Traurige kleine Eisprinzessin - Birgitta von Meierhofen - E-Book

Traurige kleine Eisprinzessin E-Book

Birgitta von Meierhofen

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Gabriela wälzte sich unruhig im Bett. Ein Albtraum quälte sie. Sie hörte das Kreischen von Bremsen, vernahm das Knirschen verbeulten Blechs und spürte einen jähen Schmerz, als ihr Kopf gegen etwas Hartes schlug. Langsam drängte sich die Wirklichkeit in ihr Bewusstsein. Es war kein böser Traum, es gab einen Unfall! Ein fremder Autofahrer hatte dem Vater die Vorfahrt genommen und war in die Seite ihres Familienwagens gekracht. Gabrielas Herz pochte angstvoll. Sie war gerade erst zu sich gekommen, wusste nicht, was mit den Eltern und dem kleinen Bruder geschehen war, der neben ihr auf der Rückbank gesessen hatte. Sie lag in einem Krankenbett, das konnte sie spüren. Aber sie konnte sich nicht bewegen und auch die Augen nicht öffnen. Panik ergriff sie. Da hörte sie die Stimme ihrer Mutter. Sie klang seltsam belegt. »Wird sie wieder gesund werden?« Von wem sprach die Mutter? Von ihr? War sie schwer verletzt, musste man um ihr Leben bangen? »Keine Sorge«, antwortete jemand beruhigend. War es ein Arzt?

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Sophienlust - Die nächste Generation – 102 –

Traurige kleine Eisprinzessin

Unveröffentlichter Roman

Birgitta von Meierhofen

Gabriela wälzte sich unruhig im Bett. Ein Albtraum quälte sie. Sie hörte das Kreischen von Bremsen, vernahm das Knirschen verbeulten Blechs und spürte einen jähen Schmerz, als ihr Kopf gegen etwas Hartes schlug. Langsam drängte sich die Wirklichkeit in ihr Bewusstsein.

Es war kein böser Traum, es gab einen Unfall! Ein fremder Autofahrer hatte dem Vater die Vorfahrt genommen und war in die Seite ihres Familienwagens gekracht. Gabrielas Herz pochte angstvoll. Sie war gerade erst zu sich gekommen, wusste nicht, was mit den Eltern und dem kleinen Bruder geschehen war, der neben ihr auf der Rückbank gesessen hatte. Sie lag in einem Krankenbett, das konnte sie spüren. Aber sie konnte sich nicht bewegen und auch die Augen nicht öffnen. Panik ergriff sie. Da hörte sie die Stimme ihrer Mutter. Sie klang seltsam belegt.

»Wird sie wieder gesund werden?« Von wem sprach die Mutter? Von ihr? War sie schwer verletzt, musste man um ihr Leben bangen?

»Keine Sorge«, antwortete jemand beruhigend. War es ein Arzt? »Die Frakturen der Beine werden heilen. Ihre Tochter wird wieder vollständig genesen.«

»Gott sei Dank«, stöhnte nun der Vater auf. »Wir hätten es nicht ertragen, wenn auch Gabriela …« Er brach ab und schluchzte.

»Es tut mir sehr leid um Ihren Sohn«, sagte der Arzt hörbar erschüttert. »Aber wir konnten nichts mehr für ihn tun.«

Gabriela hielt den Atem an. Sie sprachen von Tim. Tim war nicht mehr bei ihnen. Ihr Herzschlag setzte einen Moment aus. Wie konnte das sein, er war doch erst fünf Jahre alt!

»Er hatte den Sicherheitsgurt seines Kindersitzes gelöst und ...« Die Stimme des Vaters versagte, und die Mutter unterdrückte ein Schluchzen.

