Ein letzter Tag mit dir - Patrick Osborn - E-Book

Ein letzter Tag mit dir E-Book

Patrick Osborn

5,0

Beschreibung

Fünfzehn Jahre nach dem Tod ihrer großen Liebe Josh, glaubt die erfolgreiche Schriftstellerin Emma Chapman diesen bei einer Lesung im Publikum zu sehen. Sich ihrer Sache sicher beauftragt Emma einen Privatdetektiv mit der Suche nach Josh. Und tatsächlich findet dieser eine vielversprechende Spur. Jedoch ahnt Emma nicht, dass sie damit eine Kettenreaktion auslöst, welche die Grundmauern ihrer Familie erschüttert ...

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Kurzbeschreibung:

Fünfzehn Jahre nach dem Tod ihrer großen Liebe Josh, glaubt die erfolgreiche Schriftstellerin Emma Chapman diesen bei einer Lesung im Publikum zu sehen. Sich ihrer Sache sicher beauftragt Emma einen Privatdetektiv mit der Suche nach Josh. Und tatsächlich findet dieser eine vielversprechende Spur. Jedoch ahnt Emma nicht, dass sie damit eine Kettenreaktion auslöst, welche die Grundmauern ihrer Familie erschüttert ...

Patrick Osborn

Ein letzter Tag mit dir

Roman

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2018 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2019 by Patrick Osborn

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Ashera Agentur

Covergestaltung: Marie Wölk, Wolkenart

Lektorat: Catherine Beck

Korrektorat: Christin Ullmann

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-291-8

www.facebook.com/EdelElements/

www.edelelements.de/

Inhalt

Prolog

TEIL 1: VERGANGENHEIT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

TEIL 2: GEGENWART

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Epilog

Prolog

„Willst du mich heiraten?”

In der Hektik der letzten Minuten war diese Frage fast untergegangen. Überrascht blickte Emma in Richards Richtung. Unzählige Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Warum musste er sie gerade jetzt bitten, seine Frau zu werden? Natürlich, sie waren seit mehr als zwei Jahren ein Paar. Und nicht nur einmal waren sie gefragt worden, warum sie noch nicht geheiratet hatten. Richard hatte bei dieser Frage jedes Mal lachend abgewinkt und geantwortet, sie seien auch ohne die heilige Institution der Ehe glücklich. Doch Emma wusste, dass Richard in seinem Innersten anders darüber dachte. Allerdings war sie froh, dass er die Frage aller Fragen bisher nicht gestellt hatte, denn gefühlsmäßig war sie alles andere als frei. Nicht jetzt, und sie war sich auch nicht sicher, ob sie es jemals sein würde. Und das, obwohl schon so viele Jahre vergangen waren.

Richard blickte sie erwartungsvoll an. „Ich weiß, es ist nicht der beste Zeitpunkt, und ich könnte auch verstehen, wenn du erst nach der Lesung antworten willst, aber ich musste diese Frage jetzt loswerden.” Er machte eine kurze Pause und fügte dann hinzu: „Bevor ich wieder den Mut verliere.”

Emma sah ihm an, wie aufgeregt er war. Es ist doch schon so lange her, dachte sie. War es nicht endlich an der Zeit, die Vergangenheit ruhen zu lassen und einen Schlussstrich zu ziehen? Richard hatte in den letzten zwei Jahren mehr als einmal bewiesen, dass sie sich auf ihn verlassen konnte. Sie waren ein eingespieltes Paar, und ihre Freunde und Familie würden ihn als das beschreiben, was man den perfekten Schwiegersohn nannte. Trotzdem weigerte sich Emma, das in letzter Konsequenz genauso zu sehen. Das hatte einen einfachen Grund: Ihr Herz gehörte einem anderen Mann. Zum wiederholten Mal sagte sich Emma, dass es endlich an der Zeit war, sich der Realität zu stellen. Und die war, dass Richard es ehrlich mit ihr meinte, sie aufrichtig liebte und sie auf Händen tragen würde. War es nicht das, was sich jede Frau wünschte?

Um Zeit zu gewinnen, wandte Emma den Blick von Richard ab. Sie ging zum Vorhang, schob ihn beiseite, und während sie ins Publikum sah, überlegte sie, was sie auf seine Frage erwidern sollte. Sie erhob ihre Stimme, um Richard zu antworten. Ihr Blick wanderte über die erste Reihe. Ihr Herzschlag verdoppelte sich, ihr Mund trocknete aus. Das konnte unmöglich sein! Dort saß er!

Warum gerade jetzt? Heute?

Emma blinzelte, um das Bild des Mannes zu verscheuchen, der seit vielen Jahren tot war …

TEIL 1: VERGANGENHEIT

Kapitel 1

„Es reicht jetzt! Ich habe dir hundert Mal gesagt, dass mein Entschluss feststeht. Finde dich endlich damit ab!”

Emma merkte, dass ihre Mutter verärgert war. Und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, konnte sie es ihr nicht verübeln. Schließlich nörgelte Emma seit Wochen an ihrer Entscheidung herum. In dieser Zeit hatte sie alle Tricks und Gefühlslagen ausprobiert: weinen, flehen, betteln und schreien. Natürlich hatte sie auch versucht, vernünftig mit ihrer Mutter zu reden. Doch ohne Erfolg. Ihr Entschluss stand fest: Sie zogen von Frankfurt nach New York, in die Arme eines Mannes, den Emma bisher nur einmal gesehen hatte. Das Schlimmste daran war, dass Emma mitkommen musste.

„Ich weiß echt nicht, was ich hier soll! Ich habe mein Leben in Frankfurt. Was wird aus meinen Freundinnen, was aus Timo? Und überhaupt, was ist, wenn der Kerl ein verrückter Serienkiller ist?”

Emmas Mutter drehte sich zu ihr um. „Liebes”, sie deutete auf die Stadt, deren Silhouette bereits zu erkennen war, „das wird jetzt unser Zuhause. Und glaube mir, Hector wird dich wie eine Tochter lieben.”

„Das wird nie mein Zuhause!”, antwortete Emma wütend. „Sowie ich volljährig bin, gehe ich nach Frankfurt zurück! Da sind alle meine Freunde!” Da dies nach deutschen Verhältnissen nur noch ein gutes Jahr dauerte, war sich Emma sicher, die Sache halbwegs zu überstehen. Sollte ihre Mutter doch mit dem eingebildeten Lackaffen glücklich werden! Sie konnte immer noch nicht fassen, dass ihre Mutter Hals über Kopf alle Zelte in Deutschland abbrach.

