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»Um Russland zu verstehen, müssen Sie dieses Buch lesen.« (The Times) Andrej Kaplan, geboren in Russland, aufgewachsen in den USA, steckt beruflich in einer Sackgasse, und auch privat läuft es mies für den unterbezahlten jungen Literaturdozenten. Als ihn sein Bruder um Hilfe bittet, willigt er spontan ein – und findet sich kurz darauf in Moskau wieder, wo er sich um seine wunderlich werdende Großmutter kümmern soll, eine Frau, die die dunklen Tage des Kommunismus kennt und die rücksichtslose kapitalistische Transformation Russlands hautnah miterlebt hat. Andrej lernt, sich in Putins Moskau zurechtzufinden: Es ist immer noch seine Geburtsstadt, nur mit sehr viel teurerem Kaffee. Er zieht bei seiner überraschend schlagfertigen Großmutter ein, findet einen Ort zum Eishockeyspielen, ein Café mit kostenlosem WLAN und schließlich auch neue Freunde. Als er sich in die schöne Aktivistin Yulia verliebt, steht er schließlich vor einer folgenschweren Entscheidung. »Gessens besondere Gabe ist seine Fähigkeit, sich mühelos und charmant auf große Ideen einzulassen – Macht, Verantwortung, Despotismus verschiedener Couleur, die Schwierigkeit, hehre Ideale im Leben auch tatsächlich umzusetzen – und dennoch eine bewegende, unterhaltsame und menschliche Geschichte zu erzählen.« George Saunders »Ein witziges und sehr einfühlsames Porträt eines Enkels, einer Großmutter und eines komplizierten Landes.« Jewish Weekly »Ich frage mich, wie viele unter Drogen gesetzte Spione, gefälschte Wahlen und politische Morde es noch braucht, bis der Rest der Welt begreift, dass es aus existenziellen Gründen klug wäre, wenn wir Russland etwas mehr konsequente und nuancierte Aufmerksamkeit schenken würden. Ein schreckliches Land bietet eine ausgezeichnete und unterhaltsame Möglichkeit, damit zu beginnen.« The Guardian
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Seitenzahl: 607
Veröffentlichungsjahr: 2021
eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2021
Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg
Tel. +4940 31108081, [email protected]
www.culturbooks.de
Alle Rechte vorbehalten
A Terrible Country
Copyright © 2018, Keith Gessen
All rights reserved
Übersetzung von Anna Achmatowas »Requiem«: Rosmarie Düring
Übersetzung: Jan Karsten
Alle Rechte vorbehalten
Redaktion: Zoë Beck
Korrektorat: Kristina Wengorz
Covergestaltung: Cordula Schmidt Design, Hamburg
Coverillustration: Alessandro Gottardo
eBook-Herstellung: CulturBooks
Erscheinungsdatum: Juni 2021
ISBN 978-3-95988-198-2
»Um Russland zu verstehen, müssen Sie dieses Buch lesen.« The Times
Andrej Kaplan, geboren in Russland, aufgewachsen in den USA, steckt beruflich in einer Sackgasse, und auch privat läuft es mies für den unterbezahlten jungen Literaturdozenten. Als ihn sein Bruder um Hilfe bittet, willigt er spontan ein – und findet sich kurz darauf in Moskau wieder, wo er sich um seine wunderlich werdende Großmutter kümmern soll, eine Frau, die die dunklen Tage des Kommunismus kennt und die rücksichtslose kapitalistische Transformation Russlands hautnah miterlebt hat.
Andrej lernt, sich in Putins Moskau zurechtzufinden: Es ist immer noch seine Geburtsstadt, nur mit sehr viel teurerem Kaffee. Er zieht bei seiner überraschend schlagfertigen Großmutter ein, findet einen Ort zum Eishockeyspielen, ein Café mit kostenlosem WLAN und schließlich auch neue Freunde. Als er sich in die schöne Aktivistin Yulia verliebt, steht er bald vor einer folgenschweren Entscheidung.
»Gessens besondere Gabe ist seine Fähigkeit, sich mühelos und charmant auf große Ideen einzulassen – Macht, Verantwortung, Despotismus verschiedener Couleur, die Schwierigkeit, hehre Ideale im Leben auch tatsächlich umzusetzen – und dennoch eine bewegende, unterhaltsame und menschliche Geschichte zu erzählen.« George Saunders
»Ein witziges und sehr einfühlsames Porträt eines Enkels, einer Großmutter und eines komplizierten Landes.« Jewish Weekly
Keith Gessen wurde 1975 in Moskau geboren und immigrierte 1981 mit seiner Familie in die USA. Er ist Mitbegründer der literarischen Zeitschrift n+1, arbeitete als Übersetzer und schrieb unter anderem für die New York Times, die London Review of Books und den New Yorker. Gessen unterrichtet Journalismus an der Columbia University und lebt in New York. Sein Debütroman All die traurigen jungen Dichter erschien
Keith Gessen
Ein schreckliches Land
Roman
Teil I
Im Spätsommer 2008 zog ich nach Moskau, um mich um meine Großmutter zu kümmern. Sie wurde bald neunzig, und ich hatte sie seit fast zehn Jahren nicht mehr gesehen. Unsere Familie bestand nur noch aus meinem Bruder und mir; ihre einzige Tochter, unsere Mutter, war vor vielen Jahren gestorben. Jetzt lebte Baba Sewa allein in ihrer Moskauer Wohnung. Als ich anrief und ihr sagte, dass ich komme, schien sie sich zu freuen, wirkte aber auch ein bisschen verwirrt.
Meine Eltern und mein Bruder und ich hatten die Sowjetunion 1981 verlassen. Ich war sechs, und Dima war sechzehn, und das war ein entscheidender Unterschied. Ich wurde Amerikaner, während Dima im Grunde ein Russe blieb. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ging er sofort zurück nach Moskau und machte ein Vermögen. Seitdem hat er viele Vermögen gemacht und auch wieder verloren; wie es im Moment aussah, wusste ich nicht genau. Aber eines Tages schrieb er mich auf GTalk an und fragte, ob ich nach Moskau kommen könne, um mich um Baba Sewa zu kümmern, weil er für unbestimmte Zeit nach London müsse.
»Was willst du denn in London?«
»Das erklär ich dir, wenn wir uns sehen.«
»Du verlangst von mir, alles stehen und liegen zu lassen, um ans andere Ende der Welt zu fahren, und willst mir noch nicht mal sagen, warum?«
Ich war immer sehr schnell gereizt, wenn ich mit meinem älteren Bruder zu tun hatte. Das gefiel mir nicht, aber ich konnte es einfach nicht ändern.
Dima schrieb: »Wenn du nicht herkommen willst, dann sag es einfach. Aber ich werde es dir ganz bestimmt nicht auf GTalk erklären.«
»Weißt du«, antwortete ich, »man kann die Einstellungen auf vertraulich setzten. Dann sieht es niemand.«
»Du bist ein Idiot.«
Damit wollte er sagen, dass er es mit einigen echt finsteren Typen zu tun hatte, die sich nicht so leicht davon würden abhalten lassen, seine Chats zu lesen. Vielleicht war es die Wahrheit, vielleicht auch nicht. Dima bewegte sich diesbezüglich in einer permanenten Grauzone.
Was mich anging: Ich war nicht wirklich ein Idiot. Aber ich war auch nicht kein Idiot. Ich hatte vier lange Jahre am College und dann acht noch viel längere Jahre an der Grad School damit verbracht, russische Literatur und Geschichte zu studieren, Bier zu trinken und das Eishockeyturnier um den Grad Student Cup zu gewinnen (fünfmal!). Und anschließend hatte ich mich drei Jahre lang ohne jedes Ergebnis auf dem Arbeitsmarkt herumgetrieben. Als Dima mich anschrieb, hatte ich alle verfügbaren Postgraduiertenstipendien ausgeschöpft und mich verpflichtet, ein paar Onlinelektionen in der neuen Universitätsinitiative BOMOK – Abkürzung für »bezahlte offene Massen-Online-Kurse« – zu übernehmen, wobei sich der »bezahlte« Teil vor allem auf die Studierenden bezog, die wirklich ziemlich bluten mussten, und nicht so sehr auf die Lehrenden, die nur sehr wenig bekamen. Viel zu wenig, um weiterhin in New York leben zu können, wie sparsam man auch war. Kurz gesagt, wenn es darum ging, ob ich ein Idiot war oder nicht, ließen sich Argumente für beides finden.
