Fundament mit Sinn beschweren will. Das Paradies? Vielleicht, ja, es könnte das Paradies sein. Alles hier ist, wie es ist oder sein soll, wie der Zufall oder ein genialer kosmischer Dichter es sich ausgedacht haben könnte, weil all die Gasformationen und Staubplaneten auf Dauer doch freudlos waren oder der Irrsinn der Vergangenheit keinen Sinn mehr machte? Was wissen wir schon.
Jetzt ist Zukunft. Alles ist wieder im Fluss, wie es neuerdings heißt. Einer der neuen Führer hat das sicher so oder so ähnlich formuliert, aber das Schicksal der Mächtigen ist wie das der Raupen – für sie ist hier kein Platz, keine Zeit wird an sie verschwendet. Die Menschen kümmern sich um sich selbst. Das Dystopische oder Postapokalyptische ist vom Fiktionalen ins Reale gerutscht, vom Morgen ins Heute. Der Mensch hat das von ihm Gefürchtete gerufen, provoziert und sich ihm angepasst, wie er das immer tut – und selbstverständlich war der große Untergang keiner; der Kollaps, wie er zumeist genannt wird, war nur ein Kreislaufkollaps, hat sich schamlos, ungehindert und schnell wie eine Blüte im Zeitraffer entfaltet. Eine unsichtbare Regie flüsterte ihr »Cut« – vielleicht war es der Zufall, vielleicht ein unbedachtes Wort eines unbedachten Machthabers oder ein übermotivierter Flieger, der einen verbotenen Luftraum verletzt hat –, legte den Schalter um und öffnete dem Zusammenbruch Türen und Fenster. Der Mensch wurde in eine Art Urzustand versetzt, auf sich selbst und seine eigene Natur zurückgeworfen, was, so kann man getrost sagen, noch nie ein gutes Vorzeichen war.
Der kurzfristige Rückschritt ins Analoge stürzte die demokratischen Gesellschaften in einen Schockzustand, die Jungen in eine suizidale Pandemie. Die Machtverhältnisse waren unklar, die Zivilisation blieb nachhaltig beschädigt, Lebensstandard und Kultur der westlichen Industriestaaten wurden auf das Niveau einer Vergangenheit geworfen, aus der keiner gelernt hatte.
Für Mutter Natur war all das freilich nur ein beiläufiges Jucken, verharrt sie doch konsequent im ewigen Phlegma. Nichts kümmert sie. Wer oder was in ihr existiert, ist für sie nicht von Belang, das ewige Kommen und Gehen, Leben und Sterben kostet sie einen Furz (und wenn Mutter Natur furzt, blubbert der Waldboden kleine Tsunamis übers Moos) – kurz, es interessiert sie nicht. Wenn sie sich nicht gerade selbst betatscht, gähnt sie oder pfeift gelangweilt vor sich hin, womöglich bejammert sie ihren Alltag oder die ewige Geißel der Schlaflosigkeit. Ihr Jammern ist das Summen der Bienen, das Hamsterrad der Zeit, das Plätschern des Bachs – ach ja: Alles ist wieder im Fluss.
Mensch ist keiner hier, denn der Mensch war noch nie im Fluss. Der Mensch hat immer schön Brücken gebaut oder Schiffe oder Umleitungen oder Staudämme, war immer nur zum Zeitvertreib im Fluss, zur Abkühlung oder um Krieg zu führen. Oder um Schluss zu machen mit sich selbst. Oder aus Versehen, weil er ausgerutscht ist.
Aber halt, kein Mensch? Das kann nicht sein, immerhin wurde eine umzäunte Hütte mitten im Wald erwähnt. Vor allem aber lassen die Begriffe Alkohol und wilde Träume auf humanoide Wesen mit einschlägigen Vergangenheiten schließen.
Und da kommen sie schon, da vorne, ganz gemächlich bewegen sie sich auf die Hütte zu, machen Halt, um an Büschen zu schnuppern, reifende Beeren zu begutachten oder abrupt zur Seite oder in den Himmel zu starren, als reagierten sie auf etwas für uns nicht Wahrnehmbares. Zwei Schwestern sind’s. Die eine, Maria Holzapfel, ein rundliches, gedrungenes Weib mit zusammengewachsenen, dichten Augenbrauen, ruhig und streng. Die andere, Regina Holzapfel, ein schmales, sehniges Weib mit nur einer Augenbraue, ruhig und streng.
Um die Schulter der Rundlichen hängt ein toter Fasan, und während die andere in die Hütte geht, lässt sie ihn zu Boden fallen, steigt mit beiden Beinen auf seine Schwingen und reißt mit einem kräftigen Ruck an seinen Beinen, legt die nackte Vogelbrust auf einen Holztisch und hackt die verbliebenen Federn sowie die Beine ab. Zwanzig, dreißig Sekunden, länger braucht sie dafür nicht, dabei geht sie mit kalter Routine zu Werke. Sie lässt das Fleisch liegen und folgt der anderen ins Haus.
Kein Mensch da draußen nennt die Schwestern seine Nachbarn oder Freunde, nicht einmal Artgenossen oder Mitbürger – im Gegenteil, niemand setzt einen Fuß auf dieses Stück Land, die Leute aus der Gegend machen den größten Bogen um den Wald und seine, wie es im Dorf heißt, wilden oder verrückten, jedenfalls asozialen Menschentiere. Zwei Frauen sind’s, und hier ist ihre Geschichte. Wie immer begann alles in der Mutter – das heilige, gottverdammte Wunder des Lebens.
Evelina Holzapfel war eine Frau, die stets tat, was zu tun war, ohne sich zu beklagen oder ihr Schicksal anzuzweifeln. Sie war so ruhig, dass ein zweifelhafter Arzt das Kind, das sie einst gewesen war, als stumm bezeichnet hatte. Es war aber keine Krankheit gewesen, die sie schweigen ließ, sie hatte einfach nichts zu sagen.
Mit vierzehn Jahren war sie von ihren Eltern, Bauersleuten, mehr oder weniger verkauft und formlos an ihren Cousin verheiratet worden. Seitdem bewohnte sie diese Hütte und sollte nie wieder ins Dorf zurückkehren. Was sie zum Leben brauchte, baute sie selbst an. Zwischen den Buchen, Eichen, Eschen, Birken und Tannen standen ein Apfelbaum, ein Birnbaum und jede Menge Sträucher – Dirndl, Ribisel, Brombeere, Holunder. Gemüse wucherte im Überfluss. Der Mann wilderte im Wald, manchmal brachte er ein Schwein oder ein Huhn mit, wahrscheinlich von den umliegenden Höfen; Evelina stellte keine Fragen, verarbeitete die Kadaver zu Fleisch, Speck, Würsten und Schmalz oder Fellen für den Winter.