Meine Schuld!, schrie es in Gabriela. Es ist meine Schuld, dass Tim sterben musste! Aber niemand hörte sie. Ja, sie war schuld. Sie hatte nicht auf den kleinen Bruder aufgepasst. Dabei wusste sie, dass er sich mitunter von seinem Kindersitz abschnallte, wenn ihn dieser daran hinderte, etwas Interessantes nachzuverfolgen. Diesmal war es die Schafherde gewesen, die kurz vor dem Unfall seine Aufmerksamkeit erregte. Sie hatte es zu spät bemerkt, hatte in ihrem Comicheft geschmökert. Das würde sie sich niemals verzeihen. Ihr kleiner Bruder war wegen ihres Versagens gestorben. Sie hatte es nicht verdient, gesund zu werden. Eine dicke Träne quoll unter ihren geschlossenen Wimpern hervor und rollte langsam über ihre Wange.

»Sie weint«, rief die Mutter erschrocken. »Sie kommt zu sich.«

»Ein gutes Zeichen«, seufzte der Arzt erleichtert auf. Dann runzelte er argwöhnisch die Stirn. Hoffentlich hatte die Kleine das Gespräch nicht belauscht. Auf diese Weise hatte sie nicht erfahren sollen, dass der Bruder den Unfall nicht überlebt hatte. Das konnte ein Trauma auslösen. Er trat ans Bett und drückte den Arm der jungen Patientin. »Gabriela hörst du mich?«

Doch die Zehnjährige reagierte nicht, nur die Tränen liefen über ihre Wangen. Sie dürfen nicht wissen, dass ich wach bin, dachte sie panisch. Sie wollte nicht die Vorwürfe in den Augen der Eltern sehen, weil sie nicht genug auf den Bruder geachtet hatte. Sie könnte es nicht ertragen, wenn Mama und Papa sie nun weniger liebten, da sie durch ihre Schuld den Sohn verloren hatten.

Edith Winkler strich sanft über die nassen Wangen ihrer Tochter. »Kleines, quäle dich nicht«, sagte sie mit brüchiger Stimme, die ihr kaum gehorchen wollte. »Wir haben dich lieb. Komm zu uns zurück.«

»Ich bin zuversichtlich, dass sie bald erwacht«, lächelte der Arzt. »Aber wir sollten ihr jetzt Ruhe gönnen.« Er wies zur Tür, worauf die Eltern sich zögernd zurückzogen. Er warf nochmals einen prüfenden Blick auf seine kleine Patientin, dann ging auch er davon.

*

»Gabi beeile dich, wir müssen los.« Edith stopfte die Unterlagen in ihre Handtasche und nahm den Autoschlüssel vom Schlüsselbrett im Flur. Sie runzelte ärgerlich die Stirn. Von ihrer Tochter war noch immer keine Spur. Raschen Schrittes lief sie zu Gabrielas Zimmer, das sich im Erdgeschoss ihres Hauses befand, und klopfte energisch an die Tür. »Kleines, die Zeit drängt, Dr. Wallrab wartet nicht.«

Wieder keine Antwort. Unwirsch drückte Edith die Türklinke herunter und stockte im Schritt. Ihre Tochter lag lang ausgestreckt auf dem Bett und hielt die Augen geschlossen. Der Rollstuhl stand mitten im Zimmer, offenbar in einem Wutanfall dorthin befördert.

»Gabriela, was soll das!«, schimpfte Edith. »Ohne die Therapie kommst du doch nie auf die Beine.«

»Mit der Therapie auch nicht«, trotzte das Mädchen und richtete sich auf. »Der Psychologe kann mir auch nicht helfen, er redet nur. Aber ich kann nie wieder laufen, nie wieder auf meinen Schlittschuhen Pirouetten drehen.«

Sie schniefte unglücklich. Vor dem Unfall hatte sie so manchen Wettbewerb im Eiskunstlauf gewonnen. Ihr Trainer war gar überzeugt, wenn sie so weitermachte, würde sie eines Tages an der Olympiade teilnehmen können. Doch nun war der Traum geplatzt. Die Knochenbrüche ihrer Beine waren zwar verheilt, aber sie konnte noch immer nicht laufen und war auf den Rollstuhl angewiesen. Die Ärzte standen vor einem Rätsel und hofften, dass der Psychotherapeut die Ursache der Blockade herausfinden würde. Doch bisher hatte auch er keinen Erfolg. Sie konnte ihre Beine nicht spüren, sosehr sie sich bemühte.

