Ein Sadhu, zwei Esel und ich - Priya Kumar - E-Book

Ein Sadhu, zwei Esel und ich E-Book

Priya Kumar

0,0

Beschreibung

Nach seiner Scheidung, am Rande eines persönlichen Zusammenbruchs, unternimmt der indische Geschäftsmann Arjun eine Reise in das Herz des Himalaya. Nach einem Unfall enthüllen die Berge auf Schritt und Tritt Geheimnisse und Prüfungen, die Arjun dazu bringen, der Abwärtsspirale seines selbst geschaffenen Elends zu entkommen. "Ein Sadhu, zwei Esel und ich" ist ein spirituelles Abenteuer. Es ist eine Begegnung mit der Wahrheit, der Weisheit und der Kraft, die uns allen innewohnt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 245

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



PRIYA KUMAR

Ein Sadhu,zwei Eselund ich

Die unglaubliche Reisedurch den Himalaya zu mir selbst

Roman

Aus dem amerikanischen Englischvon Sabine Schulte

1. eBook-Ausgabe 2022

Vollständige Taschenbuchausgabe 2022

© 2017 Priya Kumar

© 2019 der deutschsprachigen Originalausgabe »Der Ruf«

Scorpio, ein Imprint der Europa Verlage GmbH, München

Logoentwurf: Hauptmann und Kompanie, Zürich

Umschlaggestaltung: Danai Afrati, München

Umschlagmotiv: AdobeStock_119434924_210484kate.ai

Satz: Danai Afrati

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95803-480-8

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.scorpio-verlag.de

Mom, du sorgst dafür, dass meine Weltgeordnet funktioniert, dafür danke ich dir.

Du bist mein Rettungsanker, du bist die Freundin,die ich anrufe, und die erste Leserin,die ich um ihre Meinung bitte, alles in einer Person.

Sonu Nigam

Du bist meine Inspiration.Du definierst Exzellenz neu.Du bist die vollkommene Verkörperungvon Liebenswürdigkeit, Bescheidenheitund Mitgefühl.

Inhalt

Vorwort:Alle Antworten liegen in uns

Das Ende ist der Anfang

Die Reise

Es dauert lange

Die blaue Hand

Der Kreis des Lebens

Durchgefallen

Die zweite Prüfung

Alles verändert sich

Der Stein

Die guten Samen

Das violette Band

Dank

Vorwort:Alle Antworten liegen in uns

Wir alle haben eine Berufung. Sie ist der Grund, warum wir hier auf der Erde leben. Wir alle haben in diesem Leben eine Aufgabe und sind bereit, jegliche Hindernisse zu überwinden, um sie zu erfüllen. Wir alle sind aus einem bestimmten Grund auf der Welt, der weit mehr umfasst, als zur Arbeit zu gehen und Geld zu verdienen.

Ich habe eine Pilgerfahrt in den Himalaya unternommen, und diese Reise war voller spiritueller Abenteuer und hat mich für immer verändert. Seit jeher hatte ich mir zwar die Frage nach dem Sinn meines Lebens gestellt, aber ich hatte mich nicht bemüht, nach diesem Sinn zu suchen. Daher hielt ich auch viele andere Menschen von ihrer Sinnsuche ab, denn wir sind alle miteinander verbunden – und das aus gutem Grund. Ohne Sinn ist das Leben belanglos. Der Sinn steht an erster Stelle.

Ein Sadhu, zwei Esel und ich schildert meine Begegnung mit der Kraft, die ich selbst bin. Meine persönliche Berufung besteht darin, Tag für Tag meine Lebensaufgabe zu erfüllen, nämlich zu dienen, zu lieben und frei zu sein.

Arjuns Geschichte wird auch dir helfen, deine Berufung zu finden. Du brauchst nichts weiter zu tun, als hinzuhören, wenn du verletzt bist, innezuhalten, wenn du verwirrt bist, und deinem Herzen zur Wahrheit zu folgen, ganz gleich, wie schmerzhaft es dir erscheinen mag, dich damit auseinanderzusetzen.

Du stehst im Rampenlicht. Jetzt. Die ganze Welt wartet auf deine Herzensgüte, auf deinen Beitrag und auf deine Magie. Es gibt eine Lücke, die nur du ausfüllen kannst, es gibt ein Lied, das nur du singen kannst, und es gibt einen Ruf, auf den nur du allein Antwort geben kannst. Die Welt wartet mit offenen Armen auf das unermessliche Glück, das du bist.

Ich freue mich, dass ich Teil deiner Reise und deiner Berufung sein darf.