Was sie aus dem Dorf brauchte, besorgte ihr ihre große Schwester, der sie jedoch nie mehr gegenübertreten durfte. Der Mann hatte es von Anfang an so angeordnet, also wurde eine Stelle am Waldrand vereinbart, von der aus gerade noch Blickkontakt zum Hof der Schwester bestand. Evelina musste stets warten, bis es dunkel war, mit einer Fackel Kontakt aufnehmen, die Schwester machte in ihrer Küche das Licht aus und wieder an, dreimal, dann stellte Evelina einen Korb mit Gemüse und Obst – Geld hatte sie keines – sowie einer mit jedem Jahr schwerer zu dechiffrierenden Einkaufsliste ab und kehrte wieder um. Vierundzwanzig Stunden später holte sie den mit der bestellten Ware gefüllten Korb wieder ab. Zu Beginn war es ihr schwergefallen, die Schwester nicht zu treffen, sie nicht zu küssen und zu umarmen, vielleicht etwas von draußen zu erfahren, aber sie war erzogen zur Pflichterfüllung, hatte sich bald an die neuen Lebensbedingungen gewöhnt – und so war da bald keine Schwester mehr, nur noch drei kleine Lichtzeichen am Horizont. Für Gefühlsduseleien war im Wald kein Platz.
Eigentlich wollte Evelina kein zweites Kind mehr. Schon zweimal hatte sie dafür gesorgt, dass aus ihren verdammten Schwangerschaften nichts wurde. Dann band sie Maria an ihren Stuhl, zwang sie so, aus dem Fenster zu schauen, legte sich hinter ihr rücklings auf den Boden und werkte mit Kochlöffel und Stricknadel umständlich zwischen ihren Beinen. Der Mann war ihr Cousin, es war nicht richtig, das Ganze war wider die Natur; dass Maria kein Krüppel geworden war, war wahrscheinlich nur ihrem reinen Herzen zu verdanken, so viel wusste sie, und sie wusste nicht viel. Das kleine Mädchen konnte die Spiegelung im Fenster nie genau deuten, nahm nur die schmerzerfüllten Laute der Mutter wahr, die diese nicht unterdrücken konnte, so sehr sie sich auch bemühte.
Marias Geburt war so gewaltig wie traumatisch gewesen. Niemand war Evelina zur Seite gestanden, ganz allein hatte sie das Fünfkilomädchen nach stundenlangem Kampf aus sich gepresst und gezogen, die Nabelschnur durchgebissen und das schreiende Kind in den Regen gelegt, damit dieser es reinige. Als sie Stunden später erwachte, lag das Kind von Sonnenstrahlen umspielt – wie Moses oder Jesus, so die Assoziationen der Mutter – auf nassem Laub und streckte alle viere ruckelnd von sich. Evelina, immer noch blutend, schleppte sich zu dem Baby und legte es unbeholfen an ihre Brust. Sie verfluchte das Kind, das sie sofort Maria nannte, versorgte es aber. Ihr Mutterverhalten war reiner Instinkt, lieblos, artgerecht, naturgemäß. Das sollte reichen. Und das tat es auch. Das Kind wirkte gesund und normal, sollte jedoch nie weinen, nicht ein einziges Mal, das war seine Besonderheit, und Evelina war es recht. Mit großen Augen in seinem runden Gesicht starrte das Mädchen gierig auf die Welt. Was sie sah, war schön, lebte sie doch im Paradies, am romantischsten Flecken der Welt, umgeben von allen Wundern der Natur.
Eines dieser Wunder hieß Joseph, und ohne ihn, ohne seinen kräftigen Samen wäre die Mutter keine Mutter, die Tochter keine Tochter, die Schwester keine Schwester und diese Geschichte keine Geschichte. Ohne ihn gäbe es nichts, was hier auch nur einen Buchstaben wert wäre.
Joseph Holzapfel, im Dorf der Holzapfeljoseph genannt, war ein Freigeist. Er kam und ging, wie es ihm gefiel, nahm lieber, als er gab. Jeden Ehemann-des-Jahres-Contest, nicht dass es etwas derartiges noch geben würde, schon gar nicht in diesem gottverlassenen Teil des Landes, hätte er mit Leichtigkeit verloren, er war gewissermaßen baumgleich, ein Naturbursch. Er gehorchte ausschließlich seiner eigenen Natur. So frei war sein Geist, dass er es tagelang aushielt, ohne auch nur einen einzigen Gedanken zu fassen. Wäre ihm nicht der Schnaps ausgegangen, er hätte Jahre, vielleicht ein ganzes Leben so zugebracht. Er verlangte nicht viel, nur was ihm zustand und was er ohnehin hatte: Schnaps, Fleisch, Hütte, Frau. In exakt dieser Reihenfolge.
Seine Töchter sollten es nie auf diese Liste schaffen.
Er war mit Wichtigerem beschäftigt. Mit der Reise seines Rotzes durch die Nase, einmal nach unten, dann wieder nach oben und wieder nach unten, ein unerklärlicher, endloser Paternoster war sein Riechkolben; mit dem Stillen des ewigen Juckreizes an der Unterseite seines ungewaschenen Sacks durch unaufhörliches, wundmachendes Kratzen. Mit dem Zurechtrücken seines Glieds. Mit dem Festhalten seines Glieds. Mit dem Beobachten, Streicheln, Reiben und Bestaunen seines Glieds. Und so weiter, sein standfester und verlässlicher Charakter gab keine Rätsel auf.
Marias erste konkrete Erinnerung war also der Joseph, wie er eines Tages die Hütte betrat. Sie war eineinhalb und kannte nur ihre Mutter und Tiere. Ihren Vater hatte sie noch nie gesehen, keinen anderen Menschen als ihre Mutter hatte sie je zu Gesicht bekommen, nicht einmal das Wort Vater war an ihr Ohr gedrungen.
Was Joseph dabeihatte, war vordergründig sein Gestank. Wahrscheinlich hatte er auch einen Beutel mit Wurst und Schnaps oder eine erlegte Hirschkuh dabei, aber Marias Erinnerung kreiste um seinen Gestank. Warum das geniale menschliche Gehirn vorzugsweise Gerüche speichert, egal wie ekelhaft sie auch sein mögen, wer weiß das schon. Jedenfalls trat dieser Mensch im Gegenlicht der Sonne durch die Eingangstür wie eine mythische Gestalt aus einem Buch, das Maria nie lesen würde, grunzte laut und fasste, ohne ein Wort zu verlieren, grob nach Evelina, hievte sie auf den großen Holztisch, warf ihren Oberkörper nach hinten, riss ihr die Schürze nach oben, spreizte ihre Beine, rümpfte die Nase, zog ihre Unterhose zur Seite, holte eine zuckende Stange aus seiner Hose und drückte sich derb gegen ihren Leib. Maria starrte gebannt auf den unerklärlichen Vorgang. Unerklärliche Vorgänge gehörten zu ihrer täglichen Routine, wie ein Schwamm saugte sie alle Eindrücke, die sich ihr boten, auf.
Vor und zurück wackelte er, vor und zurück, immer schneller, immer wilder gestaltete sich das gewaltige Gerangel. Die Brüste der Mutter schaukelten unter ihrer Schürze auf und ab, manchmal wurden sie von der schaufelartigen, verdreckten Hand des Mannes gestoppt, der einmal die rechte, dann die linke drückte, beiläufig und fest, als wollte er etwas aus ihnen herauspressen. Sein Gestank, mittlerweile der Gestank der beiden, betörte das kleine Mädchen wie eine Droge. Evelina gab keinen Laut von sich, lag nur da mit geschlossenen Augen und geöffneter Scham und ließ sich von dem Mann durchschütteln. Josephs Grunzen und Keuchen wurde mit jeder Bewegung lauter und bedrohlicher, bis er schließlich wie ein Hirsch aufjaulte und sich von der Mutter löste. Dann packte er seine Stange, die plötzlich nur noch eine Wurst war, wieder ein und verschwand, wie er gekommen war, ins Licht.