Dass Dima mir gerade jetzt schrieb, kam so gesehen eigentlich genau zur richtigen Zeit. Allerdings hatte er auch ein Händchen dafür, Leute in etwas hineinzuziehen, das nicht in ihrem besten Interesse lag. Einmal hatte er seinen mittlerweile ehemals besten Freund überredet, nach Moskau auszuwandern und eine Bäckerei zu eröffnen. Bedauerlicherweise lag Toms Bäckerei zu nah an einer anderen Bäckerei, und er hatte Glück gehabt, Moskau lediglich mit einer ausgekugelten Schulter wieder verlassen zu können. Ich ging jedenfalls mit äußerster Vorsicht vor.
Ich fragte: »Kann ich in deiner Wohnung wohnen?« Dima hatte damals, nach dem Zusammenbruch der russischen Wirtschaft 1999, die Wohnung direkt gegenüber meiner Großmutter gekauft. Mich von dort aus um sie zu kümmern wäre ziemlich praktisch.
»Die ist untervermietet«, meinte Dima. »Aber du kannst in unserem alten Schlafzimmer in Großmamas Wohnung schlafen. Es ist ordentlich und sauber.«
»Ich bin dreiunddreißig«, antwortete ich und meinte damit, ich sei zu alt, um bei meiner Großmutter zu wohnen.
»Wenn du dir deine eigene Wohnung mieten willst, nur zu. Aber es sollte in Großmamas Nähe sein.«
Unsere Großmutter wohnte im Zentrum von Moskau. Die Mieten dort waren fast so hoch wie in Manhattan. Von dem, was ich mit meinen BOMOKs verdiente, würde ich mir gerade mal einen Schlafsessel leisten können.
»Kann ich dein Auto benutzen?«
»Das habe ich verkauft.«
»Alter! Wie lange wirst du denn weg sein?«
»Weiß nicht«, schrieb Dima. »Und ich bin schon weg.«
»Oh«, erwiderte ich. Er war bereits in London. Er musste ziemlich überstürzt aufgebrochen sein.
Und ich wiederum wollte ziemlich dringend New York den Rücken kehren. Der letzte meiner Kommilitonen aus dem Institut für Slawistik war gerade wegen eines neuen Jobs nach Kalifornien gezogen, und meine Freundin, Sarah, mit der ich ein halbes Jahr zusammen gewesen war, hatte vor Kurzem in einem Starbucks mit mir Schluss gemacht. »Ich weiß einfach nicht, wo das hinführen soll«, hatte sie gesagt und unsere Beziehung gemeint, glaube ich, aber eigentlich hatte sie mein ganzes Leben ziemlich gut auf den Punkt gebracht. Und sie hatte recht: Selbst das, was mir immer am meisten Spaß gemacht hatte – mich mit russischer Literatur und Geschichte zu beschäftigen und sie zu unterrichten –, bereitete mir kein Vergnügen mehr. Ich steuerte auf eine Zukunft zu, in der ich bis ans Ende meiner Tage halbherzig die halb fertigen Arbeiten von halb interessierten Studierenden benotete.
Moskau hingegen war ein ganz besonderer Ort für mich. Es war die Stadt, in der meine Eltern aufgewachsen waren und sich kennengelernt hatten; es war die Stadt, in der ich geboren worden war. Es war eine große, hässliche, gefährliche Stadt, aber zugleich die Wiege der russischen Zivilisation. Selbst als Peter der Große ihr 1712 den Rücken kehrte und nach St. Petersburg ging, selbst als Napoleon sie 1812 plünderte, blieb Moskau, wie Alexander Herzen es ausdrückte, die Hauptstadt des russischen Volkes. »Wie sehr ihnen Moskau im Blut lag, merkten sie an dem Schmerz, den sie spürten, als sie es vergossen.« Ja, das stimmte. Und ich war jahrelang nicht mehr dort gewesen. Im Verlauf einiger Grad-School-Sommer war ich ihrer Armut und ihrer Hoffnungslosigkeit überdrüssig geworden. Die aggressiven Betrunkenen in der Metro; die Schläger in Trainingsanzügen und Lederjacken, die überall herumliefen und einen anstarrten; der Typ, der jede Nacht aus den Mülltonnen neben dem Haus meiner Großmutter aß, als ich im Jahr 2000 den Sommer dort verbrachte, und immer wieder »Wichser!« und »Blutsauger!« schrie, während er sich weiter durch den Müll wühlte. Seitdem war ich nicht mehr dort gewesen.
Trotzdem ließ ich die Finger von der Tastatur. Ich brauchte irgendein Zugeständnis von Dima, und wenn auch nur aus Stolz.
»Kann ich da irgendwo Eishockey spielen?«, fragte ich schließlich. Im selben Maße wie es mit meiner akademischen Karriere bergab gegangen war, hatte sich mein Eishockeyspiel verbessert. Selbst im Sommer war ich drei Tage in der Woche auf dem Eis.
»Soll das ein Witz sein?«, fragte Dima. »Moskau ist ein Eishockeymekka. Überall werden neue Eisbahnen gebaut. Sobald du dort bist, bringe ich dich in einem Spiel unter.«
Ich ließ es sacken.
»Ach so: Das WLAN-Signal aus meiner Wohnung reicht bis über den Flur«, sagte Dima. »Es gibt kostenloses Internet.«
»Okay!«, schrieb ich.
»Echt?«
»Ja«, sagte ich. »Warum nicht.«
Ein paar Tage später ging ich zum russischen Konsulat in der Upper East Side, stand eine Stunde lang mit meinem Antrag in der Hand in der Schlange und bekam ein Jahresvisum. Dann erledigte ich, was zu erledigen war: Ich vermietete mein Zimmer an einen Rockschlagzeuger aus Minnesota, brachte meine Bücher zurück in die Bibliothek und holte mein Eishockeyzeug aus dem Schließfach in der Umkleidekabine der Eishalle. Es war alles ein ziemlicher Aufwand und nicht gerade billig, aber ich dachte die ganze Zeit an das neue Leben, das vor mir lag, und den neuen Menschen, der ich bald sein würde. Ich stellte mir vor, wie ich meiner Großmutter die Einkäufe trug, mit ihr Ausflüge durch die Stadt unternahm, ins Kino ging (sie hatte das Kino immer geliebt), mit ihr Arm in Arm durch die vertraute Nachbarschaft schlenderte und ihren Geschichten über das Leben während des Sozialismus lauschte. Es gab so viel in ihrem Leben, von dem ich nichts wusste, so viel, nach dem ich sie nie gefragt hatte. Ich war gleichgültig und selbstvergessen gewesen; ich hatte mehr an Bücher geglaubt als an Menschen. Ich malte mir aus, wie ich morgens gegen Putin demonstrierte, nachmittags Eishockey spielte und abends meiner Großmutter Gesellschaft leistete. Vielleicht konnte ich sogar das Leben meiner Großmutter als Grundlage für einen Aufsatz nutzen. Ich stellte mir vor, wie ich mit den Geschichten meiner Großmutter in der Hand mönchisch in meinem Zimmer saß und meiner wissenschaftlichen Arbeit eine ganz neue Dimension hinzufügte. Vielleicht könnte ich ihre Erinnerungen als kursive Passagen in meinen Aufsatz einflechten – wie bei In Our Time auf BBC.
An meinem letzten Abend in der Stadt schmissen meine Mitbewohner eine kleine Party für mich. »Auf Moskau«, sagten sie und hoben ihre Bierdosen.
»Auf Moskau!«, wiederholte ich.
»Und lass dich nicht umbringen«, fügte einer von ihnen hinzu.
»Ich lass mich nicht umbringen«, versprach ich.
Ich war aufgeregt. Und betrunken. Mir fiel auf, dass es durchaus einen Hauch von Glamour hatte, einige Zeit in einem zunehmend gewalttätigen und diktatorischen Russland zu verbringen, dessen Streitkräfte gerade dem kleinen Georgien eine demütigende Niederlage beigebracht hatten. Um drei Uhr nachts schrieb ich Sarah eine SMS. »Morgen ist es so weit«, lautete sie, als würde ich zu irgendeinem supergefährlichen Ort aufbrechen. Sarah antwortete nicht. Drei Stunden später wachte ich, noch immer betrunken, auf, schmiss meinen restlichen Kram in einen riesigen roten Koffer, schnappte mir meinen Eishockeyschläger und machte mich auf den Weg zum JFK. Ich stieg ins Flugzeug und schlief auf der Stelle ein.