Vor einigen Monaten hatte sie einen Typen aus Amerika kennengelernt. Anfangs fand Emma das gut, da ihre Mutter wieder fröhlich und unbeschwert sein konnte. So war sie seit Daddys Tod nicht mehr gewesen. Allerdings war ihr mit der Zeit das ganze Hector-hier-Hector-da-Gehabe gehörig auf die Nerven gegangen. Vor zwei Monaten hatte sie dann das erste Mal ein Wochenende bei ihm in New York verbracht. Natürlich hatte er alle Kosten übernommen. Sollte er doch, schließlich war er stinkreich. Für Emma war das jedoch kein Anreiz, ihn gut zu finden. Im Gegenteil. Sie befand sich noch in der Phase der Pubertät, in der sie sich gegen das Establishment auflehnte. Zwei Wochen später war es zur ersten Begegnung mit Hector gekommen. Mit Grausen erinnerte sich Emma an die Szene, wie sie mit ihrer Mutter auf dem Frankfurter Flughafen gewartet hatte. Während Emma kaugummikauend an einem Pfeiler lehnte, tippelte ihre Mutter wie eine läufige Hündin in Minirock und High Heels aufgeregt von einem Bein auf das andere. Als eine billige und deutlich ältere Ausgabe von Antonio Banderas mit breitem Zahnpastalächeln auf sie und ihre Mutter zukam, hätte Emma am liebsten laut aufgeschrien. Fünf Tage war Hector in Frankfurt geblieben, und während seines Besuches machte ihre Mutter immer wieder merkwürdige Andeutungen, wie schön es in New York sei und welche Möglichkeiten sich ihnen dort eröffnen würden. Emma hatte dieses Gerede nicht für voll genommen. Zwar hatten sie längst vorgehabt, in die USA zu gehen, doch da hatte ihr Vater noch gelebt. Sie wollten seine Militärzeit abwarten, doch der Krebs hatte der Familie einen Strich durch die Rechnung gemacht. Nach seinem Tod war ihr Vorhaben wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen. Emma hatte alle Hände voll damit zu tun, eine Stütze für ihre Mutter zu sein, obwohl sie selbst Hilfe gebraucht hätte.

Und dann hatte Emmas Mutter vor vierzehn Tagen die Bombe platzen lassen. „Schatz, Hector hat mich gefragt, ob wir zu ihm ziehen wollen – und ich habe ja gesagt.” Vor allem, dass Emma vor vollendete Tatsachen gestellt wurde, brachte sie jetzt noch auf die Palme. Wäre es nicht recht und billig gewesen, sie zumindest zu fragen? Schließlich war es auch ihr Leben.

Die Boeing legte sich in eine Kurve und holte Emma in die Gegenwart zurück. Sie konnte die Freiheitsstatue erkennen und rümpfte die Nase. Was für ein Klischee! Das Fahrwerk fuhr aus, und der Landeanflug auf den JFK begann. Eine gute halbe Stunde später nahmen sie den letzten Koffer vom Gepäckband und begaben sich zum Ausgang. Emma betete inständig, dass ihre Mutter nicht wieder eine Szene machen und ihrem Lover kreischend in die Arme fallen würde. Doch dazu kam es Gott sei Dank nicht. Kaum hatten sie das Terminal verlassen, als Emma den enttäuschten Blick ihrer Mutter sah. Von Hector war weit und breit nichts zu sehen.

„Sieh mal, Mum, dort.” Emma deutete auf einen Mann, der eine Chauffeuruniform trug und ein Schild mit ihren Namen in Händen hielt.

„Das ist Jorge, Hectors Chauffeur.” Freudig erregt ging sie auf den Mann zu.

„Das ist Jorge, Hectors stockschwuler Chauffeur”, äffte Emma ihre Mutter leise nach, verdrehte die Augen und folgte ihr widerwillig. In diesem Moment erkannte der Mann Emmas Mutter und nahm das Schild herunter.

„Mrs. Chapman, willkommen in New York!” Er schüttelte ihrer Mum die Hand und wandte sich anschließend Emma zu. „Und du bist sicherlich Emma?”

Sie ignorierte die dargebotene Hand. „Für Sie immer noch Mrs. Chapman!” Ohne ihn weiter zu beachten, ging sie an ihm vorbei. Claudia wollte sich für Emmas unmögliches Verhalten entschuldigen, jedoch schien es Jorge nicht wirklich zu stören.

„Señor Gonzales bittet um Verzeihung. Er hätte Sie gern abgeholt, aber ihm ist ein dringender Geschäftstermin dazwischengekommen.”

„Ist der Termin zufällig zwanzig, hat lange blonde Haare und ausufernde Brüste?“, fragte Emma.

Ihre Mutter sah sie schockiert an. „Was soll denn das?”, fuhr sie Emma an.

Jorge ignorierte das Ganze. Vielmehr wandte er sich wieder ihrer Mutter zu. „Ich bringe Sie in das Apartment von Señor Gonzales. Er wird sicher bald eintreffen.” Jorge griff nach dem Kofferwagen und setzte sich mit dem Gepäck in Bewegung. Wenige Augenblicke später verstaute er alles in einer Limousine von Chevrolet, und dann schlängelten sie sich auch schon durch die vollen Straßen New Yorks. Normalerweise hätte Emma einen Luftsprung machen müssen: der Big Apple! Was hatten ihre Freundinnen sie darum beneidet, dass sie künftig in New York leben würde. Verglichen mit der größten amerikanischen Stadt war Frankfurt allertiefste hessische Provinz. Doch gerade das hatte Emma gefallen. Nach dem Tod ihres Vaters fühlte sie sich verloren. Sie wusste nicht, wer oder was ihr Zuhause war. Da tat es gut, Freundinnen wie Simone, Leonie oder Anja zu haben. Und dann war da noch Timo. Sie hatten bisher nicht miteinander geschlafen, trotzdem war er ihre erste längere Beziehung. Ihrer Mutter hatte sie nur wenig von ihm erzählt, daher verstand sie auch nicht, warum Emma ihre Entscheidung so schwer getroffen hatte. Timo war anders als die Jungs, die Emma vorher kennengelernt hatte. Mit ihm konnte sie sich eine echte Romanze vorstellen, doch bevor es dazu kommen konnte, fand dieser verdammte Umzug statt. Und jetzt lagen gut sechstausend Kilometer zwischen ihnen. Sie versprachen sich, über Mail und Skype Kontakt zu halten, doch Emma war bewusst, dass die Beziehung mit Timo zu Ende war, ehe sie überhaupt richtig begonnen hatte.

Die Fahrt zu Hectors Wohnung dauerte gut fünfzig Minuten. Emma wusste von den Schwärmereien ihrer Mutter, dass Hector Gonzales ein Penthouse in der 57th Street bewohnte. Außerdem besaß er noch ein Haus in den Hamptons, aber zunächst würden sie hier, im Herzen New Yorks, wohnen. Jorge und ihre Mutter verfielen in Smalltalk, während Emma ihre Kopfhörer hervorkramte und der melancholisch-traurigen Stimme von Robert Smith lauschte. Sie hatte die Musik des britischen Sängers in der Phase entdeckt, als es mit ihrem Vater zu Ende ging, und jede Menge Trost und Kraft aus seinen Songs geschöpft. On candy stripes legs the spiderman comes. Emma spürte, dass sich der Jetlag bemerkbar machte. Sie passierten gerade die Brooklyn Bridge, als ihr die Augen zufielen und nur noch Robert Smiths Stimme in ihr Bewusstsein drang. And I feel like I am being eaten.