Edith seufzte. Ihre vormals so kecke und fröhliche Kleine hatte sich seit dem Unfall verändert. Jetzt war sie nur noch bockig, wollte niemand um sich, nicht einmal ihre beste Freundin, und starrte trübsinnig vor sich hin. Sie setzte sich zu ihrer Tochter an den Bettrand und strich ihr sanft eine Strähne ihres seidigen blonden Haares aus der Stirn.

»Liebes, du darfst die Flinte nicht so schnell ins Korn werfen«, mahnte sie. »Der Unfall ist doch erst ein paar Monate her und die Knochenbrüche gerade verheilt. Du musst Geduld haben.« Sie stand auf und holte den Rollstuhl bei. »Jetzt komm, wir können die Therapiestunde nicht absagen.«

»Melde mich krank, Mama«, bat Gabriela und rang die Hände. »Bitte ich will heute nicht zu dem Psychotherapeuten, fühle mich wirklich nicht wohl.« Demonstrativ rollte sie sich auf die Seite und drehte der Mutter den Rücken zu.

Abermals seufzte Edith. »Gut, dann nutze ich die Zeit für ein Gespräch mit Dr. Wallrab«, gab sie nach. »Versuche ein wenig zu schlafen, ich bin bald zurück.« Sie beugte sich über ihre Tochter und hauchte ihr ein Kuss auf die Wange. Dann verließ sie das Zimmer und zog behutsam die Tür ins Schloss.

In der Diele warf sie einen schnellen Blick in den Spiegel und überprüfte ihre Frisur. Der flotte Kurzhaarschnitt, der ihr zartes Gesicht vorteilhaft betonte, saß wie immer perfekt. Dafür waren die Kummerfalten, die Tims Tod um ihre Mundwinkel eingegraben hatte, umso deutlicher zu sehen. Seufzend holte sie den Lippenstift aus der Handtasche und fuhr die Lippen nach, in der Hoffnung, die Spuren ihrer Trauer zu kaschieren. Als dies nichts nutzte, steckte sie den Stift verdrossen weg und ging raschen Schrittes davon.

*

Eine halbe Stunde später betrat Edith die Praxis von Dr. Wallrab in der Ortsmitte von Maibach. Der Psychologe, der zudem eine therapeutische Ausbildung hatte, hatte einen ausgezeichneten Ruf, weshalb sie keine Kosten scheuten, um der Tochter zu helfen.

»Heute ohne Gabriela?«, empfing Dr. Wallrab sie mit hochgezogenen Augenbrauen und wies zu dem Stuhl vor seinem Schreibtisch. Er war ein etwas beleibter, kleiner Mann mit Nickelbrille, hinter der freundliche, kluge Augen funkelten.

Edith fand den Psychologen sympathisch, doch heute befiel sie Unbehagen. Sie ahnte, dass er in Ermangelung der Tochter sie mit Fragen löchern würde, und davor hatte sie Angst. Sie konnte noch immer nicht über das Geschehen sprechen, ohne dass ihr Herz in Aufruhr geriet.

»Gabriela …, sie fühlt sich nicht wohl«, stotterte sie und kaute nervös auf ihrer Unterlippe, während sie umständlich Platz nahm. »Ich dachte, sie könnten mich vielleicht über die Fortschritte aufklären und …«

»Es gibt keine Fortschritte, solang Gabriela nicht mitspielt«, fiel der Arzt der besorgten Mutter seufzend ins Wort. »Das Mädchen sperrt sich gegen die Behandlung. Manchmal habe ich das Gefühl, sie will sich für irgendetwas bestrafen.« Als Edith entsetzt aufblickte, hob er die Hand. »Verstehen Sie mich nicht falsch, Frau Winkler. Ich will damit nicht sagen, dass Gabriela ihre Behinderung nur vortäuscht. Sie kann tatsächlich nicht laufen, spürt ihre Beine nicht. Ihr Unterbewusstsein blockiert sie und solang wir nicht herausfinden, was die Ursache dieser Blockade ist, können wir ihr auch nicht helfen.«