Eh ich mich’s versah, stand ich in der Schlange vor der Passkontrolle im trostlosen Keller des Scheremetjewo-II International Airport. Hier schien sich nie etwas zu ändern. Nach jeder Landung führten sie einen hinab in den Keller, wo man endlos anstehen musste, bevor man endlich sein Gepäck bekam. Es war wie ein Fegefeuer, das einen vermuten ließ, als Nächstes nicht unbedingt im Himmel zu landen.
Aber die Russen sahen anders aus, als ich sie in Erinnerung hatte. Sie waren gut gekleidet, hatten schicke Frisuren und telefonierten mit eleganten neuen Handys. Sogar die Grenzbeamten in ihren hellblauen, kurzärmeligen Uniformen waren guter Laune. Obwohl die Schlange lang war, standen mehrere Uniformierte abseits in kleinen Gruppen beisammen und lachten. Der Ölpreis stand bei hundertvierzehn Dollar pro Fass, und ihre Armee hatte gerade den Georgiern den Arsch versohlt – lachten sie darüber?
Die Modernisierungstheorie lehrt Folgendes: Wohlstand und Technologie sind mächtiger als Kultur. Gebt den Leuten schöne Autos, Farbfernseher und die Möglichkeit, nach Europa zu reisen, und sie werden aufhören, aggressiv zu sein. Zwei Länder mit McDonald’s-Filialen werden niemals gegeneinander in den Krieg ziehen. Menschen mit Handys sind freundlicher als Menschen ohne Handys.
Ich war mir da nicht so sicher. In Georgien gab es McDonald’s, und die Russen hatten es trotzdem bombardiert. Als ich mich der Passkontrolle näherte, bat ein großer, bebrillter, gut gekleideter Europäer – Holländer oder Deutscher – auf Englisch darum, vorgelassen zu werden: Er müsse seinen Anschlussflug bekommen. Ich nickte zustimmend – wir würden ohnehin noch eine Weile auf unser Gepäck warten müssen –, aber der Mann hinter mir, ungefähr so groß wie der Holländer, nur viel kräftiger und in einem kastigen, aber in meinen Augen nicht gerade billigen Anzug, fuhr mit starkem russischem Akzent auf Englisch dazwischen: »Geh zurück ans Ende der Schlange.«
»Aber ich verpasse meinen Flug«, sagte der Holländer.
»Geh zurück ans Ende der Schlange.«
Ich sagte auf Russisch zu dem Mann: »Aber das ist doch kein Problem.«
»Oh, es ist ein großes Problem«, antwortete er.
»Bitte?«, bat der Holländer noch einmal auf Englisch.
»Ich sage, zurück mit dir. Sofort!« Der Russe drehte sich ein wenig zur Seite, sodass er dem Holländer gegenüberstand.
Der trat frustriert gegen seine Reisetasche. Dann nahm er sie und ging zurück ans Ende der Schlange.
»Das war die richtige Entscheidung«, sagte der Russe auf Russisch zu mir und meinte damit, dass er als ein Mann mit Prinzipien bereit gewesen wäre, den Holländer mit den Fäusten zu bearbeiten, wenn er sich vorgedrängelt hätte.
Ich antwortete nicht.
Ein paar Minuten später erreichte ich die Passkontroll-kabine. Ein junger, blonder, ernst dreinschauender Grenzschutzbeamter saß darin; in seiner lichtbeschienenen Uniform sah er aus wie ein Gott. Ich war jetzt rechtelos, fiel mir plötzlich ein; so etwas wie Recht und Gesetz gab es hier nicht. Während ich ihm meinen Reisepass aushändigte, fragte ich mich, ob ich diesmal mit der Rückkehr in das Land meiner Eltern mein Glück einmal zu oft strapaziert hätte. Würden sie mich schlussendlich nun doch in Gewahrsam nehmen, wegen all der unfreundlichen Dinge, die ich im Lauf der Jahre über Russland gedacht hatte?
Aber der Beamte nahm lediglich meinen ramponierten blauen amerikanischen Reisepass – den Pass von jemandem, der in einem Land lebte, in dem man seinen Pass nicht ständig mit sich herumtragen musste, in dem es tatsächlich passieren konnte, dass man monate- oder jahrelang gar nicht wusste, wo sich der Pass überhaupt befand – mit leichtem Abscheu entgegen. Hätte er einen Pass wie den meinen, er würde besser darauf achtgeben. Er glich meinen Namen mit der Terroristendatenbank ab, öffnete die Durchgangstür und ließ mich passieren.
Und das war’s. Ich war wieder in Russland.
Meine Großmutter Sewa lebte mitten im Zentrum der Stadt, in einer Wohnung, die ihr in den späten 1940er-Jahren von Josef Stalin zuerkannt worden war. Manchmal, wenn er damit irgendwas beweisen wollte, ritt mein Bruder Dima darauf herum, und auch meine Großmutter erwähnte es hin und wieder, wenn sie in selbstkritischer Stimmung war. »Meine Stalin-Wohnung« nannte sie sie dann, wie um jeden – und allen voran sich selbst – daran zu erinnern, welchen fragwürdigen moralischen Kompromiss sie eingegangen war. Aber grundsätzlich waren wir uns in der Familie einig: Wenn man mit einer kleinen Tochter und zwei Brüdern und einer Mutter in einem zugigen Zimmer in einer Gemeinschaftsunterkunft lebte und einem jemand eine Wohnung anbot, war es absolut in Ordnung, dieses Angebot anzunehmen, ganz egal von wem es kam. Und es ist ja nicht so, als hätte Stalin persönlich ihr die Schlüssel übergeben oder eine Gegenleistung von ihr verlangt. Sie war damals eine junge Geschichtsprofessorin an der Staatlichen Universität Moskau und hatte als Beraterin an einem Film über Iwan den Großen mitgearbeitet, diesen »Zar aller Russen« aus dem fünfzehnten Jahrhundert und Großvater von Iwan dem Schrecklichen. Stalin hatte der Film so gut gefallen, dass er verkündete, jeder Beteiligte solle eine eigene Wohnung erhalten. Weshalb meine Großmutter sie nicht nur »meine Stalin-Wohnung«, sondern wahlweise auch »meine Iwan-der-Große-Wohnung« oder, wenn sie es ernst meinte, »meine Jolka-Wohnung« nannte, nach ihrer Tochter, meiner Mutter, für die sie einfach alles getan hätte.
Um zu dieser Wohnung zu gelangen, tauschte ich ein paar Dollar an der Wechselstube bei der Gepäckausgabe – es gab damals ungefähr vierundzwanzig Rubel pro Dollar – und nahm den nagelneuen Schnellzug zum Bahnhof Savelowski. Auf dem Weg dorthin fuhr ich kilometerweit an verfallenen sowjetischen Wohnblocks vorbei und durch den alten (ebenfalls verfallenen), direkt bis ans Stadtzentrum reichenden Industriegürtel aus der Jahrhundertwende. Unterwegs fing der kräftige Kerl, der neben mir saß – ungefähr mein Alter, in Jeans und einem kurzärmligen Button-down-Hemd –, ein Gespräch mit mir an.
»Was ist das für ein Modell?«, fragte er und meinte mein Handy. Ich hatte am Flughafen eine SIM-Karte gekauft und legte sie gerade ein, um zu sehen, ob sie funktionierte.
Jetzt geht’s los, dachte ich. Mein Telefon war ein ganz normales Klapphandy, das ich von T-Mobile bekommen hatte. Aber ich nahm an, dies wäre nur das Vorspiel, und der Typ würde versuchen, mich auszurauben. Ich wurde nervös. Mein Eishockeyschläger befand sich im Gepäckfach über uns, und es wäre sowieso schwer gewesen, mitten im Zug auszuholen und nach dem Mann zu schlagen.
