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OSLO 1968. Es herrscht Aufbruchsstimmung, von überall her ist der Klang von Freiheit zu hören. Es gibt politische Diskussionen, Proteste gegen den Vietnamkrieg, sexuelle Freiheiten werden ausgetestet, Büstenhalter brennen. Agathe meldet sich kurz vor dem Abitur von ihrem konservativen Gymnasium ab, um im neu gegründeten Versuchsgymnasium die freie Atmosphäre von Summerhill atmen zu können. Alles könnte gut sein, wenn sie in der eigenen Familie nicht immer vor neue Rätsel gestellt würde: Die Mutter will Agathe und ihren Bruder nicht mehr sehen, der Vater ist gar nicht der richtige Vater, und der kleine Bruder macht sich auf eine ganz eigene Reise. Toril Brekke gelingt es, uns mitten ins Geschehen dieser aufgewühlten Zeit zu ziehen.
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Seitenzahl: 361
TORIL BREKKE
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
Die Orginalausgabe erschien 2020 unter dem Titel „Klangen av frihet“
© H. Aschehoug & Co. (W. Nygaard), Oslo – Norwegen
Übersetzung aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
Diese Übersetzung wurde ermöglicht
durch die finanzielle Unterstützung von NORLA
Für die deutsche Ausgabe © STROUX edition – München, 2022
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Matthias Mielitz unter Verwendung eines Privatfotos
ISBN 978-3948065-22-5eSIBN 978-3948065-26-3
www.stroux-edition.de
Printed in Germany
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Über den Autor
Es war der Sommer vor dem letzten Jahr auf dem Gymnasium. Ich war jung, ich hatte Freunde, ich hatte die Musik. Zugleich war ich erfüllt von einer Unsicherheit, wer ich war, denn noch ahnte ich nicht einmal, wer mein Vater sein könnte. Ich weiß, dass Isak sich dafür hielt, Isak, der Klavierstimmer, den Mama geheiratet hatte, als ich fünf war, aber ich war sicher, dass er sich irrte. Ich glaubte auch nicht, dass er der Vater von Morten war, meinem kleinen Bruder, der in dieser Ehe geboren worden war.
Auf diese Weise unterschied Mama sich von den anderen Müttern in der Gegend, in der wir aufwuchsen, Lilleberg in Hovin, sie war eine, die zufällig Kinder bekam. Sie war eine strahlendschöne Pianistin, immer gut angezogen und ein farbenfroher Anblick, wenn sie von zu Hause wegging, aber das half nichts. Sie war anders. Sogar vor mir, ihrem Kind, versteckte sie sich.
In diesem Sommer war es vier Jahre her, dass sie uns verlassen hatte. Damals war sie mit einem Bassisten namens Lennart nach Kopenhagen gegangen. Eine freie und phantastische Frau, wie meine französische Kusine Madeleine immer sagte, eine echte Feministin, hatte sie gelobt, voller Bewunderung.
Im Nachhinein weiß ich, dass mich die Ungewissheit über meinen Vater mehr beschäftigte, als mir bewusst war. Sie war wie ein Sog, der eine Antwort verlangte. Mama hätte mir diese Antwort geben können. Stattdessen hatte sie sich abgewandt und das Thema gewechselt, die wenigen Male, wenn ich mich zu fragen traute. Dennoch liebte ich sie, obwohl sie mich so oft im Stich gelassen hatte. Von dem Tag ihres Verschwindens an hatte ich Angst um sie, meine kleine Mama in einem fremden Land, mit neuen Menschen; so wehrlos, konnte ich über die Frau denken, die andere als Diva erlebten, und das war sie auch, eine Frau, die zu gern verwöhnt wurde, die zu gern schöne Geschenke und Komplimente entgegennahm.
Das Jahr, das auf diesen Sommer 1967 folgte, sollte mir die Antworten geben, von denen ich geglaubt hatte, ich müsste sie finden, um in mir ein Gleichgewicht zu erlangen.
Es begann mit einem Anruf von Lennart, dem Bassisten. Es war an einem frühen Morgen, ich hatte die Tür zu der kleinen Terrasse zwischen dem Reihenhaus und dem Grensevei geöffnet, der Duft der Pfingstrosen schwebte zu mir herein, von den weißen und fast lila Blumen, die wir aus einem Beet bei den Großeltern mitgebracht hatten.
Mama war verschwunden.
Ich hatte Lennarts Stimme seit mehreren Jahren nicht gehört, jetzt erfüllte sie meinen Kopf, ängstlich und aufgeregt. Mama war nicht da.
Wieso nicht da?, fragte ich.
Weg.
Lennart erzählte von einem offenen Fenster, er sagte, deshalb sei er früher aufgewacht als sonst, er habe die Seevögel schreien hören und dazu die Stimmen von irgendwelchen nächtlichen Zechern auf dem Heimweg in den frühen Morgenstunden. Er sei im ersten Morgengrauen aufgewacht, weil das Fenster sperrangelweit aufstand. Das tat es sonst nie. Der Lärm von der Straße sei zu ihm hereingeschleudert worden, Geräuschkaskaden, und Mama war weg.
Seine Wörter kamen stoßweise. Das ließ mir die Zeit, mir ein Bild zu machen. Ich sah Mama vor mir, hochaufgerichtet und dünn, zwischen den Rahmen dieses offenen Fensters, auf jeder Seite eine Hand ans Holz gelegt, die eine Hand höher als die andere, und den Kopf ein wenig verdreht, als wiesen ihre Füße auf die Welt dort draußen, während sie zugleich ihren Körper umwandte und Lennart betrachtete, den Bassisten, der noch immer im Doppelbett hinter ihr schlief. Ich sah sie vor mir in dem altmodischen Nachthemd, das sie geliebt hatte, als sie noch hier in Lilleberg wohnte, ich hatte es für sie in einen Karton gepackt, als sie umziehen wollte, einen graubraunen Pappkarton mit Nachthemden und Unterröcken, Unterhosen, Hemden und Büstenhaltern. Jetzt sah ich sie wie eine Gefangene zwischen zwei Rahmen, in dem graurosa, langärmligen Nachthemd, es war knöchellang und hatte Rüschen, und ihre dunklen Haare hingen ihr offen über die Schultern. Sie stand in dem offenen Fenster zwischen draußen und drinnen, in einem Schlafzimmer, das ich nie gesehen hatte, es war sicher total chaotisch, dachte ich, Kleider und Schuhe lagen überall auf dem Boden herum, und in einer Ecke stand Lennarts Bass, meine erste Frau, so hatte er ihn genannt, vor Mama.
Ist sie gesprungen?, fragte ich.
Und ich sah, wie sie den Kopf zu der Stadt hinwandte, die jetzt aufwachte und nach und nach sichtbar wurde, der graue Asphalt, das schwappende Wasser in einem Kanal in Kopenhagen.
Gesprungen? Nein, sagte Lennart.