Das Ende ist der Anfang

Ich pfefferte mein Smartphone auf den Beifahrersitz und hämmerte mit der Faust auf dem Lenkrad herum. Dazu murmelte ich ein paar Flüche, einfach um Dampf abzulassen. Das Herz tat mir weh, und der Kopf wollte mir zerspringen.

Als ich den Wagen anließ, fiel mir auf, dass der Tank nur noch halb voll war. Mist. Ich stand auf dem Parkplatz meiner Firma und hatte eine Fahrt von über dreihundert Kilometern vor mir, von Delhi bis nach Shimla. Mein Boss hatte mir den Auftrag gegeben, mich dort mit einem Kunden aus den USA zu treffen und einen Deal über sieben Millionen Dollar mit ihm abzuschließen. Das war nicht ungewöhnlich, und als Marketingchef eines großen Medienunternehmens war ich häufig unterwegs. In letzter Zeit jedoch hatte ich angefangen, meinen Job und den Sinn und Zweck, den er in meinem Leben erfüllte, zu hinterfragen. Meine Aufgabe bestand darin, Abschlüsse im Wert von Millionen von Dollars für mein Unternehmen zu tätigen, aber für mich selbst sprang dabei nicht viel heraus. Allmählich staute sich der Frust über mein Schicksal immer mehr in mir an, aber die sechsstündige Fahrt würde mir helfen, den Kopf freizukriegen. Um Mitternacht würde ich in meinem Hotel in Shimla ankommen, und wenn ich dann einfach mal eine Nacht lang richtig gut schlief, war ich bestimmt für den Kampf mit einem weiteren Tag meines Lebens gerüstet.

Es war Montagabend, im Gegensatz zu den Wochenenden ein idealer Zeitpunkt, um in die Berge hinaufzufahren. Die Fahrt aus Delhi heraus war total easy, aber je näher ich den Bergen kam, desto stärker wurde meine Sehnsucht nach etwas ganz anderem. Ja, ich verspürte ein unbestimmtes Verlangen nach einer Katastrophe.

Wider besseres Wissen hatte ich Maya vor meiner Abfahrt noch vom Parkplatz aus angerufen. Ich hatte von ihr hören wollen, was in unserer Ehe eigentlich so schlimm gewesen war, dass sie jetzt mit ihren unverschämten Forderungen, falschen Anschuldigungen und angeblich zwingenden Gründen für eine Scheidung meine Zukunft und meine ganze Existenz zerstören wollte. Aber unser fünfminütiges Telefongespräch hatte nur ergeben, dass zwischen uns von Anfang an alles schiefgelaufen war.

Die Sonne war längst untergegangen, und das Grau des sich verdunkelnden Himmels bestimmte auch mein Lebensgefühl. Dann aber erwachten die Sterne aus ihrem Schlummer und mit ihnen auch die Nachttiere in den Wäldern zu beiden Seiten der schmalen Gebirgsstraße. Ich ließ die Wagenfenster herunter, damit mein Körper die Frische der Berge aufnehmen konnte. Die Straße war kaum befahren, so wie es an einem Montagabend zu erwarten war. Ein Gefühl von Einsamkeit hüllte mich ein. Mein Wagen trug mich durch die engen Kurven immer weiter bergauf. Ich musste mich beim Fahren sehr konzentrieren, denn falls ich mich ablenken ließ und nicht gut genug auf die Straße achtete, würde ich entweder an einer Felswand oder unten im Tal landen.

Während ich im Rückspiegel die leere Straße hinter mir betrachtete, biss ich frustriert die Zähne zusammen.

Mein Smartphone klingelte. Jay. Ich behielt die Straße im Auge und drückte mir das Telefon mit der Schulter ans Ohr. Jay war mein bester Freund. Seine positive Lebenseinstellung war ansteckend, und mit seiner Fröhlichkeit vermochte er mich selbst an den schlimmsten Tagen aufzuheitern.

»Maya kommt zurück«, versicherte er mir. »Sie leidet gerade an einem vorübergehenden Anfall von Gedächtnisverlust. Anscheinend hat sie vergessen, was für ein Juwel du bist. Wenn sie ihre emotionale Krise hinter sich hat, kommt sie wieder und entschuldigt sich. Dann musst du dich bloß fragen, ob du ihr verzeihen willst.«

Jays Optimismus verschlug mir die Sprache. Womit hatte ich seine Freundschaft verdient?

Ich war dankbar, dass es ihn gab. Früher war er Kommandeur bei der indischen Luftwaffe gewesen, und inzwischen interessierte er sich sehr für ökologische Landwirtschaft. Selbst zum falschen Zeitpunkt wusste er das Richtige zu sagen. In meiner auseinanderbrechenden Welt war Jay meine einzige Hoffnung. Sein feiner Humor und sein kluger Blick auf die Geschäftswelt und das Leben überhaupt waren ungeheuer wertvoll für mich.