Er runzelte die Stirn und betrachtete sein Gegenüber eindringlich über den Rand seiner Brille. »Könnte es sein, dass der Unfall das Trauma verursacht hat, gibt es da etwas, was Gabriela bedrückt?«

»Sie leidet furchtbar unter dem Verlust des kleinen Bruders«, antwortete Edith spröde. Sie stöhnte verzweifelt. »Wir alle haben Tims Tod noch nicht verkraftet.«

»Sprechen oder sprachen Sie mit ihrer Tochter je über das Geschehen?«, forschte Dr. Wallrab weiter nach. Er nahm seine Brille ab und putzte sie umständlich, um der Mutter Zeit für die Antwort zu lassen.

Edith zögerte, dann gab sie zu: »Wir haben Gabriela gesagt, was mit Tim passiert ist. Aber die Umstände des Unfalls sprechen mein Mann und ich nicht an, das geht über unsere Kraft.«

Dr. Wallrab nickte bedächtig. »Trotzdem muss ich Sie jetzt fragen ... Warum blieben Sie und Ihr Mann nahezu unverletzt und auch Gabriela ist im Verhältnis noch glimpflich davongekommen, wenn man von ihrem momentanen Handicap absieht. Nur Tim ist seinen Verletzungen erlegen. - Was ist da passiert?«

Edith atmete tief durch und setzte zu einer Antwort an, schüttelte dann aber den Kopf. »Ich kann nicht, es wühlt mich zu sehr auf. Solang ich nicht darüber rede, kann ich mit dem Geschehen umgehen. Aber sobald ich daran rühre, überwältigt mich der Schmerz. Bitte …« Sie legte flehend die Hände aneinander. »Verlangen Sie das nicht von mir, Dr. Wallrab.«

Der Psychotherapeut ließ sich nicht beirren und bohrte seinen Blick in das Gesicht der unglücklichen Frau. »Wenn Sie Ihrer Tochter helfen wollen, müssen Sie über ihren Schatten springen, Frau Winkler«, sagte er ernst. »Gabriela sperrt sich gegen meine Fragen, ich dringe nicht zu ihr durch. Aber ich ahne, dass bei dem Unfall etwas geschehen ist, das zu dieser inneren Blockade geführt hat. Gibt sie sich vielleicht die Schuld am Tod des Bruders?«

Erschrocken blickte Edith auf. »Sie ist nicht schuld«, wehrte sie vehement ab. »Sie hätte es niemals verhindern können. Tim hatte den Sicherheitsgurt seines Kindersitzes gelöst. Und genau in diesem Moment krachte der Unfallverursacher in unseren Wagen.«

Abermals nickte der Psychologe bedächtig. Er legte den Zeigefinger ans Kinn und sinnierte: »Gabriela saß neben Tim auf dem Rücksitz. Womit war sie beschäftigt?«

»Sie las in einem Comic«, erwiderte Edith nachdenklich. »Wir hatten Sie gebeten, ein Auge auf Tim zu haben. Aber, wie gesagt, es ging alles viel zu schnell. Sie hätte ihren Bruder niemals rechtzeitig wieder anschnallen können, selbst wenn sie seinen Fehler bemerkt hätte.«

»Haben Sie ihr das gesagt?« Dr. Wallrab rückte seine Brille zurecht.

»Wir haben nie ein Wort darüber verloren«, erwiderte Edith zögernd. Als ihr der Sinn der Frage bewusst wurde, spreizte sie bestürzt die Hände. »Aber Gabriela weiß doch, dass wir ihr keine Schuld an Tims Schicksal geben. Es war eine Verkettung unglücklicher Umstände. Außer diesem leichtsinnigen Autofahrer, der meinem Mann die Vorfahrt nahm, ist niemandem ein Vorwurf zu machen, schon gar nicht unserem Mädchen.«

»Sie sollten dringend mit Ihrer Tochter über den Unfall reden und ihr die Schuldgefühle nehmen, die sie offenbar erdrücken«, mahnte Dr. Wallrab ernst. »Nur dann hat die Therapie vielleicht Erfolg. Aber ich kann nichts garantieren. Erst, wenn Gabriela sich selbst verzeiht, können wir hoffen, dass sich die Blockade in ihrem Unterbewusstsein löst. Sie kann es nicht mehr steuern.« Er zuckte bedauernd die Schulter. Dann erhob er sich und machte deutlich, dass er die Sitzung für beendet hielt.