Um diesem alle paar Wochen sich wiederholenden Vorgang ein kurzfristiges Ende zu bereiten – Maria war in der Zwischenzeit zur Expertin dieses Vorgangs geworden, hatte kapiert, dass es schwere Arbeit war, die Stange aus irgendeinem Grund in die Spalte musste und es erst nach vielen überaus anstrengenden Versuchen wieder herausschaffte –, beschloss Evelina zwei Jahre und zwei Schwangerschaftsabbrüche später, doch noch ein Kind auszutragen. Der Herrgott würde ihr schon keinen Krüppel andrehen. Ihr Bauch wuchs und wuchs also, ihr ganzer Körper schien platzen zu wollen. Maria beobachtete die Verwandlung der Mutter, die sie nicht verstand, mit wachen Augen.
Als es so weit war, setzte sich Evelina unter die große Eiche, rief ihre Tochter zu sich und sagte: »Du musst mir jetzt helfen! Hörst du, du musst mir helfen!«
Wenn eine, die nur selten spricht, etwas so eindringlich fordert, gibt es keinen Platz für Missverständnisse. Maria nickte aufgeregt, starrte auf die Mutter, die ihre Schürze hob und erst ihre blanken Schenkel mit vom Fruchtwasser klebrigen Haaren, dann den zum Bersten prallen Bauch freilegte, und wartete.
»Wasser!«, schrie Evelina. Maria ging zum Brunnen und holte Wasser.
»Decke!«, keuchte Evelina. Maria ging ins Haus und kehrte mit einer Decke zurück.
»Aaaaahhhh!«, brüllte Evelina. Maria blieb steif wie ein Baum stehen und starrte auf die Qual der Frau. Sie nahm die Dramatik der Szene unmittelbar wahr, konnte aber nichts damit anfangen, ihre Mutter hatte sie ja in nichts eingeweiht. Von der Vergänglichkeit der Dinge, vom Sterben und vom Tod wusste sie noch nichts, das Ende war ihr ebenso fremd wie der Anfang. Wenn wenigstens der Joseph seine schwere Stangenarbeit verrichtet hätte, all das Stöhnen und Keuchen wäre vertraut gewesen, aber der Joseph war nicht da.
Mama muss Kacka machen – der Gedanke machte schon eher Sinn, aber auch nur bedingt, immerhin presste sie nur ganz wenig Kacka, dafür etwas Großes, Fremdes, Gewaltiges aus sich heraus.
»Zieh!«, flehte Evelina. Maria fasste die blutige Kugel, die zwischen den Beinen der Mutter herausragte wie ein Maulwurf oder sonst ein Viech aus einem haarigen Bau, und zog. Sie hatte immer noch keine Ahnung, was hier vor sich ging. Kurz dachte sie, der Mutter wachse ein drittes Bein. Mit ganzer Kraft zog Maria an dem glitschigen Fremdkörper. Als Evelina in einem lauten Kreischen endlich Erlösung fand und dieses Ding an der blauen Schnur plötzlich in ihren Händen zappelte und quengelige Laute von sich gab, erschrak Maria fürchterlich, hielt aber die Luft an und wagte nicht, darauf zu reagieren.
»Du musst das jetzt durchbeißen«, sagte die Mutter und hielt ihr die blaue Schnur hin. Maria biss kräftig zu und spuckte Blut.
»Jetzt leg es auf den Boden und schütt das Wasser darüber.« Maria tat, wie ihr geheißen. Das Kleine schrie und schluckte und zappelte. Maria hüllte es in eine Decke und hielt es vorsichtig fest.
»Gib sie mir«, sagte Evelina erleichtert nach einem ängstlichen Blick zwischen die Beine des Babys, während sie sich ihre eigene Suppe vom Körper wischte. Sie war immer noch außer Atem. Als das Kind zu nuckeln begann, kurz bevor die Mutter einschlief, sagte sie endlich: »Gott sei Dank. Ihr Name ist Regina.«
»Regina«, wiederholte Maria und lächelte erst, nachdem auch der Mutter ein kleines Lächeln entkommen war, dann schluckte sie und streichelte den winzigen, hilflosen, neugeborenen Körper.
In den kommenden Wochen beobachtete Evelina mit Staunen, wie liebevoll und fürsorglich sich die Vierjährige um ihre kleine Schwester kümmerte. Es gefiel ihr, aber sie dachte nicht weiter darüber nach. Die Hauptsache war, dass sie selbst dadurch entlastet wurde. Irgendetwas sagte ihr, dass das Bestätigen von Gefühlen diese nur verstärken und sie letztendlich zu einem schwächeren Menschen machen würde. Wenn sie von irgendetwas überzeugt war, dann von der Notwendigkeit, stark zu sein. Stark und unabhängig. Mit dem Fehlen von Gefühlen konnte man gut zurechtkommen, sagte sie sich, mit dem Fehlen von Futter nicht. Vor dem Leben kam das Überleben, und Gefühle waren nun einmal ein Luxus, den sie sich nicht leisten konnte und wollte.
»Wer träumt, jammert«, hatte Joseph sie gelehrt. Und Evelina musste ihm recht geben; ihre Schwester, die Klara, war immer eine Unzufriedene gewesen, rührselig und weich. Sie selbst wollte nicht unzufrieden sein, nicht rührselig oder weich, aber sie erkannte in Maria eine Mütterlichkeit, die ihr fehlte. Nun gut, sagte sie sich, das würde niemandem Schaden zufügen, im Gegenteil, es würde ihr zur Hilfe gereichen – und wenn es sich doch zu einem Problem auswachsen sollte, würde sie ihre Tochter eben in die Schranken weisen müssen.
Als sie mit dem Joseph in den Wald gegangen war, hatte er sie wieder und wieder zu folgendem Gespräch genötigt:
»Wie heißt deine Schwester?«
»Klara.«
»Wie heißt deine Schwester?«
»Sie heißt Klara.«
»Wie deine Schwester heißt, frag ich dich.«
»Klara. Was willst du von mir?«
»Wie heißt deine Schwester?«
»Meine Schwester?«
»Genau. Wie heißt also deine Schwester?«
»Schwester.«
»Und was habt ihr zusammen erlebt?«
»Wie meinst du das?«
»Woran erinnerst du dich?«
Langsam kapierte sie, worauf er hinauswollte.
»An nichts.«
Das Gespräch wurde immer kürzer:
»Wie heißt deine Schwester?«
»Schwester.«
»Woran erinnerst du dich?«
»An nichts.«
Und schließlich:
»Wie heißt deine Schwester?«
»Ich habe keine.«
»Woran erinnerst du dich?«
»An nichts.«
Irgendwann hörte er auf, so wie er sie irgendwann so gut wie gar nicht mehr ansprach, aber er hatte sie täglich an ihre Schwester erinnert, und natürlich hat Evelina ihren Namen nie vergessen und auch nicht, was sie beide einst des Nachts unter der Bettdecke gesprochen, von welcher Zukunft, von welchen alternativen Leben sie geträumt hatten, wie schön sie beide sein und welche Namen sie später ihren Kindern geben würden. »Maria und Regina«, hatte die Klara immer gesagt. »Wenn ich groß bin, krieg ich zwei Töchter, die eine wird Maria heißen, wie die heilige Jungfrau, die andere Regina, das heißt Königin, und auch das ist die Mutter Gottes.«
Joseph hat Evelina nie nach den Namen ihrer Töchter gefragt.