Gerade als meine Laune sich gebessert hatte, gab die Tankanzeige mir neuen Anlass zur Sorge. In meiner Verzweiflung hatte ich ganz vergessen, in Delhi noch zu tanken. Bis nach Shimla waren es immer noch etwa hundert Kilometer, und dafür würde der Sprit nicht mehr reichen. Ein Blick nach vorn auf die Straße machte mir klar, dass die dunklen Berge kein Mitleid mit leichtfertigen Autofahrern hatten. Und zum Umkehren war es längst zu spät. Mir rutschte das Herz in die Hose.

Ich griff nach dem Smartphone, um die nächste Tankstelle zu suchen, aber ich hatte kein Netz. Das hasse ich an den Bergen. Gerade dann, wenn du telefonieren musst, kappen sie deine Verbindung zur Welt. Während ich wieder aufs Gas trat, hielt ich den Blick halb auf die Straße und halb auf die nicht vorhandenen kleinen Balken im Display gerichtet. Da ich selbst versagt hatte, sollte Google mir jetzt den Weg weisen.

Fünfzehn Kilometer später warnte die Tankanzeige mich, dass ich jetzt auf Reserve fuhr. Ich hatte immer noch kein Netz, vermutlich hatte es sich von meinem Handy scheiden lassen. Verdammter Mist! Noch ein paar Kilometer, und ich würde mitten in den Bergwäldern liegen bleiben. Auf der gewundenen Straße konnte ich weder vor noch hinter mir Fahrzeuge sehen. Die ganze Umgebung wirkte so öde und kalt wie die Kulisse eines Horrorfilms in einer schicksalhaften Nacht, in der ein Mensch sich verirrt, eine Panne hat oder sogar umgebracht wird.

Ich streckte mein Smartphone durch das immer noch offene Wagenfenster nach draußen und schwenkte es hin und her, um vielleicht doch noch ein Netz zu kriegen. Aber ich bekam keine Verbindung zur Welt. Der Wald, die Berge und mein Schicksal schienen im Weg zu sein. Ich wollte schon aufgeben, doch da sah ich im Rückspiegel Scheinwerfer durch die Baumstämme leuchten. Sofort schaltete ich die Warnblinkanlage ein, um anzuzeigen, dass ich Hilfe brauchte. Ein Lastwagen näherte sich. Mein Wagen fing an zu ruckeln, und am Stottern und Husten des Motors erkannte ich, dass er in den letzten Zügen lag.

»Nein! Ausgerechnet jetzt!« Ich pumpte mit dem Gaspedal, aber nach einem letzten Ruckeln ging der Motor aus. Mein Wagen rollte noch ein Stückchen weiter, dann blieb er stehen. Und im nächsten Moment fing er an, den steilen Berg rückwärts wieder hinunterzurollen.

»Nein!«, brüllte ich. Hinter mir führte die Straße kurvenreich bergab, und im Rückspiegel sah ich den Laster langsam, aber sicher näher kommen. Ich trat kräftig aufs Bremspedal. Mein Wagen schüttelte sich ein letztes Mal, und dann versagte auch die Bremse. Ich zog die Handbremse an, aber es war unmöglich, das Auto damit zum Stehen zu bringen. Es rollte weiter rückwärts, und ich konnte nichts weiter tun als lenken, um es in der Spur zu halten. Da blinkte mein Smartphone auf. In der Millisekunde, in der ich mich nicht mehr auf die Straße konzentrierte, rollte mein Wagen in einem Bogen Richtung Straßenmitte. Ohne meine Bitte um Hilfe zu beachten, hatte der Lastwagenfahrer zum Überholen angesetzt. Er hatte es wohl so eilig, sein Ziel zu erreichen, dass er sich nicht von einem hilfsbedürftigen Mitmenschen aufhalten lassen wollte. Mit markerschütterndem Kreischen krachte mein Wagen erst gegen den Laster, der nach dem Überholen wieder auf meine Spur herüberwechselte, und wurde dann gegen die Felswand gedrückt. Ein Felsvorsprung schob sich durch meine Fahrertür, traf mein Bein und presste es gegen die Lenksäule. Der Lastwagen fuhr schwankend weiter, als wäre er genauso betrunken, wie sein Fahrer es offenbar war, und seine Rücklichter verschwanden hinter der nächsten Kurve. Auf die Felskante aufgespießt, blieb ich stehen. Doch einen Moment später riss mein Wagen sich mit lautem Knirschen los und rollte weiter rückwärts bergab.

