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Ein mörderisches Paar - Das Versprechen E-Book

Klaus-Peter Wolf

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Beschreibung

Es gibt mehr als 467 Ostfriesenkrimis und 68 Ermittler - hier kommt die neue Nummer Eins! Die neue Serie von Nummer 1-Bestsellerautor Klaus-Peter Wolf ab Juni im Buchhandel Er ist ein Mann mit Prinzipien. Und er scheut vor Mord nicht zurück. Sie ist eine Frau mit Hintergrund. Und äußerst schlagfertig. Gemeinsam spielen sie nicht nur Golf! Ein dreizehnjähriger Schüler ist tot. Gestorben an einer Überdosis Heroin. Der, der dafür verantwortlich ist, wurde gerade freigesprochen. Aus Mangel an Beweisen. Und weil sich viele Zeugen nicht mehr erinnern konnten. Weil die Polizei Fehler beging. Also konnte der, den sie auch den Holländer nennen, das Gerichtsgebäude als freier Mann verlassen. Das lasse ich ihm nicht durchgehen, denkt sich Dr. Bernhard Sommerfeldt. Ich werde ihm wohl einen Besuch abstatten müssen. Und seine zukünftige Frau ahnt, dass es mit dem beschaulichen Leben in Ostfriesland so schnell nichts werden wird. Das neue Dream-Team in der Spannung - Sie sind ein mörderisches Paar und haben sich ein großes Versprechen gegeben!

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Seitenzahl: 545

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Klaus-Peter Wolf

Ein mörderisches Paar

Das Versprechen

Ostfriesenkrimi

 

 

Über dieses Buch

 

 

Ein dreizehnjähriger Schüler aus Aurich ist tot. Gestorben an einer Überdosis Heroin. Der, der dafür verantwortlich ist, wurde gerade freigesprochen. Aus Mangel an Beweisen. Weil Zeugen sich plötzlich nicht mehr erinnern konnten. Weil die Polizei Fehler einräumen musste. Als Dr. Bernhard Sommerfeldt alias Dr. Ernest Simmel, Leiter einer Kurklinik in Norden, die Schlagzeile in der Zeitung sieht, weiß er genau, wem er einen Besuch abstatten muss. Seine zukünftige Ehefrau Frauke ahnt, dass es mit dem ruhigen, beschaulichen Leben in Norden so schnell nichts werden wird. Denn beide spielen nicht nur Golf, sie sind auch ein mörderisch gutes Team.

 

»Er ist ein Entertainer der Worte, und er ist ein Schriftsteller, der seine Figuren vor den Zuhörern zum Leben erweckt, damit ein Kennenlernen zwischen Leser und Buchfigur ermöglicht wird.« 05.09.2022, Salzgitter Zeitung, Heike Heine-Laucke

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Klaus-Peter Wolf, 1954 in Gelsenkirchen geboren, lebt als freier Schriftsteller in der ostfriesischen Stadt Norden, im selben Viertel wie seine Kommissarin Ann Kathrin Klaasen. Wie sie ist er nach langen Jahren im Ruhrgebiet, im Westerwald und in Köln an die Küste gezogen und Wahl-Ostfriese geworden. Seine Bücher und Filme wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Bislang sind seine Bücher in 26 Sprachen übersetzt und über vierzehn Millionen Mal verkauft worden. Mehr als 60 seiner Drehbücher wurden verfilmt, darunter viele für »Tatort« und »Polizeiruf 110«. Der Autor ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Die Romane seiner Serie mit Hauptkommissarin Ann Kathrin Klaasen stehen regelmäßig mehrere Wochen auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste, derzeit werden mehrere Bücher der Serie prominent fürs ZDF verfilmt und begeistern Millionen von Zuschauern.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

[Zitate]

Beginn...

Sabine Ahlers wurde [...]

Tarek, Siggi und [...]

Jemand zu töten [...]

Polizeidirektorin Elisabeth Schwarz [...]

Tarek betrachtete versonnen [...]

Auf dem Schlauchboot [...]

Leseprobe: Ein mörderischen Paar – Band 2

Leseprobe: Ostfriesenhass

Die tun alle so schlau, als wüssten sie Bescheid, hätten einen Plan, als könnten sie uns die Dinge erklären. Aber das stimmt nicht. Sie improvisieren. Alle. Immer. Und hoffen, dass es keiner merkt.

Frauke

 

Wenn du recht hast und alles gut läuft, brauchst du keine Freunde!

Dr. Bernhard Sommerfeldt

 

Diese Anglizismen in der deutschen Sprache sind für mich ein No-Go.

Hauptkommissar Rupert, Kripo Aurich

Dr. Bernhard Sommerfeldt hatte eine gefälschte Heiratsurkunde besorgt und ein in Leder gebundenes Stammbuch. Er hieß darin Ernest Simmel, und sie war eine geborene Winterberg. Doch Frauke bestand auf einer romantischen Hochzeit. Am besten eine Trauung auf einer Insel in einem Leuchtturm. Sie wollte einen echten Standesbeamten für den Neuanfang.

Er sah ihre Enttäuschung, als sie im Stammbuch blätterte. Er hatte als gemeinsamen Familiennamen Simmel eintragen lassen, war aber sofort bereit, ihren neuen Namen anzunehmen, der natürlich genauso unecht war wie seiner.

Er hatte seinen Namen so oft im Leben gewechselt, es spielte keine Rolle mehr für ihn, wie er hieß. Wichtig war nur, dass er ihn sich merken konnte und nicht im Hotel mit einem Namen unterschrieb, der nicht im Ausweis stand.

Doch darum ging es ihr nicht. Namen waren auch für sie nur wie Bilderrahmen, die man wechseln konnte. Hauptsache, das Gemälde darin war echt.

Sie schmollte: »Ich war jahrelang Miet-Ehefrau für zig verschiedene Typen. Die meisten waren verheiratet und brauchten mich nur für den Urlaub, die Geschäftsreise oder als Übergang zwischen zwei Ehen …«

»Aber du warst doch auch mal richtig verheiratet.«

»Ja, mit einem Riesenarsch. Erinnere mich bitte nicht an den.«

Sie hob den rechten Arm und schlug dann mit der flachen Hand demonstrativ auf den Frühstückstisch. Die Teekanne hüpfte auf dem Stövchen. Die Tassen klirrten auf den Untertellern. Ostfriesische Rose. Ihr Lieblingsservice.

Die Möwe auf der Balkonbrüstung glaubte, der Wutanfall gelte ihr. Sie flatterte erschrocken weg.

Sommerfeldt biss in den Rosinenstuten und kaute langsam, um Zeit zu gewinnen.

Sie sagte trotzig: »Ich will eine richtige Hochzeit! Ein weißes Kleid! Einen Bräutigam, der mich über die Schwelle trägt und …«

»Aber«, wandte er ein, »das bedeutet, wir müssen Papiere beim Standesamt vorlegen. Abschriften aus Geburtsregistern, aus dem Personenstandsbuch, und wenn du auch noch kirchlich heiraten willst …«

Da lag wenig Zweifel in seiner Stimme. Es war mehr Spott, als könne das ja überhaupt nicht sein. »Dann bräuchten wir auch noch Tauf-, Firmungs- oder Konfirmationsbescheinigungen«, lachte er. »Außerdem Bestätigungen, dass wir ledig sind, und irgendein Geistlicher muss uns das alles auch noch glauben. Dazu kommt …«

Sie unterbrach seinen Redeschwall: »Natürlich will ich kirchlich heiraten.«

Er war baff. »Ich bin ein Serienkiller und du …« Er sprach es vorsichtshalber nicht aus.

»Na und? Träumen wir deswegen nicht vom Glück? Sollen wir immer nur finster gucken und keine Sehnsüchte mehr haben?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schob ihr Kinn vor: »Ich will eine Leuchtturmhochzeit. Nimm mich richtig oder gar nicht!«

Er gab zu bedenken: »Wir bräuchten dann auch Trauzeugen.«

»Und wenn schon. Haben wir keine Freunde?«

»An wen denkst du da?«

»Es müssen ja keine Gangster sein, die in deiner Klinik einen Drogenentzug gemacht haben oder denen du eine Schusswunde genäht hast.«

»Sondern?«

»Ich dachte eher so an ganz seriöse Leute.«

»Seriöse?« Er sprach das Wort aus, als suche sie dreibeinige Zyklopen.

»Ja, halt normale Menschen.«

Er guckte nur.

»Menschen wie dich und mich«, erklärte sie.

Er lachte: »Wir sind nicht seriös und auch nicht normal. Überhaupt ist mir schon das Wort suspekt.« Er verzog den Mund und sprach es angewidert aus: »Normal … Wen meinst du damit? Rupert?«

Jetzt hatte er sie erwischt.

»Du schlägst ausgerechnet einen Kommissar vor, dessen Miet-Ehefrau ich war?«

Sommerfeldt schüttelte den Kopf. »Du warst nicht die Ehefrau des Kommissars, sondern des Gangsterbosses, den er gespielt hat. Frederico Müller-Gonzáles.«

Sie winkte ab. »Kalter Kaffee.« Nach einer kurzen Zeit des Nachdenkens gestand sie: »Ich war mal richtig verknallt in ihn … glaub ich … bevor ich dich kennengelernt habe.«

Er nippte am Tee und goss nach. Die Möwe beäugte den Frühstückstisch jetzt von der Dachrinne aus. Da lagen noch frische Brötchen im Korb und Käse aus der Krummhörn.

Sommerfeldt erinnerte sie daran: »Er hat mich als Kommissar gejagt.«

Sie wehrte ab: »Ach was, hör doch auf! Ihr seid Best Buddys.«

Sie guckte zum Himmel, als müsse sie Gott oder zumindest einen Engel sprechen. »Der Serienkiller und der Hauptkommissar! Was für ein Dreamteam.«

Die Möwe fühlte sich gemeint und verstand Fraukes Worte wohl als Einladung. Sie setzte zum Sturzflug auf den Frühstückstisch an. Sommerfeldt sprang auf und fuchtelte mit den Armen überm Tisch herum. Federn flogen durch die Luft. Die Teekanne fiel vom Stövchen. Die Möwe stahl ein Brötchen und floh in Richtung Deich.