Edith folgte dem Mann zur Tür. Sie lächelte zaghaft. »Irgendwie hat es mir geholfen, das Geschehen anzusprechen. Ich fange an, zu akzeptieren, dass Tim nicht mehr bei uns ist. Vielleicht finde ich nun endlich die Kraft, sein Grab zu besuchen. Seit der Beerdigung war ich nicht mehr auf dem Friedhof gewesen. Ich brachte es nicht über mich, meinen süßen, kleinen Jungen …« Sie brach ab und wischte verstohlen über ihre feuchten Augen.

»Lassen sie ihre Trauer zu, umso eher wird sie sich in Wehmut wandeln«, versuchte Dr. Wallrab zu trösten. »Und vielleicht, wenn die Zeit reif ist …« Er wiegte den Kopf. »Ich weiß, man kann Tim nicht ersetzen. Aber ein weiteres Kind könnte vielleicht die Lücke füllen, die er hinterlassen hat.«

Edith blieb stehen und blickte zu dem Arzt auf. Ein wehes Lächeln huschte um ihre Lippen. »Ich kann keine Kinder mehr bekommen, Dr. Wallrab. Bei Tims Geburt gab es Komplikationen.«

»Oh.« Der Psychologe riss bestürzt die Augen auf. »Wie unsensibel von mir. Ich wollte Ihren Schmerz nicht noch schüren.« Er stockte und rieb sein Kinn. »Aber, da kommt mir ein Gedanke. Ich fürchte, auch das ist ein Grund, warum Gabriela sich bestrafen will. Sie weiß, wie groß die Wunde ist, die Tims Tod Ihnen und Ihrem Mann geschlagen hat. Sie müssen unbedingt mit ihr sprechen und ihr klarmachen, dass Sie ihr weder die Schuld zuweisen noch, dass der Verlust des Sohnes Ihre Liebe zu ihr überschattet.«

*

Der Unfall war sechs Monate her und inzwischen zog der Herbst ins Land. Langsam kehrte wieder etwas Normalität im Haus der Familie Winter ein.

»Natürlich würde ich dich gern begleiten«, seufzte Edith und stellte ihre Kaffeetasse auf dem Tisch im Wohnzimmer ab. Sie lehnte sich auf der gemütlichen Couch zurück und schlug die Beine übereinander. »Aber was machen wir mit Gabriela?« Beklommen blickte zu ihrem Mann, der nervös durchs Zimmer tigerte.

Der vierzigjährige Wissenschaftler saß in der Zwickmühle. Er hatte ein berufliches Angebot erhalten, das ihn die Karriereleiter ein Stück nach oben befördern würde. Dazu brauchte er aber sie als seine technische Assistentin. Beide arbeiteten sie an einem Geowissenschaftlichen Institut zur Erforschung von Erdbeben in Stuttgart. Christian war Seismologe und sie hatte sich als Ingenieurin auf die diffizilen Messgeräte spezialisiert, mit denen man eventuelle Erdbeben vorhersagen konnte. Dadurch war eine frühzeitige Evakuierung der gefährdeten Gebiete möglich.

Jetzt sollte ein neues Gerät, an dessen Entwicklung sie maßgeblich mitgewirkt hatte, in der Praxis getestet werden, wozu sich die San-Andreas-Verwerfungen in Kalifornien anboten. Besonders nahe Los Angeles kam es in letzter Zeit immer wieder zu leichten Erschütterungen. Deshalb wollte das Institut Christian nun für mehrere Wochen in die USA schicken, nur leider sehr kurzfristig. Die amerikanischen Kollegen erwarteten ihn schon Mitte November in Los Angeles, wenn möglich in ihrer Begleitung.