Als Regina fünf Monate alt war, passierte es. Evelina war dabei Fleischsuppe zuzubereiten, als Regina hungrig brüllte. Joseph war hinter dem Haus beschäftigt, wahrscheinlich mit dem Sammeln von Speichel in seiner Mundhöhle, einem Stück Holz oder seinem, nun ja. Evelina wusste, wenn sie dem Brüllen nicht sofort Einhalt gebot, hatte das Konsequenzen – welcher Art, konnte sie nie voraussagen. Möglich, dass er etwas kaputt schlug, wahrscheinlich, dass er sie mit etwas kaputt schlagen wollte, sie anbrüllte oder vergewaltigte oder etwas nach dem Kind warf. Also öffnete sie ihr Hemd und hob die Kleine hoch. Regina schnappte gierig nach ihrer Futterquelle, während Evelina sich weiter um die kochende Suppe kümmerte. Immer wieder verloren sie den Kontakt zueinander, die angeschwollene Brustwarze wackelte vor Reginas Augen, sie scheiterte aber wieder und wieder an ihr und fing wiederholt zu jammern an. Maria saß mit einem Becher Milch am Tisch und schaute gebannt zu. Sie wusste, sie konnte vorerst nichts tun, also tat sie vorerst nichts. Als nun in dem Moment, in welchem Evelina den brennheißen Deckel vom Kochtopf nahm, ein lautes, dumpfes Geräusch von draußen in die Stube drang, fiel ihr dieser aus der Hand und mitten auf Reginas Gesicht. Jetzt brüllte das Baby richtig los, Evelina setzte es auf den Boden – das war das Zeichen für Maria. Sie stürzte zu ihrer Schwester, hob sie hoch, steckte ihr ein Tuch, das sie zuvor in die Milch getunkt hatte, in den Mund und schaffte es so, sie für ein paar Minuten zu beruhigen. Regina saugte wild, schnappte kurzatmig nach Luft, schien das Tuch regelrecht fressen zu wollen. Über ihrem rechten Auge aber füllte sich eine etwa drei Zentimeter lange Brandblase, an deren Stelle kein Haar mehr wachsen sollte. Brauenlos blieb ihr Auge, mager ihre Figur.
Die beiden Mädchen waren elf und sieben, als sie an einem nasskalten Herbstnachmittag versteckt hinter dem Brombeerstrauch standen und auf die Hütte starrten. Vor der Eingangstür auf einem großen Holztisch lag ein wahrscheinlich lebloses Rehkitz mit weiß geflecktem, rotbraunem Fell und offenen, klaren Augen. Seine Hinterläufe wurden vom Joseph hochgehalten. Ein heller Fleck kam zum Vorschein. Der Mann starrte lange auf den blütenweißen Tierafter. Er wusste nicht, dass dieser Spiegel genannt wird. Vielleicht war er schockiert, vielleicht war das, was sich ihm hier eröffnete, tatsächlich eine Selbstreflexion – wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich hatte er nur Mühe, einen nächsten Gedanken zu fassen, wahrscheinlich hatte er einfach darauf vergessen und wartete nun auf ein Signal, einen Laut der Welt, der ihn ans Weiterleben erinnerte – das Auftreffen seiner Spucke auf dem Boden womöglich. Wie auch immer, irgendetwas fesselte ihn und zwang ihn zum Innehalten, ein moralisches Fragezeichen wird es nicht gewesen sein, wohl eher die Verheißungen des sich vor ihm auftuenden Lochs.
Die Mädchen wagten nicht zu atmen, Hand in Hand standen sie da und schauten auf den Vater, der plötzlich den Gürtel seiner ledernen Hose öffnete, dessen Schnalle beim Nach-unten-Fallen das kurze, metallene Geräusch machte, das sie stets zusammenzucken ließ, seine Stange freilegte, die Hinterläufe des Rehs spreizte und sein strammes Körperteil erst an den Spiegel heran, dann in ihn einführte. Der schlaffe Tierkörper schien, von einem röhrenden Ächzen begleitet, zu zucken.
»Das ist seine Aufgabe«, hatte Maria ihre Schwester schon Jahre zuvor gelehrt. »Das ist, was ein Vater tut. Die Stange ist das Werkzeug des Mannes.«
Dass auch Tiere in seinen Arbeitsbereich fielen, war neu, aber nicht erschütternd, immerhin blieb die aggressive Naturgewalt, die derselbe Akt mit Evelina vermittelte, hier aus. Behutsam tat der Mann, was er offensichtlich tun musste, das wehrlose Kitz lag still und passiv vor ihm. Vorsichtig glitt Josephs Hand seinen Hals entlang, drückte unmerklich zu, immer fester, die Bewegungen seiner Lenden waren langsam und bedächtig, der weiche Körper vor ihm folgte seinen Bewegungen, sodass er auf die Mädchen den friedvollsten Eindruck machte. Joseph keuchte intensiv, war konzentriert und zärtlich. Ja, zärtlich war er, sachte und hingebungsvoll, das Vieh rührte ihn anscheinend. Als er fertig war, schluchzte er laut auf. Für ein paar Minuten blieb er wie angewurzelt stehen, schien zu weinen.
Regina fiel es schwer, die Luft anzuhalten, Tränen kullerten über ihre Wange, die eine Hand drückte die der Schwester, so fest sie konnte, die andere umfasste den Brombeerstrauch, blutete unbemerkt. Maria blieb körperlich ruhig, ihr Geist jedoch war verstört und dachte tausend halbfertige Gedanken zwischen Hass und Liebe, Verständnislosigkeit und der sprachlosen Sehnsucht nach Zuneigung.
Ein paar weitere Minuten waren vergangen, als Joseph ein Beil nahm und das Tier in hundert Teile spaltete. Ein eigenartiger Geruch wehte den Mädchen um die Nasen, es war nicht nur das Blut, es waren nicht nur die schmierigen Säcke und Würste, die plump aus dem Tierkadaver rutschten, es war auch nicht die Körperausdünstung des Mannes – es war der Geruch des Todes, den die beiden nicht benennen konnten. Das Werkzeug des Mannes war gleichermaßen Lebenswerkzeug – auch das wussten die Kinder nicht – und Todeswerkzeug. So deutlich hatte der Tod sein Grüß Gott noch nie in ihrer Gegenwart gebrüllt. Er schlich sich durch das Werkzeug des Mannes in den Körper des Tieres. Der Mann selbst war also auch nur ein Werkzeug, das Werkzeug des Todes. So oder so ähnlich schlussfolgerten die Schwestern.
Die Weltenordnung offenbarte sich ihnen unaufhörlich in den kleinsten Dingen, den flüchtigsten Momenten, freilich erkannten sie sie nicht. Das Reh jedenfalls war tot, wenngleich seine Augen in dem abgetrennten, auf dem Boden liegenden Kopf immer noch in den Wald starrten, als wollten sie mit den Mädchen Kontakt aufnehmen.
Ein paar Tage verwehten im Gebüsch, und Evelina trocknete sein Fell, wusch seinen Darm und kochte sein Fleisch.