Sommerfeldt sah ihr nach, als wäre er am liebsten hinterhergeflogen.

Solch kleine Widrigkeiten des Küstenlebens nahm Sommerfeldt gelassen hin. Er saugte mit einem Handtuch die Teepfütze vom Holztisch auf und schmunzelte.

»Geht’s uns nicht gut?!«

»Schlechten Menschen, sagte meine Mutter oft«, antwortete Frauke, »geht es immer gut.«

Sommerfeldt tat beeindruckt und wrang das Handtuch über dem Balkon aus. Der Tee tropfte auf das Dach des dunkelblauen Bentleys, der unten parkte.

Frauke fügte nachdenklich hinzu: »Und der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen. Das war auch so ein Spruch von ihr.« Sie lachte. »Ich habe mir das als Kind immer bildlich vorgestellt.«

»Deine Mutter war eine kluge Frau.« Sommerfeldt deutete auf das Haus und das Anwesen drumherum: »Ich bin ein schlechter Mensch, und es geht mir wahrlich gut. Ich bin Leiter dieser Privatklinik hinterm Deich. Ich habe«, er zeigte auf sie, »eine bezaubernde Frau. Und ich wohne im Weltnaturerbe.«

Sie schüttelte den Kopf. »Du«, sagte sie und strahlte ihn an, »bist kein schlechter Mensch! Du bist der beste Mensch, den ich kenne.«

»Deshalb muss ich ja auch unter falschem Namen hier leben. Ich werde auf drei Kontinenten gesucht.« Er berührte sein Kinn. »Und ohne die Gesichts-OP könnte ich mich nicht frei bewegen …«

»Ja, gut«, gab sie zu, »du hast ein paar echt miesen Typen zu einem Rendezvous mit ihrem Schöpfer verholfen …«

»Genau genommen, meine Kirschblüte, war das nicht ganz legal.«

Sie küsste ihn. »Aber dafür liebe ich dich.«

Er sah ihr in die Augen und ging vor ihr auf die Knie.

»Wird das jetzt ein richtiger Heiratsantrag?«

»Ja, denkst du, ich will den Boden wischen?«

Sie freute sich: »Nein, ich glaube, du willst nur mit mir ins Bett.«

Er guckte, als müsse er darüber nachdenken, und sagte dann sehr bedächtig: »Nein. Was denkst du von mir? Meinetwegen können wir auch den Küchentisch nehmen oder den Schaffellteppich vor dem Kamin.«

Die Möwe war mit zwei Freunden zurückgekehrt. Sie witterten ihre Chance und formierten sich zu einem Angriff. Der Käse aus der Krummhörn duftete im Nordwestwind einfach zu gut, und knutschende Pärchen waren leicht auszutricksen. Dieses Wissen wurde von Möwengeneration zu Möwengeneration weitergegeben.

»Man kann heutzutage auch schon ohne Trauzeugen heiraten, glaube ich. Aber das will ich nicht. Es fühlt sich falsch an. Ich will raus aus der Anonymität und es am besten vor der ganzen Welt bekennen: Ja, ich liebe diesen Mann und will mit ihm zusammenbleiben!«

»Ich fühle mich geehrt, Schönste«, sagte er. Weiter kam er nicht. Die Möwen griffen an.

Sie hatten zwar noch keinen Termin für die Trauung festgelegt, aber Frauke war bereits mit Monika Tapper verabredet, um die Hochzeitstorte zu besprechen. Für sie war das wichtig. Alles sollte passen.

Für Dr. Bernhard Sommerfeldt benahm sie sich wie ein Teenager. Sie holte da etwas nach, das sie lange vermisst hatte. Er wäre auch gern mit zu ten Cate gegangen, obwohl er sich kaum vorstellen konnte, viel zur Planung einer Hochzeitstorte beitragen zu können. Aber es ging nicht. Er hatte dringende Termine.

In der Klinik hatte er geschickt dafür gesorgt, dass er nicht für jeden Kleinkram zuständig war. Der Laden lief auch gut ohne ihn. Fast reibungslos. Mit Schwarzgeld als Schmiermittel. Nirgendwo wurde das Pflegepersonal besser bezahlt als hier. Es gab offizielle Gehälter am oberen Rand der Tarifverträge. Dazu dann monatliche Bargeldzahlungen, meist zwei- bis dreitausend Euro, in einem Briefumschlag – natürlich steuerfrei. Das Ganze wurde Treueprämie genannt. Von der Putzkolonne bis zu den Security-Leuten profitierten alle davon.

Es hatte sich herumgesprochen, dass Ärzte in der Klinik hinterm Deich fürstlich entlohnt werden wurden. Dr. Sibylle Birk, Spezialistin für Plastische-Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie, die er unbedingt in seinem Team haben wollte, weil sie ihn mit Erfolg operiert hatte, gehörte nun auch endlich dazu. Sie war durch einen Vermögensberater in Schwierigkeiten geraten, der wohl mehr sein Vermögen im Sinn gehabt hatte als ihres. Das Finanzamt verlangte das Geld von ihr zurück, mit dem ihr Berater durchgebrannt war.

Dr. Sommerfeldt rettete sie mit zwei Millionen und einer zusätzlichen Bürgschaft. Jetzt arbeitete sie für ihn, die Asche ihres Vermögensberaters war in der Nordsee verstreut worden.

Sommerfeldt hatte ein Gespür für hoch qualifizierte Fachleute, die dringend Hilfe brauchten. Zu seinen besten Mitarbeitern zählten ein koksender Zahnarzt und ein spielsüchtiger Facharzt für Hämatologie und Onkologie.

»Warum willst du nicht mit? Es macht keinen Spaß, die Hochzeitstorte alleine auszusuchen. Monika hat mir extra einen Abendtermin gegeben, damit wir alleine sind und …«

»Ich habe noch einen Hausbesuch zu machen.«

Frauke sah ihn erschrocken an und machte eine abwehrende Geste: »Du hast doch versprochen, es sein zu lassen!«

»Ich kann das nicht, Kirschblüte. Ich muss es einfach tun.«

»Aber du wolltest damit aufhören!«

»Wenn man herausgefunden hat, wer man ist, dann muss man versuchen, es zu sein. Mit allen Konsequenzen. Und ich bin nun mal Dr. Bernhard Sommerfeldt.«

Es war typisch für ihn, dass aus seinem Jackett entweder ein Taschenbuch herausragte oder eine Tageszeitung. In diesem Fall war es die Nordwestzeitung.

Sie fischte die Zeitung aus seiner Jacke, schlug sie auf und klatschte auf das Titelbild: »Was ist wichtiger als unsere Hochzeitstorte?«, fragte sie. »Lodwijk van Eeden?«

Er grinste auf dem Bild wie ein Feuermelder, der darum bat, eingeschlagen zu werden. Frauke las den Artikel nicht. Die Überschrift sagte alles: Freispruch für Lodwijk van Eeden.

Sommerfeldt versuchte, die aufgebrachte Frauke zu beruhigen. Er wollte sie in den Arm nehmen, doch sie wich ihm aus, als könne sie seine körperliche Nähe gerade nicht ertragen.

»Warum du?«, fragte sie. »Es gibt Leute, die werden dafür bezahlt, diesem Typen das Handwerk zu legen.«

»Ja. Aber sie haben versagt.«

Sie formulierte es hart: »Ist er dir wichtiger als unsere Zukunft?«

Sommerfeldt schüttelte den Kopf. »Nicht er. Aber seine zukünftigen Opfer.«

»Ich weiß«, zischte sie. »Er hat den Heroinverkauf auf den Schulhöfen im ganzen Land organisiert.«

»Und man kann ihm mal wieder nichts nachweisen, weil alle Zeugen umkippen und Polizisten sich plötzlich nicht mehr so richtig erinnern. Stell dir vor, unser Kind würde auf dem Schulhof angefixt.«

Frauke hob abwehrend die Hände und verzog den Mund: »Also gut. Den noch.«

Er lächelte zufrieden: »Es ist wunderbar, eine Frau zu haben, die einen versteht.«

Sie nahm das Kompliment geschmeichelt an, stoppte ihn aber gleich: »Den einen noch! Und dann ist Schluss, Bernhard! Verstehen wir uns richtig?«

Er küsste sie, aber nicht so leidenschaftlich wie sonst, sondern fast schon flüchtig, als sei er längst mit anderen Dingen beschäftigt.

Er ging in sein Zimmer wie ein meditierender Mönch. Sie folgte ihm, blieb in der Tür stehen und sah zu, wie er das passende Messer aussuchte. Sechs lagen vor ihm. Sie wusste, dass er das Einhandmesser nehmen würde, bevor er es berührte. Er betrachtete es fast so zärtlich, wie er sie sonst ansah.

Alle Messer waren gepflegt und geschärft. Trotzdem zog er die Klinge noch zweimal über den grauen Schleifstein, der wie ein phallisches Kunstwerk auf seinem Schreibtisch stand.

»Gibst du ihm noch eine Chance?«, fragte sie.

Er drehte sich nicht zu ihr um, sondern antwortete in Richtung Klinge: »Sollte ich?«

Frauke kam sich selbst ein bisschen lächerlich dabei vor, die Hochzeitsplanungen mit der Torte zu beginnen. Sie wehrte sich gegen die innere tadelnde Stimme. Seit sie versuchte, ein bürgerliches Leben zu führen, war diese Stimme immer öfter da und nörgelte an ihr herum, so als sei etwas mit ihr nicht in Ordnung, und als seien all ihre Entscheidungen fragwürdig, wenn nicht gar falsch.