Edith stöhnte frustriert. Normalerweise könnte Christian den Auftrag allein stemmen. Aber bei diesem speziellen Programm, war ihre Mithilfe unentbehrlich. Das neu entwickelte Gerät wies noch Schwächen auf, die nur sie beheben konnte und das auch nur während der Testläufe vor Ort. Doch die Sorge, Gabriela würde mit ihren psychischen Problemen eine längere Abwesenheit der Eltern nicht verkraften, ließ sie zögern. Mitnehmen konnten sie die Tochter nicht, sie spürte ihre Beine noch immer nicht, saß nach wie vor im Rollstuhl. Die Reise würde sie zu sehr belasten, zudem würden sie kaum Zeit für ihr Mädchen haben.

Christian verharrte im Schritt. Er rieb sein Kinn und sinnierte: »Vielleicht können sich meine Eltern um die Kleine kümmern. Sie müssten zwar vorübergehend in unserem Haus wohnen, der Schulweg ist für Gabriela von ihrem Wohnort aus zu weit. Aber ich denke, für ihre Enkelin würden sie die Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen. Es handelt sich doch nur um wenige Wochen.«

Edith schüttelte entschieden den Kopf. »Das können wir Oma und Opa Hansen nicht zumuten. Sie sind gesundheitlich angeschlagen und brauchen ihr gewohntes Umfeld. Außerdem würden sie mit unserer aufmüpfigen Tochter nicht mehr fertig werden. Und sollten wir bei den Messungen nicht den gewünschten Erfolg erzielen, kann sich das Projekt auch über mehrere Monate hinziehen. Dann wären deine Eltern hoffnungslos überfordert.«

Christian warf die Arme in die Luft. »Warum muss deine Mutter ausgerechnet dann mit ihrem Freund auf Weltreise gehen, wenn wir sie mal brauchen«, brauste er auf und fuhr mit beiden Händen genervt durch sein mittelblondes Haar, das an den Schläfen schon leicht schütter wurde und seine Erscheinung als asketischer Wissenschaftler unterstrich, wenn er auch sonst ein attraktiver Mann war, groß gewachsen, mit sehniger Figur und markanten Gesichtszügen.

Edith zog scharf die Luft auf. »Mama hat sich die Auszeit verdient«, ergriff sie Partei. »Mama pflegte jahrelang ihren kranken Mann und kam kaum aus dem Haus. Da ist es verständlich, dass sie als Witwe ihr Leben genießen will. Außerdem hat sie die Kreuzfahrt schon lang gebucht und kann jetzt nicht ohne großen Verlust davon zurücktreten.«

Christian spreizte entschuldigend die Hände. »Tut mir leid, ich hab’s nicht so gemeint. Ich bin verärgert, dass man uns nicht früher Bescheid gesagt hat. Dann hätten wir ganz anders agieren und Oma Luise hätte ihre Reise ohne Einbuße verschieben können.«

Er ließ sich neben seine hübsche, zwei Jahre jüngere Frau aufs Sofa fallen und stöhnte: »Ich kann den Auftrag nicht absagen, erhalte eine solche Chance nie wieder. Und auf deine Hilfe kann ich auch nicht verzichten.«

Da kam ihm eine Idee. Er ruckte herum. »Warum engagieren wir keine Betreuerin für Gabriela? Eine nette Frau, die sich während unserer Abwesenheit ums Haus kümmert und dabei unsere Tochter versorgt. Dafür gibt es doch bestimmt entsprechende Agenturen?«

»Wir können Gabriela doch keiner wildfremden Person anvertrauen, nicht in ihrem Zustand«, widersprach Edith empört, dass ihr Mann eine solche Möglichkeit überhaupt in Erwägung zog. »Das würde ihre Psyche noch mehr belasten.« Sie stockte und runzelte die Stirn. »Aber da fällt mir ein …« Sie wandte sich ihrem Mann zu und fasste nach: »Du kennst doch Monika Fischer aus dem Labor?«