In Reginas Kopf machte das Sinn, denn auch die Mama wusch ihren Körper manisch, nachdem der Mann seine Aufgabe an ihr erfüllt hatte. Auch dieses Ritual war ein wortloses. Evelina ließ die Mädchen bei allem, was sie tat, zusehen. Es war nicht nötig, alles zu kommentieren. Sie würden schon verstehen.
Die Jahre, in denen Joseph nicht nach Hause kam, waren die angstfreien. Gemächlich verging ein Tag nach dem anderen mit Arbeit im Haus und im Garten. Die Mädchen wurden junge Frauen und lebten im Einklang mit der Natur. Sie lernten, Kleintieren aufzulauern, sie zu domestizieren oder zu erlegen, alle notwendigen Handwerksarbeiten zu verrichten, bald konnten sie kochen und nähen, Feuer machen, Wäsche waschen, die Pflanzen versorgen, säen, ernten, Schnaps brennen, das Dach reparieren. Evelina war zufrieden in diesem Dreigespann, bisweilen wurde sie für ein paar Minuten, die eine oder andere Stunde, ganz ruhig, aber dann beim geringsten unerklärlichen Geräusch aus dem Wald spannte sich ihr Körper wieder an und sie wurde hart, scharfsinnig und wachsam, gefasst auf alles – gefasst auf Joseph. Sie war immer vorbereitet, hatte genug Maische angesetzt, stets ein paar Flaschen aus dem Dorf sowie Speck gelagert, mehr brauchte es ja nicht. Nur der Schnaps vermochte ihn ruhig zu halten.
Sie nannte jeden Schnaps Dirndlschnaps, egal welche Frucht ihm seine Note verlieh, als wäre er für Mädchen oder aus Mädchen gemacht.
Manchmal stand sie am Waldrand und starrte auf den Hof ihrer Schwester. Sie konnte ihn nicht richtig erkennen, zu dunkel war es, zu weit weg war er, nur ein kleines Gebilde am Horizont, ein Spielzeughäuschen, aber sie hatte ihn ganz klar vor Augen. Dann verwandelten sich die drei Lichtzeichen wieder in das Bild von Klara, das sie in ihrer Erinnerung gespeichert hatte. Mitunter erwachte in ihr der Drang, einfach loszugehen, manchmal war er fast nicht zu unterdrücken. Aber sie schaffte es immer und kehrte um, zu groß war die Angst, zu mächtig die Vernunft. Dachte die Klara Ähnliches? Hatte sie je mit dem Gedanken gespielt, in den Wald zu gehen, um die Schwester zu sehen? Wie sah sie jetzt aus?
Einmal hatte Evelina die Kinder dabei und war nah dran, sie anzustupsen und loszuschicken, die Klara würde sich bestimmt um sie kümmern. Dann wären sie in Sicherheit und sie könnte sich endlich der Sünde aller Sünden hingeben, ein Seil um den großen Ast ihrer Eiche winden und eins werden mit dem Baum. Aber nein. Natürlich kehrte sie um, der Drang beruhigte sich und schlief wieder ein.
Das Hamsterrad der Zeit, es lief langsam, aber stetig. Wie so oft in der Geschichte waren Dekadenz und Utopismus dem Zusammenbruch vorausgegangen, letztendlich hatten sie blind und gedankenlos der Religion zu neuer Macht verholfen.
Ja, sie waren gottesfürchtig. Evelina pflanzte den Gedanken, dass irgendjemand über allem herrschen musste, in ihre Töchter, wie ihre Mutter es bei ihr getan hatte. Über dem Wald existierte also die Dreifaltigkeit, die Muttergottes und viele Heilige, die schreckliche Qualen erleiden mussten, weil sie Gott geschaut oder seine Stimme gehört hatten. Wenn man jedoch ein gutes, pflichterfülltes und demütiges Leben führte, geriet man für gewöhnlich nicht in Gefahr, den allgegenwärtigen Gott zu schauen oder zu hören, oder gar, Gegrüßetseistdumariavolldergnade, in alle Ewigkeit in der Hölle zu brennen. Damit sie täglich daran erinnert wurden, hatte Evelina zwei kleine Äste zu einem Kreuz gebunden, das eindrucksvoll an der Stubenwand prangte. Gott, der alles erschaffen hatte, herrschte also über sein Werk mit strenger Hand und unvorstellbarer Macht – das war im Grunde Evelinas spirituelle Botschaft an ihre Kinder, und die machte zweifelsohne auch Sinn, denn »ohne Koch kann es keine Suppe geben«, wie ihr die eigene Mutter die Sache schon plausibel erklärt hatte, und sein Rezept erlaube nun einmal keine Experimente.
In Evelinas Küche standen drei Bücher. Ein Kochbuch, von ihrer Großmutter eigenhändig verfasst, eine Bibel mit Altem und Neuem Testament – und Das Buch der Heiligen, ein enzyklopädisches Werk zu den wichtigsten katholischen Heiligen. Diese drei Bücher waren neben dem üblichen Hausrat ihre Mitgift gewesen.
Jetzt konnte Evelina selbst nur schlecht lesen und schreiben, ihren Töchtern brachte sie aber bemüht bei, was sie konnte. Das Lesen fiel ihnen nicht schwer, aber über planlose Kritzeleien führte das Studium nicht hinaus, nur Regina entwickelte einen Ehrgeiz darin. Ihre Natur war der ihrer Schwester entgegengesetzt, sie war quirlig und aufgeweckt, neugierig und rastlos, lief munter durch den Wald, redete unentwegt mit Fauna und Flora, erkannte aber bald, dass sie sich der Stille, die von ihrer Familie ausging, wohl oder übel würde anpassen müssen. Auch sie lernte ganz von selbst, alles in die Tiefe zu verlagern, ihre Gedanken, Träume und Sehnsüchte.
Das Buch der Heiligen war besonders, war es doch mit den schönsten und aufregendsten Illustrationen versehen. Zu jedem Heiligen gab es ein glorreiches, in Zucker getunktes Porträt oder eine Darstellung jener schicksalsträchtigen Szene, die den Menschen in einen Heiligen verwandelt hatte. Regina liebte dieses Buch.
In den Jahren, bevor sie in die Holzapfelruhe verfiel, quälte sie ihre Schwester, die stets ernst und stumm blieb, mit tausend Fragen, Ängsten und Vorstellungen dazu. Sie dachte, dass die Nachtgeräusche des Waldes mystischer Natur sein mussten. So wurde der Wind in den Baumkronen, der kleine Äste zu Boden warf, in ihrem Kopf zu Schritten der Heiligen, die über den Wald wachten. Tierrufe aus der Ferne waren ihre Stimmen, und mit der Zeit glaubte sie, die einzelnen Rufe ganz bestimmten Heiligen zuordnen zu können.
Wenn Eulen krächzten, sagte sie: »Die heilige Theresa ruft mich!« Dann holte sie schnell das Buch und deutete ihrer Schwester die goldene Illustration: »Sie hat einen leuchtenden Engel gesehen, der ihr Gottes Pfeil ins Herz stieß. Mehrere Male. Die Schmerzen waren nicht auszuhalten, aber auch so herrlich, dass Theresa sich wünschte, sie mögen nicht aufhören. Nie. Sie wollte, dass der Engel mit seinem Pfeil wieder und wieder auf sie einstach, so schön war das, verstehst du?« Dabei strahlte Regina, als ob der Pfeil in ihr selbst stecken, sie ach so süß quälen und mit Gottes Liebe erfüllen würde.