Sie stand vor dem Spiegel und sagte zu sich selbst: »Jeder beginnt das eben auf seine Weise. Die einen mit einer Gästeliste, weil sie nicht wissen, wen sie alles einladen können, wer wen nicht leiden kann, aber doch dabei sein muss … Die anderen planen zunächst ihre Flitterwochen oder suchen sich das Brautkleid aus. Und ich will eben zuerst eine Torte.«

Natürlich sollte sie mehrstöckig sein, aber nicht nur gut aussehen, sondern auch toll schmecken. Leicht. Fluffig. Ein fruchtig-süßes Versprechen auf die Ehe.

Sie fuhr mit dem Rad zu ten Cate. Es war nicht weit von der Klinik hinterm Deich bis zur Osterstraße.

Sie radelte auf der dem Meer zugewandten Seite am Deich entlang. Hunderte Schafe grasten neben ihr. Sie hielt an und machte Fotos von einer Mutter, an die sich zwei Lämmchen kuschelten. Etwas an diesem Bild berührte sie sehr.

Die sonst so scheuen Tiere sahen ohne jedes Misstrauen zu ihr hoch. Es war fast, als würden sie sie auffordern mitzukuscheln. Sie hielt trotzdem Abstand. Sie wollte auf keinen Fall zum Störenfried werden.

Der Wind spielte mit ihren Haaren. Über dem Watt kreischten Möwen. Sie konnte den Blick nicht von den Schafen wenden. Eine Träne löste sich. Der Wind trocknete sie auf ihrer Wange. Sie versuchte, sich einzureden, ihre Augen würden tränen, weil der Wind so scharf war. Doch sie wusste, dass es nicht stimmte.

Warum, dachte sie, kommen wir als Erstes darauf, Rupert zum Trauzeugen zu machen? Wir arbeiten mit so vielen Menschen zusammen. Haben wir in der Klinik keine Freunde? Wir sind im Golfclub Schloss Lütetsburg. Wir nehmen an Turnieren und Grillabenden teil. Da sind so nette Paare. Einige sind mehr als gute Bekannte, würden sich bestimmt selbst als Freunde bezeichnen.

Sie waren beliebt, denn sie waren witzig, großzügig, und sie lebten gern. Warum, fragte sie sich, kommen wir trotzdem zuallererst auf Rupert?

Sie wusste die Antwort, und sie tat ihr weh: Rupert war der Einzige, der genau wusste, wer sie wirklich waren. Für alle anderen lebten sie eine Fassade.

Sehnte sich nicht jeder nach Menschen, bei denen man sein konnte, wer man wirklich war? Als Ernest Simmel und Frauke Winterberg waren sie ein anerkanntes, beliebtes Pärchen. Doch wer würde noch zu ihnen halten, wenn die Wahrheit herauskäme?

Das Mutterschaf erhob sich, und die beiden Lämmchen folgten ihm. Sie trotteten hinter der Herde her.

Sie wissen, dachte Frauke, wo sie hingehören. Ist das nicht ein Grundbedürfnis aller Menschen? Selbst von so komischen Gestalten wie Bernhard und mir …

Sie hatte den Vornamen Frauke, den ihr eigentlich Rupert gegeben hatte, weil er so schön an die Küste passte. Als Frauke wurde man hier sehr schnell angenommen. Vielleicht brauchte sie das gerade sehr – dieses Gefühl des Angenommenseins.

Sie radelte gegen den ablandigen Wind in die Stadt.

Nein, das Jugendstilhaus am Küstenkanal in Oldenburg gehörte ihm ebenso wenig wie der Porsche Cayenne vor dem Eingang oder der Mercedes in der Garage. Offiziell besaß er gar nichts. Die Drogen hatten ihm schließlich auch nicht gehört.

Er war mittellos und hatte vermutlich Anspruch auf Hartz IV, aber er beantragte nichts für sich. Der bürokratische Aufwand war ihm zu groß, die Fragen zu lästig. Er mied staatliche Stellen. Er nutzte immer nur Wohnungen und Autos, die seine Freunde ihm zur Verfügung stellten. Er lebte wie Playboys gerne leben würden, wenn sie skrupellos genug wären und genug Geld hätten.

Er umgab sich mit Freunden und Freundinnen, die zwanzig, dreißig Jahre jünger waren als er. Die meisten gingen noch zur Schule, waren in der Ausbildung oder hatten gerade angefangen zu studieren.

Dies sollte sein großer Tag werden. Eine Feier mit Freunden. Er hatte diesem lächerlichen Rechtsstaat mal wieder gezeigt, wo es langging. Er fühlte sich unbesiegbar. Beschämt, wie kleine Jungs, die man beim Rauchen erwischt hatte, hatten die Polizisten die Bühne des Gerichts verlassen. Ihre Aussagen waren zu Müll geworden, die Anklagepunkte gegen ihn zu Staub zerfallen. Die einen waren zu blöd, ihn zu kriegen, und die, die schlau genug waren, schlugen sich am Ende auf seine Seite. Zeugen, die sich nicht richtig erinnern können, sind halt keine brauchbaren Zeugen. Er sollte sogar eine Entschädigung bekommen.

Es gab zwei Feiern. Eine mit seiner aktuellen Liebschaft und ihren zwei pubertierenden Kindern. Bei der Familienfeier gab es ein veganes Abendessen und alkoholfreie Getränke. Mit seinen Kumpels Schampus und die besten Huren der Stadt.

Sie wollten so richtig die Sau rauslassen.

Lodwijk küsste nach dem Essen seine Michelle und versicherte ihren Kindern, dass ein rechtschaffener Mann die Gesetze nicht zu fürchten habe, die Polizei sein Freund sei, und Gerichte, sagte er, ohne dabei zu grinsen, seien dazu da, die Willkür des Staates einzuschränken. »Ihr habt ja in meinem Fall gesehen, was aus den bösartigen Verleumdungen geworden ist.«

Sommerfeldt folgte ihm und wartete auf eine Gelegenheit. Die Feier sollte in einem Nachtklub stattfinden, der Lodwijk van Eeden über Strohmänner gehörte.

Sommerfeldt fragte sich, was dafürspräche, dem kleinen Drecksack erst noch ein bisschen Spaß zu gönnen und ihn dann im Séparée abzufangen. Oder sollte er ihn sich jetzt schon vorknöpfen?

Er hatte den Porsche Cayenne genommen. Er würde bestimmt nicht später angetrunken und nach Hurenparfüm riechend zurück in die Wohlanständigkeit seiner neuen Familie kommen wollen. Er würde in der Stadt schlafen und erst sauber, frisch geduscht, zum Frühstück oder gar erst zum Mittagessen erscheinen und ihnen von einem arbeitsreichen Tag erzählen.

Er hatte immer Pläne, mit denen er alle einlullte. Er arbeitete angeblich an ganz großen Erfindungen – einem Auto, das mit Leitungswasser fuhr –, und außerdem war er einer großen Sache auf der Spur. Er hatte herausgefunden, dass es ein Krebsmittel gab, mit dem alle Menschen geheilt werden könnten. Doch die Pharmaindustrie hielt es zurück. Es war ein Naturmittel, preiswert herzustellen, und würde Milliardengeschäfte kaputtmachen. Weil er dieses Wissen besaß, hatte er so viele Feinde, die ihn ständig vor Gericht zerrten und ihm schlimme Dinge andichteten.

Einige wohlhabende Frauen unterstützten ihn bei seinem Kreuzzug gegen dieses Menschheitsverbrechen.

Sommerfeldt stellte sich vor, ihn an die Stange zu binden, an der im Klub sonst grazile Germanistikstudentinnen tanzten, um ihr Studium zu finanzieren. Sie wechselten sich mit Crack-Huren und Zwangsprostituierten ab. Die Szene war bunt.

Vielleicht war es richtig, genau hier ein deutliches Signal zu setzen. Die Gefahr, dabei entdeckt zu werden, war allerdings groß. Vermutlich liefen die Vorbereitungen im Klub schon auf Hochtouren. Er hätte es gern so gemacht, aber aus Sicherheitsgründen entschied er sich für den Parkplatz gegenüber vom Klub, wo Lodwijk van Eeden den Porsche parken würde.

Als dieser ausstieg, begrüßte Sommerfeldt ihn freundlich. »Hallo! Schön, dich wiederzusehen.«

Lodwijk griff sofort in seine Jackentasche. Er trug immer einen Elektroschocker und Pfefferspray bei sich, Waffen, die jeder Richter als defensiv wertete. Er berechnete bei allem, was er tat, immer gleich eine juristische Verteidigungsstrategie mit ein.

Als er die Hand in der Tasche hatte, griff Sommerfeldt das Revers seiner Jacke und zog es ihm über die Schultern. Für Sekunden stand van Eeden wie gefesselt da. Sommerfeldt trat ihm in die Weichteile.

Mit weit aufgerissenem Mund und schreckensstarren Augen kniete Lodwijk van Eeden vor ihm. Sommerfeldt fuhr mit der Klinge des Einhandmessers über Lodwijks Hals und Wange, als wolle er ihn rasieren.

Sommerfeldt nahm ihm den Elektroschocker und das Pfefferspray ab, wie Erwachsene Kindern Spielzeug wegnehmen, das für ihr Alter noch zu gefährlich ist.

Sommerfeldt sah sich das Pfefferspray an und lächelte: »Das tut bestimmt sauweh, wenn man es in die Augen bekommt, oder?«

Lodwijk rechnete damit, dass Sommerfeldt sein Gesicht damit besprühen würde, schloss vorsichtshalber die Augen und drehte seinen Kopf weg.

»Och Gott«, grinste Sommerfeldt, »du hast Angst davor? Du musst keine Sorgen um dein Augenlicht haben. Ich will doch, dass du siehst, was passiert. Eigentlich wollte ich dich ja an der Tanzstange töten, aber ich habe eine viel bessere Idee. Komm, steig ein. Du fährst.«

Sommerfeldt bugsierte Lodwijk van Eeden auf den Fahrersitz. Seine Hände zitterten so sehr, dass Sommerfeldt sich fragte, ob van Eeden überhaupt in der Lage war, den Wagen zu steuern.

