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In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Wie betäubt nahm Aurora Fischer die Kondolenzbezeugungen der Trauergäste entgegen, die ihre sieben Jahre jüngere Schwester auf ihrem letzten Weg begleitet hatten. Sie konnte noch immer nicht fassen, dass Erika nicht mehr unter ihnen weilte. Eine Sepsis, die sie sich bei der Gartenarbeit zugezogen hatte, war der Achtundzwanzigjährigen zum Verhängnis geworden. Mühsam schluckte Aurora die Tränen hinunter. Vor Leonie, ihrer gerade mal fünf Jahre alten Nichte, wollte sie nicht weinen. Die Kleine begriff noch nicht richtig, dass die Mama nicht mehr da war, und ließ die Beerdigung mit seltsamer Ruhe, ja fast ein wenig gelangweilt über sich ergehen. »Es tut mir leid, was mit deiner Mama geschehen ist«, sagte eine ältere Frau und strich dem Mädchen mitfühlend über den dunklen Lockenschopf. »Aber deine Tante wird sich sicher gut um dich kümmern.« Sie warf der jungen Frau einen auffordernden Blick zu, worauf diese pflichtschuldig nickte. Trotz ihrer Trauer stieg Ingrimm in Aurora auf. Daran musste man sie nicht erinnern. Sie liebte ihre Nichte und würde sie niemals im Stich lassen! »Warum denn?«, fragte Leonie die alte Dame mit unschuldigem Augenaufschlag. »Meine Mama kommt doch wieder. In dem Märchen, das sie mir immer vorliest, geht die Mama der Kinder auch in eine andere Welt und kommt dann zurück. Meine Mama hat versprochen, immer bei mir zu sein und auf mich aufzupassen. Also ist sie schon bald wieder da.« »Aber Kind …«
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Seitenzahl: 150
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Wie betäubt nahm Aurora Fischer die Kondolenzbezeugungen der Trauergäste entgegen, die ihre sieben Jahre jüngere Schwester auf ihrem letzten Weg begleitet hatten. Sie konnte noch immer nicht fassen, dass Erika nicht mehr unter ihnen weilte. Eine Sepsis, die sie sich bei der Gartenarbeit zugezogen hatte, war der Achtundzwanzigjährigen zum Verhängnis geworden.
Mühsam schluckte Aurora die Tränen hinunter. Vor Leonie, ihrer gerade mal fünf Jahre alten Nichte, wollte sie nicht weinen. Die Kleine begriff noch nicht richtig, dass die Mama nicht mehr da war, und ließ die Beerdigung mit seltsamer Ruhe, ja fast ein wenig gelangweilt über sich ergehen.
»Es tut mir leid, was mit deiner Mama geschehen ist«, sagte eine ältere Frau und strich dem Mädchen mitfühlend über den dunklen Lockenschopf. »Aber deine Tante wird sich sicher gut um dich kümmern.« Sie warf der jungen Frau einen auffordernden Blick zu, worauf diese pflichtschuldig nickte.
Trotz ihrer Trauer stieg Ingrimm in Aurora auf. Daran musste man sie nicht erinnern. Sie liebte ihre Nichte und würde sie niemals im Stich lassen!
»Warum denn?«, fragte Leonie die alte Dame mit unschuldigem Augenaufschlag. »Meine Mama kommt doch wieder. In dem Märchen, das sie mir immer vorliest, geht die Mama der Kinder auch in eine andere Welt und kommt dann zurück. Meine Mama hat versprochen, immer bei mir zu sein und auf mich aufzupassen. Also ist sie schon bald wieder da.«
»Aber Kind …«, flüsterte die Frau bestürzt und setzte zu einer Erklärung an.
»Wir müssen jetzt gehen«, nahm Aurora der Fremden den Wind aus den Segeln, bevor sie noch mehr Unheil anrichtete. Besser, Leonie glaubte an ihr Märchen, als dass man sie noch mehr verstörte. Später, wenn sie selbst den Schock überwunden hätte, den der plötzliche Tod ihrer bis dahin kerngesunden Schwester ausgelöst hatte, würde sie ihre Nichte behutsam über die Endgültigkeit des Todes aufklären.