Wenn ein Rehbock bellte, kuschelte sie sich an die Schwester und sagte: »Das ist der heilige Clemens, der wurde an einen Anker gekettet und im Meer versenkt. Da unten auf dem Meeresboden ist sofort ein Tempel entstanden, da wohnt er jetzt – und manchmal will er, dass ich zu ihm komme. Dann teilt er das Meer und ruft nach mir. Aber seine Schreie sind schrecklich, entrisch und schauderhaft. Wir müssen laut beten, damit er wieder aufhört.« Sie beteten also laut, und irgendwann hörte der Rehbock auf.
Wenn Tauben gurrten, schrie Regina aufgeregt: »Horch, die heilige Devota! Sie wurde zu Tode gefoltert. Aber die bösen Menschen hatten Angst vor ihrer Leiche und wollten sie weit wegbringen. Da kam ein wilder Sturm auf – siehst du die schwarze Wolke da? Und hier: Aus ihrem Mund steigt eine weiße Taube in den Himmel. Aus ihrem Mund, schau!«
Als sie in der Bibel beim Apostel Paulus davon las, dass alle Menschen Sünder seien, weil sie von Natur aus gegen die Gesetze Gottes verstoßen, und Evelina darauf ansprach, sagte diese: »Ja, so ist das wohl, wenn’s in der Bibel steht. Draußen musste ich jeden Sonntag zur Beichte und meine Sünden bekennen, aber hier im Wald ist es unmöglich, zu sündigen. Außerdem hab ich euch getauft.«
»Du hast uns getauft? Wie der heilige Johannes? Bist du eine Heilige?«
»Nein, man ist nie selber heilig. Und man darf das auch nicht sagen!«
»Wie hast du uns getauft?«
»Ich hab euch Wasser über den Kopf geleert und gebetet. So geht Taufen.«
»Und jetzt sind wir keine Sünder mehr?«
»Doch, aber wenn man getauft ist, ist es nicht so schlimm«, kam Maria ihrer Mutter zu Hilfe.
»Was muss ich tun, um zu sündigen?«
»Nichts.« Evelina verlor die Geduld, das Gespräch wurde ihr, wie alle Gespräche, zu mühsam. »Und jetzt sei ruhig.«
»Ja«, setzte Maria nach. »Jetzt sei ruhig.«
Wenn Regina in den darauffolgenden Tagen durch den Wald lief, hatte sie immer ein Kännchen Wasser dabei und taufte alles, was ihr begegnete: Käfer und Würmer, Schmetterlinge, Eichhörnchen, Pilze, Sträucher und Bäume: »Heilige Maria Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.«
Sie wollte, dass es für alle nicht so schlimm war.
»Was ist die Stunde unseres Todes?«, fragte sie mehrere Male, erhielt aber keine Antwort.
Aufgeweckt und redselig war sie, aber niemand ging auf sie ein, die Mutter ermahnte sie immer öfter zur Stille, die Schwester schüttelte den Kopf oder drehte sich zur Seite, die Pflanzen und Tiere antworteten nicht. Der Wald war Gottes Ordnung, er gehorchte seinem eigenen Gesetz und zwang das Mädchen in die Defensive. Nach und nach folgte sie allen ins große Schweigen.
Einmal sah sie eine Schlange über die Wurzeln der großen Eiche schweben, eine kleine, flinke und wendige, wahrscheinlich eine Blindschleiche. Sie war ungefähr einen halben Meter lang, glatt und glänzend und war ihr sofort das Liebste und Schönste auf der Welt. Eigentlich sind Blindschleichen nur Echsen, aber für Regina war es eine Schlange – mehr noch: ein Wesen höherer Art, ein heiliges Ding.
Geschickt, fast beiläufig schnappte sie sich das Vieh, nahm es mit nach Hause und hielt es am Tisch sitzend unter ihrer Weste versteckt. Vorn und hinten hielt sie die Schlange fest, damit sie nicht entweichen konnte, da löste sich der Schwanz des Tieres vom Körper. Verdutzt schreckte Regina hoch und riss die Augen auf, hielt den Schwanz in ihrer Rechten, den vorderen, wild zappelnden Teil in ihrer Linken. Evelina verlangte zu sehen, was sie versteckt hielt, also hievte Regina das Tier in einer schnellen Bewegung auf den Tisch. Keine Sekunde war vergangen, als Evelinas Küchenmesser die ohnehin schon verkürzte Echse noch einmal teilte. Dann noch einmal. »Die Schlange ist das Zepter des Höllenfürsten«, fauchte sie. Regina stieß einen langen, spitzen Schrei aus und lief aufgebracht davon.
Am nächsten Tag saß sie wieder unter der Eiche, ihrem Geburtsort. Sie war immer noch wütend und wollte allein sein, kratzte mit dem Fingernagel an der Wurzelrinde und summte eine diffuse Melodie vor sich hin, als eine weitere Blindschleiche neben ihr über die Wurzeln glitt. Beinahe vergaß sie zu atmen, wagte nicht, sie anzufassen. Regina war fest davon überzeugt, dass es sich um exakt dieselbe, gleichsam wiederauferstandene Schlange handelte. Sie hielt still, während das Tier an ihrem Bein entlang mit spielerischer Leichtigkeit, linksrechtslinksrechts, sanfte Kurven über den Boden zog. Kurz, am Außenrist ihres linken, nackten Fußes, kam es zu einer Berührung, die den größten Effekt auf das Mädchen hatte. Sie spürte einen Stich, wie wenn man die Hand über eine Flamme hält, gefolgt von einem dumpfen Rumoren in ihrem Bauch.
Nichts in ihrem Leben hatte sie je so froh gemacht wie das Wiedersehen mit dieser Schlange – mit ihrer Schlange, diesem unsterblichen, göttlichen Zauberwesen, das sie noch einmal besucht hatte, nur um sie von seiner Unbesiegbarkeit, seiner Macht über Leben und Tod zu überzeugen. Selbst der Mutter hatte es eins ausgewischt, das beeindruckte Regina, die den Zwischenfall für sich behielt.
Als sie später die Bibel las und im Buch der Heiligen das Bild der Jungfrau Maria, die eine Schlange mit ihrem nackten Fuß in Schach hielt, akribisch untersuchte und Evelinas »Zepter des Höllenfürsten« erst verstand, erschrak sie über die satanische Konnotation in so hohem Maße, dass sie fortan, wann immer eine Schlange oder Echse ihren Weg kreuzte, es umgehend ihrer Mutter gleichtat. Sie hatte Glück gehabt. Mein Gott, was für ein Glück! Der schwarze Engel hatte sich ihr aufgedrängt, kein Geringerer als der Teufel selbst hatte sie verführt, ihr den Kopf verdreht, sie schwach gemacht und mit ihr gespielt. Satanas war hier im Wald, um sie herauszufordern und ihren Glauben zu prüfen. Sie musste auf der Hut sein.
Evelina war einunddreißig, ihre Töchter sechzehn und zwölf, als es in der eisigen Weihnacht im Hinterhof rumpelte.