Aber woher weißt du, dass sie nicht gesprungen ist?, fragte ich.
Agathe, sagte Lennart, wir wohnen im Erdgeschoss. Wenn sie gesprungen wäre, hätte ihr nichts passieren können.
Aber warum stand das Fenster sperrangelweit auf, wenn es das sonst nicht tut?, fragte ich.
Vielleicht hat Veronica den Mond bewundert, ehe sie gegangen ist, sagte Lennart müde.
Vielleicht wollte sie einfach ein Brot zum Frühstück kaufen?, schlug ich vor.
Das war vorgestern, sagte er.
Wir legten auf. Ich versuchte, an etwas anderes zu denken. An das Wetter draußen, nicht in Kopenhagen, sondern in Oslo, einen milden Sonnenschein, der nicht in die Augen stach, sondern sich warmgelb über die Autos legte, die an den untersten beiden Reihenhäusern von Lilleberg vorüberglitten. Unseres war rot. Das andere war gelb. Außerdem lag ein blaugrünes am Hang nach oben zum Lillebergvei, dort, wo er vom Grensevei abbog. Der Rest waren Wohnblocks, in Lilleberg und Hovin, in unterschiedlichen Farben, in unterschiedlichen Formen. Unten in Hovin standen Langblocks, die parallel immer zu zweit lagen, die Eingangstüren einander gegenüber, dazwischen Asphalt. Ich konnte die untersten vom Küchenfenster aus sehen. Vom Wohnzimmer aus sah ich den Grensevei, der vom Friedhof Østre Gravlund zum Carl Berners plass führte. Uns schräg gegenüber konnte man in den Gladengvei abbiegen, der hinab nach Kampen verlief. Ein Stück weiter lag der Block mit den Geschäften. Der wies einen Lebensmittelladen, einen Kiosk und einige andere Läden auf. In den Etagen darüber gab es ein Café, dazu Wohnungen und Zimmer, die vermietet wurden. Zwei meiner Freundinnen hatten im vorigen Sommer in diesem Café gejobbt. Einige Male hatte ich sie dort besucht, einen Heißwecken gegessen und eine Cola getrunken.
Jetzt stand ich im Wohnzimmer, mit offener Tür zur Terrasse, und schaute hinüber zum Caféblock und dachte an genau das, um nicht an Mama zu denken. Ich überlegte, ob Jenny oder Karin wohl auch in diesem Sommer dort gejobbt hatten, ich selbst war Verkäuferin in einem Musikladen gewesen.
Bald kam Morten herunter, und wir frühstückten zusammen, Vollkornbrot mit Margarine und Leberwurst und Gurkenscheiben, mein kleiner Bruder machte sich dazu einen Teller Puffreis mit Milch und Zucker. Isak war noch nicht aufgestanden, manchmal musste er erst am späten Vormittag irgendwo ein Klavier stimmen. Außerdem waren viele seiner Kunden noch in Ferien.
Ich sagte nichts über Lennart, nichts über Mama. Wir redeten fast nie über sie, Morten und ich.
Was hast du heute vor?, fragte ich ihn.
Mit dem Rad zum Gjersjø fahren, erwiderte mein Bruder. Mit Sander und Willy. Die ham ne Angelrute. Die kennen einen, der da wohnt, gleich bei Bilhjulet.
Sander und Willy. Die Brüder von Inger, die auf der Grundschule meine beste Freundin gewesen war.
Ich dachte an Inger, um nicht an Mama zu denken. Ich erinnerte mich an einige Episoden von früher, als wir klein waren, und an die Reise nach Paris vor anderthalb Jahren. Sie und ich und Leon. Jetzt wohnten die beiden auf Nesodden. Leon hatte dafür gesorgt, dass Inger zu einem alten Zeichenlehrer von der Waldorfschule ziehen konnte, Felix Mork, einem freundlichen Mann mit Schmerbauch und bunten Kleidern, einem, der Kurse in Kunstgeschichte, Malerei und Meditation arrangierte. Inger konnte dort gratis wohnen, wenn sie dafür im Haushalt half.
Morten schmierte sich Brote für unterwegs, steckte sie in seinen Rucksack und verschwand.
Ich setzte mich auf die kleine Terrasse, spürte die Unruhe in meinem Leib. Lennarts Stimme war deutlich: Mama war verschwunden. Hatten sie und Lennart sich gestritten?
Stimmt etwas nicht?, fragte Isak, plötzlich stand er in der Türöffnung, angezogen und bereit für den Tag, in dunkelbrauner Cordhose und hellblauem Hemd.
Nein, antwortete ich.
Du hattest die Stirn gerunzelt, sagte Isak.
Vielleicht wegen der Sonne, fiel mir als Antwort ein.
Denn warum sollte ich ihn mit Mamas Verschwinden quälen? Auch ihn hatte sie im Stich gelassen. Mehr als acht Jahre hatte er mit ihr zusammengelebt, mit ihren Divalaunen und ihrer Unvorhersagbarkeit. Er hatte sie auf Händen getragen, hatte sie entschuldigt, wenn sie sich unmöglich aufführte.
Gehst du heute nach Bekkelaget?, fragte er.
Oma hatte mich gebeten, ihr beim Pflücken von roten und schwarzen Johannisbeeren zu helfen, mein Sommerjob war zu Ende. Aber nach dem Gespräch mit Lennart konnte ich nicht zu Mamas Mutter fahren.
Es ist zu heiß, sagte ich. Ich fahre lieber mit der Fähre nach Nesodden, zum Baden.
Leon lockte mich nach Nesodden, mehr als Inger. Leon hatte die Rolle des besten Freundes übernommen, als wir aufs Gymnasium gingen, er war vielleicht der Einzige, mit dem ich mir vorstellen könnte, über Mama zu sprechen.
Aber hatte sie es verdient, dass ich mir Sorgen machte?
Während ich mit dem Bus in die Innenstadt fuhr, dachte ich an Porgy and Bess und nicht an Mama. Das Stück sollte im Frühling die Abschiedsvorstellung unserer Klasse sein. Leon und ich hatten uns darauf gefreut, als Bewohner von Catfish Row auf der Bühne zu stehen, einer fiktiven Gegend in Charleston, South Carolina. Ich würde im Chor singen und vielleicht tanzen.
Ich hatte Leon und Inger den ganzen Sommer lang kaum gesehen, ich hatte Kundschaft beraten und Musik verkauft, Schallplatten und Noten, nur ein einziges Mal hatten die beiden hereingeschaut, um mich in Aktion zu sehen, und das nicht zusammen, und jeweils mit einem Softeis in der Hand. Sie hatten mich eingeladen, um an dem kleinen Strand zu schwimmen, der zu Felix Morks Grundstück gehörte, aber stattdessen war ich mit Leuten von meinem Job ins Frognerbad gegangen.