Sie verließen den Friedhof und gingen zu einem nahen Lokal, in dem Aurora eine kleine Feier für die wenigen Trauergäste hatte vorbereiten lassen, die der Verstorbenen nahestanden. Verwandte gab es fast keine mehr, und ihre beiden Eltern waren schon seit vielen Jahren tot. Bis auf die direkten Nachbarn, ein schon älteres Ehepaar, hatte Erika auch keine engen Freunde gehabt. Sie hatte mit ihrer Tochter sehr zurückgezogen in dem Häuschen auf dem Land gelebt, das einst den Eltern gehörte.
Aurora hatte ihrer Schwester das gemeinsame Erbe gern überlassen, als diese hochschwanger und ohne feste Arbeit nach einer Bleibe suchte. Leonie war das Resultat einer oberflächlichen Affäre mit einem Mann, von dem Erika gerade mal den Vornamen kannte. Das hatte sie jedenfalls Aurora gegenüber behauptet, als diese sie drängte, im Interesse ihrer Tochter mit dem Vater Kontakt aufzunehmen. Natürlich hatte Aurora ihrer Schwester die Lüge nicht abgekauft. Erika war alles andere als leichtfertig gewesen und hätte sich niemals auf ein flüchtiges Abenteuer mit einem Wildfremden eingelassen. Aber offenbar hatte sie Angst gehabt, der Mann könnte Anspruch auf sein Kind erheben, und ihn deshalb verleugnet. In Leonies Geburtsurkunde stand ›Vater unbekannt‹.
Erika hatte ihre Tochter abgöttisch geliebt. Doch als Leonie älter wurde, hatte sie selbst wissen wollen, wer ihr Papa war, und nicht aufgehört, nachzubohren. Daraufhin hatte Erika vorgegeben, der Vater wäre mit dem Motorrad verunglückt, bevor Leonie geboren wurde. Sie hatte der Kleinen ein Medaillon geschenkt mit einem Bild, das sie mit einem attraktiven Mann Mitte dreißig zeigte. Aurora zweifelte, ob es wirklich Leonies Vater war, der darauf zu sehen war. Aber die Kleine war glücklich und hütete das Medaillon wie einen Schatz.
Argwöhnisch wandte Aurora nun den Kopf. Leonie war ungewöhnlich still. Die Worte der Frau auf dem Friedhof hatten wohl doch Wirkung gezeigt, der Schutzpanzer der Kleinen bekam Risse. Um ihre Lippen zuckte es verdächtig. Sanft drückte Aurora die Hand ihrer Nichte und lächelte ihr aufmunternd zu.
»Ist Mama nun ein Engel?«, fragte Leonie plötzlich.
Aurora zögerte, dann nickte sie. »Ja, aber deshalb ist sie trotzdem bei dir, in deinem Herzen und in deinen Gedanken. Sie wird dich niemals ganz verlassen.«
Die Kleine nickte ernsthaft, und erstmals seit dem Tod ihrer Mutter rannen Tränen über ihre Wangen.
*
Das Kinderheim Sophienlust nahe dem Dörfchen Wildmoos war ein schlossähnliches Anwesen mit einem weitläufigen Park drum herum, der den Kindern viel Platz zum Spielen bot. Aurora verliebte sich sofort in diese Idylle. Simone Weber, eine Bekannte, hatte ihr das Heim empfohlen. Sie hatte ihre Drillinge dort untergebracht, als sie selbst schwer erkrankt war und sich selbst nicht um sie kümmern konnte.
Aurora lächelte zufrieden. Hier war Leonie bestimmt gut aufgehoben, während sie ihrer Arbeit nachging. Sie war Chefstewardess einer großen Fluggesellschaft und viel unterwegs. In ihrem unsteten Leben war eigentlich kein Platz für ein kleines Kind. Aber sie hatte ihrer Schwester in die Hand versprochen, gut für ihre Nichte zu sorgen, und daran würde sie sich halten. Der Aufenthalt im Heim sollte auch nur vorübergehend sein. Aurora wollte künftig nicht mehr fliegen und in der Verwaltung der Fluggesellschaft arbeiten, um Leonie zu sich holen zu können. Ebenso musste sie sich nach einer eigenen Wohnung umsehen. In der Wohngemeinschaft, in der sie zurzeit mit einer Kollegin lebte, war es für eine weitere Person zu eng.