„Schatz, wir sind da!” Emma spürte ein sanftes Streicheln an ihrer Wange und schlug die Augen auf.

„Was …?” Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren.

„Wir sind da“, wiederholte ihre Mutter. In dem Augenblick machte Jorge die Wagentür auf. Emma rieb sich mit der Hand über das Gesicht und stieg aus. Die kühle, von Abgasen geschwängerte Luft einer Tiefgarage umfing sie. Sie folgte den beiden, die auf einen Fahrstuhl zusteuerten. Die Kabinentür öffnete sich lautlos, und Emmas Mutter gab einen vierstelligen Code in ein Display ein. Die Tür schloss sich, surrend setzte sich die Kabine in Bewegung. Emma spürte einen leichten Druck auf den Ohren. Als sich der Aufzug wieder öffnete, wurden sie von einer älteren Dame in einem Küchenoutfit überschwänglich begrüßt.

„Miss Chapman, ich freue mich so, Sie wiederzusehen.“

„Rosalie!“ Die Stimme von Emmas Mutter wurde eine Oktave höher, was immer dann der Fall war, wenn sie sich über etwas freute oder aufgeregt war. Emma hasste diesen Ton. Die beiden Frauen umarmten sich so herzlich, als würden sie sich ein Leben lang kennen, dabei konnte sie die Frau nur bei ihrem ersten und einzigen Besuch getroffen haben.

„Emma“, verkündete sie mit der immer noch erhöhten Stimme, „das ist Rosalie, Hectors guter Geist.” Sie machte eine Pause, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. „Und sie ist eine begnadete Köchin!“

Emma hielt der Küchenfrau schlaff die Hand hin und drosselte sogar die Lautstärke. Allerdings hielt sie es nicht für nötig, die Kopfhörer aus den Ohren zu nehmen. „Dann hat er ja echt Glück gehabt.“ Ihre Mutter sah sie fragend an. „Na, dass Hector nicht deine grandiosen Spaghetti mit Kochkäse ertragen muss.“ Bei dem Wort grandios deutete Emma zwei imaginäre Anführungszeichen an. Ohne Rosalie eines weiteren Blickes zu würdigen, ging sie auf die breite Fensterfront zu, von der man eine imposante Aussicht auf die Skyline hatte. „Cooler Ausblick!“ Emma wandte sich um. „Kann ich jetzt mein Zimmer sehen? Ich würde mich gern hinlegen.”

„Willst du nicht warten, bis Hector da ist? Außerdem solltest du versuchen, noch ein wenig wachzubleiben, um den Jetlag zu minimieren.“

„Boah, Mum, nerv nicht! Hector wird mir schon nicht wegrennen. Schließlich“, die folgenden Worte betonte Emma besonders giftig, „muss ich ihn jetzt jeden Tag sehen.“

Bevor ihre Mutter etwas erwidern konnte, ergriff Rosalie das Wort. „Kein Problem, ich zeige dir dein Zimmer. Ich bin sicher, du wirst begeistert sein.“ Rosalie griff nach Emmas Hand und zwinkerte ihrer Mutter zu. Sie gingen in ein imposantes Wohnzimmer, von dem eine Treppe in den nächsten Stock führte. Erst jetzt merkte Emma, wie riesig das Penthouse war. „Soll ich dir die anderen Räume zeigen, oder möchtest du nur dein Zimmer und dein Bad sehen?“

„Ich habe ein eigenes Badezimmer?”, fragte Emma überrascht.

„Naturalmente”, antwortete Rosalie mit sanfter Stimme. „Du hast in der obersten Etage dein Reich. Ich bin mir sicher, dass es dir gefallen wird.”

Emma folgte ihr nach oben. „In welchem Stockwerk befinden wir uns?”

„Im 42.”

„Hat Hector eigentlich eigene Kinder?”, wollte Emma wissen, auch wenn sie die Antwort von ihrer Mutter bereits kannte.

„No. Señor Gonzales erste Frau konnte keine Kinder bekommen. Und das, wo er sich doch immer welche gewünscht hat.”

„Was ist mit seiner Frau passiert?”

„Schreckliche Sache. Sie litt an Depressionen und hat es irgendwann nicht mehr ausgehalten.”

„Und?” Emmas Neugier war geweckt. Sie erreichten das Ende der Treppe, und Rosalie blickte sich um, als wollte sie sichergehen, keine unliebsamen Zuhörer zu haben. „Die junge Frau Gonzales hat sich umgebracht.”

Emma war überrascht. Ihre Mutter hatte ihr nur erzählt, dass Hector nicht mehr mit seiner Frau zusammen war. „Wie …“

Abermals blickte sich Rosalie um und senkte die Stimme. „Tabletten …” Bevor Emma noch etwas sagen konnte, wurde Rosalies Tonlage lauter. „Genug von den alten Geschichten. Jetzt sind deine Mutter und du da, und das ist gut so. Seit Señor Gonzales deine Mutter kennt, ist er wieder ein fröhlicher Mensch.” Rosalie stoppte vor einer Tür und öffnete sie. „Willkommen in deinem Reich!”

Emma trat ein, und im ersten Augenblick blieb ihr die Luft weg. Sie hatte sich fest vorgenommen, sich nicht von dem Reichtum des Lackaffen einlullen zu lassen. Aber das Zimmer besaß echt Klasse. Auch hier gab es eine breite Fensterfront, von der Emma einen schier unglaublichen Ausblick auf eine riesige Parkanlage hatte. Sie vermutete, dass es sich um den Central Park handelte.

„Gefällt es dir?”, wollte Rosalie wissen.

„Ja, ist ganz nett.” Emma bemühte sich, die Aufregung in ihrer Stimme zu unterdrücken.

Rosalie schien zu bemerken, dass ihr das Zimmer gefiel. „Und hier ist dein Badezimmer.” Abermals blieb Emma die Luft weg, was Rosalie mit einem weiteren Lächeln kommentierte. „Dann ruh dich ein bisschen aus. Vielleicht”, dabei zwinkerte sie Emma verschwörerisch zu, „kommst du nachher doch noch herunter, wenn Señor Gonzales kommt. Er würde sich sicherlich freuen, dich zu begrüßen.“

Emma wollte etwas erwidern, aber Rosalie hatte schon kehrtgemacht und war dabei, die Tür hinter sich zu schließen. Emma ließ ihren Rucksack zu Boden gleiten und warf sich aufs Bett. Immer wieder ermahnte sie sich, sich nicht von Hectors Reichtum beeindrucken zu lassen. Sie steckte die Kopfhörer in die Ohren, ließ erneut die Stimme von Robert Smith erklingen und war ein paar Sekunden später eingeschlafen.