Nach der Fahrt nach Paris hatte sich zwischen uns eine Art Spalt aufgetan; Leon war zu Ingers Vertrautem geworden, sie hatten sich hinter meinem Rücken getroffen, er hatte Felix dazu gebracht, ihr zu helfen, damit sie nicht mehr im Glas- und Tellerladen in Torshov stehen musste, und der Waldorflehrer hatte sie zu einem Psychologen geschickt, das war auch an der Zeit gewesen.
Wie schön, hatte ich gesagt. Schön, schön.
Zugleich hatte mir das alles einen Stich versetzt. Zwischen Leon und Inger hatte sich etwas entwickelt, und ich war ausgeschlossen, etwas, das sie beide verändert hatte. Und das hielt ich mir vor Augen, während mich die Fähre vom Rathauskai nach Nesoddtangen brachte: Inger, die vor zwei Jahren politisch aktiv und tatenlustig gewesen war, aber die sozusagen ihre Glut eingebüßt hatte, und Leon, der sich auch nicht mehr so für die Treffen zu interessieren schien, zu denen wir nach dem ersten Jahr am Gymnasium gegangen waren. Treffen, bei denen es um die Welt ging. Um Politik und Geschichte. Um Philosophie.
Und ich selbst?
Ich dachte, dass ich ab und zu Position bezogen hatte. Außerdem dachte ich, dass die politischen Fragen oft vereinfacht wurden, wie dann, wenn es um den Krieg in Vietnam ging. Aber die Amerikaner hatten dort jedenfalls nichts verloren.
Ich schob die Hand in meine Tasche und fischte die Sonnenbrille heraus. Ansonsten hatte ich Badeanzug, Handtuch und Sonnencreme mitgenommen. Ich hoffte, dass sie zu Hause seien. Ich hätte anrufen können, ehe ich zum Bus gegangen war, aber das hatte ich nicht getan, vielleicht war es das Wichtigste gewesen wegzukommen.
Bald war ich wieder an Land, mit der Tasche in der Hand und der Sonnenbrille auf der Nase, in gelbem Rock und rosa Bluse, die Füße in Sandalen. Ich ging langsam vorbei an den wartenden Bussen und weiter. Ich nahm den Geruch von Auspuffgasen und die Kieselsteine unter meinen Sohlen wahr. Ich hörte die Seevögel schreien. Grauweiße Möwen.
Wie an den Kanälen in Kopenhagen.
Ich sah ein Stück weiter draußen ein blaues Ruderboot.
Ob Mama und Lennart wohl Zugang zu einem Boot hatten?
In dem kleinen Boot auf dem Bunnefjord saßen drei Kinder. Ich dachte, es könnte schön sein, in einem Boot zu sitzen und zu angeln. Dann verschwanden Kinder und Boot hinter einem Haus und einigen Bäumen.
Hallo, sagte Felix Mork.
Er beschnitt gerade eine Hecke, mit nackten Füßen in Holzschuhen und einem Strohhut auf dem Kopf. Neben ihm ging seine neue Frau in einem sonnengelb-violetten Kittel und goss die Beete aus einer großen grauen Aluminiumkanne.
Wie nett, Agathe, sagte sie. Hast du den Sommerjob hinter dir?
Ja.
Hat das Spaß gemacht?
So ziemlich.
Was ist der größte Schlager des Sommers?, fragte Felix.
Vielleicht irgendwas von den Beatles, sagte ich.
Ach, sagte Felix, als hätte er sich eine andere Antwort gewünscht.
Die sind unten am Strand, sagte seine Frau, sie richtete sich auf und zeigte hinüber.
Da waren Leon und Inger und außerdem Laila, Leons ein Jahr ältere Schwester. Sie lagen nebeneinander auf ihren Handtüchern, mit glänzenden, feuchten Körpern; bald lag ich bei ihnen, und etwas war los. Ich sah es, spürte es, was war es? Etwas, das die Distanz zwischen uns vergrößerte, zwischen ihnen und mir, sie wussten etwas, von dem ich ausgeschlossen war.
Leon ist an der Kunst- und Handwerksschule angenommen worden, sagte Laila dann bald. Ist das nicht toll?
Ihre Stimme zitterte ein bisschen, als ob sie geahnt hätte, dass mich das traurig machen würde.
Denn es war nicht toll. Es bedeutete, dass er in unserer Klasse am Nissen aufhören würde, dass ich ihn nicht mehr jeden Tag in der Schule treffen würde, dass wir nicht zusammen auf der Bühne stehen würden, um die Nachkommen amerikanischer Sklaven zu spielen.
Herzlichen Glückwunsch, sagte ich tonlos.
Er hat im Frühling irgendwann eine Mappe mit Zeichnungen eingereicht, erzählte Inger.
Schon im Frühling, und mir hatte er nichts erzählt. Vielleicht sogar, ehe wir in der Bibliothek über Charleston gelesen hatten.
Herzlichen Glückwunsch, sagte ich müde.
Komm, wir baden, sagte Laila.
Wir schwammen hinaus, nur sie und ich.
Ich kann ja verstehen, dass du enttäuscht bist, sagte sie.
Das Wasser fühlte sich an meinem Körper eiskalt an.
Er hat niemandem von der Bewerbung erzählt, sagte jetzt Laila. Nicht unseren Eltern. Nicht einmal mir. Und auch nicht Inger oder Felix.
Ein magerer Trost.
In der Klasse sind doch noch immer viele gute Leute sagte Inger, als wir wieder auf den Handtüchern lagen.
Und außer mir hören auch noch andere auf, sagte Leon wie als Entschuldigung.
Er hatte das erfahren, als er sich im Sekretariat abgemeldet hatte. Es ging um das Schauspieltalent mit den dunklen Augen und um das Mädchen mit dem jüdischen Nachnamen und den rabenschwarzen Haaren, das war die, die immer im Schlosspark saß und Gitarre spielte und Protestlieder sang.
Sie kam sich im Vergleich zu uns anderen vielleicht ein bisschen erwachsen vor, sagte Leon.
War das die, die mit dem Redakteur zusammen war?, fragte Laila.
Ja, oder, wenn er kein Redakteur war, dann jedenfalls Journalist. Der hat bei Orientering gearbeitet. Der sozialistischen Zeitung.
Ein erwachsener Mann. Genau wie mein Philip. Wir vier hatten einmal zusammen in Club 7 ein Konzert von Cornelis Vreeswijk besucht. Nach dem Konzert hatten wir mit dem Künstler zusammengesessen, der Journalist hatte ihn vorher interviewt.
Du findest unsere Schule doch auch einen Kindergarten, sagte Leon zu mir.
Die Schule ist ein Kindergarten, sagte Laila. Wir werden behandelt wie Drecksgören.