Sie seufzte. Es würde ihr nicht leichtfallen, ihren Beruf aufzugeben, sie war gern Flugbegleiterin. Aber für ihre geliebte Nichte war ihr kein Opfer zu groß.
Aurora stieg aus dem Auto, das sie vor der großen Freitreppe geparkt hatte, und stieg die Stufen zum Eingangsportal hinauf. Denise von Schoenecker, die Verwalterin des Kinderheims, erwartete sie sicher schon.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ein junges Mädchen und kam näher. »Ich bin Pünktchen, also … eigentlich heiße ich Angelina.«
Man musste Aurora nicht erst sagen, wie das Mädchen, das sie auf knapp sechzehn Jahre schätzte, zu seinem Spitznamen gekommen war. Unzählige Sommersprossen zierten ein hübsches Gesicht, das von seidigen rotblonden Locken umrahmt wurde.
»Ich möchte zu Frau von Schoenecker«, antwortete Aurora und stellte sich ihrerseits vor.
»Oh, dann sind Sie Leonies Tante«, erwiderte Pünktchen lächelnd. Als Aurora verwundert die Augenbrauen hochzog, fügte sie rasch hinzu: »Tante Isi, ich meine Frau von Schoenecker, informiert bei Neuaufnahmen alle Heimbewohner und erklärt, warum das betreffende Kind zu uns kommt. Dann können wir uns schon mal mit seinem Schicksal vertraut machen und ihm besser helfen, sich schnell einzugewöhnen. Viele Kinder tun sich in einer fremden Umgebung mit fremden Menschen anfangs schwer und versuchen, sich abzukapseln, besonders, wenn sie vielleicht schlimmes Leid erfahren haben.« Ein Schatten huschte über ihr Gesicht, der verriet, dass auch sie ihr Päckchen zu tragen hatte.
»Ja, der Tod meiner Schwester kam sehr plötzlich. Deshalb hat es die Kleine noch immer nicht richtig begriffen«, erwiderte sie traurig. »Eben noch hat sie mit ihrer Mutter im Garten herumgetollt und dann …« Sie schluckte schwer. »Meine Schwester hatte sich bei der Gartenarbeit eine Blutvergiftung zugezogen, die sie leider nicht ernst genommen hat. Erst als es zu spät war, ging sie zum Arzt.«
»Das tut mir sehr leid«, erwiderte Pünktchen ehrlich betrübt. Sie wies mit der Hand auf einen Korridor. »Gehen Sie bitte dort entlang, das Empfangszimmer befindet sich am Ende des Flurs. – Aber da kommt Frau von Schoenecker schon.«
Eine zierliche Frau mit dunkelbraunem Haar kam mit verhaltener Eile daher. Sie war dezent elegant gekleidet, und ihre Bewegungen waren so grazil, dass Aurora unwillkürlich an eine Tänzerin denken musste. Aber hatte Simone nicht gesagt, dass die gebürtige Französin früher Balletttänzerin gewesen war? So recht konnte sich Aurora nicht erinnern. Aber Simone hatte sich mit der Verwalterin des Heims ein wenig angefreundet, als sie während der schweren Zeit ihrer Krankheit ihre Kinder regelmäßig besuchte, um nicht ganz den Kontakt zu verlieren. Daher kannte sie ein wenig die Lebensgeschichte der Leiterin von Sophienlust.
»Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden«, lächelte Pünktchen. »Ich muss mich sputen. Magda, unsere Köchin, mag es nicht, wenn man zu spät zum Mittagstisch kommt, und ich will nicht riskieren, dass sie mir die Ration kürzt. Gerade heut, wo mir ohnehin schon der Magen knurrt.« Sie lächelte, nickte verabschiedend, dann eilte sie davon.
Denise von Schoenecker, die inzwischen heran war und Pünktchens Befürchtung vernommen hatte, lachte herzlich, als Aurora skeptisch die Stirn runzelte.