»Ein ganz normales Handy«, sagte ich. »Samsung.«
Ich war russischsprachig aufgewachsen und sprach es immer noch mit meinem Vater und meinem Bruder, aber ich hatte einen leichten, schwer zuzuordnenden Akzent. Ich machte gelegentlich kleine grammatikalische Fehler oder betonte die falsche Silbe. Und ich war etwas eingerostet. Der Mann bemerkte es, und er sah auch, dass mich meine olivfarbene Haut von den meisten anderen Slawen in diesem schicken Zug unterschied.
»Woher kommst du?«, fragte er.
Er benutzte das vertrauliche Ty statt des Wy – es konnte bedeuten, dass er einfach nur freundlich sein wollte, weil wir ungefähr im selben Alter waren und im selben Zug saßen, oder aber er nahm sich das Recht heraus, mich anzusprechen, wie es ihm gerade beliebte. Ich wusste es nicht.
Er fing an zu raten, woher ich wohl käme. »Spanien?«, fragte er. »Oder Türkei?«
Und was sollte ich antworten? Wenn ich »New York« sagte, würde er denken, ich hätte Geld, obwohl ich eine alte Jeans trug und Sneaker, die ihre besten Tage bereits hinter sich hatten, und in Wahrheit kein Geld besaß. Jemand aus New York konnte ausgeraubt werden, entweder im Zug oder im Getümmel auf dem Bahnsteig gleich nach dem Aussteigen. Aber wenn ich »von hier«, also aus Moskau, sagte, wäre das zwar technisch korrekt, aber offensichtlich eine Lüge, was die Situation eskalieren lassen könnte. Schließlich saß ich im Zug, der vom Flughafen kam.
»New York«, sagte ich.
Der Mann nickte abgeklärt. »Gibt es da das neue iPhone?«
»Klar«, sagte ich und fragte mich, worauf er hinauswollte.
»Was kostet es?«
Ach so. Westliche Güter waren in Moskau immer viel teurer als im Westen, und die Russen wollten ständig wissen, wie viel teurer, damit sie sich darüber ärgern konnten.
Ich versuchte, mich zu erinnern. Sarah hatte ein iPhone gehabt. »Zweihundert Dollar«, sagte ich.
Die Augen des Mannes weiteten sich. Hatte er es doch gewusst! Das war ein Drittel des russischen Preises.
»Aber«, fuhr ich schnell fort, »man muss einen Vertrag abschließen. Für ungefähr hundert Dollar im Monat. Zwei Jahre lang. Also doch nicht so billig.«
»Einen Vertrag?« Er hatte noch nie von einem Vertrag gehört. Wusste ich überhaupt, wovon ich redete? In Russland holte man sich einfach eine SIM-Karte und bezahlte pro Minute.
»Ja, in Amerika braucht man einen Vertrag.«
Der Mann reagierte beleidigt. Tatsächlich fing er an, sich zu fragen, ob ich mir das nicht einfach nur ausgedacht hatte. »Es muss eine Möglichkeit geben, das zu umgehen«, sagte er.
»Ich glaube nicht.«
»Doch, doch«, sagte er. »Es muss möglich sein, das Telefon zu behalten und den Vertrag zu kündigen.«
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Die sind bei so was ziemlich streng.«
Der Mann zuckte mit den Schultern, zog eine Zeitung hervor – Kommersant, eine der täglichen Wirtschaftszeitungen – und sprach für den Rest der Fahrt kein Wort mehr mit mir.
Am Bahnhof erwartete mich keine Räuberbande, und ich fuhr von dort ohne weitere Vorkommnisse ein paar Stationen mit der Metro bis zum Zwetnoi-Boulevard.
Das Zentrum von Moskau war eine ganz eigene Welt. Verschwunden waren die hohen, maroden Wohnblocks und die alten, maroden Fabriken der Randbezirke. Als ich die lange Rolltreppe verließ und durch die großen, schweren, schwingenden Holztüren trat, empfingen mich stattdessen eine breite Straße, imposante Wohnhäuser aus der Stalinzeit, einige Restaurants und jede Menge Baustellen, wohin man auch sah. Der Zwetnoi-Boulevard lag direkt an dem gewaltigen Gartenring, der in einem Radius von etwa zweieinhalb Kilometern mit dem Kreml als Mittelpunkt in einer zehnspurigen Schlaufe einmal rund ums Zentrum führte. Aber sobald ich ein Stück Richtung Uliza Sretenka gegangen war, in der meine Großmutter wohnte, fand ich mich in stillen, verwahrlosten Seitenstraßen wieder, deren zwei- und dreistöckigen Bauten aus dem neunzehnten Jahrhundert jede Farbe fehlte und die sogar jetzt im August teilweise leer standen. Ein Rudel streunender Hunde sonnte sich auf einem verlassenen Grundstück an der Petschatnikow Pereulok, und sie bellten mich und meinen Eishockeyschläger an. Ein paar Minuten später war ich zu Hause.
Die Wohnung meiner Großmutter lag im zweiten Stock eines weißen fünfstöckigen Gebäudes, das sich einen Innenhof mit zwei älteren, flacheren Häusern teilte, von denen eines auf die Petschatnikow hinausging und das andere auf den Roschdestwenski-Boulevard zeigte. Eine große rote Ziegelmauer, hinter der sich eine alte Kirche befand, bildete die vierte Seite des Innenhofs. In meiner Kindheit war der Innenhof voller Bäume und lockerer Erde gewesen, mit der ich gespielt hatte, und im Winter hatte es sogar eine winzige Eisbahn gegeben. Aber nach dem Zusammenbruch der UdSSR hatte man die Bäume abgeholzt, und die Eisbahn war von Nachbarn, die dort ihre Autos parken wollten, abgebaut worden. Eine Zeit lang war der Innenhof auch ein beliebtes Ziel für ortsansässige Prostituierte; Männer fuhren mit ihren Autos hinein, ließen das Scheinwerferlicht über die Ware gleiten und trafen ohne auszusteigen ihre Wahl.
Diesen alten Innenhof betrat ich nun. Die Prostituierten waren längst verschwunden, und es handelte sich im Grunde immer noch um einen Parkplatz, aber jetzt standen hier sehr viel schönere Autos als bei meinem letzten Besuch, und es gab sogar wieder ein paar Bäume. An der Haustür tippte ich den Code ein – er hatte sich seit 2001 nicht geändert – und wuchtete meinen Koffer die Treppe hinauf. Meine Großmutter kam an die Tür. Sie war winzig; sie war schon immer schmal gewesen, aber nun war sie noch schmaler, das graue Haar auf dem Kopf noch etwas dünner, und einen kurzen Moment hatte ich Angst, sie würde mich nicht erkennen. Aber dann sagte sie: »Andrjuschik. Du bist da.« Sie schien diesbezüglich gemischte Gefühle zu haben.
Ich ging hinein.
Baba Sewa – Sewa Efraimowna Gechtman, meine Großmutter mütterlicherseits – wurde 1919 in einer kleinen Stadt in der Ukraine geboren. Ihr Vater war Buchhalter in einer Textilfabrik und ihre Mutter Krankenschwester. Sie hatte zwei Brüder, und die gesamte Familie war kurz nach der Revolution nach Moskau gezogen.
Ich wusste, dass sie in der Schule geglänzt hatte und an der Staatlichen Universität Moskau, der besten und ältesten russischen Universität, aufgenommen worden war und dort Geschichte studiert hatte. Ich wusste, dass sie kurz nach dem Einmarsch der Deutschen einen jungen Jurastudenten, meinen Großvater Boris (eigentlich Barutsch) Lipkin, an der Uni kennenlernte und dass sie sich ineinander verliebten und heirateten. Dann war er im zweiten Kriegsjahr in der Nähe von Wjasma gefallen, nur einen Monat nach der Geburt meiner Mutter. Ich wusste, dass meine Großmutter nach dem Krieg an der Staatlichen Universität Moskau unterrichtete und dann die Leute vom »Iwan der Schreckliche«-Film beriet und die Wohnung erhielt und dort mit meiner Mutter sowie einer älteren Verwandten, Tanta Klawa, lebte; dass die Wohnung für ziemliche Aufregung innerhalb der Familie sorgte, nicht dadurch, von wem sie kam, sondern weil meine Großmutter sich weigerte, ihren Bruder und seine Frau bei sich einziehen zu lassen – weil seine Frau eine Trinkerin war, aber auch, weil sie Tanta Klawa nicht auf die Straße setzen wollte; dass man sie, kurz nachdem sie die Wohnung erhalten hatte, auf dem Höhepunkt des »antikosmopolitischen« – also des antijüdischen – Feldzugs dazu zwang, die Staatliche Universität Moskau zu verlassen, und dass sie sich als Privatlehrerin und Übersetzerin aus anderen slawischen Sprachen durchschlug; und dass sie in ihren mittleren Jahren noch einmal heiratete, einen lieben, vergesslichen Geophysiker, den wir Onkel Lew nannten, und mit ihm nach Dubna zog, dem Zen-trum der nuklearen Kernforschung, und die Wohnung meinen Eltern überließ und später meinem Bruder; und dass sie schließlich zurückkehrte – nur ein paar Jahre bevor ich vor der Tür stand –, weil Onkel Lew im Schlaf gestorben war.