Er nahm hinter ihm Platz, hielt die Klinge gegen seinen Hals gedrückt und raunte in sein Ohr: »Nun beruhige dich erst mal. Wir wollen doch keinen Unfall bauen. Und es wäre doch auch schade, wenn Blut auf die schönen Sitze käme.«

»Ich bin freigesprochen worden«, krächzte van Eeden.

»Ich weiß«, lachte Sommerfeldt, »deshalb bin ich ja hier. Weißt du noch, was ich dir bei meinem letzten Besuch gesagt habe?«

Lodwijk van Eeden nickte vorsichtig. Dabei schnitt die Klinge in seine Haut. »Ich hab mich daran gehalten, ganz bestimmt! Ich habe nichts gemacht!«

»Ah, so weit erinnerst du dich also noch? Du hast mir versprochen, damit aufzuhören. Du hast alles bereut. Du wolltest ein anständiger Mensch werden, und vor allen Dingen wolltest du dich von Schülern fernhalten. Keine Teenie-Disco mehr. Keine Drogen an Minderjährige. Hatten wir nicht sogar darüber gesprochen, dass dieser Drogenscheiß insgesamt aufhören sollte?«

»Ja. Ja. Haben wir. Ich habe auch wirklich nichts gemacht …«

»Och, nun jammere nicht rum. Ich hab nichts gemacht …Es geht doch hier nicht um einen Kinderstreich. Ein dreizehnjähriger Junge aus Aurich ist tot. Glaubst du wirklich, das lasse ich dir durchgehen?«

»Es war eine Überdosis. Ich kann nichts dafür! Ich hab denen nur gutes Zeug verkauft.«

»Du hattest mir aber versprochen aufzuhören. Damals hattest du übrigens dasselbe Messer am Hals. Spürst du es? Die Klinge war damals schon der Meinung, ich sollte mich auf deinen Blödsinn nicht einlassen und die Sache ein für alle Mal beenden.«

»Ich habe mich daran gehalten. Wirklich. Lange! Aber dann … Ich bin ein schwacher Mensch! Ich kenne so viele Leute noch aus der Zeit … Sie haben Druck auf mich ausgeübt. Man kann da nicht einfach aufhören …«

»Aber du wusstest schon, dass ich kommen würde, wenn du dich nicht an unsere Abmachung hältst. Ich habe es dir ganz deutlich gesagt. Ich schenke dir dein Leben, wenn du ein neues anfängst und das nutzt. Die alten Fehler darfst du kein zweites Mal machen, sonst hole ich dich zu meinem Freund, dem Teufel. Der wartet auf Nachschub … Frisches Fleisch. Typen wie dich hat er besonders gern.«

Lodwijks Hände krampften sich ums Lenkrad. »Bitte, Gnade! Ich dachte, du wärst weg. Ich dachte, du wärst geflohen. Südafrika, Lateinamerika … Die Zeitungen waren voll davon. Was machst du hier in Deutschland? Die kriegen dich doch sofort … Ich kann dir helfen! Ich kann Papiere besorgen, ich kann …«

Sommerfeldt lachte herzhaft. »Ist dir gar nicht aufgefallen, dass ich anders aussehe? Ich brauche nichts von dir. Die Waren, die du anzubieten hast, sind mir nicht gut genug. Ich würde weder Drogen von dir kaufen noch falsche Papiere.«

Sommerfeldt griff über den Sitz und fühlte van Eedens Herzschlag: »So, ich glaube, jetzt geht es dir besser, und du kannst uns zu der Schule fahren.«

»Welche Schule?«

»In welche Schule ist Finn-Leandro Bagger denn gegangen? Ich denke, wenn sie deine Leiche dort finden, wird auch dem letzten Staatsanwalt klarwerden, dass du etwas mit der Sache zu tun gehabt hast.«

»Du bringst mich um, damit das Urteil gegen mich korrigiert wird?«, kreischte er.

»Nein, damit deine Kumpels wissen, was ihnen blüht, wenn sie sich nicht von Schulhöfen fernhalten. So. Jetzt fahre uns nach Aurich an die IGS. Ihr habt auch in Norden an der Berufsschule verkauft, am Ulrichs-Gymnasium und in Oldenburg an der IGS Kreyenbrüc. Habe ich noch was vergessen? So, jetzt fahr los!«

Er schaffte es nicht, den Wagen anzulassen. Er versuchte, es hinauszuzögern. Sommerfeldt vermutete, dass van Eeden die Hoffnung hatte, seine Kumpels würden bald hier ankommen und die Situation sofort erfassen.

Sommerfeldt piekste ihm in den Oberarm: »Fahr los!«

Er tat es sofort.

Eine Weile schwieg Sommerfeldt und gab höchstens mit dem Finger Anweisungen, ob van Eeden nach rechts oder links fahren sollte. Dann sagte er: »Weißt du, eigentlich müsste ich dich in Stücke schneiden und vor jede Schule einen Teil von dir legen. Den rechten Arm für die Berufsschule Norden, den linken fürs Ulrichsgymnasium, ein Bein nach Oldenburg – es könnte wie ein Puzzlespiel werden. Wenn sie alle Orte abfahren, können sie dich wieder zusammensetzen.«

Lodwijk van Eeden verursachte fast einen Auffahrunfall. Sommerfeldt klatschte von hinten mit der Hand gegen seinen Kopf. »Glaubst du, dass du so billig aus der Nummer rauskommst? Es gibt einen Unfall, und die Polizei kommt? Ich kann dich auch gleich hier umlegen.«

»Ich könnte das alles wiedergutmachen. Ich könnte den Eltern Geld geben, ich …«

»Geld … Du glaubst allen Ernstes, man könnte das mit Geld wiedergutmachen? Nein, es gibt nur eine Konsequenz, mein Lieber. Das Ganze darf sich nie mehr wiederholen. Und deswegen wirst du sterben. So spektakulär wie möglich.«

»Mir ist schlecht«, behauptete van Eeden.

»Mir ist die ganze Zeit schlecht, wenn ich an Typen wie dich denke«, bestätigte Sommerfeldt.

»Ich glaube, ich muss kotzen.«

»Ja, meinetwegen. Ist ja dein Auto.«

Tatsächlich würgte van Eeden jetzt und hustete. Er lenkte den Wagen an den Seitenstreifen, riss die Tür auf und übergab sich. Sommerfeldt filmte ihn dabei.

»Eigentlich gefällt mir das«, sagte Sommerfeldt. »Der kleine Finn-Leandro Bagger ist auch an seinem eigenen Erbrochenen erstickt. Sie sollten es auch auf deinen Klamotten und in deinem Mund finden. Solche Symbole verstehen deine Kumpels doch bestimmt, was meinst du? – So, jetzt gib mir mal dein Handy. Wir werden ein kleines Filmchen für deine Freunde machen. Sag ihnen, dass sie mit dem Scheiß aufhören sollen, weil sie sonst der Teufel holt. So wie dich.«

Lodwijk wischte sich den Mund ab. »Was soll ich?«

Sommerfeldt nahm ihm das Handy ab und hielt es vor sein Gesicht. »Siehst du, die Gesichtserkennung funktioniert. So, und nun machen wir ein kleines Video«, freute Sommerfeldt sich. Er hielt die Klinge des Einhandmessers zwischen den Zähnen, während er mit beiden Händen das Handy führte und filmte.

Lodwijk erkannte in seiner Angst seine Chance. Er hatte jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder genau das zu tun, was Sommerfeldt von ihm verlangte, oder ihn anzugreifen und zu versuchen, ihn niederzuringen. Weglaufen war keine Option. Er musste befürchten, dass Sommerfeldt schneller war.

Er zögerte zu lange. Sommerfeldt senkte das Handy, nahm das Einhandmesser und holte zu einem Stich aus.

»Okay. Wenn du nicht kooperativ bist, dann …«

»Nein, nein, nein, um Himmels willen! Ich sage ja, was du hören willst.«

Sommerfeldt reichte ihm das Handy: »Mach ein Selfie-Video. Soll ich dir den Text vorgeben oder weißt du selbst, wie man mit deinesgleichen spricht?«

»Ja, was soll ich denn genau …«

»Sag es mit deinen Worten. Sie sollen aufhören. Sonst hole ich sie. Aber wehe, du erwähnst meinen Namen. Sage: der Teufel.«

Lodwijk schluckte. Er sah sich nach Hilfe um, doch hier war weit und breit niemand. In Häuserschluchten kann man so einsam sein wie in den Bergen.

Sommerfeldt ließ die Klinge quer über Lodwijks Wange sausen. Über seinem rechten Wangenknochen klaffte eine drei Zentimeter lange Wunde.

»Ich mach’s ja, ich mach’s ja!«, schrie Lodwijk und stammelte: »Hört auf damit! Leute, ich beschwöre euch, lasst es sein, sonst kommt euch der Teufel holen.«

Sommerfeldt nickte zufrieden. »So. Und jetzt schickst du das an deine Kumpels. Ist doch ein schönes kleines Video geworden.«

Lodwijk presste seine Hand gegen die Wunde im Gesicht, um die Blutung zu stoppen.

»Du wirst doch noch die Sitze vollsauen«, sagte Sommerfeldt und hielt Lodwijk ein Taschentuch hin.