»Keine Sorge, unsere Magda ist eine Seele von Mensch und tut alles für die Kinder«, erkannte sie die Sorge der Besucherin, dass die Köchin vielleicht ein allzu strenges Regiment führte. »Hungern muss bei uns niemand. Aber sie hasst Unpünktlichkeit und Schlendrian, was auch verständlich ist. Sie ist von früh bis spät auf den Beinen und um das Wohlergehen ihrer Lieblinge bemüht, kennt die Abneigungen und kulinarischen Vorlieben jedes Einzelnen. Niemals würde sie einem Kind etwas aufzwingen, das es nicht mag. Doch um jeden zufriedenzustellen, braucht es nun mal einen gut organisierten Arbeitsablauf.« Sie reichte Aurora die Hand. »Ich freue mich, Sie persönlich kennenzulernen, Frau Fischer.«
»Ganz meinerseits«, erwiderte Aurora und ergriff die schmale Hand der Frau, die ihre mit warmem Händedruck umschloss. Simone hatte nicht übertrieben. Die Verwalterin von Sophienlust war sehr sympathisch, sie strahlte Herzlichkeit und Güte, aber auch Kompetenz und Entschlossenheit aus. Es war bestimmt keine leichte Aufgabe, ein Heim zu verwalten und dabei den Kindern die Geborgenheit einer großen Familie zu vermitteln.
»Bitte folgen Sie mir«, bat Denise und ging zu ihrem Büro voraus. »Mein Sohn Dominik lässt sich übrigens entschuldigen. Normalerweise ist er bei solchen Gesprächen immer dabei. Er studiert allerdings gleichzeitig zu seinen Pflichten hier in Sophienlust und muss sich auf eine Klausur vorbereiten.«
Aurora nickte verstehend. »Pünktchen, oder besser Angelina, ist ein außergewöhnliches und freundliches Mädchen«, begann sie das Gespräch. »Das findet man in dem Alter selten. Ich selbst habe da keine Ausnahme gemacht …« Sie verdrehte bei der Erinnerung die Augen. »Meine Eltern hatten es nicht immer leicht mit mir. Besonders, wenn ich auf meine sieben Jahre jüngere Schwester aufpassen musste, mich aber lieber mit Freunden treffen wollte, habe ich oft rebelliert.«
Denise wandte den Kopf und lächelte nachsichtig. »Auch hier bei uns gibt es mitunter Auseinandersetzungen. Alles andere wäre unnatürlich, hier leben Kinder und keine Engel. Pünktchen ist allerdings die rühmliche Ausnahme. Sie ist unglaublich rücksichtsvoll und geduldig. Ich kann mich kaum erinnern, sie in den vielen Jahren, die sie nun schon bei uns ist, jemals zornig oder unwirsch erlebt zu haben, jedenfalls nicht den Kindern gegenüber.« Flüchtig dachte Denise an jene Szene im vergangenen Herbst, als die Neckereien eines Mitschülers bezüglich ihrer Sommersprossen Pünktchen zu einer sinnlosen Verzweiflungstat getrieben hatten, die glücklicherweise glimpflich ausgegangen war. »Ja, Angelina, so heißt sie eigentlich, will Erzieherin werden«, fuhr Denise fort, »ein Beruf, der ihr auf den Leib geschneidert ist. Niemand kann so gut mit traurigen oder störrischen Kindern umgehen wie sie. Sie wird auch von allen heiß und innig geliebt.« Denise öffnete die Tür zum Empfangszimmer und ließ Aurora den Vortritt.
Der Besucherin brannte die Frage auf der Zunge, warum Pünktchen in Sophienlust lebte. Aber der Anblick, der sich ihr nun bot, ließ sie verstummen. Sie hatte einen nüchternen Raum erwartet, doch das hier ähnelte einem Salon im Biedermeierstil. Antike Möbel, die wunderbar zum Charakter des Gebäudes passten, sowie hübsche Pflanzenarrangements verliehen dem Raum eine behagliche Atmosphäre. Dazu schmückten zahlreiche Gemälde die Wände. Alte Meister hingen geschmackvoll neben Zeichnungen der Kinder, die in Sophienlust lebten oder dort eine Zeit lang gelebt hatten. Alles strahlte Harmonie, Fröhlichkeit und Geborgenheit aus. Nicht umsonst nannte man Sophienlust wohl auch das Haus der glücklichen Kinder.