Kapitel 2

Ein Sonnenstrahl fiel durch das Fenster und kitzelte Emma im Gesicht. Sie streckte sich ausgiebig und stellte erschrocken fest, dass sie gut zwölf Stunden geschlafen hatte. Emma erhob sich und sah, dass ihr Gepäck im Zimmer stand. Sie hatte nicht bemerkt, wann und wer es dort abgestellt hatte. Mit einem Blick auf ihr Handy bemerkte sie enttäuscht, dass Timo sich nicht gemeldet hatte. Wahrscheinlich hatte er sie bereits vergessen. Emma wuchtete den größeren der beiden Koffer aufs Bett, öffnete ihn und entnahm frische Wäsche – ihre Lieblingsjeans und ein Shirt von Calvin Klein. Vor dem Anziehen gönnte sie sich eine ausgiebige Dusche. Während das Wasser auf ihren Körper niederprasselte, keimte der Gedanke auf, dass New York vielleicht doch nicht so schlecht war. In diesem Moment kamen ihr Timo und sein trauriges Gesicht am Flughafen in Erinnerung, und Emma verfluchte ihre Mutter dafür, die Entscheidung ohne sie getroffen zu haben. Mit einem flauschigen Handtuch rubbelte sich Emma trocken, zog sich an und schlüpfte in ihre Chucks. Auf Schminke verzichtete sie, vielmehr beschloss sie, nach der Küche zu suchen, da sie Hunger und vor allem Durst verspürte. Vielleicht war ja Rosalie schon wach.

Emma verließ das Zimmer und ging die Treppe hinunter. Sie hoffte, dass ihre Mutter nicht zu böse war, dass sie Hector gestern nicht mehr begrüßt hatte. Andererseits sagte sie sich, dass sie sie ja hätten wecken können. Während sie die Stufen hinunterging, warf sie einen Blick auf die Wand, die als Galerie für unzählige Fotos herhielt. Auf jedem war Hector Gonzales mit jemand anderem zu sehen. Emma staunte nicht schlecht, als sie auf einem Bild Bono, den Sänger der irischen Band U2, und auf einem weiteren die Schauspielerin Natalie Portman erkannte. Von der Treppe aus entdeckte sie die Küche. Erneut verschlug es ihr den Atem, denn die Showküchen, die Emma aus dem deutschen Fernsehen kannte, waren im Vergleich zu dem, was Hector sein Eigen nannte, eher kleine Küchenzeilen. Sie steuerte auf den Kühlschrank zu, öffnete ihn und entnahm einen Kanister mit Orangensaft. Sie kam sich vor wie in einer amerikanischen Fernsehserie, als sie eine Tür klappen hörte. Kurz darauf erschien der Hausherr in der Küche.

„Guten Morgen, Emma“, sagte er freundlich und trat ein paar Schritte auf sie zu. „Hast du gut geschlafen?”

„Äh, ja”, antwortete sie verlegen.

„Das freut mich.” Hector umrundete den Tresen und ging zur Kaffeemaschine.

„Wo ist Mum?”

„Schläft noch”, erwiderte er. „Im Gegensatz zu dir hat sie gestern auf mich gewartet. Ist leider später geworden.”

„Ja … ich …” Emma wusste nicht, was sie sagen sollte.

„Kein Problem. Der Jetlag fordert nun mal sein Recht.” Hector schaltete die Kaffeemaschine an und wandte sich dem Tiefkühler zu.

„Macht Rosalie das Frühstück?”, fragte Emma, um überhaupt etwas zu sagen.

„Nein. Heute ist Sonntag, da hat Rosalie frei.” Hector verteilte sechs Bagels auf einem Backblech und heizte den Ofen vor. Währenddessen leerte Emma ihr Glas und schenkte sich ein weiteres ein. „Und? Gefällt dir dein Zimmer?”

„Ja, es ist okay.”

„Wenn nicht, können wir es nach deinen Wünschen umgestalten. Du musst nur …”

„Es ist okay!” Emmas Stimme klang schärfer, als sie beabsichtigt hatte.

„Guten Morgen, ihr zwei! Was ist okay?” Emmas Mutter betrat die Küche.

„Warum bist du denn schon wach?” Hector erhob sich und nahm sie in die Arme.

„Ich habe gespürt, dass du nicht mehr neben mir liegst.”

Emma rollte mit den Augen, holte tief Luft und betete inständig, dass sich die beiden nicht auch noch küssen würden. Ihre Mutter schien ihre Reaktion bemerkt zu haben.

„Und du, mein Schatz”, sie umarmte Emma, „musst doch fit wie ein Turnschuh sein.”

„Es geht”, antwortete sie kurz angebunden.

„Was heißt denn, es geht? Du hast doch mehr als genug geschlafen.”

„Ja und? Ich habe hier ja nichts zu tun!”

Emmas Ausbruch sorgte für unangenehme Stille. Nur das Blubbern der Kaffeemaschine war zu hören.

„Das kenne ich.” Hector löste die belastende Ruhe auf. „Ich brauche nach solchen Interkontinentalflügen auch ein paar Tage, um wieder der Alte zu sein.” Er öffnete einen Schrank und entnahm zwei Tassen. „Möchtest du auch einen Kaffee, Emma?”

„Wie … nein, danke.”

Hector goss zwei Tassen voll und reichte eine Emmas Mutter. Anschließend schob er das vorbereitete Backblech mit den Bagels in den Ofen und stellte die Uhr auf acht Minuten.

Claudia nahm neben ihrem neuen Partner Platz. „Hector will uns heute ein wenig die Stadt zeigen. Ist das nicht toll, Liebes?”

„Ja, ganz toll.” Emmas Ton machte deutlich, was sie von dieser Idee hielt.

„Du klingst aber nicht wirklich begeistert.”

„Ich habe echt keinen Bock, hier einen auf glückliche Family zu machen!”

Emmas Mutter wollte gerade etwas erwidern, als Hector ihr eine Hand auf den Arm legte. „Das habe ich auch nicht vor, Emma.” Er goss sich eine weitere Tasse Kaffee ein. „Mir ist klar, dass du mit der Entscheidung deiner Mutter alles andere als glücklich bist. Trotzdem freue ich mich, dass ihr hier seid.”

Er hatte eine angenehme, warme Stimme, und Emma konnte durchaus verstehen, warum ihre Mutter auf ihn flog, zumal er wirklich nicht schlecht aussah.

„Ich habe mir schon gedacht, dass du nicht mit uns herumziehen möchtest. Du wirst sicher noch genug Gelegenheiten bekommen, um zu sehen, was New York zu bieten hat. Für den Moment habe ich eine andere Überraschung für dich. Was meinst du? Gibst du mir diese Chance?”

Auch wenn Emma dagegen ankämpfte, spürte sie, wie ihre innere Barriere bröckelte. Sollte sie Hector eine Chance geben? „Okay”, antwortete sie zaghaft.