Starr vor Schreck saß ich hinter dem Lenkrad. Als einziger Zeuge des Unfalls sah ich meinen Körper im Wagen sitzen, ich sah den Laster beschleunigen, ich sah meinen Wagen rückwärts die schmale Straße hinuntergleiten. Ich sah etwa zehn Meilen entfernt zwei Autos, die in meine Richtung fuhren. Ich sah das Tal und eine Felswand, die fünfzehnhundert Meter tief abfiel. Ich sah das Blut auf meinem Bein. Ich sah die Verletzung an meinem Knie. Ich sah die Wunde an meinem Kopf und das Blut, das in mein Haar sickerte und über meinen Nacken rann. Ich fühlte mich wie losgelöst von meinem Körper, fast als würde ich ihn von außen betrachten.

Mein Wagen rollte erst langsam und wurde dann immer schneller. Er prallte gegen den steinernen Wegweiser am Straßenrand, auf dem Shimla 80 km stand, und blieb mit einem Ruck stehen. Blech kreischte, und dann bewegte das Fahrzeug sich ganz langsam auf den Abgrund zu. Ich hatte die Augen offen, nahm aber mehr wahr, als sie sehen konnten. Mein Körper war taub, als hätte er sich schon darauf vorbereitet, die Schmerzen auszublenden, die seiner Zerstörung vorangehen würden. Der Wagen kippte über die Kante, und die Räder schlugen irgendwo auf, sodass ich gegen die Windschutzscheibe flog. Dann stürzte das Auto ins Tal hinunter. Bei jedem Aufschlagen knallte ich mit dem Gesicht abwechselnd auf das Armaturenbrett und die Windschutzscheibe und meine Halswirbel knackten und knirschten.

Mit einem letzten Krachen blieb das Auto schließlich liegen. Ich holte noch einmal Luft, und dann verschlang mich die Dunkelheit der Berge.

Als Erstes nahm ich ein Summen wahr, es klang fast wie ein leiser Singsang. Dann hörte ich dumpfe Schläge. Mit einiger Anstrengung öffnete ich meine blutverklebten Augen. Vor mir tanzten verschwommen Bilder von einem Baum und von Gestalten, die sich bewegten. Dann verschwanden sie wieder in pechschwarzer Finsternis.

Lebte ich noch?

Ich merkte, dass fremde Hände meine Arme, meinen Hals und mein Gesicht abtasteten. Die Hände fühlten sich eisig an, so als würde jede Berührung meine Aufmerksamkeit wieder zurück auf den Körper lenken. Dabei wollte ich mich doch endlich von den Schmerzen befreien, von all den Schmerzen, die sich in meiner Welt eingenistet hatten. Gerade eben hatte ich ganz knapp einen Unfall überlebt, und jetzt hatte ich nur noch den sehnsüchtigen Wunsch zu sterben.

Unter meinem Kopf spürte ich nasses Gras, und ich roch feuchte Erde. Ich tat mein Bestes, um zu verhindern, dass ich richtig zu mir kam, denn das Bewusstsein würde seinen treuen Freund mitbringen, den Schmerz. Aber so gern ich auch tot gewesen wäre, ich hatte es offenbar nicht in der Hand, das zu entscheiden. Meine Augen öffneten sich erneut, und mein Blick fiel auf eine riesenhafte graue Gestalt, die sich über mich beugte.

»Zufall das Leben,

Zufall der Tod.

Umnachtung

An beiden Polen.

Für das Leben verloren,

Für den Tod verloren.

Unwissen siegt,

Wenn die Seele sich verstellt.

Wach auf,

Befreie dich,

Alles ist Illusion.

Und du kannst dich entscheiden, die Wahrheit zu sehen.

Erkenne dich selbst,

Erinnere dich, hol dich zurück.

Für das, was du geworden bist,

Trifft dich allein die Schuld.«

Die Worte fanden tief in mir Anklang, sie hypnotisierten mich fast. Sie drangen in meine Zellen ein und erweckten sie wieder zum Leben, und die Botschaft breitete sich langsam in meinem ganzen Körper aus.

Etwas Schweres lastete auf mir. Ich sah ein graues, knochiges, hohlwangiges Männergesicht. Auf dem Hinterkopf trug der Mann einen Knoten, die typische Haartracht vieler Sadhus. Er schaute auf mich herunter. Die hell leuchtenden Sterne hinter ihm bildeten eine unwirkliche Kulisse. Mein Blick wanderte von seinem Gesicht zu seinen Beinen hinunter, zwischen denen mein Brustkasten eingeklemmt war. Warum saß dieser Sadhu, dieser angeblich heilige Mann, auf mir? War er verrückt? Oder dachte er, ich wäre tot? Führte er auf meiner vermeintlichen Leiche eine Art spirituelles Ritual aus?