Aber es gab vieles, was ich nicht wusste. Ich wusste nicht, was aus Tanta Klawa geworden war oder wie Großmutters Leben nach dem Krieg ausgesehen hatte. Ich wusste nicht, ob sie vor dem Krieg, während der Säuberungen, irgendetwas davon gewusst oder geahnt hatte, was im Land vor sich ging. Wenn nicht, warum nicht? Wenn doch, wie hatte sie mit diesem Wissen leben können? Und wie hatte sie in dieser Wohnung bleiben können, nachdem sie von alldem erfahren hatte?
Während meine Großmutter sich in der Küche beschäftigte, brachte ich mein Gepäck in unser altes Schlafzimmer, in dem sich, entgegen seinen Beteuerungen, noch immer Dimas ganzer Mist stapelte, und sah mich erst einmal um. Die Wohnung hatte sich nicht verändert: Sie war ein Museum für sowjetische Möbel, segmentiert in mehrere Schichten, von neu bis alt – wie eine Ausgrabungsstätte. Im Hinterzimmer standen Großmutters großer alter Eichenholzschreibtisch aus den Vierziger- oder Fünfzigerjahren und ihr ebenso altes Standregal mit den abschließbaren Türen; die meisten Möbel in diesem Zimmer stammten allerdings aus der Zeit, in der meine Eltern in der Wohnung gelebt hatten: die grüne Klappcouch, die verglasten Hängeregale und der hohe, lackierte Wandschrank. Und natürlich die Hochbetten in unserem Schlafzimmer, die mein Vater kurz vor unserer Auswanderung eingebaut und die Dima nie ersetzt hatte – während er hier wohnte, hatte er im Hinterzimmer geschlafen und unser Schlafzimmer als Gästezimmer genutzt. Es gab sogar noch ein paar Spielsachen aus unserer Kindheit, fast alles kleine Autos, mit denen Dima und ich gespielt hatten und die jetzt im Regal zwischen den Büchern steckten. Dann folgte die Neuzeit: Dima hatte einen Flachbildfernseher im Hinterzimmer installiert und einen Heimtrainer in unser Schlafzimmer gestellt, der sehr viel Platz einnahm. Die meisten Bücher in den Regalen waren russische Klassiker in vollständigen Sowjetausgaben: vierzehn Bände Dostojewski, elf Bände Tolstoi, sechzehn (!) von Tschechow, aber es gab auch ein paar Reihen mit englischsprachigen Büchern über Wirtschaft und die Kunst des Verhandelns, die offenbar von Dima importiert worden waren. Und in der Küche stand ein Esstisch mit Linoleumplatte, ungefähr aus der Zeit meiner Geburt, an dem meine Großmutter saß und auf mich wartete.
Aus irgendeinem Grund war ich ihr Liebling. Als ich klein war, hatte ich die Sommer häufig bei ihr und Onkel Lew in der Datscha in Scheremetjewo (direkt neben dem Flughafen) verbracht, und während meines Auslandssemesters in Moskau besuchte ich sie, sooft es ging. In den späten Neunzigern, als sie noch reisen konnte, waren sie und Dima und ich einmal im Jahr in Europa gewesen. All dies summierte sich auf insgesamt nicht mehr als ein paar gemeinsame Monate, und doch: Ich war das Nesthäkchen, das Lieblingskind ihrer einzigen Tochter, und das reichte vollkommen. Für sie war ich noch immer dieser kleine Junge.
Und jetzt wollte sie mich füttern. Langsam und sorgfältig erwärmte sie Kartoffelsuppe, Kotlety (russische Fleischbällchen) und Bratkartoffeln. Sie bewegte sich im Schneckentempo durch die Küche, zwar wackelig auf den Beinen, aber in dieser alten Küche gab es viele Möglichkeiten, sich abzustützen, und sie kannte sie alle. Sie konnte nicht gleichzeitig kochen und sich unterhalten, und ihr Gehör hatte nachgelassen, also wartete ich, bis sie fertig war, und half ihr dabei, das Essen auf den Tellern zu verteilen. Irgendwann saßen wir dann am Tisch. Sie fragte mich nach meinem Leben in Amerika.
»Wo wohnst du?«
»New York.«
»Was?«
»New York.«
»Oh. – Wohnst du in einem Haus oder einer Wohnung?«
»Einer Wohnung.«
»Was?«
»Einer Wohnung.«
»Gehört sie dir?«
»Ich habe sie gemietet. Gemeinsam mit ein paar Mitbewohnern.«
»Was?«
»Ich teile sie mir mit anderen. Wie eine Kommunalka.«
»Bist du verheiratet?«
»Nein.«
»Nein?«
»Nein.«
»Hast du Kinder?«
»Nein.«
»Keine Kinder?«
»Nein. In Amerika«, griff ich zu einer Halbwahrheit, »bekommen die Menschen erst spät Kinder.«
Zufrieden, oder zumindest halbwegs zufrieden, fragte sie mich, wie lange ich bleiben wolle.
»Bis Dima zurückkommt«, sagte ich.
»Was?«
»Bis Dima zurückkommt«, sagte ich noch einmal.
»Andrjuscha«, sagte sie nach einer kurzen Pause. »Kennst du meine Freundin Musja?«
»Ja«, sagte ich, Emma Abramowna – oder Musja – war ihre älteste und beste Freundin.
»Sie ist eine sehr gute Freundin von mir«, erklärte meine Großmutter. »Jetzt gerade ist sie in ihrer Datscha.«
Emma Abramowna, eine Literaturprofessorin, der es gelungen war, trotz des antijüdischen Feldzugs an der Staatlichen Universität Moskau zu bleiben, besaß eine Datscha in der alten Schriftstellerkolonie Peredelkino. Meine Großmutter hatte ihre eigene Datscha in den Neunzigern aufgeben müssen, unter Umständen, die ich nie so richtig durchschaut hatte.
»Ich denke«, sagte sie jetzt, »dass sie mich im nächsten Sommer zu sich einladen wird.«
»Ja? Hat sie das gesagt?«
»Nein«, sagte meine Großmutter. »Aber ich hoffe es.«
»Das klingt gut«, sagte ich.
Im August zog es alle Moskauer in ihre Datschas; offenbar machte es ihr zu schaffen, dass sie keine eigene Datscha mehr hatte.
Wir hatten jetzt aufgegessen und unseren Tee getrunken, und meine Großmutter griff sich ganz beiläufig in den Mund und nahm ihre Zähne heraus. Sie legte sie in eine kleine Teetasse auf dem Tisch.
»Ich muss mein Zahnfleisch schonen«, sagte sie zahnlos.
»Natürlich«, sagte ich. Ohne die Zähne, die sie stützten, fielen die Lippen meiner Großmutter ein bisschen nach innen, und ohne die Zähne, die ihre Zunge bremsten, sprach sie mit einem leichten Lispeln.
»Sag mal«, fuhr sie in demselben forschenden Ton wie vorhin fort, »kennst du Dima?«
»Natürlich«, sagte ich. »Er ist mein Bruder.«
»Oh.« Meine Großmutter seufzte, als könnte sie jemandem, der Dima kannte, nicht vollständig trauen. »Weißt du, wo er ist?«
»Er ist in London«, sagte ich.
»Er besucht mich nie«, sagte meine Großmutter.