Denise von Schoenecker wies auf einen gemütlich wirkenden Stuhl, der an einem geschmackvollen Tischchen stand.
»Nehmen Sie bitte Platz«, bat sie und erkundigte sich zugleich: »Möchten Sie etwas trinken, Kaffee oder Tee?«
»Vielen Dank, aber ein Glas Wasser genügt«, erwiderte Aurora mit Blick auf die Wasserkaraffe auf dem Tisch, die mittels eines Eisbehälters kühl gehalten wurde. Sie ließ sich nieder und betrachtete verstohlen ihre Gastgeberin, während diese das Getränk einschenkte.
Aurora fühlte sich der sympathischen Frau, die eine so wohltuende Gelassenheit ausstrahlte, immer mehr zugeneigt. So stellte sie sich eine verantwortungsvolle Heimleitung vor, die die Verwaltung voll im Griff hatte, für die aber das Wohl der Kinder an erster Stelle stand. Hier würde sich Leonie bestimmt wohl fühlen, wenn sie erst mal ihre Bockigkeit abgelegt hatte. Sie seufzte bekümmert, sodass Denise irritiert aufsah.
Sie reichte Aurora das Glas Wasser zu und setzte sich ihr gegenüber. »Gibt es ein Problem? Haben Sie den Eindruck, dass unser Haus nicht ganz Ihrer Vorstellung entspricht?«
Aurora trank einen Schluck Wasser. Dann stellte sie das Glas ab und legte die Hände in den Schoß. »Das Heim ist wundervoll«, schwärmte sie. »Was ich bisher gesehen habe, hat mich begeistert. Die Kinder machen einen glücklichen, aber auch wohlerzogenen Eindruck. Dazu wirkt das Gebäude hell und freundlich, nicht so düster, wie es oftmals bei alten Gemäuern der Fall ist.«
Denise lächelte. »Wir haben uns mit dem Umbau des alten Gutshauses auch große Mühe gegeben.« Sie beugte sich vor und sah ihrem Gast forschend in die Augen. »Wo drückt nun der Schuh?«
»Leonie selbst ist das Problem. Sie sträubt sich vehement gegen die Heimunterbringung, weint und tobt«, gestand Aurora bedrückt. Sie rang die Hände. »Ich habe versucht, meiner Nichte zu erklären, dass es mir im Moment nicht möglich ist, sie bei mir zu behalten, und dass sie sich ein wenig gedulden muss, bis ich mein Leben neu eingerichtet habe. Aber sie hat Angst, auch ich würde sie verlassen, und außerdem fürchtet sie sich vor den fremden Kindern im Heim.« Sie seufzte und nippte abermals an ihrem Getränk, bevor sie fortfuhr: »Auch den Kindern meiner Freundin gelang es nicht, Leonie diese Angst zu nehmen, obwohl sie ihr von der schönen Zeit in Sophienlust vorschwärmten.« Sie lächelte. »Übrigens soll ich Ihnen Grüße von Simone Weber ausrichten.«
Denise dankte mit einem Lächeln, blieb aber beim Thema. »Sie sagten am Telefon, dass Leonie keine Spielkameraden gewohnt ist?«
Aurora nickte bekümmert. »Die Kleine lebte mit ihrer Mutter sehr abgeschieden auf dem Land, und der nächste Kindergarten war kilometerweit entfernt. Meine Schwester besaß aber kein Auto, und der Bus fuhr sehr unregelmäßig.«
»Das haben wir öfter«, beruhigte Denise die besorgte Frau. »Natürlich gibt es anfangs Probleme mit kontaktscheuen Kindern. Aber mit der Zeit tauen fast alle auf und fühlen sich in der Gemeinschaft wohl. Dafür sorgt schon der Zusammenhalt unter unseren Schützlingen, die Großen sind für die Kleinen da. Ich werde Sie später herumführen, dann können Sie sich selbst vom harmonischen Miteinander in Sophienlust überzeugen.« Sie griff nach der Wasserkaraffe und schenkte sich selbst ein Glas voll, während sie beschwichtigte:
»Natürlich geht es auch bei uns nicht nur friedlich zu, und es gibt auch manchmal Streit. Aber Meinungsverschiedenheiten sind nötig, um das Kind in seiner Persönlichkeit zu festigen.« Sie runzelte die Stirn und wandte den Kopf: »Malt oder zeichnet Leonie gern?«