Wir lagen eine Weile still da und sonnten uns. Ich dachte an Cornelis Vreeswijk. Eins seiner Lieder handelte von einer gewissen Veronica, wie Mama, und mir fiel ein Stück Text ein: Veronica, Veronica, dein Strumpfband ward gestohlen, von einem Mann, der ohne dich nicht leben kann. Und ich dachte an Philip, mit uns war schon eine ganze Weile Schluss, aber gerade jetzt hätte ich ihn gern hier bei mir gehabt, damit er mir eine warme Hand ins Kreuz legen könnte.
Summerhill, sagte Laila.
Sie hatte es schon einmal gesagt, ich erinnerte mich vage; sie hatte es vor zwei Jahren erwähnt, als sie die Schule geschmissen hatte und mit einem Freund in einen Kellerraum gezogen war. Eine Schule in England, das wusste ich, wo die Schüler ernstgenommen wurden.
Das weißt du doch, Agathe?, fragte Laila.
Was denn?
Dass Summerhill nach Norwegen gekommen ist?
Norwegisches Summerhill?
Das Versuchsgymnasium, sagte Laila.
Mir schoss alles durch den Kopf, was ich über Schulen gedacht hatte. Dass wir dorthin gingen, um uns anzupassen. Um den Umgang mit anderen Menschen zu lernen. Während Lernen etwas anderes war, etwas, das später kam, auf der Universität.
Meine französische Kusine ging auf die Universität. Madeleine studierte Weltliteratur, und das war phantastisch, das hatte sie gesagt. Wir waren gleich alt, trotzdem studierte sie bereits, und ich würde es ihr erst in zwei Jahren gleichtun können, weil das französische Schulsystem anders war als unseres. Und sie hatte mir geschrieben, wie phantastisch es sei, stundenlang einfach nur lesen zu können. Die Sprache ist viel jünger als Höhlenmalereien und Musik, hatte sie geschrieben. Sprachliche Äußerungen sind erst seit fünftausend Jahren belegt. Was die wohl gesagt haben, fragte sie und dichtete: Ich habe eine Sternschnuppe gesehen.
Schülerdemokratie, sagte Laila. Auf dem Versuchsgymnasium. gibt es Vollversammlungen, bei denen Lehrer und Schüler auf Augenhöhe miteinander reden.
Unglaublich, sagte ich. Gehst du dahin?
Klar doch.
Ich will auch, sagte Inger.
Jetzt im Herbst?, fragte ich verwirrt. Inger hatte doch nur den Abschluss von der Grundschule.
Ich muss ja zuerst das Realschulexamen machen. Felix hilft mir.
Und ich, sagte Leon. Ich helfe ihr bei Mathe.
Er fasste sie an, als er das sagte. Legte eine Hand auf ihre leicht sonnverbrannte Schulter, nicht lange, nur einen Moment, und sie schob ihn nicht weg, und dabei konnte sie es doch nicht ertragen, wenn Männer oder Jungen sie berührten.
Sie war weitergekommen, das ging mir jetzt auf, durch die Stunden beim Psychologen und durch Leons behutsame Berührung. Wie weit wohl?
Nächstes Jahr, sagte Inger. Dann bin ich bereit fürs Gymnasium. Dann kann ich die Aufnahmeprüfung als Externe machen.
Wie schön, sagte ich.
Schön – schön, dass sie lernte, dass Leon sie anfassen konnte.
Alles kam mir traurig vor, als ich sie verließ. Einsam. Die Schule ohne Leon. Der spürbare Zusammenhalt auf Nesodden, von dem ich ausgeschlossen war.
Und Mama, die verschwunden war.
Ich hätte es erzählt, wenn Leon allein gewesen wäre. Oder Inger. So hatte ich den Mund gehalten.
Mama brach durch meine Gedanken auf der Fahrt zurück zum Rathauskai. Sie stand auf einem Hocker und schaute durch kleine bunte Bleiglasfenster zum Mond hoch. Sie öffnete das Fenster, und ich nahm einen schwachen Luftzug wahr, als ich dort auf der Fähre saß, und der graue Schleier einer Gardine berührte meine Wange.
Ich hatte sie nie besucht, sie und Lennart; sie hatte uns nie eingeladen. Was für eine Frau macht denn sowas, hatte Ingers Mutter getadelt. Sie selbst war eine, die ohne Umschweife sagen konnte, was sie meinte, sie konnte schimpfen und fluchen und mit Gegenständen werfen, nach ihren Kindern und ihrem trunksüchtigen Mann. Aber sie blieb bei ihnen. Sie brannte niemals durch.
Mama verließ uns mit einem tomatenroten Koffer und einer gelben Handtasche. Ihre restlichen Habseligkeiten musste ich in graubraune Pappkartons packen. Lennart und Philip saßen im Wohnzimmer, während ich packte; Lennart drehte sich die eine bleistiftdünne Zigarette nach der anderen, zündete sie an und rauchte mit nervösen Bewegungen und nervösem Atem.
Was für eine Mutter lässt ihre Kinder im Stich?
Ihr Rücken, ich sah ihren Rücken vor mir, an jenem Tag. Der war steif. Sie war gegangen, ohne sich umzuschauen. Hatte sie geweint? Das glaubte ich nicht.
Sollte ich mir Sorgen machen, weil sie weg war? Hatte sie das verdient? Sie hatte versprochen, zu meiner Konfirmationsfeier zu kommen, das war einer der Gründe, aus denen ich mich konfirmieren ließ. Dass Mama gesagt hatte, sie werde kommen. Wir hatten jeden Abend nach dem Essen zusammengesessen und geplant, Oma und Opa und ich, hatten die Gästeliste aufgestellt, hatten die Tischordnung festgelegt, ich sollte zwischen Mama und Isak sitzen.
Dann rief sie an und sagte ab, das sagte sie zu Opa, nicht zu mir.
Ich war in Bekkelaget gewesen, weil Oma mein Kleid nähte, es war wunderbar und meerblau, sagte Oma, nein, seegrün, sagte Opa, und wir hatten gelacht, denn es war nicht wichtig, und als ich das Kleid zum letzten Mal anprobiert hatte, war Opa um mich herumgeschlichen und hatte tanzen wollen, fast, als ob er beschwipst sei. Gerade da hatte Mama angerufen. Als Opa hörte, wer es war, fragte er, ob sie nicht lieber mit mir sprechen wollte. Aber das wollte sie nicht, sie wollte nur sagen, dass sie doch nicht kommen werde.
Dann hatte sie aufgelegt.
Und deshalb hatte ich an der Festtafel zwischen Opa und Isak gesessen, ich hatte Isak und Oma vorgeschlagen, aber Opa hatte darauf bestanden. Ich hatte kaum eine der Reden gehört. Ich weiß, dass Morten für mich Posaune gespielt hat, aber ich habe keine Ahnung, welche Stücke.
Was Mama wohl gesagt hätte, wenn sie das von Philip und mir wüsste?
Wir waren zum ersten Mal zusammen gewesen, als ich sechzehn war und er zweiunddreißig, Oma und Opa waren entsetzt. Ob Mama uns ausgelacht hätte, wenn sie es gewusst hätte?