»Ist das ein Wildschwein?«, fragte Regina – Wildschweine waren die einzigen Viecher, die ihr nicht geheuer waren –, aber Evelina wusste sofort: Der Mann war zurück. So lange war er nicht hier gewesen, dass Regina ihn fast vergessen hatte. Evelina schnellte hoch, räumte die Teller vom Tisch und zischte den Mädchen zu: »Legt euch ins Bett und verhaltet euch ruhig. Und nehmt die Geschenke mit!«
Die Mädchen gehorchten. Ihre Geschenke waren zwei puppenähnliche Figuren, gehüllt in selbst genähte Kleidchen. Jedes Jahr zu Weihnachten bastelte Evelina etwas derartiges, sie wusste nicht, was sie sonst machen sollte. Kreatives Denken war ihr so fremd wie liebevolle Akribie. Aber die Mädchen freuten sich immer darüber, also pflegte sie diese alljährliche Gewohnheit wie ein weiteres Alltagsritual, unsentimental und pflichtbewusst.
Eng aneinandergedrängt zogen die Mädchen die Decke bis zu ihren Nasen hoch und atmeten still.
Dann kam er. Wie ein Sturm krachte er zur Tür herein und stellte seinen Rucksack ab. Schüttelte den Mantel vom Körper, setzte sich. Evelina hob das schwere Leder hoch und hängte es zum Trocknen auf, zog ihm die Stiefel von den Füßen, holte Speck und Schnaps, reichte ihm ein Stück Brot, einen Teller Suppe, ein Glas Wasser, Schnaps. Er fasste nach ihrem Gesicht und sah sie an, prüfte ihre Augen, zog ihre Unterlippe nach unten, begutachtete ihre Zähne, knetete ihre Oberarme, hob ihre Brüste an und hielt ihr die Haare vom Kopf.
»Du bist alt«, sagte er. »Wie deine Schwester.«
Dann ließ er sie los, aß und trank, Wasser und Schnaps schien er nicht zu unterscheiden. Als er genug hatte, stand er auf, zerdepperte das Glas auf dem Boden und rülpste. Wieder verharrte er eine Zeit lang autistisch, starrte ins Nichts. Bevor er die Stube verließ, streifte sein Blick die zwei Mädchen. Kurz fixierte er Maria. Ihr war, als hätte er sie gerade erst entdeckt, zum ersten Mal direkt angesehen. Seine stechenden Augen verharrten auf ihrem Gesicht, er verzog den fettigen Mund zu einem Grinsen, das schiefe, faule Zähne zwischen großen Lücken zeigte, dann verließ er schmatzend den Raum.
Evelina wurde ungewöhnlich nervös. »Los, lauf!«, flüsterte sie eindringlich. »Beide! Lauft in den Wald. Versteckt euch!«
»Warum?«, wollte die Kleine wissen, die Angst der Mutter war auf sie übergegangen.
»Frag nicht. Tut, was ich euch sage!«
Maria krallte sich eine Decke, nahm ihre Schwester bei der Hand und stürzte zur Tür.
»Warte!«, hielt Evelina sie zurück und schaute aus dem Fenster. Nichts war zu sehen, nichts war zu hören. Er konnte überall sein, wahrscheinlich war er überall, aber sie durfte nicht warten. »Jetzt.«
Maria öffnete die Tür und setzte zum Laufen an – da stand er, wie ein Baum. Wortlos fasste er nach ihr und zerrte sie nach draußen. Evelina schrie so laut sie konnte, schlug auf ihn ein, flehte ihn an, er solle das Kind in Ruhe lassen, er solle sie nehmen, mit ihr könne er alles tun, was er wolle – nur nicht das Kind, um Gottes willen nicht das Kind!
In einer skrupellosen Drehung schlug Joseph ihr die Masse seiner Hand mitten ins Gesicht und brummte finster: »Wenn du ruhig bist, ist’s schnell vorbei. Wenn du schreist, dauert’s lang. Wenn du brüllst und schlägst, ist sie hin.«
Dann zeigte er auf eine Stelle zwei Meter hinter sich, dort sollte sie stehen bleiben. Regina krallte sich an die Mutter, die hielt ihr die Hände vors Gesicht und schnaubte so leise, wie es nur ging, Nebelfahnen in die kalte Nachtluft. »Es dauert nicht lange«, flüsterte sie. »Es ist schnell vorbei, wirst sehen.«
Maria lag jetzt rücklings auf dem großen Tisch im Hof, auf welchem Jahre zuvor das Reh gelegen war, machte die Augen zu, verzog keine Miene, dachte nur an dieses wehrlose Reh, an seine friedlichen dunklen Augen, als der Mann ihr die Wollstrumpfhose vom Körper zog und ihre zitternden Beine hochhielt. Evelina, regelrecht unter Schock, nahm den Schmerz ihres pumpenden Unterkiefers nicht wahr. »Herr Jesus, erbarme dich unser«, keuchte sie kurzatmig. »Herr Jesus Christus, erbarme dich.«
Sie bemerkte erst, dass Regina sich von ihr gelöst hatte, als Joseph einen markerschütternden Schrei losließ. Sein Mark war zweifellos erschüttert – neben ihm stand das Mädchen, das große Beil in der Hand, seine Klinge tief in die Kniekehle des Mannes versenkt. Der wankte nach hinten, dabei glitt das Beil aus der Wunde. Sekunden später zog die messerscharfe Klinge eine Gerade durch seine breite Wampe. Dickes, rotes Wasser quoll daraus wie aus einem Wildschweinbauch. Aus dem Maul des Vaters ertönten tierische Höllenlaute. Maria fasste hinter sich, griff nach dem Spaten und wuchtete ihn mit aller Kraft gegen den Schädel des Mannes, der kraftlos zu Boden stürzte, röchelte und heulte. Jetzt war sein rechter Arm dran. Regina war getrieben, konnte nicht aufhören, mit glasklaren Augen und angespannten Gesichtszügen ging sie ans Werk. Sie schaffte es nicht, seine Gliedmaßen vollständig von seinem Körper zu trennen, zu gewaltig war er, aber wie von fremder Hand geleitet, fuhr sie fort, ihn zu zerteilen, wie er selbst einst das Reh zerteilt hatte, konzentriert und konsequent. Marias Spatenschaufel hatte sein Blut und Galle spuckendes Gesicht derweil zu einem entmenschten Gebilde entstellt, seine Zähne lagen verteilt auf der Erde – da schrie Evelina laut auf. Sofort hielten die Mädchen inne, atmeten flüchtige weiße Wolken.
Die Mutter stand da, das große Küchenmesser in der Hand. Der zerstörte Leib des Mannes zuckte, seine Stange stand immer noch aufrecht und dehnte den Stoff seiner Hose nach oben. Evelina beugte sich über ihn, spuckte aus und stach zwei Mal, von heftigen Luftstößen begleitet, einer fremden Stimme aus den Tiefen ihrer Seele gleich, mechanisch auf seinen Hals ein, dann ein letztes Mal auf seinen Unterleib.
»Jetzt ist Schluss«, sagte sie schwer keuchend. Und nach einer kurzen Pause: »Das ist die Stunde des Todes.«
Joseph Holzapfel war nach einundvierzig sinnfreien Jahren ausgelöscht. Die Macht, die so lange über den Wald und seine Bewohner geherrscht hatte, ob sie zugegen war oder nicht, war nicht einmal mehr die Summe ihrer Einzelteile – die lagen zwei Stunden später unter seinem schweren Ledermantel aufgehäuft im Hof. Die Macht war einfach nur ein Mensch gewesen, im Tod wie im Leben wertlos. Nein, nicht ganz wertlos. Sein Wert ließ sich zusammenfassen in zwei Ejakulationen, die er dem schwächeren Körper seines Weibes aufgezwungen hatte, ungefähr zehn Milliliter Lebenssaft – genau genommen null komma fünf Prozent davon, der Rest war Seminalplasma, Wasser, was auch immer. Wertlose Substanz.