»Das ist nicht wahr.«
»Doch, ist es. Nachdem er mich dazu gebracht hatte, ihm die Wohnung zu überschreiben, hat er jedes Interesse an mir verloren.«
»Omama!«, sagte ich. »Das stimmt nun wirklich nicht.«
Es stimmte, dass Dima vor ein paar Jahren die Wohnung auf seinen Namen überschrieben hatte – die postsowjetische Variante der Gentrifizierung brachte es mit sich, dass netten älteren Damen, die erstklassige Moskauer Immobilien besaßen, allerlei unerklärliche Unglücke zustießen. Sicherheitstechnisch gesehen war es die richtige Entscheidung gewesen, aber mir wurde klar, dass es meiner Großmutter verdächtig vorkommen musste.
»Was stimmt nicht?«, fragte sie.
»Es stimmt nicht, dass er kein Interesse an dir hat. Er spricht die ganze Zeit mit mir über dich.«
»Hm«, machte meine Großmutter nicht besonders überzeugt. Dann seufzte sie erneut.
Sie wollte aufstehen, um die Teller abzuräumen, aber ich bestand darauf, dass sie sitzen blieb. In dem Moment weniger, um ihr Arbeit abzunehmen, sondern weil bei ihr alles so wahnsinnig lange dauerte.
Schnell räumte ich den Tisch ab und machte mich an den Abwasch.
Als ich fast fertig war, kam meine Großmutter zu mir und stellte mir eine Frage, die ihr, wie ich merkte, ganz offenbar etwas heikel erschien.
»Andrjuscha«, sagte sie. »Du bist mir lieb und teuer. Unserer ganzen Familie. Aber ich kann mich gerade nicht erinnern – woher kennen wir dich noch mal?«
Einen Moment lang war ich sprachlos.
»Ich bin dein Enkel«, sagte ich. In meiner Stimme lag ein leichtes Flehen.
»Was?«
»Ich bin dein Enkel.«
»Mein Enkel«, wiederholte sie.
»Du hattest eine Tochter, erinnerst du dich?«
»Ja«, sagte sie unsicher, und dann fiel es ihr wieder ein. »Ja. Meine kleine Tochter.« Sie dachte einen Moment nach. »Sie ist nach Amerika gegangen«, sagte meine Großmutter. »Sie ist nach Amerika gegangen und gestorben.«
»Das ist richtig«, sagte ich. Meine Mutter war 1992 an Brustkrebs gestorben; das einzige Mal, dass meine Großmutter sie nach unserer Auswanderung wiedergesehen hatte, war auf ihrer Beerdigung gewesen.
»Und du …«, sagte sie jetzt.
»Ich bin ihr Sohn.«
Meine Großmutter ließ es sacken. »Aber warum bist du dann hier?«
Ich verstand nicht.
»Das hier ist ein schreckliches Land. Meine Jolka hat dich nach Amerika gebracht, warum bist du dann zurückgekommen?« Sie schien verärgert zu sein.
Wieder fehlten mir die Worte. Warum war ich hier? Weil Dima mich darum gebeten hatte. Und weil ich meiner Großmutter eine Hilfe sein wollte. Und weil ich dachte, es würde mir helfen, ein Thema für einen Aufsatz zu finden, der mir helfen würde, einen Job zu finden. All diese Gründe wirbelten in meinem Kopf umher, und ich entschied mich für den, der mir am praktischsten vorkam.
»Wegen der Arbeit«, sagte ich. »Ich muss ein bisschen was recherchieren.«
»Oh«, sagte sie. »In Ordnung.« Auch sie hatte in diesem schrecklichen Land arbeiten müssen, das konnte sie verstehen.
Für den Moment zufriedengestellt, entschuldigte meine Großmutter sich und ging in ihr Zimmer, um sich hinzulegen.
Ich blieb in der Küche sitzen und trank noch eine Tasse Tee. Überall in der Wohnung waren Fotos unserer Familie, vor allem meiner Mutter – sie hingen an den Wänden, standen auf Kommoden und in Bücherregalen. In Amerika war unsere Familie auseinandergebrochen, in Moskau war sie noch genau so, wie sie immer gewesen war.
So eine Scheiße, dachte ich. Ich hatte nicht erwartet, meine Großmutter in solch einem Zustand vorzufinden. Dima hatte erwähnt, dass sie Medikamente gegen ihre Demenz einnehmen müsse, aber ich hatte nicht wirklich verstanden, was das bedeutete.
Mein erster Gedanke war: Dafür fehlt mir die Qualifikation. Ich bin nicht dafür geeignet, mich um eine neunundachtzigjährige Frau zu kümmern, die nicht einmal mehr weiß, wer ich überhaupt bin. Ich war ein Mensch, der einen unglaublich ausführlichen Bildungsweg durchlaufen hatte und dem es nicht gelungen war, diesen Bildungsweg auch tatsächlich in einem Job münden zu lassen.
»Ich weiß einfach nicht, wo das hinführen soll«, hatte Sarah bei Starbucks zu mir gesagt.
»Warum muss es denn irgendwo hinführen?«, hatte ich einigermaßen lahm geantwortet.
Sie hatte einfach nur den Kopf geschüttelt. »Vielleicht werde ich es bereuen, aber das bezweifle ich.«
Und sie hatte recht gehabt. Ich war ein Idiot, genau wie Dima sagte. Die Sache überforderte mich. Dort in der Küche, an diesem ersten Tag, war es das erste von vielen Malen, dass ich mir vornahm, wieder heimzufahren.
In Gedanken formulierte ich eine E-Mail. »Dima«, lautete sie, »ich habe das Gefühl, dass du mich, was die Verfassung unserer Großmutter betrifft, in die Irre geführt hast. Oder vielleicht habe ich dich auch falsch verstanden. Jedenfalls komme ich nicht damit zurecht. Es tut mir leid. Lass uns jemanden einstellen, der weiß, was er tut. Ich werde mich an den Kosten beteiligen.« Und dann würde ich nach New York zurückkehren.
Es ist keine Schande, seine Grenzen zu kennen. Wie genau ich es schaffen sollte, mich an den Kosten zu beteiligen, war mir allerdings ein Rätsel. Nachdem ich mein Ticket gekauft und das Visum bezahlt hatte, wies mein Konto nur noch knapp eintausend Dollar auf.
Meine Großmutter kam aus ihrem Zimmer und ging über den Flur zur Toilette. Sie hatte offenbar im Bett gelegen und war dann wieder aufgestanden: Ihr Haar war ganz zerwühlt, und sie trug noch immer kein Gebiss. Als sie mich sah, schenkte sie mir ein zahnloses Lächeln und winkte mir zu. Ich hatte das Gefühl, in dem Moment wusste sie, wer ich war. Das beruhigte mich ein bisschen.
Ich würde ihr also Gesellschaft leisten. Das konnte vielleicht sogar ein Idiot hinbekommen. Wen kümmerte es schon, dass sie sich an einige Sachen nicht mehr erinnerte? War ihr Leben denn so wundervoll gewesen, eine so endlose Parade von Freuden, dass sie dasitzen und sich an jede Kleinigkeit erinnern musste? Gut, dann würde sie mir eben nicht ihre Lebensgeschichte für meinen Möchtegern-Aufsatz erzählen können – ich würde etwas anderes finden, über das ich schreiben konnte. Und vielleicht würde sie tatsächlich die ganze Zeit über nicht wissen, wer ich war. Aber ich wusste, wer ich war, und konnte sie daran erinnern. Ich war der jüngste Sohn ihrer Tochter, ihres einzigen Kindes, meiner Mutter, die nach Amerika gegangen und gestorben war.
Ich stand auf, wusch meine Teetasse ab und ging in mein Schlafzimmer. In der Ecke standen Umzugskartons, und der riesige Heimtrainer blockierte das untere Etagenbett. Ich musste über das Ding klettern, um mich hinzulegen. Ich freute mich jetzt richtig darauf, online zu gehen und meinen Bruder anzumeckern. Ich holte meinen Laptop raus und versuchte, das Signal aus der Nachbarwohnung zu empfangen, aber ich bekam es nicht rein. Das mochte nicht einmal Dimas Schuld sein – mein Laptop war alt, so alt, dass er nur funktionierte, wenn er an eine Steckdose angeschlossen war, und es gab zahlreiche Netzwerkprotokolle, die er nicht erkannte –, aber trotzdem: Es war schon wieder etwas, bei dem er mich in die Irre geführt hatte. Ich dachte kurz daran, nach nebenan zu gehen und nachzusehen, ob ich den Router neu ausrichten konnte, aber als zukünftiger Mieteintreiber (dies würde eine meiner Aufgaben sein) schien es mir unangebracht, am WLAN der Mieter herumzufummeln. Schließlich zahlten sie gutes Geld dafür.