Er sang den Vers immer und immer wieder, bis ich schließlich hysterisch zu husten begann und den Sadhu damit von mir abschüttelte.

Das Chanten wurde lauter, und nun schritt eine ganze Schar Sadhus an mir vorbei, einige spazierten sogar über mich hinweg, stießen mich mit den Füßen hin und her und schienen weder meinen Zustand noch überhaupt meine Gegenwart zu bemerken. Ich war gerade wieder zum Leben erweckt worden, nur um jetzt in einem Massengetrampel zertreten zu werden.

Ich kauerte mich hin, wurde aber wieder der Länge nach ins Gras getreten. Ich wälzte mich auf den Bauch. Das Chanten erfüllte den Wald, während ein ganzes Heer von Sadhus über mich hinwegmarschierte. Manche traten mir auf den Rücken, andere auf den Kopf, und ein paar stolperten über meine Beine. Ich weiß nicht, wie lange diese Misshandlungen andauerten, ob es Sekunden, Minuten oder Stunden waren, aber irgendwann hörten sie auf. Ich war benommen, aber ich lebte.

»Du siehst nicht aus wie jemand, dessen Zeit abgelaufen ist.« Die Stimme ertönte aus der Stille heraus, die plötzlich die elektrisch aufgeladene Atmosphäre im Wald beruhigt hatte. »Du siehst aus, als sollte dein Leben sich ganz bald ändern«, sagte der Sadhu, während er mich auf den Rücken drehte. Er sagte es mit dem unheimlichsten Lächeln, das ich je gesehen hatte.

Ich hatte die Orientierung verloren. Mein Nacken war gefühllos und steif. Als ich mit großer Anstrengung den Blick zur Seite wandte, sah ich meinen Wagen. Er war gegen einen Baum gekracht und nur noch halb so lang wie vorher – eine schöne schwarze Limousine war zu einem Kleinwagen zusammengedrückt worden.

»Lass mal sehen, was wir hier haben.« Der Sadhu beugte sich über mein Bein und hob es an. »Gebrochen«, sagte er mit einem leisen Lachen.

Ich stellte mir den Schmerz vor, spürte ihn aber nicht. Doch schon bald würde der Schock nachlassen, und ich würde mir wieder wünschen, ich wäre tot.

»Schulter ausgekugelt, multiple Kopfverletzungen, Genickbruch.« Er strich mit der Hand über meinen Körper und spulte einen vollständigen Bericht über meinen Zustand ab.

»Drohendes Nierenversagen«, fuhr er fort, »ein paar Herzklappenstenosen, die Bauchspeicheldrüse ist am Ende, die Lungen sind überlastet, die neuronale Koordination ist gestört.« Ganz erschrocken über seine eigene Diagnose, hielt der Sadhu inne. »Es wäre besser gewesen«, sagte er dann, »wenn du bei dem Unfall gestorben wärst. Jetzt überlässt du es deinem Körper, dich rauszuwerfen.«

Er hob mich hoch und lehnte mich an einen Baum, sodass ich aufrecht saß.

»Ich will nicht mehr leben«, wimmerte ich. Ich hatte nicht vorgehabt, mich umzubringen, aber jetzt, da ich dem Tod so nahe war, erschien mir das Sterben als bessere Alternative. Weiterzuleben hätte nur bedeutet, mich mit dem Elend auseinandersetzen zu müssen, das mich auch weiterhin auf Schritt und Tritt erwarten würde.

»Warum bist du mir denn dann vor die Füße gefallen?« Der Sadhu sah mich finster an. Er war schlanker als das magerste Model, das ich je gesehen hatte. Um die Hüften hatte er sich ein kleines Tuch gebunden, und um den Hals trug er mehrere Gebetsketten aus Rudraksha-Perlen. Seine Augen waren riesengroß. Das Mondlicht, der finstere Wald und der Qualm, der unter der Haube meines zertrümmerten Autos aufstieg, schufen eine gruselige Atmosphäre. Und ausgerechnet hier begegnete ich einem Sadhu, einem vermeintlich heiligen oder »guten« Mann. Es hieß, Sadhus bildeten die Brücke zwischen der materiellen und der geistigen Welt.

»Ich war auf dem Weg nach Haridwar, wohin wir Sadhus alle pilgern. Du bist mir in die Quere gekommen und hast meine Reise unterbrochen. Wenn du nicht mehr leben wolltest, hättest du das nicht getan.« Er runzelte die Stirn.

»Sie können sich ruhig wieder auf den Weg machen«, murmelte ich kaum vernehmbar. Bei dem Zustand, in dem mein Körper sich befand, würde er noch vor Sonnenaufgang aufgeben und mich ein für alle Mal von der Verantwortung für mein Leben befreien.