In diesem Moment erklang das Signal des Ofens. Hector nahm das heiße Blech heraus und stellte es auf ein Brett. Ein verführerischer Duft breitete sich in der Küche aus. „Sehr schön.” Hector deutete auf die Bagels. „Greift zu!”

Zögerlich griff Emma einen und musste sich nach dem ersten Bissen eingestehen, dass sie nicht nur verführerisch rochen.

Nachdem alle Bagels verputzt waren, lächelte Hector Emma an. „Ich zieh mir nur schnell was anderes an. Dann können wir los.”

Emma blickte ihre Mutter an, die genauso ratlos war. Ein paar Minuten später befand sich Emma mit ihm im Aufzug, der sie in die Tiefgarage brachte. Dort ging Hector zielstrebig auf einen SUV zu.

„Wo fahren wir hin?”, fragte sie und nahm auf dem Beifahrersitz Platz.

„Lass dich überraschen.” Hector ließ den Motor aufheulen und verließ die Garage. „Hör zu, Emma”, ergriff er etwas unbeholfen das Wort. „Ich kann mir vorstellen, dass es für dich keine einfache Situation ist, aber ich liebe deine Mutter und bin sehr froh, dass ihr beide hier seid.”

Emma blickte verlegen nach draußen und wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Sie hatte sich fest vorgenommen, den Lackaffen nicht zu mögen, musste sich jedoch eingestehen, dass er nicht so unsympathisch war.

„Schon gut, solange du nicht versuchst, den großen Ersatzdaddy zu spielen.”

„Versprochen! Allerdings sollst du wissen, dass ich jederzeit für dich da bin, wenn dich etwas bedrückt. Okay?”

Emma zögerte ein paar Sekunden. „Einverstanden”, sagte sie schließlich. Hector schien wirklich nicht übel zu sein. Und hey, sie waren immerhin in New York!

Auf einmal konnte sie das Eingangstor eines Tierparks erkennen. „Arbeitest du hier? Ich dachte, du bist Banker.”

Hector lachte auf. „Weder noch. Ich habe eine Firma, die Konsumgüter im- und exportiert.“

Die beiden stiegen aus, und Hector deutete auf das Eingangsschild, auf dem „Central Park Zoo“ zu lesen stand. „Und was den ersten Teil deiner Frage angeht: Ich kenne hier einige Leute. Was würdest du davon halten, hier ein wenig auszuhelfen?”

„Ich?”, fragte Emma mit einer Mischung aus Verwunderung und Begeisterung. Schließlich waren Tiere, neben der Literatur, ihre große Leidenschaft.

„Ja”, antwortete Hector. „Da deine Schule erst in ein paar Wochen beginnt, dachte ich, dass es ganz gut passen würde, wenn du hier ein wenig mitarbeitest.”

Emma war sprachlos. Gemeinsam betraten sie das Gelände, und Hector steuerte zielstrebig auf ein flaches Gebäude zu.

Ein Mann kam ihnen entgegen. „Guten Morgen, Frank”, rief er.

„Guten Morgen, Mister Gonzales. Wen haben Sie denn da im Schlepptau?”

„Das ist Emma, eure Verstärkung. Die Tochter meiner Lebensgefährtin.”

„Stimmt!”, rief Frank und schüttelte Emma die Hand. „Ihr seid gestern aus Deutschland gekommen, oder?”

„Ja.”

„Wie war der Flug?”

„Lang. Aber okay.“

„Das freut mich.”

„Wo ist Josh?”, wollte Hector wissen.

„Im Büro. Er wollte kurz telefonieren.“

„Danke. Einen schönen Tag, Frank.”

„Ihnen auch, Mister Gonzales. Und herzlich willkommen, Emma.”

Hector machte sich auf den Weg. Emma wusste nicht, was sie von all dem hier halten sollte. Sie folgte ihm in das flache Gebäude. Klimatisierte Luft schlug ihnen entgegen. Zielstrebig ging Hector auf ein Büro zu. Als sie es betraten, sah Emma einen Mann am Telefon stehen. Auf seinem Arm hielt er ein Affenbaby, das begeistert mit seinem T-Shirt-Kragen spielte.

„Das ist Josh”, sagte Hector leise zu Emma, um das Telefonat nicht zu stören.

In diesem Moment beendete Josh das Gespräch und wandte sich seinen Besuchern zu.

„Hallo Hector.“

„Josh, das ist Emma.”

Josh trat näher auf Emma zu. „Hallo, Josh Weaver.”

Emma ergriff seine Hand. Sie schätzte ihn auf Ende zwanzig. Er war groß, braun gebrannt und hatte einen kräftigen Händedruck. Man sah ihm an, dass er viel im Freien arbeitete. Mit einem Nicken deutete er auf das Affenbaby auf seinem Arm. „Das ist Lucy.”

Emma streckte die Hand aus und kraulte die Affendame am Köpfchen, was dieser sichtlich gefiel.

„Josh wird dir alles Weitere erklären und zeigen, nicht wahr?” Hector zwinkerte ihm zu. „Ich hole dich gegen fünf zusammen mit deiner Mutter ab. Einverstanden?”

„Einverstanden”, antwortete Emma, die noch immer nicht wusste, wie sie das Ganze einordnen sollte. Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand Hector. Emma und Josh waren allein.

„Komm mit, wir bringen Lucy zurück ins Gehege. Willst du sie nehmen?” Er reichte Emma die kleine Affendame. „Du bist also die Tochter von Claudia Chapman.”

„Du kennst meine Mutter?”, fragte Emma überrascht.

„Kennen wäre übertrieben. Natürlich kenne ich ihre Fotos, tolle Frau. Und dann habe ich sie einmal gesehen, als sie mit Hector hier war. Zwischen den beiden scheint es ja die große Liebe zu sein.”

Emma rümpfte die Nase. Genau das wollte sie nicht hören.

„Woher kennst du Hector?”, wechselte sie das Thema. Es interessierte sie, wie ein reicher Geschäftsmann dazu kam, Kontakte zu einem Tierpark zu haben.

„Das ist eine lange Geschichte”, antworte Josh ausweichend. „Sagen wir mal so: Hector ist für mich ein väterlicher Freund.”

Emma merkte, dass er ihr nicht mehr erzählen wollte, und beschloss, nicht weiter zu bohren. „Du arbeitest hier?”, fragte sie stattdessen.

„Nur vorübergehend. Hector hat mir den Job für drei Monate besorgt. Und als klar war, dass deine Mutter und du nach New York kommen, hat er mich gebeten, dir eine Aufgabe zu verschaffen. Er hofft, dass es dir die Eingewöhnung erleichtern würde.”

„Eingewöhnung?”

„Na ja …” Josh druckste ein wenig herum. „Hector hat mir erzählt, dass du partout nicht aus Deutschland wegwolltest. Da er von deiner Mutter erfahren hatte, dass du vernarrt in Tiere bist, wollte er dir mit diesem Job eine Freude machen.“

„Und was wird meine Aufgabe sein?”