Sommerfeldt nahm ihm das Handy ab: »Ich kann es natürlich an deine gesamte Adressenliste schicken, aber Michelle und deine anderen Freundinnen werden sich bestimmt sehr erschrecken. Das ist doch eigentlich unnötig. Wer von deinen Kumpels braucht diese Ermahnung?«

Lodwijk schluckte. »Mihailo …«

Sommerfeldt grinste. »Ach, der Serbe ist auch wieder mit dabei. Ich dachte, der sitzt noch.«

»Nein, schon lange nicht mehr. Der darf sich nur in Köln nicht mehr sehen lassen. Tarek und Siggi …«

Sommerfeldt konnte mit jedem Namen etwas anfangen. »Okay«, sagte er, »dann schicken wir die kleine Ermahnung mal an die drei.« Er scrollte durch die Kontaktliste: »Was ist mit Doc Holliday?«, fragte er.

»Der macht nicht mehr mit. Der ist seriös geworden. Der hat geheiratet und…«

»Na, dann wollen wir ihn mal auf dem Weg bestärken. Dann weiß er wenigstens, dass er es jetzt richtig macht«, überlegte Sommerfeldt und schickte auch an Doc Holliday das Video.

Er sah sich den kurzen Film noch einmal an und zeigte ihn auch Lodwijk: »Guck mal, das ist ganz gut so, mit dem Schnitt im Gesicht. Das macht es eindrucksvoller, findest du nicht? So. Und jetzt ändern wir mal den PIN-Code, damit ich dein dummes Gesicht nicht brauche, wenn ich dein Handy benutze.«

Lodwijk van Eeden hatte in letzter Zeit lernen müssen, dass er körperlich nicht wirklich fit war. Die jungen Männer heute trainierten härter, kombinierten verschiedene Kampfsportarten, und viele schluckten auch Anabolika, um stärker zu werden. Das Grobe lag Lodwijk nicht. Er ließ sich lieber beschützen, und wenn es hart zur Sache gehen musste, dann gab es immer Leute, die das für ein paar Euro erledigten. Doch jetzt blieb ihm nichts anderes übrig. Mit dem Mut der Verzweiflung griff Lodwijk Dr. Sommerfeldt an.

Sommerfeldt hatte es eigentlich noch nicht vorgehabt, doch jetzt erledigte er die Sache gleich hier am Straßenrand. Er stach zu. Nur ein einziges Mal. Die Klinge drang tief in Lodwijk van Eedens Herz ein.

Sommerfeldt zerrte ihn zur Beifahrerseite, platzierte ihn auf dem Sitz und fuhr dann mit dem Toten nach Aurich. Er wollte ihn zunächst auf dem Schulhof ablegen, überlegte es sich aber noch einmal anders, weil er nicht vorhatte, die Schüler zu sehr zu erschrecken. Stattdessen brach er ins Gebäude ein und schleppte die Leiche bis ins Lehrerzimmer. Dort legte er Lodwijk van Eeden auf den Tisch. Leider war es ihm nicht möglich gewesen, seine Arbeit zu verrichten, ohne eine Blutspur im Flur zu hinterlassen.

Er wusch sich auf der Toilette, reinigte seine Sachen und verließ die Schule aufrecht wie ein Lehrer nach getaner Arbeit.

Er fuhr zurück nach Oldenburg, stellte dort in der Nähe des Klubs den Porsche ab und fuhr mit seinem Fahrzeug zurück zur Klinik hinterm Deich.

Er fühlte sich gut, wie nach einer geglückten, lebensrettenden Operation.

Als Frauke vom Besuch bei Monika Tapper zurückfuhr, war sie in einer merkwürdigen Stimmung. Einerseits glücklich und trotzdem auf eine tiefe Art traurig.

Sie hätte sich ihr so gerne anvertraut. Monika sah aus, als könne man ihr einfach alles erzählen. So eine Freundin wünschte sie sich, doch es war ein Unterschied, ob man einer Freundin von seinen Ängsten erzählte, seinen Eheproblemen und sich innerlich ganz öffnete oder ob man zugab, jemand ganz anderes zu sein. Sie machte andere ja gleich zu Mitwissern, zu Komplizen. Nein, das konnte sie ihr nicht antun. Auch ihre beginnende Freundschaft würde auf einer Lüge basieren.

Auf dem Radweg an der Norddeicher Straße wurde ihr klar, dass sie immer so gelebt hatte. Sie war immer die Person, für die sie sich gerade ausgab. Als solche schloss sie Freundschaften, bekämpfte ihre Feinde. Es kam ihr so vor, als hätte sie oft auch als eine andere Person geträumt.

Wie viele Personen kann man sein? Wie viele Existenzen führen, ohne sich selbst zu verlieren?

Überhaupt, musste man sich nicht erst finden, bevor man sich verlieren konnte?

Hier in Ostfriesland, mit Sommerfeldt, bekam sie vielleicht zum ersten Mal im Leben ein Gespür dafür, echt zu sein. Aber auch das fühlte sich wieder wie eine Lüge an.

Sie dachte an den Mann, den sie liebte und der sie so nahm, wie sie war. In jeder Minute ihres Lebens. Konnte es ein größeres Glück überhaupt geben?

Er warf ihr nichts vor. Er urteilte nicht. Er nahm sie an. Doch er erwartete das Gleiche von ihr. Er wollte frei sein und trotzdem eng mit ihr verbunden.

Das hörte sich schön an, doch hieß es auch, dass sie akzeptieren musste, dass er heute Abend einen Mord beging?

Sie wollte das nicht. Er sollte damit aufhören.

Würde ihre Liebe das aushalten?

War sie in der Lage, es ihm zu verbieten, so wie andere Frauen ihren Männern verboten, das Haushaltsgeld beim Pferderennen zu verwetten, der Nachbarin hinterherzusteigen oder beim Geburtstag der Schwiegermutter in die Erdbeerbowle zu pinkeln?

Sie musste jetzt noch lachen, wenn sie daran dachte. Eine ehemalige Klassenkameradin, die sie auf Borkum getroffen hatte, hatte ihr davon erzählt, dass ihr Mann seine Schwiegermutter so sehr hasste, aber nicht in der Lage war, es auszusprechen. Stattdessen verhielt er sich geradezu unterwürfig. Bei Familienfeiern betrank er sich, und wenn er dann genug intus hatte, pinkelte er heimlich in die Bowle. Er selbst trank ohnehin lieber Bier. Sie hatte ihn zweimal dabei erwischt, und er gestand, es schon öfter getan zu haben. Es war ein Geheimnis zwischen ihr und ihrem Mann. Dadurch hatte sie Macht über ihn. Sie hatte es ihm verboten und das Versprechen abgenötigt, so etwas nie wieder zu tun.

Frauke fragte sich jetzt, ob die beiden noch verheiratet waren. Sommerfeldt würde sich nichts verbieten lassen. Das war ihr ganz klar. Sie hatte ihm damals diese Geschichte erzählt, und noch jetzt konnte sie sein schallendes Lachen hören. Er fand das alles köstlich und sagte: »Jeder findet eine Form, sich zu wehren. Die einen heimlich, die anderen fangen stattdessen offenen Streit an.«

Sie fragte sich: Wenn ich von ihm verlange, mit dem Morden aufzuhören, wird das dann das Ende unserer Beziehung sein? Hatte sie überhaupt das Recht dazu, es zu tun? Wer war sie, von ihm zu verlangen, wie er leben sollte?

Für ihn waren das keine Morde. Bei einem Besuch in der Kunsthalle Emden, als sie gemeinsam vor dem Gemälde Die blauen Fohlen von Franz Marc standen, hatte er es ihr auf geradezu poetische Weise erklärt, wie sie fand: »Weißt du, Kirschblüte, so wie ein Maler immer weiter an seinem Bild arbeiten muss und es verbessern will, so geht es mir auch. Wenn ich diese Welt sehe, dann schaue ich darauf wie ein Maler auf seine Zeichnung. Manchmal radiere ich etwas aus, etwas, das die Schönheit und die Harmonie stört.«

Niemand von den anderen Besuchern, die das damals möglicherweise gehört hatten, wäre auf die Idee gekommen, dass er darüber gesprochen hatte, einen Vergewaltiger ins Jenseits zu befördern, der es immer wieder schaffte, die Frauen so unter Druck zu setzen, dass sie die Anzeigen gegen ihn zurückzogen.

Sommerfeldt hatte das Gefühl, die Welt besser zu machen, ja zu verschönern. Es war für ihn so etwas wie ein künstlerisches Gestalten der Wirklichkeit.

Doch es war nicht richtig. Es war Mord. Er setzte sich über alle Regeln der Gesellschaft hinweg. Nie hätte er eine Partei gewählt, die für die Todesstrafe war, niemals hätte er einem Staat zugebilligt, die Entscheidung über Leben und Tod zu fällen. Doch er selbst nahm sich das Recht heraus.

Was wird werden, fragte sie sich, wenn ich ihn vor die Alternative stelle: Entweder, du hörst auf, oder das war’s mit uns beiden.

Sie trat immer schneller in die Pedale. Als sie in der Klinik hinterm Deich ankam, war er noch nicht zurück. Vielleicht, dachte sie, tötet er ihn gerade jetzt.

Sie musste etwas tun. Sie wusste nicht wohin mit ihren Emotionen. Sie lief die Treppen hoch, wollte in ihr Zimmer gehen und lesen, doch das funktionierte jetzt nicht. Sie tigerte herum, als sei diese große Klinik ein Käfig, den sie nicht verlassen konnte. Wie um sich selbst zu beweisen, dass sie frei war, schnappte sie sich ihre Golftasche, stieg in den großen SUV und fuhr nach Lütetsburg, um ein paar Bälle zu schlagen. Ja, das war jetzt genau das Richtige.

Sobald sie an Golf dachte, hörte sie seine Stimme: »Eigentlich«, hatte Sommerfeldt ihr oft mit diesem belehrenden Tonfall gesagt, der ihr manchmal auf den Keks ging, »schlägt man die Bälle nicht. Es geht nicht um Kraft, sondern man führt einen Schwung aus, der …«

Sie schüttelte sich. Sie wollte ihn und seine Weisheiten jetzt loswerden. Sie hatte Angst, dass er gerade ihr schönes, neues Leben zerstörte. Sie fühlte sich nicht berechtigt, ihn zu stoppen, gleichzeitig musste sie es tun. Sie versuchte, wieder an Golf zu denken, um etwas zwischen sich und ihre Angst zu bringen.