»Der Tod ist keine Lösung, denn das Leben ist nie das Problem gewesen. Wie willst du ein Problem lösen, das nie existiert hat, du Idiot?« Mit einem Ruck richtete der Sadhu mein Bein gerade.

»Au«, brummte ich, weil ich mit Schmerzen rechnete, aber ich spürte keine.

»Wenn dir der Regen nicht passt, erhebe dich über die Wolken. Dass du den Regen verfluchst, lässt ihn nicht verschwinden, sondern er wird dich mit Sicherheit durchnässen. Wenn du das Leben verfluchst oder dir den Tod wünschst, verringerst du damit den Schmerz deiner Seele nicht. Es macht dich nur kleiner. Erhebe dich darüber. Betrachte den Schmerz von einer höheren, spirituellen Warte aus. Und wenn du diese Perspektive einmal gefunden hast, wird es nichts mehr geben, was du überwinden und lösen willst, denn dann spielt alles keine große Rolle mehr.« Der Sadhu riss an meinem Arm und drückte meine Schulter noch fester gegen die Baumrinde.

Mein Körper schien ihm ausgeliefert zu sein und meine Seele auch. Seine Worte drangen bis in mein tiefstes Inneres und prägten sich dort ein.

»Ich habe mein Leben verpfuscht«, bekannte ich. Unwillkürlich brach ich in Tränen aus. So hatte ich mein Leben noch nie betrachtet – aber ich war tatsächlich ein gebrochener Mann. Das konnte ich jetzt, da mein Körper auf sein Ende wartete, nicht mehr leugnen, ich musste es mir eingestehen.

»So wie alle anderen auch«, bemerkte der Sadhu unbekümmert. »Und das wirst du auch weiterhin machen – du wirst auch dein nächstes und dein übernächstes Leben verpfuschen, genauso, wie du es auch schon mit deinen vergangenen Leben gemacht hast.«

Ich hatte von den Sadhus gehört, von ihrer Lebensweise und dass sie der Welt entsagten, aber ich hatte noch keinen persönlich kennengelernt. Sie zeigten sich kaum in der Öffentlichkeit. Wenn sie irgendwo hinwollten, reisten sie nach Sonnenuntergang, zu Fuß.

»Du sitzt wirklich in der Patsche. Und solange du in deiner Situation festhängst, kannst du nichts daran ändern. Du musst dich über deine Situation erheben, nur dann kannst du sie betrachten und begreifen. Sonst wäre das, als wolltest du mitten in einem Wirbelsturm Ordnung schaffen. Das geht nicht.« Der Sadhu brach in Gelächter aus. Meine spirituelle Unwissenheit schien ihm großes Vergnügen zu bereiten.

»Wofür brauchst du das da?«, fragte er und deutet auf mein ramponiertes Auto.

»Um irgendwohin zu fahren«, sagte ich.

»Um irgendwohin zu fahren!«, rief der Sadhu höchst belustigt. Er hielt sich den Bauch und lachte sich schief. »Du steckst wirklich in der Klemme«, sagte er, nachdem er sich wieder beruhigt hatte.

»Du musst aufhören zu rennen. Das ist deine Aufgabe. Hör auf zu rennen. Hetzen, laufen, immerzu rennen.« Er riss die Augen auf und skandierte seine Worte in einem leisen, rhythmischen Singsang. »Rennen. Immerzu rennen.« Sein Gesicht nahm einen mürrischen Ausdruck an. »Keine Zeit zum Nachdenken. Keine Zeit zum Leben. Keine Zeit zum Lieben. Nur rennen.« Der Sadhu brummelte etwas vor sich hin und drehte dabei seinen Stab.

»Du musst aufhören zu rennen«, sagte er dann laut und packte mich mit festem Griff am Nacken. »Dein Traum – der Traum, den du aufgegeben hast.« Beim Sprechen kniff er die blutunterlaufenen Augen zusammen. »Er wird auf dich zukommen. Aber du darfst nicht mehr rennen.« Der Sadhu neigte den Kopf und schloss halb die Augen, als verfiele er in Trance. Mir war klar, dass er sich in die Zukunft hineinversetzte, und zwar in meine Zukunft, während ich selbst am Ende der Sackgasse meines Lebens an einem Baum lehnte.

»Dein Leben wird eine Wendung nehmen und dich in die Zukunft führen, die du dir immer gewünscht hast. Das Ende ist der Anfang. Der Anfang hat keine Vergangenheit, er hat nur eine Zukunft, die Zukunft, die du dir vorgenommen hast, ganz zu Beginn«, fuhr er fort. In seiner Trance umfasste er meinen Nacken und massierte die ausgerenkten Knochen an ihren Platz zurück. Ich spürte überhaupt nichts.