Josh deutete mit einem Nicken auf Lucy. „Du hältst deine Aufgabe gerade auf dem Arm.”

Abrupt blieb Emma stehen.

„Ihre Mutter ist leider an einem Virus verstorben. Aber Lucy scheint nichts abbekommen zu haben. Allerdings muss sie ein wenig aufgepäppelt werden. Das wird dein Job sein, zumindest bis dein Studium wieder losgeht. Dann sollte Lucy so weit sein.”

„Wieso Studium? Ich geh noch zur Schule.”

Jetzt war es Josh, der abrupt stehen blieb. „Wie alt bist du denn?”

„Sechzehn”, antwortete Emma, „aber ich werde in diesem Jahr siebzehn.”

Joshs Augen wurden groß. „Echt? Ich bin siebenundzwanzig und habe dich deutlich älter geschätzt.”

„Ist das ein Kompliment?” Mit leichter Genugtuung sah Emma, dass er ein wenig errötete.

„Wie dem auch sei. Hast du Lust, dich um Lucy zu kümmern?”

Emma warf einen Blick auf die Affendame in ihrem Arm. „Natürlich!”

„Na, dann komm.”

In den folgenden zwei Stunden machte Josh sie mit allem vertraut. Er zeigte ihr Lucys Gehege, erklärte ihr, wann und womit sie gefüttert werden musste und wo sie Materialien zur Reinigung fand. Emma hörte aufmerksam zu und machte sich mit Eifer an die Arbeit. Auch wenn sie es nur ungern zugab, aber Hectors Plan schien aufzugehen. Den Tag über verschwendete sie nicht einen Gedanken daran, dass sie sich mit Händen und Füßen gegen den Umzug gewehrt hatte. Gegen drei Uhr war sie ziemlich fertig. Lucy forderte ihre gesamte Aufmerksamkeit, und Emma merkte, dass sie die Zeitumstellung noch nicht verkraftet hatte. Gegen fünf trafen Hector und Claudia wie verabredet ein, um sie abzuholen. Begeistert führte Emma sie herum und zeigte ihnen Lucys Platz. Ein letztes Mal fütterte Emma das Affenbaby, bevor sie sich verabschiedete.

„Bis morgen.” Sie strich Lucy sanft über Kopf und Rücken. Dann wandte sie sich ihrer Mutter zu. „Ich merke zwar immer noch den Jetlag, aber …”, sie machte eine kurze Pause, „vielleicht ist es hier ja doch nicht so schlecht.”

Emma sah, dass ihre Mutter mit den Tränen kämpfte.

„Du weißt gar nicht, wie viel mir das bedeutet.”

Emma wehrte sich nicht gegen die Umarmung, sondern gestand sich vielmehr ein, dass sie in letzter Zeit die Nähe zu ihrer Mutter vermisst hatte. Durch die zahlreichen Streitereien waren ihre Vertrautheit und die innige Beziehung, die sie besonders nach dem Tod von Steven hatten, ein wenig verloren gegangen zu sein. Hector schien die Versöhnung von Mutter und Tochter mit Freude zu sehen.

„Hallo, Miss Chapman, Hector.” Josh war ebenfalls dazugekommen. „Emma hat sich richtig gut gemacht.”

Sie spürte, wie sie bei diesem Lob errötete.

„Lucy kann man aber auch nur liebhaben.”

„Dann bist du morgen wieder dabei?”, wollte Josh wissen.

„Was denkst denn du?” Sie zwinkerte ihm zu, und Josh lächelte sie an. „Wann soll ich da sein?”

„So gegen neun? Dann kannst du noch die Frühversorgung übernehmen.”

„Abgemacht.” Emma umarmte Josh zum Abschied und bemerkte, dass er verdammt gut roch.

„Was halten die beiden Damen von einem Essen?”, fragte Hector. „Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich habe einen Bärenhunger.”

„Den muss er in der Tat haben”, antwortete Claudia fröhlich. „Wir sind heute die 5th Avenue einmal hoch- und wieder runtergelaufen.”

„Na dann”, lachend hakte sich Emma bei ihrer Mutter und Hector ein, „sollte er sich stärken. Schließlich muss er uns noch eine ganze Weile ertragen.” Emma blickte ihre Mutter an und sah, wie glücklich sie darüber war.

Zum Abendessen gingen sie zu Luigi, das italienische Restaurant zählte zu Hectors Stammlokalen. Emma war überrascht, wie schnell ein Platz für sie frei gemacht wurde, obwohl sie keine Reservierung hatten. Die Zeit verging wie im Flug. Sie aßen und lachten, und Emma musste sich zum wiederholten Male eingestehen, dass es vielleicht doch eine gute Idee ihrer Mutter war, nach New York zu ziehen. Die Uhr zeigte bereits kurz vor Mitternacht, als sie wieder in ihrem Zimmer war. Ihr letzter Gedanke galt Lucy, und nur Sekunden später war sie eingeschlafen.

Kapitel 3

Als Emma am nächsten Morgen zum Frühstück erschien, herrschte in der Küche bereits reges Treiben. Rosalie war dabei, Eier und Speck zu braten. Hector saß am Tresen und war in die New York Times vertieft. Emmas Mutter wuselte aufgeregt herum, da sie sich heute bei der New Yorker Filiale ihrer Agentur melden sollte. Emma war durchaus stolz auf ihre Mum, die mit neunzehn Miss Germany geworden war und danach eine beachtliche Modelkarriere hingelegt hatte. Jetzt war die Zeit der Coverfotos vorbei, und sie stand bei einer renommierten und weltweit agierenden Agentur unter Vertrag, die sie für Messen oder Moderationen von Eventveranstaltungen vermittelte. Bei einer solchen Veranstaltung hatte sie auch Hector kennengelernt. Mit Ende vierzig war Claudia Chapman noch immer eine Schönheit. Eine Tatsache, mit der Emma keinerlei Probleme hatte, aber aus deren Schatten sie bisher nicht herausgekommen war. Zwar hatten ihr ihre Freunde mehr als einmal gesagt, wie hübsch sie war, aber sie fühlte sich neben ihrer Mutter wie ein hässliches Entlein – und das, obwohl sie ihr niemals den geringsten Anlass dazu gegeben hatte.

„Guten Morgen, Emma.” Rosalie lächelte ihr zu. „Wie ich gehört habe, war dein erster Tag mit Lucy ein voller Erfolg.”

„Du wusstest davon?” Emma blickte sie überrascht an.

„Si, ich weiß alles, was hier vor sich geht.” Sie füllte Eier und Speck auf einen Teller und legte ein Toast dazu. Dann stellte sie ihn vor Emma ab, die sich neben Hector gesetzt hatte. „So wie ich weiß, dass du ein kräftiges Frühstück brauchst, um gestärkt in den Tag zu gehen.”