Ich klappte meinen Laptop zu und streckte mich auf dem Bett aus; der Heimtrainer ragte vor mir auf wie ein Gebirge. Meine Großmutter hatte ein altes Handtuch und kratziges Bettzeug herausgesucht, und es gelang mir, das Bett zu beziehen, ohne aufzustehen. Dann lag ich da und dachte: Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße. Und dann: Okay. Okay. Alles wird gut. Meine Großmutter war in schlechter Verfassung, aber ich würde damit zurechtkommen. Mein Bettzeug war kratzig, aber ich konnte neues kaufen. Und das Schlafzimmer war ein totales Chaos, aber das hieß nur, dass ich etwas gegen Dima in der Hand hatte. Und das war gut. Wirklich. Nichts gegen Dima in der Hand zu haben, bedeutete, dass er einen in der Hand hatte.
Es war acht Uhr abends in Moskau und noch hell draußen, aber ich war müde, so unglaublich müde, und schlief schnell und ohne mich auszuziehen ein.
Um fünf Uhr morgens wachte ich auf. Mein Fenster zeigte auf eine Gasse zwischen unserem Haus und dem an der Petschatnikow. Wir befanden uns im zweiten Stock, und da es Ende August war, hatte ich das Fenster geöffnet, und die beiden steinernen Gebäude erzeugten eine Art Mini-Echokammer, sodass aus der Gasse und ihrer Umgebung jedes Husten, jedes russische Schimpfwort, jedes Türenschlagen, jedes startende Auto und jedes Radio, aus dem schlechter russischer Pop quäkte, klar und deutlich direkt zu mir nach oben drang. Dieser ganze Lärm hinderte mich am Schlafen, aber es war nicht nur der Lärm. Dima hätte die Stadt nicht so überstürzt verlassen, wenn er nicht in Gefahr gewesen wäre, dachte ich, und wenn Dima in Gefahr war, dann wäre es möglich, dass sich auch Dimas Bevollmächtigter, sein Bruder und Mieteintreiber, in Gefahr befand. Obwohl, wahrscheinlich auch nicht. Ich lag eine Weile grübelnd im Bett, dann setzte ich mich auf, weil mir ein Gedanke gekommen war.
Was, wenn meine Großmutter ihre Medikamente nicht nahm? Dima war seit einem Monat weg. Was, wenn die Vergesslichkeit, deren Zeuge ich geworden war, nur auftrat, weil ihr wichtige Pillen fehlten? Ich ging in die Küche. Moskau liegt ziemlich weit im Norden, und im Sommer beginnen die Tage früh; die Sonne war schon aufgegangen. Ich hatte gesehen, dass meine Großmutter nach dem Abendessen ein paar Pillen eingenommen und die Fläschchen dann auf das Regel hinter sich gestellt hatte. Ich nahm sie in die Hand und schaute mir die Etiketten an. Eines der Fläschchen war tatsächlich leer. Natürlich sagte mir der Name des Medikaments nichts. Ich konnte nicht erkennen, ob es ein Demenzmittel war, aber es gab auch keinen Hinweis darauf, dass es das nicht war.
Dima hatte mir eine Liste mit Baba Sewas Medikamenten und was sie bewirkten gemailt, aber weil ich davon ausgegangen war, dass es in der Wohnung WLAN gäbe, hatte ich sie nicht ausgedruckt. Noch einmal versuchte ich vergebens, eine Verbindung mit dem Netzwerk herzustellen. Ich musste einen Ort finden, an dem es WLAN gab, und zwar schnell. Ich ging zurück in mein Zimmer, schnappte mir das kratzige Handtuch und ging ins Bad.
Das Badezimmer meiner Großmutter – ohne Toilette, die befand sich in einem eigenen, viel kleineren Raum vorne im Flur – war ziemlich groß für ein sowjetisches Badezimmer. Gut möglich, dass es früher ein Teil der Küche gewesen war. Auf einem Wandvorsprung lagen Hygieneartikel. Ich legte meine dazu.
Nachdem wir das Land verlassen hatten, war ich zum ersten Mal als Student nach Russland zurückgekehrt. Ich hatte ein kleines Reisestipendium erhalten, um über den »postsowjetischen Zustand« des Landes zu recherchieren. Die Reise war ein Schock. Mir war noch nie so viel Armut begegnet. In Astrachan, Rostow, Jalta, Odessa, Lemberg, aber auch in Moskau und in St. Petersburg sah man nichts als Ruinen – kaputte Gebäude, kaputte Straßen, kaputte Menschen –, als hätte das Land einen Krieg verloren.
Ich war allein unterwegs, und jeden Abend, an dem ich in den billigen Hostels und Wohnheimen, in denen ich übernachtete, meinen Kulturbeutel herausholte, empfand ich große Erleichterung. Die Farben waren heller und glänzender und viel anziehender als alles, was ich den ganzen Tag über gesehen hatte: mein cooler schiefergrauer Gillette-Sensor-Rasierer (damals nur dreiklingig, aber die beste Rasur in der Geschichte der Menschheit); mein großes blaues Gillette-Rasiergel; mein ausgezeichnetes rot-weißes Old-Spice-Deo (das Zeug funktionierte wirklich, und niemand sonst in Russland hatte es, wie einem jedes Mal, wenn man einen der überfüllten Busse betrat, sofort bewusst wurde); mein leuchtend gelbes Gold Bond Powder; meine kleinen orangefarbenen Advil-Tabletten. Ich ging jeden Tag viele Kilometer zu Fuß, sprach mit den Menschen und sah mich um. In der Sommerhitze bekam ich davon Ausschläge im Schritt und Blasen an den Füßen, aber das Gold Bond Powder sorgte dafür, dass sie gleich wieder verschwanden. Und Advil! Die Russen nahmen immer noch Aspirin. Das einzige ihnen bekannte Mittel, um morgens einen fiesen Kater loszuwerden, war, wieder mit dem Trinken anzufangen. Ich hingegen warf einfach ein paar geschmeidige Pillen ein und war so gut wie neu. Mit meinem kleinen Beutel voller intelligent ausgetüftelter Hilfsmittelchen fühlte ich mich ein bisschen wie James Bond. Inzwischen hatten diese Wunder sogar Russland erreicht, auch wenn meine Großmutter sie nicht benutzte.
Dieser Sommer in Russland hatte die Weichen für den Weg gestellt, dem ich seither folgte. Ich hatte gerade mein erstes Jahr am College hinter mich gebracht, und es war eine Überraschung für mich gewesen, allerdings eine schlechte. Ich hatte erwartet, es wäre im Grunde wie die Highschool, nur cooler. Stattdessen war es etwas vollkommen anderes: ungeheuer groß und abweisend und extrem auf Wettbewerb ausgerichtet. Ich hatte davon geträumt, für das Eishockeyteam des College zu spielen, aber schon wenige Minuten nachdem ich das Eis fürs Vorspielen betreten hatte, wurde mir klar, dass es niemals dazu kommen würde – das Spielniveau war einfach zu hoch für mich. Und auch in meinen Kursen glänzte ich nicht besonders. Ich hatte durchaus den Willen, den westlichen Kanon zu meistern, aber immer, wenn ich The Faerie Queene aufschlug, fielen mir die Augen zu.
Jedes Mal, wenn ich einen Kurs über russische Kultur im Kursverzeichnis entdeckte, las ich mir die Beschreibung durch und blätterte dann weiter; warum sollte ich mich im Studium mit etwas beschäftigen, das ich zu Hause ganz nebenbei mitbekam? Aber als ich mich nach meinem ersten halben Jahr endlich dazu durchgerungen hatte, dem Eishockeyteam ein für alle Mal den Rücken zu kehren (ich hatte es in den Kader geschafft, aber nicht ein einziges Mal das Trikot getragen), wusste ich anschließend nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Vielleicht wäre es eine gute Idee, meine Mutter zu ehren, indem ich ein paar Russischkurse belegte, dachte ich mir und machte mich auf den Weg zum Institut für Slawistik. Es befand sich im vierten Stock des grauen Fremdsprachengebäudes, und im Gegensatz zum gesamten Rest des Campus wirkte es irgendwie gemütlich. Sie hatten geschafft, es zu russifizieren. In der Ecke stand ein großer Samowar, alles war voller Teetassen und alter russischer Klassiker in ihren Sowjetausgaben, genau wie bei uns zu Hause, und an der Wand hing ein ironisches Poster von Lenin. Meine Eltern hätten sich niemals ein ironisches Poster von Lenin ins Haus gehängt, aber Dima hatte eins in seiner Wohnung in New York gehabt. Ich hatte in dieser riesigen und abweisenden Institution zum ersten Mal einen Ort gefunden, an dem ich mich zu Hause fühlen konnte.