»Aber wie?«, krächzte ich. Nur mit Mühe gelang es mir, überhaupt einen Ton herauszubringen.

»Du bist anders«, sagte er mit einem Blick über seine Schulter. »Du bist nicht wie die gewöhnlichen Leute, deswegen leidest du. Du leidest, weil du geistig wach bist und weil du die Wahrheit erkennst. Du musst aufhören, bei dem Wettrennen da draußen mitzumachen. Bleibe deinem eigenen Ziel treu. Schaffe dir deine eigenen Regeln. Deine Zukunft wird so sein, wie du sie haben willst.«

Ich spürte, dass ein Energieschub von ihm ausging, der mich hypnotisierte und in eine von ihm gesteuerte Trance versetzte. Es war, als befände ich mich an einem Ort mitten zwischen Leben und Tod und als hätte ich mich noch nicht richtig entschieden, ob ich leben oder sterben wollte. Die Stimme des Sadhus schlug mich in Bann. Mein Kopf war ganz leer. Nach einer Weile jedoch hallten die Worte des Sadhus darin wider.

»Hier«, sagte er und knotete ein Tuch von seinem Stab ab. Er faltete es auseinander und breitete es über meine Beine, sodass es mir bis zum Bauch reichte. »Ruh dich aus«, befahl er.

»Danke, dass Sie mir das Leben retten«, antwortete ich. Ich war dankbar für seine Anwesenheit. Ob ich nun am Leben blieb oder hier umkam, sein Dasein und seine Fürsorglichkeit hatten mich tief berührt, wie eine göttliche Kraft. Vielleicht würde ich ins Leben zurückfinden, vielleicht in die nächste Welt hinübergehen, in jedem Fall aber würden seine Worte in meinem Bewusstsein haften bleiben und Beachtung und Nachdenken verlangen.

»Bedanke dich nicht bei mir. Dass du mir vor die Füße gefallen bist, dient mir dazu, mein Lebensziel zu erreichen. Die Dankbarkeit ist also gegenseitig.« Der Sadhu begann, ein violettes Band aus einer seiner Gebetsketten zu ziehen.

Mein Körper war nach wie vor bewegungsunfähig. Das eintrocknende Blut erzeugte um meinen Kopf herum ein Spannungsgefühl. Aber obwohl mein Körper schwerste Verletzungen erlitten hatte, verspürte ich keine Schmerzen. Noch nicht.

»Erhebe dich über die Wolken«, sagte der Sadhu, während er behutsam das violette Band aus seiner Rudraksha-Mala löste.

»Dieses Band wirst du«, er stupste mich am Handgelenk an, damit ich mich ganz auf seine Anweisung konzentrierte, »an eine Stange gebunden finden, die hinter dem Gurudwara Hemkund Sahib steht. Knote es ab. Damit wirst du dein Karma auflösen. Auch die Reue, die Schuldgefühle, die Verwirrung und die Selbstvorwürfe, die dich zurzeit quälen, wirst du damit überwinden, und du wirst alle Hindernisse beseitigen, die sich auf deinem Weg auftürmen. Du wirst deine Berufung finden, du wirst die Bestimmung finden, mit der du dieses Leben begonnen hast. Deine Welt wird sich zusammenfügen, so, wie es seit jeher beabsichtigt war. Knote dieses Band ab, dieses violette Band, das du an der Stange finden wirst, und dein Leben wird sich zu seiner ganzen Großartigkeit entfalten.« Der Sadhu tätschelte das tiefviolette Band, das er inzwischen fest um mein Handgelenk gewickelt hatte.

»Reue schadet dem Leben wie Termiten dem Holz. Sie kann dich auffressen.« Er sprang auf die Füße und stellte sich neben meinen reglosen Körper. »Und auch Verwirrung schadet dem Leben, so wie ein Parasit seinem Wirt. Sie kann dich auffressen.« Der Sadhu beugte sich nah zu meinem Gesicht hinunter, damit ich ihn gut sehen konnte. »Du darfst dein Leben und deine Seele nicht mehr an den Meistbietenden verkaufen, denn damit verkaufst du auch deine Familie, deine Träume und deine Bestimmung.« Er packte mich mit beiden Händen an den Wangen und schüttelte vorwurfsvoll meinen Kopf. »Hole sie zurück. Lass dich nicht zu einem Sklaven des Geldes machen. Werde zum Herrn deines Schicksals. Hör auf zu rennen. Fang an, dein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Das hier ist das Ende. Und gleichzeitig ist es der Anfang.«

»Wie bitte? Warten Sie doch!« Ich verstand nicht, was er da sagte.