Für einen Moment war Aurora verwirrt, doch dann begriff sie. Malen konnte auch Therapie für ein Kind sein. Sie lächelte weich. »Sie ist eine kleine Künstlerin.«
»Dann haben wir einen Ansatzpunkt, um Leonie den Aufenthalt bei uns schmackhaft zu machen«, meinte Denise zufrieden und lehnte sich zurück, während sie weiter erklärte: »In Sophienlust gibt es ein Malzimmer, wohin sich die Kinder zurückziehen können, wenn sie ein Bedürfnis nach Ruhe und Abgeschiedenheit haben. Eine Betreuerin, manchmal auch eines der älteren Mädchen, achtet darauf, dass niemand herumtobt oder die anderen ärgert.«
Interessiert nahm Aurora ein paar Bilder näher in Augenschein. »Wie kommt es, dass diese Gemälde so heiter und farbenfroh sind, da doch gewiss manche Kinder eine schwere Vergangenheit haben?«
»Darauf sind wir sehr stolz«, erwiderte Denise lächelnd. »Anfangs sind die Bilder tatsächlich oft düster und verraten uns, wie verwundet die Seele des betreffenden Kindes ist, besonders, wenn es aus einer zerrütteten Familie kommt oder gerade die Eltern verloren hat. Aber je länger das Kind in Sophienlust weilt, desto fröhlicher, bunter und hoffnungsvoller werden die Bilder. Das zeigt uns, dass die Wunden langsam heilen und unser Schützling sich bei uns wohl und geborgen fühlt. Oft sehen wir diese positive Veränderung auch bei Kindern, die nur zeitweise bei uns wohnen. Wenn wir sie dann wieder in ihr gewohntes Umfeld entlassen, sind sie meist zufriedener und in ihrer Persönlichkeit gestärkt, sodass sie mit ihren Problemen besser zurechtkommen.«
Sie lehnte sich zurück und verschränkte die feingliedrigen Finger ineinander, während sie fortfuhr: »Auch Simones Kinder hatten anfangs Kontaktschwierigkeiten. Die Drillinge hatten die Scheidung ihrer Eltern nicht verkraftet, besonders die Hartherzigkeit ihres Vaters, der jeglichen Kontakt zu ihnen einstellte, hatte sie verstört. Daraufhin bildeten die drei eine verschworene Gemeinschaft, was sie schnell zu Außenseitern machte. Aber glücklicherweise gelang es unseren Kindern hier, mit Beharrlichkeit und viel Verständnis, die Mauer, die die drei um sich aufgebaut hatten, zu überwinden.«
Sie machte eine Pause und lächelte in sich hinein, ehe sie weitersprach: »Simone besuchte in ihren Behandlungspausen ihre Kinder regelmäßig und konnte kaum glauben, wie sehr sich ihre vorher so aufmüpfigen Drillinge immer mehr zu ihrem Vorteil veränderten. Als sie die drei nach gut einem Jahr wieder zu sich holen konnte, waren sie zwar immer noch eine wilde Bande, aber sie hatten gelernt, ihr Temperament zu zügeln und Rücksicht auf andere zu nehmen.«
Aurora nickte beifällig. Das hatte ihr die Freundin alles selbst erzählt.
»Simone hat inzwischen einen neuen Partner, einen sympathischen Mann, der ihren Kindern mehr treusorgender Vater ist, als es der eigene je war«, berichtete sie eifrig, um der gutherzigen Frau auch die letzte Sorge zu nehmen.
Ein Strahlen erhellte die Miene der Verwalterin. »Ich bin froh, dass Simone ein neues Glück gefunden hat«, entgegnete sie erfreut, machte aber ein schuldbewusstes Gesicht. »Ich hatte mir vorgenommen, sie einmal wieder anzurufen. Aber manchmal nimmt einen der Alltag so sehr in Anspruch, dass man selbst liebgewonnene Bekanntschaften vernachlässigt. Ich wünsche ihr aus tiefstem Herzen, dass sie mit ihrem Partner ebenso glücklich wird wie ich mit meinem zweiten Mann Alexander.«