„Danke, Rosalie. Das duftet wirklich lecker.”

Inzwischen war Claudia wieder in die Küche gekommen. Als Rosalie ihr einen Teller vorsetzen wollte, lehnte sie dankend ab. „Ich bekomme jetzt keinen Bissen runter.“

Hector faltete seine Zeitung zusammen, stand auf und trat auf Claudia zu. „Du siehst umwerfend aus, Darling. Oder was sagst du, Emma?”

Sie biss gerade herzhaft in ein Stück knusprigen Speck. „Hector hat recht. Du siehst toll aus, Mum. Du wirst sie alle überzeugen.“

„Seid ihr sicher?” Claudia trank einen Schluck Kaffee und verschwand wieder im Badezimmer. „Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal so aufgeregt war.“

„Du schaffst das, Mum. Schau dich doch an. Wenn dir die Typen nicht zu Füßen liegen, dann weiß ich auch nicht.“

Emma warf ihrer Mutter einen bewundernden Blick zu. Das samtrote Kostüm schmeichelte ihrer Figur, für die sie so gut wie nichts machen musste. Gute Gene, sagte sie stets, was stimmen musste, da Emma, was ihre Figur betraf, von diesen Genen profitierte. Durch die passenden High Heels, die ihre Beine perfekt zur Geltung kommen ließen, bekam das Outfit ihrer Mum eine verdammt heiße Note. In diesem Augenblick wurde Emma wieder bewusst, dass sie mit ihrem Hang zu Jeans, T-Shirt und den ausgetretenen Converse Sneakers eher die Tochter ihres Vaters war. Und genau in solchen Momenten vermisste sie ihn fürchterlich.

„Emma hat völlig recht.“ Hector trat auf Claudia zu und nahm sie in den Arm. „Wenn sie dich nicht mit Jobangeboten überhäufen, müssen sie blind und dumm sein.“

„Sie sehen wirklich fantastisch aus, Señora Chapman“, meldete sich auch Rosalie zu Wort. „Trotzdem sollten Sie noch etwas essen.“

„Ihr seid so lieb, vielen Dank.” Mit einem Kopfschütteln lehnte sie Rosalies Angebot erneut ab.

„Wann ist dein Termin?“, wollte Emma wissen.

Claudia blickte auf ihre Uhr. „In gut vierzig Minuten.“

„Dann sollten wir los.” Hector trank seinen Kaffee aus. „Jorge wartet bereits auf uns.”

„Ich hab dich lieb, Kleines.” Claudia gab Emma einen Kuss. „Und viel Spaß mit Lucy.”

„Mum, ich bin fast siebzehn”, rief Emma in gespielter Empörung.

„Für eine Mutter bleibt die Tochter das ganze Leben ihre Kleine“, mischte sich Rosalie lachend ein.

„Ich hab dich auch lieb, Mummy.” Emma ließ den Kuss über sich ergehen. „Und viel Glück!”

Augenblicklich trat Ruhe ein. Emma leerte ihren Teller und trank ihren Tee aus, dann machte sie sich ebenfalls auf den Weg. Hector hatte ihr beim gemeinsamen Abendessen beschrieben, wie sie zum Park kam.

Eine knappe Dreiviertelstunde später fand sich Emma im Aufenthaltsraum des Tierparks ein und begrüßte Josh. Sie hatte gehofft, ihn hier zu treffen.

„Schön, dass du da bist. Lucy erwartet dich bereits. Wollen wir?”

Emma folgte ihm zum Gehege der Kapuzineraffen und erhielt auf dem Weg weitere Informationen, die Josh ihr am Vortag nicht mehr geben wollte. „Die Affen leben hauptsächlich hier auf dem amerikanischen Kontinent, wobei sie von Honduras bis in das südliche Brasilien anzutreffen sind. Sie lieben Wälder, egal, ob Mangroven- oder Gebirgswälder.”

„Warum wird Lucy eigentlich nicht von der Gruppe erzogen?”

„Weil das sehr selten ist. Die Väter halten sich bei der Aufzucht der Jungen grundsätzlich heraus, und Mary Sol hat Lucy nicht angenommen, zumal sie ein eigenes Jungtier hat.”

„Mary Sol?”, fragte Emma. Inzwischen hatten sie den Zwinger der Kapuzineraffen erreicht.

Josh deutete auf eine Affendame mit einem besonderen Braunton. „Das ist Mary Sol. Und siehst du das Äffchen auf ihrem Rücken? Das ist Amanda.”

Emma nickte.

„Willst du mir helfen? Wir müssen das Gehege säubern.”

„Sehr gern. Was muss ich tun?”

„Das zeige ich dir gleich. Zunächst ist Lucy dran.”

Emma und Josh betraten einen abgetrennten Teil, in dem Emma gestern bereits war und das Affenbaby sein Zuhause hatte. Es schlief noch, als Josh leise die Tür öffnete. Emma bereitete das Fläschchen für Lucy vor. In den nächsten Tagen sollte sie noch mit einer Ersatzmilch aufgezogen werden, bevor Emma sie dann langsam an das normale Futter heranführen sollte, das aus Früchten, Samen oder Kleintieren bestand. Mit sicherem Griff nahm sie das Affenbaby in den Arm. Es schlug die Augen auf und griff sofort nach der Flasche.

„Du machst das ausgezeichnet. Lucy scheint dich wirklich zu mögen.” Josh lächelte ihr zu. „Ich gehe schon mal rüber und versorge die restliche Bande. Kommst du dann nach?”

Emma nickte und sah, wie er die Gehegetür hinter sich verschloss. Nachdem sie Lucy versorgt und ein wenig mit ihr gespielt hatte, folgte sie ihm in das Gehege.

„Das ist Arnie, der Anführer der Horde.” Er zeigte auf ein stämmiges Männchen, das Emma mit festem Blick ansah.

„Wie viele Affen habt ihr derzeit hier?”

„Dreizehn. Leider sind vier dem Virus zum Opfer gefallen, darunter auch Lucys Mutter.”

„Und für die anderen Tiere besteht keine Gefahr?”

„Derzeit nicht.”

„Du hast gestern gesagt, dass du nur vorübergehend hier arbeitest. Was möchtest du denn machen?”

Josh blickte Emma überrascht an. „Ich wollte eigentlich Veterinärmedizin studieren.”

„Eigentlich?”, hakte Emma nach.

Josh nickte. „Leider hat sich mein Lebensweg anders entwickelt.”

„Stammst du aus New York?”

„Ich bin zumindest hier geboren und ein paar Jahre zur Schule gegangen.”

„Und dann?”

„Bin ich mit meinem Vater nach Bolivien gezogen. Er hat dort für Hector gearbeitet.”

„Bolivien?”, fragte Emma überrascht.

„Sag bloß, du wusstest nicht, dass Hector aus Bolivien stammt?”