Sie wollte jetzt keine sauberen Bewegungsabläufe üben. Sie wollte Bälle schlagen. Ja, genau darum ging es. Einen Punkt zu haben, auf den sie mit einem Eisen einprügeln konnte. Sie wollte sehen, dass das, was sie tat, eine Wirkung erzielte.

Als sie in Lütetsburg am Schloss ankam, war es bereits dunkel. Nein, sie vergaß nicht, den Wagen abzuschließen. Sie ließ ihn trotzig offen, so als solle sich nur mal einer trauen, ihr Auto zu klauen. Der würde sich eine Menge Ärger einhandeln.

Sie fühlte sich streitlustig, wollte aber gleichzeitig mit niemandem Ärger.

Kann man streitsüchtig und harmoniebedürftig gleichzeitig sein?

Sie ging am Restaurant vorbei auf die Driving-Range zu. Draußen saßen die letzten Gäste. Jemand winkte ihr, doch sie reagierte nicht. Sie wollte alleine sein. Sie zog sich mit ihrer Karte am Automaten ein paar gelbe Golfbälle. Es tat schon gut zu hören, wie sie in den Korb fielen.

Sie stand hier geschützt, überdacht und hatte gleichzeitig die Freiheit des Platzes vor sich. Schilder markierten Entfernungen auf dem Grün. 50, 70, 100, 120, 150. Auf dem Platz, beim Spiel, war man für alle sichtbar, doch hier aus der Sicherheit des überdachten Übungsgeländes agierte sie sozusagen anonym. Es kam ihr vor wie ein Symbol für ihr Leben. Nicht gesehen werden, sicher sein und trotzdem weite Bälle schlagen können.

Sie legte den ersten aufs Golf-Tee, wählte ein Neuner-Eisen, nahm Schwung und traf den Ball viel zu weit oben. Der kleine Kunststoffstift fiel um. Der Ball schoss keine dreißig Meter weit zur Seite weg.

Obwohl er nicht anwesend war, hörte sie Sommerfeldts Lachen: »Man nimmt kein T-Stück beim Neuner- Eisen. So, wie du drauf bist, nimm den Driver und konzentrier dich.«

Sie sah sich um. Er war so sehr in ihr, sie nahm ihn überallhin mit. Selbst jetzt, hier, war sie nicht allein.

Sie wurde immer wütender. Sie zog den Driver heraus, wog das Schlaggerät in der Hand, als hätte sie vor, jemandem den Schädel einzuschlagen. Sie baute das T-Stück neu auf und ballerte mit aller Kraft den nächsten Ball ins Flutlicht hinein. Es tat ihr gut, dem Flug zu folgen, den Aufschlag bei 120 zu sehen. Es ging ihr gleich besser.

Sie nahm den nächsten Ball aus dem Korb.

»Wir müssen reden, Bernhard«, sagte sie, als sei er der Ball. »Wenn wir uns ein neues Leben aufbauen wollen, müssen wir das alte beenden.«

Nach zehn Bällen fühlte sie sich besser. Nach zwanzig gut. Nach dreißig spürte sie ihre Muskeln. Ein Ziehen im Rücken, ein Kribbeln bis in die Waden. Sie hatte genug für heute.

Auf dem Rückweg zum Parkplatz rief ein Pärchen: »Huhu, huhu, Frauke!« Sie sah stur auf den Boden und reagierte nicht. Dann, als sie schon die Golfschläger in den Wagen verladen hatte, kam sie sich unhöflich, ja fast gemein vor. Sie ging noch einmal ein paar Meter in Richtung Restaurant, winkte und log laut: »Hallo, ich hab euch gar nicht gesehen!«

Wenn sie ehrlich mit sich war, musste sie zugeben, dass sie die Namen des Pärchens vergessen hatte. Sie hatten mal gemeinsam ein Turnier gespielt.

Sie fuhr zurück zur Klinik hinterm Deich und fragte sich: Warum gehe ich so wenig auf Menschen zu? Warum bin ich oft so ablehnend? Das sind doch Beziehungsangebote. Warum nehme ich sie nie an?

Vor der Klinik unterm Balkon parkte immer noch der dunkelblaue Bentley. Es war ungewöhnlich, hier einen Wagen abzustellen. Eigentlich gab es andere Parkplätze.

Ein Mann wischte in der Dunkelheit an der Scheibe herum. Ein kurioser Anblick.

Sie lief an ihm vorbei zum Eingang. Auf seiner Höhe blieb sie stehen, vielleicht weil sie die Unhöflichkeiten, die sie dem Golfpärchen angetan hatte, wiedergutmachen wollte, wenn auch an einer anderen Person.

Die Haare des Mannes waren bis weit über seine Ohren hin abrasiert. Er trug aber einen Bart in der gleichen Länge wie sein Kopfhaar. Es sah schwarz und stachelig aus. Er hatte etwas von einem Igel an sich, fand sie.

Er roch nach kaltem Zigarrenrauch.

Männer im Nadelstreifenanzug wuschen normalerweise nachts auf der Straße keine Autos. Sie fand es lächerlich. Ihr fiel aber gleich das Möwenabenteuer mit Sommerfeldt beim Frühstück ein.

Sie fragte: »Möwenkacke?«

Der Bentley-Fahrer roch an seinem Lappen und konterte: »Nee, eher schwarzer Tee mit Milch und Zucker.«

»Wer macht denn so was?«, grinste sie.

»Kann nur jemand von da oben runtergekippt haben«, behauptete er und zeigte auf den Balkon.

Sie schüttelte den Kopf: »Das kann nicht sein. Da wohnt der Chef.«

Sie wollte rein, doch es gab einen irritierenden Moment, als der Mann sie ansah. Er war garantiert nicht der Besitzer des Fahrzeugs, sondern eher ein Fahrer. Vielleicht ein persönlicher Assistent, wie einige Manager ihre Bodyguards nannten. Viele Patienten in der Klinik waren es gewohnt, sich fahren, schützen und umsorgen zu lassen. Es gab immer Leute, die mit Personal anreisten. Man wusste dann nie genau, ob es sich um Popstars handelte, Wirtschaftsbosse oder Ganoven.

Sie ging in Sommerfeldts Büro und kontrollierte die Gästeliste. Aber da war kein bekannter Name. Niemand, für den sie mal die Miet-Ehefrau gespielt hatte.

Sie verspürte das Bedürfnis, heiß und dann sofort kalt zu duschen. Sie tat es augenblicklich.

Sommerfeldt hatte schon ein paarmal davon geschwärmt, noch ein Stockwerk aufs Haus aufzusetzen. Er hatte ihr eine Badewanne versprochen, mit Blick aufs Meer. Doch die Baugenehmigung dafür zu erhalten, war gar nicht so einfach. Aus dem Haus gab es bis jetzt nur einen Blick auf den Deich. Aber manchmal, in lauen Sommernächten, stieg sie aufs Dach, setzte sich dorthin und konnte die Lichter auf Juist sehen.

Es war noch mal anders, als auf dem Deich zu sitzen. Hier oben – auf den von der Sonne aufgewärmten Dachpfannen – zu thronen, das hatte etwas Wagemutiges, etwas Verbotenes. Und hier würde sie ganz sicher niemand stören, bis auf ein paar Dohlen, die ihre Anwesenheit interessant fanden, doch von denen fühlte sie sich nicht gestört, selbst wenn sie an ihrer Kleidung herumpickten.

Unter dem flauschigen Bademantel war sie nackt. Der Wind trocknete ihre feuchten Haare.

Sie fragte sich, ob der Fahrer sie erkannt hatte. Diese Angst trug sie immer mit sich herum, dass irgendjemand sie auf ihre Vergangenheit ansprechen könnte.

Sommerfeldt nahm das in ihrem Fall ziemlich gelassen. Schließlich wurde sie nicht von der Polizei gesucht. »Wenn dich jemand erkennt, weil du mal für Geld mit ihm im Bett warst, wird ihm das peinlicher sein als dir, meine Gute. Der Mensch hat einen freien Willen. Der war bereit zu zahlen, und du warst bereit, das Geld zu nehmen. Also was soll’s? Geh selbstbewusst damit um.«

Aber das fiel ihr nicht leicht. Sie wollte nicht die gewesen sein, die sie einmal war. Jetzt, hier oben auf dem Dach, fragte sie sich: Wer wäre ich ohne all diese Erfahrungen? Wäre ich dann überhaupt ich selber oder eine ganz andere Person? Wer sind wir, wenn nicht die Summe all dessen, was wir mal gedacht, gesagt und getan haben?

Sie gab niemandem die Schuld. Vielleicht war auch alles einfach richtig so. Vor die Wahl gestellt, würde sie – so vermutete sie – wieder alles genauso machen.

Sie zog den Bademantel fester um ihren Körper und reckte das Gesicht in den Wind. Sie atmete tief durch. Ist das Freiheit?, fragte sie sich.

Die Lichtkegel von Scheinwerfern bewegten sich aus Richtung Greetsiel auf die Klinik zu. Hier fuhren nachts nicht viele Autos. Das da war ihr Bernhard.

Wahrscheinlich hatte er sich nach getaner Tat im Meer gereinigt. Vermutlich gar während sie unter der Dusche stand. Sie fühlte sich verbunden mit ihm.

Er stellte den Wagen ab, trommelte einen Takt aufs Autodach und ging leichtfüßig, ja beschwingt, auf die Klinik zu.

Er hat es getan, dachte sie. Und es geht ihm großartig.