Spielte das für mich eine Rolle?
Sie liebte Mondschein. Das wusste ich noch von ganz früher her. Wir hatten manchmal bei Oma und Opa auf der Dachterrasse gestanden, nur Mama und ich, ehe ich fünf wurde und wir ins Reihenhaus zogen, wir waren auf dem Dach über dem Musikzimmer gewesen, und sie hatte mich an sich gedrückt, fest, warm, und wir hatten zu den funkelnden Punkten in der Dunkelheit hochgeschaut, in der blauschwarzen Nacht, die keine Decke war, sondern eine Tiefe.
Aber als wir dann in Lilleberg wohnten, hatte sie mich nie mehr an sich gedrückt und die Sterne als kleine Diamanten bezeichnet, die zu Schmuckstücken auf einem Samtkleid werden konnten.
Ihre Wohnung liege im Erdgeschoss, hatte Lennart gesagt, dort in Kopenhagen; ein alter Milchladen, hatte er außerdem erzählt. Und ihr Nachthemd hing noch im Badezimmer. Mama hatte sich angezogen und war durch die Tür gegangen, die noch immer klingeling machte, eine Erbschaft aus der Milchladenzeit; Lennart hatte die Tür geöffnet, damit ich den Klang hören könnte, mit raschen Schritten war er durch das Zimmer geeilt, um mich das hören zu lassen, während der Telefonhörer auf dem Tisch lag. Und er war zurückgelaufen, um mir zu erklären, dass es war, wie neben einem Glockenturm zu wohnen, wenn man so eine Tür hatte: Am ersten Tag zuckst du jedesmal zusammen, wenn die Glocke ertönt. Nach einer Woche hörst du sie nicht mehr.
Deshalb hatte Lennart nichts gehört, als Mama gegangen war.
Ist ihre Tasche weg?, hatte ich gefragt.
Ja.
Was ist mit ihrem Pass?
Das wusste er nicht.
Seine Stimme hatte ängstlich geklungen, vor allem zu Beginn des Gesprächs.
Vor zwei Tagen, hatte Lennart gesagt. Seit zwei Tagen hatte er nun schon Angst.
Als ich an diesem Abend schlafen ging, dachte ich an etwas, das gleich vor Beginn der Sommerferien in der Schule passiert war. Es war in der großen Pause, und ich war hinter das Haus gegangen, um eine zu rauchen; dort war der Raucherplatz, immer standen dort einige von uns und pafften und redeten und liehen sich gegenseitig Feuerzeug oder Streichhölzer.
Dann waren Greta und Solveig aus meiner Klasse um die Ecke gebogen, keine von beiden rauchte, aber nun meinte die Geigerin Greta, ich sollte Solveig, der angehenden Opernsängerin, eine Zigarette geben.
Sie kann das nicht vertragen, sagte ich, sie ist doch allergisch.
Aber sie möchte es gern versuchen, sagte Greta.
Sie lachten. Ich lachte. Alle an der Raucherecke grinsten. Und ich gab Solveig eine Teddy und zündete sie für sie an.
Sie hustete sich schief und krumm.
Alle husten beim ersten Mal, sagte ein Junge.
Beim zweiten Mal auch, sagte Greta.
Aber beim zehnten Mal!, sagte der Cellist der Klasse, auch er stand dort. Beim zehnten Mal kommt die Belohnung. Dann merkst du zum ersten Mal, wie gut das tut.
Solveig machte drei Züge. Sie hustete, bis sie im Gesicht rot war.
Igitt, sagte sie. Nie wieder.
In der nächsten Pause wurde ich von Frau K. angesprochen, der Musiklehrerin, und sie schimpfte: Einer Sängerin Zigaretten geben! Das arme Kind zu einer solchen Dummheit verleiten!
Aber sie wollte es doch unbedingt ausprobieren, sagte ich zu meiner Verteidigung.
Dann hättest du dich weigern müssen. Du weißt doch, dass Sängerinnen nicht rauchen?
Irgendein anderer Lehrer hatte uns von der Straße her gesehen, hatte gesehen, dass ich ihr die Zigarette gegeben und sie angezündet hatte.
Ich war empört über diese Vorwürfe und beleidigt. Das wäre Solveig sicher auch so gegangen, wenn sie gewusst hätte, dass sie hier als unmündiges Kind betrachtet wurde, das für seine Taten nicht zur Verantwortung gezogen werden konnte. Aber ich erzählte ihr nichts von meinem Gespräch mit Frau K. Solveig würde die Hauptrolle in unserer Aufführung von Porgy and Bess spielen, ich wollte nicht, dass ihr Verhältnis zu Frau K. wegen dieser Sache gefährdet würde.
Die beiden gehen jedenfalls noch immer in meine Klasse, dachte ich. Solveig und Greta. Außerdem dachte ich an Summerhill. Laila hatte mir ein Buch gezeigt, ich hatte darin geblättert, ich hatte mir ein Bild von einer Schule in ländlicher Umgebung gemacht, schattige Laubbäume, duftende Wiesenblumen, Glück.
Am nächsten Vormittag rief Lennart wieder an; ich war allein zu Hause, saß auf dem Sofa und versuchte, ein Buch zu lesen, das ich von meiner Kusine Madeleine zum Geburtstag bekommen hatte: Bonjour Tristesse von Françoise Sagan.
Du musst kommen, verlangte er, du musst mir helfen, sie zu suchen.
Verschwunden?, fragten Morten und Isak, als wir beim Essen saßen.
Ja, Lennart hat angerufen.
Dann weiß er jetzt, wie es mir damals gegangen ist, sagte Isak.
Wie meinst du das?, fragte Morten besorgt.
Deine Mutter ist doch auch von mir verschwunden, sagte Isak. Mit dem da. Mit Lennart.
Er spie den Namen über den Tisch.
Einmal sind sie hinter meinem Rücken nach Göteborg gefahren, fuhr der Klavierstimmer fort, und ein andermal nach Svartskog, und dann nach Bergen, ehe sie sich endgültig abgesetzt haben.
So ist sie eben, sagte Morten.
Ich hatte angedeutet, dass wir beide fahren könnten, aber Morten hatte sofort abgewinkt, sie habe sich sicher einfach einen neuen Bassisten gesucht.
So sind die Frauen, sagte Morten düster.