Frisch gewaschen saßen die Frauen eng aneinandergedrängt im Bett, zum ersten und letzten Mal. Einen ganzen Rosenkranz hatten sie gebetet, obwohl Evelina den Rosenkranz nicht mochte – »endlose Kette« hatten sie und ihre Schwester ihn immer genannt –, dann Stille Nacht gesungen. Der Reihe nach schliefen sie ein. Das heißt, die Mädchen schliefen ein, Evelina lag wach und starrte wie neugeboren in die stille und heilige Leere der Christnacht, ehe sie wieder nach draußen ging.
Als die Schwestern am nächsten Tag erwachten, existierte nichts mehr, was an die gewaltige Sünde erinnerte. Alles war, wo es sein sollte, der Hof war aufgeräumt, die Ordnung wieder hergestellt, der Duft von Essig lag in der Luft. Auf dem Tisch warteten ein Christstollen und zwei Becher mit heißer, wässriger Milch.
Ein paar Monate später fragte ein ängstlicher Polizist nach dem vermissten Holzapfeljoseph. Evelina gab trocken an, er sei nicht mehr nach Hause gekommen. Die Frage, wer zum Teufel ihn eigentlich vermisste, beschäftigte sie noch ein paar Tage. Zwischen den Frauen sollte nie auch nur ein einziges Wort zu den Geschehnissen jener Dezembernacht gewechselt werden, auch wenn Regina sich noch lange fragte, wo der Alte war, ob Evelina ihn eingegraben hatte oder verbrannt oder weggebracht. In der Hölle war er, so viel stand fest. Das Holzapfelschweigen hatte seine Vollkommenheit erreicht.
So vergingen in einer Nacht zwei Kindheiten.
Die Monotonie der nächsten siebenundzwanzig Jahre war vollkommen. Kein anderer Mensch dieses Zeitalters, der weder Mönch noch verrückt war, hätte diese auch nur einen Monat lang ertragen. Dem ewigen Kreislauf der Jahreszeiten wurde sein Weg nicht zu blöd, der Trott des Lebens war der Trott der Natur, in welchem die drei Frauen inkludiert waren wie Bakterien. Die Welt außerhalb des Waldes kümmerte sie nicht. Sie wussten nicht einmal von ihrer Existenz. Sie hatten ihre Lektionen gelernt, die Herausforderungen des Lebens angenommen, trugen Verantwortung für sich und ihre Hütte. Punkt.
Regina hatte ihre gebändigte Fantasie, ihre verdrängte Lebenslust, die Glut ihres jugendlichen Feuers irgendwann nicht mehr ertragen und Trost im Schnaps gefunden. Lange Zeit hatte sie nicht gewusst, was mit ihr los war, wovon ihre Unruhe herrührte, ihre wilden Träume und Gedanken. Sie war im Grunde nicht für dieses Leben, für die Stille gebaut, die Abgeschiedenheit ließ ihren Geist von Zeit zu Zeit durchdrehen, dann fällte sie einen Baum oder tötete ein Tier.
Der Alkohol beruhigte sie und machte alles erträglich, er war aber auch ein Traumtöter. Manchmal wollte sie träumen, manchmal blieb sie nüchtern, nur um durch die Nacht zu reisen, das Leben einer Märtyrerin zu führen, in einen Tierkörper zu schlüpfen oder sich zu verlieben, wie sie es in den paar Büchern gelesen hatte, die es im Einkaufskorb der Klara in den Wald geschafft hatten.
Zuweilen plagte ihr sexueller Trieb sie so gewaltig, dass sie sich an allem rieb, worauf sie sitzen konnte. Evelina hatte ihr das in ihrem Beisein untersagt, also lief sie, wenn es so weit war, ein Stück in den Wald und genoss die rauen, feuchten Oberflächen der Wurzeln und Steine. Nein, Genuss war’s keiner – sie verschaffte sich auf manisch aggressive Weise Erleichterung. Es war ein Bedürfnis, das gestillt werden wollte, nicht mehr. Sie dachte nicht weiter darüber nach.
Maria kannte die Geißel dieses Triebs nicht. An ihr klebte etwas Schweres, ein Gewicht, das sie ruhig hielt. Sie trug all ihre Begrenztheiten mit sich, nichts und niemand musste sie bändigen. In der Stadt wäre sie früher wahrscheinlich in die Kategorie autistisch gesteckt worden, hätte ungefragt einer speziellen Betreuung bedurft, ein normales soziales Leben wäre ihr wohl nicht möglich gewesen, dabei war ihr Sensorium für die sie umgebende Welt ein messerscharfes. Hier aber gab es keine Kategorien, hier war sie einfach die Maria – nicht die Regina. Dass die Schwestern von so unterschiedlicher Natur waren, hatte ausschließlich Vorteile, die eine machte die andere komplett. Für die Leute im Dorf aber existierten nur die Holzapfelschwestern, nicht zwei individuelle Menschen mit unterschiedlichen Vornamen, womöglich stellten sie sich die beiden als kollektives Bewusstsein oder siamesische Zwillinge vor – und in gewisser Weise stimmte das auch.
Evelina, mittlerweile achtundfünfzig, spürte, dass ihre Zeit abgelaufen war. Sie war müde, ein paar Zähne waren ihr ausgefallen, irgendetwas zog sie hinab zur Erde. Die Züge ihres Gesichts deuteten dahin, die dunklen Ringe unter ihren Augen, die Haut ihrer Wangen. Sie hatte keine Schmerzen, aber das geringste Schwächeln war ihr die größte Demütigung. Vor allem aber spürte sie eine Kraft in ihrem Körper, die sich breitmachte und sie immer mehr erfüllte. Diese Kraft war ihr fremd, schien von außen zu kommen oder von ganz innen, sie wusste es nicht. Alles, was Evelina ausmachte, wurde von dieser Kraft gesammelt und gebündelt. Vielleicht war es gar nicht der Körper, vielleicht war das die Seele, jedenfalls schärfte diese Kraft ihre Wahrnehmung auf gespenstische Weise, gab ihr zu verstehen, dass alles einzigartig und besonders war. Wenn sie jetzt einen Baum ansah, war das nicht einfach ein Baum – plötzlich wollte sie ihn berühren, erkannte das Muster der Rinde, folgte seiner Linie und befand es für schön. Sie hatte so lange nicht in Kategorien wie Schönheit gedacht, sie misstraute dem Gefühl, gleichwohl wärmte es sie von innen. Das Essen war nicht mehr bloß das Stillen des Hungers, auf einmal schmeckte sie die einzelnen Zutaten heraus und wog ihr Geschmacksverhältnis sorgfältiger ab. Die frische Morgenluft, Sonnenstrahlen auf ihrer Haut, das Mondlicht zwischen den Zweigen, alles war, als würde sie es zum ersten Mal sehen und erleben.
Zum letzten Mal.
Diese Kraft, die sie Engel