Sabine Ahlers wurde heute 55. Sie war Lehrerin aus Leidenschaft und wollte diesen Geburtstag mit ihren Kollegen feiern. Es gab inzwischen zwei Fraktionen, die sich sprachlich immer weiter auseinanderdividierten. Die einen genderten bewusst. Die anderen beharrten darauf, dies sei eine Verballhornung der deutschen Sprache. Und dann gab es noch einen jungen Kollegen namens Wilko Schmidt, der von allen Will Smith genannt wurde. Der Hollywoodschauspieler gab nicht nur gerne den Actionhelden, sondern hatte auch bei einer Oscarverleihung den Moderator geohrfeigt, der sich über seine Frau lustig gemacht hatte.

Wilko genderte nur dann laut und deutlich, wenn er das Gefühl hatte, es würde lächerlich klingen. Er sagte: Bürger:innensteig oder Nutt:innen.

Sabine Ahlers brauchte Harmonie. Sie hob keine Beziehungsgräben aus. Sie schüttete sie lieber zu oder baute Brücken. Sie wollte ein schönes Gemeinschaftserlebnis schaffen. Ihr Geburtstag war da ein guter Anlass.

Sie hatte Muffins gebacken. Das war alles nicht mehr so einfach wie früher zu Beginn ihrer Schullaufbahn. Da brachte man einfach einen selbstgebackenen Gugelhupf mit oder eine Platte Apfelkuchen und fertig.

Heute musste man Rücksicht nehmen. Sie tat es. Es gab zu viele Abneigungen, Vorlieben und Allergien.

Sie hatte glutenfreie Karottenmuffins gemacht.

Außerdem zuckerfreie Bananenmuffins mit Ei und Nüssen.

Blaubeermuffins ohne Ei.

Vegane Zitronenmuffins.

Und dann noch welche mit dicken Schokostückchen drin, Kakaopulver, Zucker, Milch, Öl, Eiern – sogar mit Mehl und Backpulver.

Von einigen Kollegen wurden sie die »richtigen Muffins« genannt, von anderen »die ungesunden« oder auch »Kalorienbomben«.

Sabine hatte alle Muffins gekennzeichnet und natürlich auch an die Kollegin mit der Haselnussallergie gedacht. Schließlich sollte sich jeder gesehen fühlen und niemand ausgeschlossen werden.

Sie balancierte alles vorsichtig auf zwei Holztabletts vom Auto zum Lehrereingang. Sie hatte Servietten dabei und eine bunte Tischdecke. Da sie strikt gegen Alkohol im Lehrerzimmer war, schleppte sie statt Sekt Säfte ins Gebäude.

Wilko Schmidt kam heute schon etwas früher, weil er noch Kopien machen wollte. Er hielt mit seinem Rennrad neben Sabine und grüßte mit diesem süffisanten Lächeln, das er selbst für unwiderstehlich hielt: »Na, junge Frau, darf ich Ihnen behilflich sein?«

Sie gab die schweren Saftflaschen gerne ab. Er war nicht uninteressiert am Gebäck, denn die Muffins dufteten gut. Er mochte dunkle Schokolade, sagte aber spitz: »Ich hoffe, die Schokolade wurde fair gehandelt. Ich achte ja immer auf das Fairtrade-Siegel.«

Sabine bekam gleich ein schlechtes Gewissen, weil sie einfach eine Zartbitter-Schokolade verwendet hatte, die eine Nachbarin ihr als Dankeschön fürs Blumengießen und Katzehüten geschenkt hatte.

Es war für Sabine Ahlers, als sei sie plötzlich in eine Parallelwelt geraten oder in einen Albtraum gerutscht. Sie hatte in diesem Lehrerzimmer schon viel erlebt. Triumphe und Niederlagen. Freundschaft und Unterstützung genauso wie Intrigen und Streit. Aber noch nie hatte dort eine Leiche gelegen.

Hatte sie eine Halluzination? War sie verrückt geworden? Kam das alles nur vom Stress? Die Gedanken jagten durch ihren Kopf. Waren die letzten Tage einfach zu viel für sie gewesen? Oder lag dort wirklich ein Toter?

Sie drehte sich zu Wilko Schmidt um und wollte ihn fragen, ob er dasselbe sah wie sie, doch sein Gesicht war für sie Antwort genug.

Sie hielt die Serviertabletts nicht mehr in der Waage. Die Muffins fielen zuerst auf den Boden, dann die Tabletts und schließlich Frau Ahlers selbst.

Ein Toter im Lehrerzimmer … Da ging bei Ann Kathrin Klaasen sofort das Kopfkino los. Rächte sich ein ehemaliger Schüler für erlittenes oder eingebildetes Unrecht? Oder wollte ein gestresster Pädagoge durch Selbstmord auf die unhaltbare Drucksituation aufmerksam machen?

Kündigte sich eine neue Art von Terror an? Statt Amoklauf gezielte Attacken gegen einzelne Repräsentanten des verhassten Systems?

Sie sah eine Menge Ärger und viele Presseanfragen auf ihre Abteilung zukommen. Die Mordkommission galt immer noch als Königsdisziplin in der Polizeiarbeit, aber dort stand man auch unter besonderer Beobachtung durch die Öffentlichkeit.

Sie fragte sich, woher der erste Anruf kommen würde: aus dem niedersächsischen Kulturministerium oder aus dem Innenministerium.

Alle würden sich Sorgen machen und versuchen, sich einzumischen, ohne dass es nach Einmischung aussah.

Der erste Anruf kam dann aber von Holger Bloem. Der Journalist fragte: »Ist das wahr? Ein ermordeter Lehrer?«

Ihre Gegenfrage war: »Wer sagt das?«

»Ein Schülerzeitungsredakteur, der mal ein Praktikum bei uns gemacht hat und offensichtlich eine Festanstellung als Redakteur sucht.«

Ann Kathrin blieb kurz angebunden. »Ich bin unterwegs zur Schule.«

Er nahm ihr das nicht übel. Bei Mord stand sie ab dem ersten Moment unter großer Anspannung. »Gut, dann sehen wir uns gleich da, Ann«, sagte er und beendete das Gespräch.

Sabine Ahlers kannte den Toten. Sie konnte zunächst gar nicht glauben, dass es wirklich Lodwijk van Eeden war. Sie hielt das für reines Wunschdenken und schämte sich dafür, weil man doch niemandem den Tod wünschen durfte.

Wilko Schmidt bestätigte es ihr: »Das ist das Schwein!«

Er schraubte sich einen Schokomuffin rein. Er brauchte jetzt Zucker, und das sagte er auch.

Obwohl Sabine die Muffins gebacken hatte, musste sie sich beim Anblick fast übergeben, als sie sah, wie gierig sich Wilko den Mund vollstopfte. Sie schüttelte sich: »Wie kann man nur …«

Es ging ihr gleich wieder besser, als sie eine Aufgabe für sich erkannte. Den Schülerinnen und Schülern musste der Anblick erspart bleiben. Das Lehrerzimmer galt zwar als Tabu, doch nicht jeder respektierte die Schutzzone für Lehrkräfte. Manchmal wurden Krankmeldungen abgegeben, oder jemand kam mit Fragen oder Beschwerden.

Da in der Polizeiinspektion Aurich eine Frühbesprechung anberaumt worden war, konnte Ann Kathrin Klaasen Minuten nach der Meldung schon vor Ort sein. Mit ihr kamen zwei Lehrerinnen und ein lärmender Schülerpulk ins Gebäude.

Ein Polizeiwagen auf dem Schulhof sorgte für Aufmerksamkeit. Ein Uniformierter am Eingang ließ bei einigen die Sorge nach Taschenkontrollen aufkommen. Ein Suchtmittelspürhund war nicht zu sehen.

Vor dem Lehrerzimmer stand schon eine uniformierte Auricher Kollegin. Sie schützte den Tatort und ließ niemanden hinein, obwohl ein Pädagoge heftig protestierte, er benötige sein Unterrichtsmaterial. Er ereiferte sich, als sie ihm den Zugang verweigerte. Sogar das Wort Polizeistaat fiel.

Sie war erleichtert, als Ann Kathrin auf sie zukam. Sie nickte ihr freundlich zu.

Minuten später traf auch schon die Spurensicherung ein.

Ann Kathrin überließ ihnen den Toten und das Lehrerzimmer. Sie selbst unterhielt sich in einem leeren Klassenraum mit Sabine Ahlers und Wilko Schmidt.

Ann Kathrin stellte sich vor und notierte ihre Namen.

Frau Ahlers sagte mit trockener Stimme: »Ich fürchte, ich kenne den Toten.«

»Ich auch«, bestätigte Wilko Schmidt.

»Ein Kollege?«, fragte Ann Kathrin.

Wilko lachte bitter. »O nein. Ein Dreckschwein. Er hat Heroin verkauft, Crack und den ganzen Dreck. Auch an unsere Schüler. Der hier ist verantwortlich für den Tod von Finn-Leandro.«

Sabine seufzte: »… und erst gestern freigesprochen worden.«

Wilko spottete, als sei er durch so viel Inkompetenz der Justiz persönlich gekränkt worden: »Aus Mangel an Beweisen …«

In Ann Kathrin klingelten sofort alle Alarmglocken, aber äußerlich blieb sie ruhig, ganz auf die beiden Menschen konzentriert, die die Leiche gefunden hatten.

An Sabines Kleidung klebten Kuchenkrümel. An Ellbogen und Rücken pappten größere Muffinreste. Der zuckerfreie Bananenmuffin mit Ei und Nüssen klebte besonders gut.

Sie zupfte immer wieder an ihrer Kleidung herum, gab dann aber mit einem Gesicht auf, als spiele das alles eh keine Rolle mehr.

»Na, den Geburtstag werde ich jedenfalls so bald nicht vergessen.«

Ann fragte nach: »Es handelt sich also bei dem Toten Ihrer Meinung nach um Lodwijk van Eeden? Kannten Sie ihn persönlich?«

»Ich habe ihn angezeigt«, behauptete Wilko Schmidt nicht ohne Stolz.