Er war jetzt zwölf. Seit mehreren Jahren hatten er und seine Kumpel Sander und Willy Schrott gesammelt, den sie in einer Ecke unten bei den Schrotthändlern im Gladengvei zu reparieren versuchten. Fast sein ganzes Wissen über Frauen verdankte er den Männern hinter dem Stacheldrahtzaun, ab und zu hatte er Dinge erzählt, von denen ich dachte, dass er die gar nicht weitersagen dürfte. Einer der Schrotthändler war jahrelang verlobt gewesen, deshalb bekam er Kuchen statt Eis, hatte Morten gesagt. Ich hatte ihn gefragt, was er glaube, was das wohl bedeute. Morten glaubte, Kuchen bedeute Küsse auf die Wange und Eis, dass der Mann übersehen wurde. Sein Erfahrungshintergrund hier war Mamas Verhältnis zu Isak, der ihr sonntagsmorgens ein Frühstückstablett ans Bett gebracht hatte, mit einer Blume aus einem der Beete des Reihenhausgartens, Kaffee und einem frischen Brötchen mit Apfelsinenmarmelade und ab und zu einer Praline, oder vielleicht auch zweien, von der Sorte mit Cognac, die im Kiosk einzeln verkauft wurden. An solchen Tagen sah sie ihn und konnte ihm einen leichten Kuss auf die Wange geben. Wenn der Schrotthändler also seine Verlobte nicht heiratete, konnte er zu sich nach Hause gehen, wenn die Gefahr bestand, dass er übersehen werden würde, so hatte Morten das verstanden. Und deshalb gab es nur Kuchen.
Nein, er wolle nicht nach Kopenhagen fahren, um Mama zu suchen.
Die wird ja doch bloß gefunden, wenn sie das selbst will, sagte er.
Ihr kann etwas passiert sein, sagte ich.
Was denn?
Keine Ahnung, sagte ich.
Vielleicht hat Lennart sie umgebracht, sagte Morten. Weil sie so ist, wie sie ist.
Wie ist sie denn?, fragte ich.
Glatt, sagte Morten. Glattes Seidenkleid, das ihm aus den Fingern rutscht. Rot wie Blut und wie Rosen mit Dornen am Stengel. Einer von den Schrotthändlern ist schrecklich eifersüchtig. Er sagt selbst, dass die Eifersucht ihn zum Mörder machen kann.
Hör auf, sagte Isak.
Lennart rief noch einmal an, es war der letzte Freitag in den Schulferien. Jetzt hatte er sich bei Freunden und Bekannten in der Kopenhagener Jazzszene erkundigt, ohne Erfolg. Die Angst in seiner Stimme war ansteckend. Mama, die so verletzlich war, in gewisser Weise war sie das, zerbrechlich wie dünnes Porzellan. Sie war eine Primadonna, das schon, selbstsicher mit dem Weinglas in der Hand und dem Zigarettenmundstück zwischen den Lippen, sicher an der Tastatur, aber dennoch. In ihr war etwas, das auswich, etwas, durch das sie wirken konnte wie ein kleines Kind. Vielleicht hatte Lennart etwas gesagt, das sie verletzt hatte, vielleicht war sie ihm weggelaufen, durch fremde Straßen und Gassen, vielleicht war sie auf ihren hohen Absätzen gestolpert, vielleicht war sie jemandem mit bösen Absichten in die Arme gelaufen.
Du kannst ja doch nichts daran ändern, meinte Isak.
Das weiß ich erst, wenn ich da bin, sagte ich.
Aber die Schule, sagte Isak. Es kann viele Tage dauern, bis du sie gefunden hast.
Ich hatte vor, am Montagmorgen wieder hierzusein, sagte ich.
Dann wirst du nicht viel ausrichten können, sagte Isak. Und wenn du länger wegbleibst, kriegst du Ärger. Die Schule hat bei der Sache mit Philip sehr viel Geduld mit gehabt. Nachts Jazz und tagsüber Faulenzerei.
Es gibt andere Schulen, sage ich.
Das Nissen hat den einzigen Musikzweig im Land, sagte Isak. Und du liebst Musik.
Ich erwähnte das Teisen. Diese Schule lag viel näher, oberhalb von Hovinjordet, dahin könnte ich zu Fuß gehen. Ich kannte dort Leute. Leute, die ich bei Aktionen gegen Atomwaffen kennengelernt hatte, Leute, mit denen ich auf Festen gewesen war, Leuten, denen ich bei Veranstaltungen zum Vietnamkrieg gegenübergesessen hatte.
Das Teisen, Isak schnaubte verächtlich. Bald fangt ihr mit den Proben für Porgy and Bess an.
Ich komm doch mit, sagte Morten.
Aber sie ist weg, sagte Isak. Und ihr kennt die Stadt nicht.
Vielleicht ist sie im Tivoli, sagte Morten. Und da finden wir sie dann. Und fahren Karussell und fressen Zuckerwatte. Das hat sie uns versprochen, als sie umgezogen ist. Kommt mich besuchen. Dann gehen wir in den Tivoli.
Isak schaute weg; er fand, wir sollten zu Hause bleiben. Aber mein Bruder und ich gingen die Treppe hoch, um zu packen. Unten in der obersten Kommodenschublade bewahrte ich das Geld von meinem Sommerjob auf. Es lag fast vollständig in einer Zellophantüte. Ich zählte. Vierzehnhundert und achtundachtzig Kronen. Ich steckte alles ein, ich hatte keine Ahnung, was die Bahnfahrt kosten würde.
Ich hab ein bisschen Geld vom Schrotthandel, teilte Morten mit.
Er öffnete eine Hand, die sechs blanke Kronenstücke und ein bisschen Kleingeld enthielt.
Nimm das mit, sagte ich.
Isak hatte sich zusammengerissen, als wir aufbruchsbereit waren. Er umarmte mich und stupste Mortens Schulter kumpelhaft an.
Aber habt ihr Geld?, fiel ihm dann ein.
Wir nickten.
Isak zog seine Brieftasche hervor und gab uns einen Zehner, mehr hatte er wohl nicht.
Als sich der Nachtzug in Bewegung setzte, lagen Morten und ich in den Betten in unserem Schlafabteil.
Am nächsten Morgen früh waren wir am Ziel. Der Bahnhof war erfüllt von hallenden Geräuschen, und der Geruch nach Eisen und Ruß biss uns in die Nase. Wir waren klein in der riesigen Halle; Morten nahm mich an der Hand, ließ aber nach wenigen Sekunden wieder los; er war zwölf. Und er hatte Hunger. Wir fanden ein Lokal, wo Morgenmad verkauft wurde, wir setzten uns auf eine Bank und aßen, während wir Ausschau nach Lennart hielten. Er war nicht ans Telefon gegangen, als ich ihn angerufen hatte, um unser Kommen anzukündigen. Isak hatte versprochen, ihn später anzurufen, damit er uns abholen könnte. Nach einer Dreiviertelstunde war er noch immer nicht aufgetaucht. Also hatte Isak ihn wohl nicht erreicht. Aber wir hatten seine Adresse und trotteten hinaus in den Sonnenschein.
Vor uns lag die dänische Hauptstadt. Wieder nahm Morten meine Hand. Alles wirkte riesig. Der offene Platz vor dem Bahnhofsgebäude, die breite Straße dahinter. Hier waren wir! In Mamas Stadt. Hier, wo ich sie vor mir gesehen hatte, sie und Lennart, eng umschlungen im Laternenschein in der Abenddämmerung, in Kneipen voller Musik, in Straßencafés an einem Kanal.