»Du darfst nicht mehr so tun, als wärst du unwissend. Du darfst auch nicht mehr darauf warten, dass andere dir sagen, wer du bist. Du hast von anderen erwartet, dass sie dir sagen, was du tun sollst, dass sie dir zeigen, was richtig ist, und dass sie dir erklären, was das Leben bedeutet und wer du sein solltest – aber das muss jetzt aufhören. Du siehst nicht aus wie jemand, dessen Zeit abgelaufen ist. Du hast hierhergefunden, auf meinen Pfad – es ist der Pfad der Erlösung. Du siehst aus, als sollte dein Leben sich schon sehr bald verändern.« Der Sadhu schlug mit seinem Stab mehrmals kräftig auf den Boden. Seine Hiebe ließen eine Staubwolke aufsteigen. Er hob sein Gesicht zum Himmel, ins Mondlicht, und seine ganze Gestalt wurde von unzähligen Staubfünkchen beleuchtet.

»Du hast dich verirrt, um dich selbst zu finden.

Das ist das Spiel müßiger Gedanken.

Hör auf zu lügen; das Spiel ging zu weit.

Erhebe dich, bekenne dich zur Wahrheit,

bevor alles zu spät ist.«

Während die Staubwolke sich drehte und sich immer dichter über mir zusammenzog, hörte ich wieder und wieder diese Worte. Und als die Staubwolke sich endlich senkte, war der Sadhu verschwunden.

»Sahib!«

Mehrmals hörte ich ein Rufen, und dann spürte ich, wie jemand mich anstupste. Als ich mühsam die Augen öffnete, sah ich verschwommen und schwankend die Gestalt eines Jungen, der mir besorgt ins Gesicht schaute. Ich hörte das Meckern und das leise Getrappel von Ziegen. Sie kamen näher und versammelten sich um mich herum. Eine knabberte an meinem Fuß.

»Alles in Ordnung?«, fragte der Junge

Ich brauchte eine Weile, bis ich sein Gesicht deutlich sehen konnte. Durch die Äste der Bäume über mir leuchtete der blaue Himmel. Eine Ziege beschnupperte mein Gesicht. Ich spürte ihre feuchte Nase und ihren warmen Atem auf meiner Wange. Als der junge Hirte sie von meinem Kopf wegscheuchte, stieß sie ein Mä-hä-hä aus. Wieder schaute er mich prüfend an. Sein großer Kopf nahm mir fast die Sicht auf die Äste über mir.

»Alles in Ordnung?«, wiederholte der Junge. Er musste aus einem der Dörfer in der Umgebung stammen. Nun kam er mit seinem Gesicht noch näher und schnupperte. Er versuchte, am Geruch meines Atems zu erkennen, ob ich Alkohol getrunken hatte.

»Wo bin ich?«, fragte ich und bemühte mich aufzustehen. Ich war völlig erschöpft, meine Kleidung war total verdreckt, und ich war mit einem dünnen, mit Erde verschmierten Tuch zugedeckt. Am nächsten Baum lehnte mein Wagen, er stand senkrecht auf dem Kofferraum. Ich verstand das nicht. Das Auto konnte nur hierhergekommen sein, indem es von der Straße oben sechzig Meter tief heruntergestürzt war, eine andere Möglichkeit gab es nicht. Aber es hatte nicht einen einzigen Kratzer. Und auch ich hatte anscheinend keine Verletzungen, nicht einmal einen blauen Fleck. Erinnerungen an den Unfall, an den Sturz ins Tal und an den Sadhu strömten auf mich ein. Mit leerem Blick sah ich den Jungen an, während ich mir alles vergegenwärtigte, was mir vom Vorabend im Gedächtnis geblieben war. An meinem Unfall bestand kein Zweifel: Ich war von der Straße abgekommen und ins Tal gestürzt. Auch an meinem Nahtod-Erlebnis gab es keinen Zweifel, denn diesen Sturz hätte kein Mensch überleben können. Doch die Tatsache, dass mein Körper völlig unversehrt war, machte das Ereignis zu einer rätselhaften Geschichte, die mir niemand glauben würde. Der Sadhu hatte ein Wunder bewirkt. Er hatte mich wieder zusammengeflickt, er hatte mich geheilt. Ich wusste zwar, dass Sadhus übernatürliche Kräfte besaßen, aber dass sie einen zerschlagenen Körper innerhalb weniger Stunden gesund machen konnten, hätte ich niemals geglaubt. Die Tatsache, dass ich am Leben und unversehrt war, war jedoch der beste Beweis dafür.