Sabine setzte vorwurfsvoll nach: »Und die Anzeige dann auch brav wieder zurückgezogen.«

Ann Kathrin ließ das Gespräch laufen. Manchmal kam dabei am meisten für die Ermittlungen heraus. Die beiden standen unter Stress und wollten sich erleichtern. Ann hörte ihnen genau zu.

Wilko Schmidt atmete schwer. Sein Brustkorb blähte sich auf. Er geriet in eine Verteidigungsposition. Er wollte nicht als Feigling dastehen: »Meine Autoreifen wurden zerstochen. Alle vier! In der Garage! Meine Katze lag gehäutet im Garten. Und …« Er sprach nicht weiter, sondern suchte ein Foto davon auf seinem Handy. Er wischte immer wieder über den Bildschirm. Er gab auf, kämpfte mit sich und schnaubte.

»Und?«, ermunterte Ann Kathrin ihn.

»Jemand ist in meine Wohnung eingebrochen, hat aber nichts mitgenommen, sondern nur etwas dagelassen.« Er guckte zu Sabine. Es entstand der Eindruck, als sei es ihm unangenehmer, es vor seiner Kollegin auszusprechen als vor der Kommissarin. »Einen Stick mit Kinderpornographie. Er steckte in meinem Computer, als würde er da hingehören … Kinderpornographie!« Er hob den Zeigefinger. »Bei einem Lehrer! Das wäre das Aus für mich …«

Sabine Ahlers hielt sich erschrocken eine Hand vor den offenen Mund.

Er fuhr fort: »Die wollten mir demonstrieren: Wir können dir alles anhängen und dich locker fertigmachen. Jederzeit.«

Ann Kathrin fragte: »Die?«

»Na, der Lodwijk und seine Bande. Das sind fast alles Kids. Die wirken erst mal harmlos, sehen nicht aus wie Schwerverbrecher. Kommen überall rein. Niemand verdächtigt sie. Und er hat die alle vollkommen an der Angel. Sie gehören ihm, denn er verteilt den Stoff. Sie tun alles, was er will. Und sie fixen Freunde und Klassenkameraden für ihn an. Das verbreitet sich wie eine Seuche … Den meisten kann man nicht mal etwas anhaben, wenn es auffliegt, denn sie sind ja noch gar nicht strafmündig.«

Sabine Ahlers hustete. »Aber damit ist ja jetzt wohl Schluss. Gott sei Dank!«

Ann Kathrin guckte Frau Ahlers nur an. Die verteidigte sich sofort: »Da können Sie jetzt von mir denken, was Sie wollen, Frau Kommissarin, aber ich bin froh, dass der Spuk vorbei ist. Da musste einer kommen, der die Sache beendet. Einer, der stärker war als wir alle.«

»Und ich sehe es Ihnen doch an – Sie wissen auch, wer es war«, sagte Ann Kathrin Klaasen.

Wilko Schmidt sprach es aus: »Herr Bagger natürlich. Der Vater. Wer denn sonst? Ich hätte ihm das gerne erspart, aber ich bin für so etwas nicht gemacht. Ich bin Pazifist. Kriegsdienstverweigerer.«

Ann Kathrin versuchte, die Aussage zu konkretisieren. Sie sah, dass Sabine Ahlers bei jedem Wort, das Wilko Schmidt aussprach, nickte.

»Sie verdächtigen den Vater nur so, aus dem Bauch heraus? Oder wissen Sie etwas?«

»Er hat es am Grab seines Sohnes geschworen«, sagte sie. »Laut und deutlich. Alle haben es gehört. Er hat sogar drei Finger hochgehoben, damit es jeder sehen konnte. Ich bringe das Schwein um. Er hat dem Sarg hinterhergerufen: Dein Tod soll nicht umsonst gewesen sein, Finn! Und wissen Sie, was dann passiert ist?«

Ann Kathrin schüttelte den Kopf.

»Es haben ein paar Leute Beifall geklatscht.«

»Ich gehörte zu ihnen«, sagte Wilko Schmidt. »Ich bin zwar nicht stolz darauf, aber Sie kriegen es ja sowieso raus. Ich habe ihm Beifall geklatscht.«

Kopfschüttelnd murmelte Ann Kathrin: »Offener Applaus am Grab, bei der Beerdigung … für eine Morddrohung.«

Rupert hatte Frau Professor Dr. Marion Hildegard seit fünf Jahren nicht mehr gesehen. Als er vor der Rechtsmedizin in der Pappelallee in Oldenburg den Wagen abstellte, ging sie vor ihm her zum Eingang. Sie hatte ihn noch nicht bemerkt.

Er erkannte sie sofort an ihrem knackigen Po. Das waren zwei Melonen, keine Pfannkuchen. Sie hoben durch ihre prächtigen Rundungen den Rock hinten ein bisschen an.

Sie trug privat gern italienische Kleidung. Ihre blonden Haare hüpften bei jedem Schritt auf und ab und tupften dabei kurz auf ihre Schultern wie auf ein Trampolin. Sie musste diesen Gang lange geübt haben, und so einen Körper bekam man auch nicht geschenkt. Darin steckten viel Arbeit und vergossener Schweiß im Fitnessstudio.

Das flößte Rupert Respekt ein und erinnerte ihn daran, dass er zum letzten Mal vor sechs – oder waren es schon acht – Wochen morgens ein paar Liegestütze gemacht hatte.

Muskeln bildeten sich zurück, wenn sie nicht benutzt wurden. Er beschloss, mal wieder Rad zu fahren, statt immer den Wagen zu nehmen. Er befürchtete, sonst für Frauen wie Frau Professor Dr. Hildegard uninteressant zu werden. Nicht, dass er vorhatte, sie anzugraben … Das nun gerade nicht.

Frauen mit Professor- oder Doktortiteln schüchterten ihn zu sehr ein. Allein die Vorstellung, dass sie vielleicht gebildeter waren als er und ihn für blöd hielten, wirkte sich auf seine Potenz aus. Er schrumpfte in ihrer Gegenwart als ganze Person irgendwie zusammen.

Noch schlimmer wurde es, als sie sich umdrehte und ihn freundlich begrüßte. Andere Menschen wurden älter, und das sah man auch. Bei ihm zum Beispiel.

Frau Professor Dr. Hildegard hatte offensichtlich eine Methode gefunden, den Alterungsprozess aufzuhalten. Sie wirkte fünf, wenn nicht gar zehn Jahre jünger als bei ihrer letzten Begegnung. Er fand, dass ihre lebensbejahende Ausstrahlung ihren Beruf, den täglichen Umgang mit Leichen oder Opfern von Verbrechen, konterkarierte.

»Sie kommen zu früh«, lachte sie. »Ich brauche ein, zwei Stunden. Ich bin ja noch nicht einmal umgezogen.«

»Ich dachte, ich kann dabei zugucken …«

Sie blickte ihn kritisch an.

Er stammelte: »Äh … ich meine natürlich nicht, wenn Sie sich umziehen … ich dachte, bei der Untersuchung …«

Er versuchte, ihr ein verständnisvolles Lächeln zu entlocken. Er war gut in so etwas. Mit den Augen konnte er manchmal mehr reißen als mit coolen Sprüchen. Seine Blicke zeigten oft Wirkung. Er verließ sich aber manchmal zu sehr darauf.

Sie tippte mit dem Zeigefinger vor seinem Gesicht in die Luft, als sei da irgendein Knopf, den sie drücken wolle. »Ich würde Ihnen das gerne ersparen. Die meisten Ihrer hartgesottenen Kollegen fallen bei einer Obduktion um und behindern dann meine Arbeit. Es ist kein schöner Anblick für Laien, wenn so eine Leiche aufgeschnitten wird. Sie müssen sich das so vorstellen …«

Rupert winkte ab: »Schon gut, schon gut. Ganz so genau wollte ich das ja gar nicht wissen.«

Sie ging voran und schloss auf. Noch im Flur sagte sie: »Alles, was Sie interessiert, ist doch die Frage: Sommerfeldt? Ja oder nein?«

Rupert fühlte sich durchschaut. »Wie kommen Sie denn darauf?«

Sie zählte es auf: »Er ist immer noch frei. Niemand weiß, wo er sich aufhält. Leichen pflastern seinen Weg, wie man so schön sagt. Wenn er weitermacht, werden die Toten uns eines Tages direkt zu ihm führen.«

»Der Doktor ist doch nicht verblödet und …«

»Nein, blöd ist er bestimmt nicht. Aber so einer hört auch nicht auf.«

»Warum nicht?«

»Weil es sein Wesen ist.«

Rupert wollte ihr nicht in die Augen sehen, aber ein Stückchen tiefer auf ihren Busen wollte er auch nicht glotzen, darum sah er auf seine Schuhe.

Seine Unbeholfenheit amüsierte Frau Professor Dr. Hildegard. Sie verfiel ins Dozieren: »Ich denke, er kann gar nicht anders. Er braucht das, um sich zu spüren.«

Sie stoppte ihre Ausführungen. Sie hatte keine Lust, jetzt einen Vortrag zu halten, wusste aber, dass sie kurz davor war. Sie unterrichtete gern, und das kam in letzter Zeit zu kurz.

Sie führte Rupert in den Untersuchungsbereich, wo Lodwijk van Eeden auf einem silbernen Tisch lag. Sie zog sich einen weißen Kittel über und andere Schuhe an. Rupert drehte ihr demonstrativ den Rücken zu und begutachtete Lodwijk.

Das künstliche Licht ließ den Raum kälter wirken. Hier begann Rupert regelmäßig zu frieren. Es gab Orte, an denen er lieber war.

Sie redete, während sie sich hinter ihm umzog. Dabei setzte sie ihre Aufzählung fort: »Er hat sich wieder einen ausgesucht, den wir aus seiner Sicht haben laufen lassen. Er hat ihn getötet, bevor er weiteren Schaden anrichten konnte …«