Wir machten kehrt und gingen wieder in die Bahnhofshalle, vielleicht könnte uns da jemand den Weg erklären.
Die dänische Sprache füllte unsere Ohren wie Nebel und Kartoffelbrei. Ein netter Mensch in Uniform zeichnete eine Karte auf einen kleinen rosa Zettel und zeigte uns die Richtung. Außerdem erklärte er uns, wo wir norwegische Kronen in dänische umtauschen könnten.
Wir gingen wieder hinaus, in ein Kopenhagen mit Spätsommersonne. Wir bogen nach rechts ab, in eine breite Straße mit vielen Autos und Fahrrädern; in Richtung Rådhuspladsen, hatte der Mann gesagt.
Das kann da vorn sein, sagte Morten und zeigte darauf, und in diesem Moment fing eine Glocke an zu läuten, wie zur Antwort. Und gleichzeitig las Morten ein Wort, das ihn dazu brachte, an mir zu ziehen und zu jubeln: Schau mal, Agathe, da ist der Tivoli!
Ja, sagte ich. Aber zuerst müssen wir Lennart finden.
Strøget, stand auf dem kleinen Zettel, den wir im Bahnhof bekommen hatten. Und Nyhavn. Von beidem hatte Isak erzählt. Einmal in seiner Jugend war er mit Mama hier gewesen, sie waren eine ganze Clique, vielleicht hatte er damals angefangen, sie zu lieben, während sie am Arm eines anderen hing, immer eines anderen, konnte ich denken, bei Mama war es wohl immer so gewesen.
Jetzt waren Morten und ich hier, mit dem Rucksack auf dem Rücken, er mit seinem Schulranzen, ich mit einem grauen altmodischen Rucksack, den Isak irgendwo ausgeliehen und nie zurückgegeben hatte. Wir entdeckten das Straßenschild und betraten Strøget. Auf beiden Seiten lagen Geschäfte. Zwischen den Läden standen Buden, wie zu Hause die Würstchenbuden. An einer Stelle saß ein Mann und spielte Mundharmonika. Wir sahen die Menschen an, lauschten auf die Sprache, wir nahmen Gerüche und Düfte aus den Buden wahr. Und die ganze Zeit hielten wir Ausschau nach Mama. Einmal verbreiterte sich die Straße zu einem kleinen Platz.
Nyhavn?, fragten wir eine Frau, die auf einer Bank saß.
Sie sagte etwas und winkte uns weiter.
Wir bedankten uns und gingen weiter in dieselbe Richtung wie bisher. Bald sahen wir die Boote und die Kneipen in den Giebelhäusern am Wasser. Wir entdeckten das Schild mit dem richtigen Straßennamen und wir fanden die richtige Hausnummer; sie wohnten hinter einem Holztor zu einem Hinterhof, hatte Lennart gesagt. Wir öffneten das Tor. Dahinter lag ein kleiner Platz mit Pflastersteinen und viel Grün, niederländischen Krügen mit Blumen und Tomaten, einem Holztisch mit einer Bank und zwei Stühlen. Lennart saß auf der Bank. Er wirkte magerer als früher. Der dünne braune Pullover war derselbe, den er bei kühlem Wetter unter dem Sakko trug. Nun hatte er kein Sakko, und an beiden Ärmeln war unten das Bündchen aufgeriffelt.
Hallo!
Hällo, antwortete Lennart.
Er sah müde aus. Er schien uns nicht sofort zu erkennen. Dann riss er sich zusammen, sah uns genauer an und sprach Norwegisch: Agathe, bist du das?
Und Morten, antwortete ich.
Ist das wirklich Morten?, rief Lennart. Veronicas kleiner Tulipan.
So hatte Mama ihn genannt, kleiner Tulipan, wegen seiner glatten, blanken Haare und dem Haarschnitt, den sie ihm aufgezwungen hatte. Erst als Mama nicht mehr da war, konnte er sich die Haare wachsen lassen, wie er wollte.
Hast du sie gefunden?, fragte ich.
Lennart nickte.
Hast du sie gefunden, rief Morten. Ist sie hier?
Er sah zum Haus hinüber, wollte zur Tür rennen, sah vorher aber noch einmal Lennart an.
Der Musiker mit dem verschlissenen Pullover seufzte und schüttelte den Kopf.
Morten blieb stehen, seine ganze Gestalt hatte plötzlich etwas Graues.
Ein neuer Bassist, sagte er tonlos.
Nein. Einer mit Posaune, erwiderte Lennart.
Ich spiele auch Posaune, teilte mein Bruder mit, ohne Freude, nur als trockene Feststellung.
Wohnt sie nicht mehr hier?, fragte ich.
Das wohl nicht, sagte Lennart. Obwohl ihre Sachen noch hier sind. Der Kleiderschrank ist voll. Ich nehme an, Niels wird alles holen kommen.
Ein Niels mit einer blanken Posaune. Ich nickte. Das wäre eine Wiederholung. Diesmal würde ich mich weigern, Kartons zu füllen, falls ich darum gebeten würde.
Morten und ich setzten uns auf die Stühle. Ich sah die Kletterrosen an den Wänden an. Sie waren rosa und gelb. Die Fensterrahmen im Nachbarhaus waren glockenblumenblau.
Spielt Niels in derselben Band wie ihr?, fragte Morten.
Lennert schüttelte den Kopf.
Ich brauch ein Bier, sagte er. Und einen Kurzen.
Er warf unsere Rucksäcke durch ein Fenster ins Haus. Dann gingen wir. Lennart war niedergeschlagen und vielleicht wütend, er ging mit den Füßen zuerst, als müssten die den restlichen Körper hinter sich herziehen. Die Kneipe lag im Nachbarhaus, eine Treppe nach unten. Ich schämte mich irgendwie, stellvertretend für Mama, die es offenbar einfach nicht schaffte, das mit den Männern. Morten kam mir nur traurig vor. Mama hatte uns wegen Lennart verlassen, es war dramatisch gewesen, wir hatten damals fast aufgehört zu atmen, und jetzt, jetzt war es vorbei, das mit dem Bassisten mit den langen schmalen Händen.
Er bestellte zwei Runden Bier und Schnaps und eine Limo für Morten.
Du nimmst doch wohl einen Schnaps, du, wo du es mit Philip treibst, sagte er mit einem verzerrten Lächeln in meine Richtung.
Ich wurde rot. Mit Philip war Schluss. Er war zu alt. Außerdem gab es zu viele Unterschiede zwischen uns. Er mochte keine Romane lesen. Und Zeitungen auch nicht. Er wollte nur spielen. Sein Körper war voller Jazz. Mein Körper war auch voller Jazz, aber das war nicht genug. Die Bücher von Dostojewski. Der Krieg in Vietnam. Komm zurück, wenn du zwanzig bist, hatte er gesagt, verletzt. Dann bist du vielleicht alt genug für eine erwachsene Beziehung. Ich war erst achtzehn. Ein seltenes Mal könnte er recht haben, glaubte ich.