„Doch, schon. Meine Mutter hat das mal erwähnt. Aber …”

„Aber es hat dich nicht wirklich interessiert”, vervollständigte Josh ihren Satz und traf damit voll ins Schwarze. Dies war Emma unangenehm, was sich an ihrem hochroten Kopf zeigte. „Das muss dir nicht peinlich sein”, sagte Josh lachend. „Ich habe gehört, dass du keine Lust auf New York hattest.”

„Was hat dein Vater in Bolivien für Hector gemacht?”, wechselte Emma wieder das Thema.

„Hector hatte dort eine Lebensmittelfabrik, und mein Vater war als Vorarbeiter für ihn tätig.” Josh machte eine kurze Pause. „Bis er bei einem Brand in der Fabrik ums Leben gekommen ist.”

„Das tut mir leid.” Emma drückte für einen kurzen Moment Joshs Arm. „Was war mit deiner Mutter?”

„Die hat sich nicht sonderlich für mich interessiert. Kurz nach meiner Geburt hat sie mich bei meinem Vater gelassen und ist nach Vegas getürmt. Sie träumte von der großen Karriere.”

„Das ist schlimm.”

„Es ist, wie es ist. Mein Dad hat das gut gemacht, und die Zeit in Bolivien war nicht die schlechteste.”

„Und was ist dann passiert?”

„Na ja, nach seinem Tod bin ich abgerutscht und habe ein paar unschöne Dinge getan. Dinge, für die ich mich heute schäme. Und die dafür verantwortlich sind, dass ich nicht den Beruf ausüben kann, den ich wollte.”

„Und Hector?”

„Er hat mir geholfen, als es mir wirklich schlecht ging. Er hat an mich geglaubt.”

„In dem er dir den Job besorgt hat?”

Josh fegte gerade die Reste des Essens zusammen. „Das ist ja wie bei einem Verhör hier, Emma.” Joshs Ton hatte an Schärfe zugenommen.

„Entschuldigung. Ich wollte nicht neugierig sein.”

„War nur Spaß, keine Angst.”

Emma atmete erleichtert auf, als Josh weitererzählte.

„Ich habe echt eine schwierige Zeit hinter mir. Ich habe die unterschiedlichsten Jobs hingeworfen und mich mit Leuten angelegt, aber Hector hat mich nicht fallenlassen und mir immer wieder einen neuen Job besorgt. Mal in seinem Unternehmen, mal bei Geschäftspartnern oder Freunden, die ihm einen Gefallen schuldig waren.”

„Bist du zusammen mit Hector nach New York gekommen?”

„Ja, vor etwas mehr als fünf Jahren.”

„Und dann hast du hier angefangen?”

„Nein, da gab es noch einige andere Jobs. Aber letztlich bin ich hier gelandet und fühle mich sehr wohl.” Josh deutete mit einem Lachen auf den Besen. „Jetzt lass uns weitermachen.”

Emma nickte ihm zu, wobei sie sich gern weiter mit ihm unterhalten hätte. Sie fand es toll, wie offen er mit ihr sprach. Emma wurde das Gefühl nicht los, ihren ersten Freund in New York gefunden zu haben. Damit wurde der Aufenthalt hier wieder ein Stück angenehmer.

Kapitel 4

Die nächsten Tage vergingen rasend schnell. Emma sah weder ihre Mutter noch Hector. Claudia erhielt von ihrer Agentur den ersten Auftrag, und Hector musste ein paar Tage geschäftlich verreisen. Es war Samstag, und Emma hatte gezwungenermaßen ihren ersten freien Tag. Sie konnte kaum glauben, dass sie schon seit neun Tagen in New York war und bisher nichts von der Stadt gesehen hatte. Das wollte sie heute ändern. Lucy wurde an diesem Wochenende von Dave, einem Pfleger des Tierparks, versorgt, sodass Emma ein wenig Zeit für sich hatte. Sie überlegte, ob sie eine Shoppingtour machen sollte, doch ohne Begleitung hatte sie darauf keine Lust. Allerdings war es eine gute Gelegenheit, um Hectors Geschenk auszuprobieren. Sie hatte sich im Vorfeld ihrer Ankunft an der Highschool für einen Fotografiekurs angemeldet. Daher hatte Hector ihr vor zwei Tagen eine digitale Spiegelreflexkamera geschenkt.

Kurz nach neun Uhr machte sich Emma auf den Weg in Richtung Central Park. Trotz ihrer täglichen Arbeit hatte sie von dem Park selbst noch nicht viel gesehen. Sie betrat ein wenig aufgeregt die Grünanlage. Ich bin wirklich in New York. Langsam gewöhnte sie sich an die Tatsache, in einer der aufregendsten Städte der Welt zu leben. Emma ging durch das gusseiserne Tor und folgte einem Pfad, der von Blumen und Büschen gesäumt war. Es dauerte einige Minuten, bis sie auf der linken Seite einen Teich entdeckte. Emma steuerte über den kurz geschnittenen Rasen auf den kleinen See zu, auf dessen Oberfläche zahlreiche Seerosen schwammen. Sie öffnete ihren Rucksack, nahm die Kamera heraus und zoomte auf eine Blüte. Anschließend drückte sie den Auslöser, ging um den Teich herum und machte zwei weitere Bilder. Dann betrachtete sie im Display ihre Ergebnisse. Der letzte Julitag schien wieder heiß zu werden, und das grelle Sonnenlicht war dafür verantwortlich, dass die Aufnahmen noch nicht zu ihrer Zufriedenheit waren. Ihr wurde bewusst, dass sie wie eine Fotografin dachte. Emma ging weiter und staunte, wie weitläufig der Park war. Lucy kam ihr kurz in den Sinn, aber Emma wusste, dass die Affendame in guten Händen war. Es war Mittag, als sie ein leichtes Hungergefühl verspürte. An einem Stand bestellte sie sich einen Hotdog, den sie mit einer großen Portion Relish füllte. Dann ließ sie sich auf einer Parkbank nieder und biss herzhaft in den Hotdog. Ihre Kamera hatte sie neben sich auf die Bank gelegt.

„Hallo Emma!”

Der Klang einer männlichen Stimme ließ sie zusammenfahren. Sie schaute auf und sah einen Mann in Flipflops, Shorts und einem weißen Hilfiger-Shirt vor sich stehen. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie, dass es Josh war.

„Hey”, rief sie erfreut.

„Mittag?”, fragte er, deutete auf den Hotdog und nahm neben Emma Platz.

Sie nickte, schob das letzte Stückchen in den Mund und wischte die Finger an einer Papierserviette ab. Anschließend warf sie die Serviette zielsicher in einen Papierkorb. „Was machst du hier?”

Josh deutete auf die Tüte zu seinen Füßen. „Ich musste ein paar Besorgungen machen. Und bei diesem Wetter spaziere ich gern durch den Park. Außerdem ist das hier mein Lieblingsplatz.”

„Lieblingsplatz?”