Wie geht es ihm?, fragte Lennart.
Philip. Ich zuckte mit den Schultern.
Der spielt, nehme ich an, sagte ich.
Ach was, sagte Lennart spöttisch, als er begriff, dass die Beziehung zu Ende war. Du bist wie Veronica. Eine, die immer weiter muss.
Morten sah, dass ich verletzt war. Er streichelte meinen Oberschenkel.
Benimm dich meiner Schwester gegenüber nicht wie ein Arschloch, sagte er.
Entschuldigung, sagte Lennart.
Er leerte sein Schnapsglas und trank einen Schluck Bier. Ich schob ihm mein kleines Glas zu; ich wollte keinen Schnaps, ich wollte eigentlich auch kein Bier, aber ich trank einen Schluck.
Sind wir Freunde?, fragte der Bassist.
Ich nickte.
Weißt du, wo sie ist?, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf.
Sie wohnt bei Niels, sagte er. In der Nähe der Jens Juels Gade hat jemand gesagt, gleich bei einem kleinen See.
Aber kommt sie nicht zu den Proben?
Sie hat sich seither nicht mehr blicken lassen. Seit sie gegangen ist. Aber heute Abend haben wir ein Konzert. Ich glaube, dann kommt sie.
Dann sehen wir sie, sagte Morten.
Meinst du, ich soll sie zusammenschlagen?, fragte Lennart.
Nein, sagte Morten. Das hilft nichts.
Soll ich lieber Niels zusammenschlagen?
Nein, sagte Morten. Das hilft auch nichts.
Lennart leerte mein Schnapsglas und sein eigenes Bierglas und winkte nach mehr.
Wir gehen, sagte mein Bruder.
Wir bekamen die Adresse des Konzertlokals und gingen. Zuerst wanderten wir durch Strøget zurück zum Rådhuspladsen und zum Tivoli. Die ganze Zeit hielten wir Ausschau nach Mama. Sie saß an keinem Cafétisch im Tivoli. Also fuhren wir Karussell und fraßen Zuckerwatte und ab und zu jubelte Morten vor Freude.
Danach fragten wir uns zur Jens Juels Gade durch, wo Mamas neuer Freund also wohnen sollte. Wir schauten in einige Läden und Restaurants, fragten nach Mama. Nach einer, die Norwegisch sprach und Veronica hieß und die Klavier spielte, wir beschrieben sie, lange dunkle Haare, oft hochgesteckt, hübsche Frau, aber nein, niemand konnte sich an eine Norwegerin erinnern, die Klavier spielte. Danach gingen wir an einem kleinen See entlang und sahen die Vögel an, ehe wir zurück zu Strøget wanderten und uns an einer Bude rote Würstchen und Limo kauften.
Vor dem Konzert schauten wir in der Wohnung in Nyhavn vorbei. Lennart war nicht da, deshalb kletterten wir durch das Fenster, wie er gesagt hatte.
Seltsam. In Mamas Zuhause zu sein. Obwohl es das ja wohl nicht mehr war. Mamas Aussicht durch die Fenster, zwei zum Hinterhof, eins zur Straße und zum Kanal. Das zu sehen, was sie an jedem einzelnen Tag gesehen hatte, wenn sie aufgestanden war. Nicht die Häuser von Lilleberg. Sondern die schönen Bleiglasfenster und die Boote, die draußen vor sich hindümpelten. Durch die Fenster zum Hinterhof sahen wir die niederländischen Krüge und die Mauer des Hauses auf der anderen Seite, wo die Rosen an einem Spalier aus weißgestrichenem Holz nach oben kletterten. Ich hoffte, dass es nette Nachbarn waren. Damit man mit vielen Leuten draußen sitzen und reden und Wein trinken konnte, bis spät in die Nacht. In Lilleberg war es fast nie vorgekommen, dass Isak und Mama mit anderen aus den Reihenhäusern zusammensaßen. Vielleicht war das hier anders geworden. Aber jetzt würde sie ja nicht mehr hier wohnen.
Wir sahen uns die Möbel in den kleinen Zimmern an. Das ungemachte Doppelbett. Eine Menge Unordnung, noch schlimmer, als ich mir das vorgestellt hatte, als wäre Lennart alles total egal. Ich fand Mamas Geruch wieder. Ihr Parfüm und etwas anderes, das sie war, zusammen mit dem, was von alten Zigaretten und Rotweindünsten in Wänden und Vorhängen saß. Ich schaute in den Kleiderschrank und sah ihre Kleider an, die meisten kannte ich, einige waren neu. Ich hätte weinen mögen.
Lennart kam nicht. Also mussten wir allein zum Konzertlokal finden. Das lag weiter weg, als wir gedacht hatten. Außerdem verirrten wir uns und mussten uns durchfragen.
Es kostete Eintritt.
Wir sind mit Lennart hier, sagten wir.
Das seid ihr nicht, sagte der Mann in der Tür, Lennart ist nämlich nicht gekommen.
Wir sind die Kinder von Veronica, sagten wir.
Der Mann in der Tür musterte uns. Er nickte Morten zu, Morten und Mama waren gleich dunkel und braunäugig.
Hm, sagte er skeptisch zu mir, ich war blauäugig und blond.
Dennoch ließ er uns ein.
Wir fanden einen kleinen Tisch. Sollten wir hinter die Bühne gehen und dort nach ihr Ausschau halten? Aber was, wenn sie überrumpelt und außer sich wäre? Vielleicht war es besser, bis nach dem Konzert zu warten.
Wir holten uns eine Cola. Wir sahen die Gäste um uns herum an, die sahen aus wie die Jazzleute zu Hause, mit Cordhosen und Seidenhemden mit Rüschen und gehäkelten Westen, ungewohnte Stoffe zusammengesetzt auf ungewohnte Weise.
Dann kamen die Musiker auf die Bühne. Mama war bei den ersten, sie sah aus wie immer, in Rot und Schwarz, in der Regel war das so, aber meistens war das Kleid rot und der Gürtel schwarz, heute war es umgekehrt, wie geprägt von Trauer oder jedenfalls von Ernst. Aber der Gürtel war rot, und die Schuhe auch, wie ein Protest, wie ein Freudenschrei, weil wir dort waren, das konnte ich noch schnell denken, ehe sie dem Publikum eine Kusshand zuwarf, in unsere Richtung, deshalb warfen wir Kusshände zurück. Morten winkte, ich auch, Mama aber nicht, und im selben Moment sah ich es, einen anderen, der ebenfalls eine Kusshand zur Bühne warf, einen Mann, der ein Stück links von uns saß.
Der Kerl mit der Posaune. Der neue Freund.