Sechs Monate später bekam ich dann mein Stipendium und verbrachte den Sommer in Russland. Ich war zum ersten Mal seit unserer Auswanderung dort. Das also waren die Straßen, durch die meine Eltern gegangen waren; das waren die Menschen, zwischen denen sie gelebt hatten. Das war also unsere alte Wohnung (ich erinnerte mich kaum noch an sie), nun lebte Dima dort. So vieles erschloss sich mir jetzt, was vorher keinen Sinn ergeben hatte. Ich besuchte meine Großmutter und Onkel Lew in Dubna; meine Großmutter war damals in ihren Siebzigern, aber verblüffend aktiv; sie übersetzte, las, sah sich Filme an und unternahm kilometerlange Wanderungen durch den Wald (in dem ein gewaltiger Teilchenbeschleuniger stand). Ich verließ Moskau und reiste durchs Land; die Leute außerhalb Moskaus sprachen ehrlicher über ihre Träume, waren direkter, wenn sie etwas nicht wussten, und ihre Armut war offensichtlicher und hoffnungsloser.
Ich weiß noch, wie ich mit einem Mann aus Astrachan zusammensaß, einer Stadt am Kaspischen Meer mit einer großen kommerziellen Fischereiflotte, die unter dem Druck des globalen Wettbewerbs zerbröselte. Der Mann und ich hatten uns im Zug aus Moskau raus kennengelernt. Er war Programmierer, genau wie mein Vater, aber damals gab es keine Arbeit für Programmierer, und um über die Runden zu kommen, kaufte er in Moskau billige Kleidung aus der Türkei, die er dann auf dem Wochenmarkt in Astrachan weiterverkaufte.
Nun tranken wir Bier auf dem wackligen Balkon der winzigen Wohnung, in der er mit seiner Frau und dem kleinen Sohn lebte, und irgendwann sagte er: »Du, Andrej. Wie ist es so da drüben?« In Amerika, meinte er. »Ist es unterm Strich genau wie hier?«
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. In gewisser Weise war es genau wie hier, ja – auch die Menschen in Amerika lebten ihr Leben, verliebten sich, bekamen Kinder und versuchten, für sie zu sorgen. Aber es war auch ganz anders als hier. Der Überfluss. Die schiere Leichtigkeit des Lebens, zumindest für Leute wie mich; die Menge und Auswahl und Qualität der Hygieneartikel: Es war nicht dasselbe. Mein Zimmer auf dem College-Campus, das ich mir mit einem Kommilitonen teilte, war größer und hübscher und besser in Schuss als die Wohnung dieses Programmierers, die er sich mit Frau und Kind teilen musste. Ich gab mir Mühe, es ihm behutsam, aber ehrlich zu erklären.
»Nun«, sagte mein Freund, den ich nie wiedersehen würde, obwohl wir Adressen austauschten und versprachen, in Kontakt zu bleiben, »vielleicht komme ich eines Tages rüber und überzeuge mich selbst.«
Und in dem Moment dachte ich, dass ich gerne bleiben würde. Also in Russland. Zumindest geistig, zumindest intellektuell – es war wie kein anderer Ort, den ich kannte, auch wenn es in anderer Hinsicht ein Ort war, den ich nur zu gut kannte, der Ort meiner Kindheit nämlich, mein Zuhause.
Mehr als ein Jahrzehnt später, ein Jahrzehnt voller russischer Bücher und russischer Kurse und wissenschaftlicher Konferenzen über Russland und einer mäandernden Dissertation über russische Literatur und »die Moderne«, auf die kein Verlag je reagiert hatte, stieg ich aus der Dusche – einer Dusche, deren Handbrause keine Halterung mehr hatte, in die man sie stecken konnte, sodass man sie die ganze Zeit in der Hand halten musste – und traf auf meine Großmutter, die vorgebeugt und konzentriert in ihrem rosa Morgenrock an einem Kaffee nippte. Ich sah mich in der Küche um, in der Hoffnung, eine Stempelkanne oder zumindest eine Filterkaffeemaschine zu finden, entdeckte aber nur einen Teekessel und eine Blechdose mit Nescafé. Das war enttäuschend; während der letzten Jahre hatte die Kaffee-Revolution Brooklyn erobert, und ich hatte mich inzwischen daran gewöhnt, verdammt starken Kaffee zu trinken. Ich beschloss – meine Liste solcher Vorsätze wurde immer länger –, eine Stempelkanne und ein paar ganz normale Kaffeebohnen im ersten Kaffeeladen zu kaufen, den ich finden konnte.
Meine Großmutter hatte das Radio angeschaltet. Es lief Echo von Moskau, der Sender der liberalen Opposition, und sie versuchte, den Nachrichten zu folgen. Die russische Armee zog sich nur widerwillig aus Georgien zurück; der Kreml behauptete, die Georgier hätten eine Flüchtlingskrise verursacht; kremlfeindliche Kritiker machten Moskau für den Krieg verantwortlich. Das Radio meiner Großmutter war klein, tragbar und batteriebetrieben, und obwohl sie die Lautstärke voll aufgedreht hatte und es sich ans Ohr hielt, schien sie unsicher zu sein, was gesagt wurde.
Als sie mich sah, wurde sie munter. »Ah, du bist wach!«, sagte sie. »Möchtest du frühstücken?«
Ich wollte, und während ich mich anzog, schlug sie ein paar Eier in eine Pfanne mit Kascha. Als ich zurück in die Küche kam, wies auf Echo jemand sehr sarkastisch die russische Behauptung zurück, Georgien habe zuerst geschossen: »Das ist, als würde man sagen: Die Mücke hat mich gestochen. Ich musste sie und alle ihre Verwandten auslöschen. Natürlich hat die Mücke Sie gestochen! Es ist eine Mücke.« Ich hatte diesen Tonfall, in dem die russischen Oppositionellen sprachen, vollkommen vergessen – »gekränkt« war nicht das richtige Wort dafür. Sarkastisch, selbstgerecht, voller Unglauben darüber, dass diese Idioten das Land regierten und es da draußen sogar noch größere Idioten gab, die sie unterstützen. Es gibt eine einzige Insel des Anstands, sagten diese Stimmen, und Sie haben die richtige Frequenz gefunden. Ich meine, das sage ich jetzt. Tatsächlich konnte es auch sehr berauschend sein. Echo, die einsame Stimme der Opposition gegen das Regime (zu diesem Zeitpunkt waren alle TV-Sender bereits fest unter staatlicher Kontrolle): Jeden Tag wachten sie auf und stürzten sich in den Kampf von Gut gegen Böse. Aber natürlich konnte man im Radio nicht offen aussprechen, dass das Regime böse war. Das würde zu weit gehen. Also griffen sie zu Spott, Sarkasmus und Subversion. Der Tonfall ähnelte dem, den die Dissidenten damals in den 1970er-Jahren angeschlagen haben mussten – ganz so, als verspürte nicht nur die Regierung eine gewisse nostalgische Sehnsucht nach dieser Zeit.
Russland hatte also Georgien überfallen. Oder Georgien hatte einen Teil Georgiens namens Südossetien überfallen, und die Russen hatten überreagiert. Und natürlich würde jeder anständige Mensch zustimmen, dass … Ich schaltete das Radio aus. Ich wollte mit meiner Großmutter über ihre Medikamente reden. Doch zuerst wollte ich Großmutters Kascha essen. Die Kascha war perfekt. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich mehrmals versucht, selbst Kascha zu machen, aber sie war immer viel zu matschig geworden.
»Andrjusch, sag mal«, sagte meine Großmutter jetzt, während sie mir beim Essen zusah. »Wo wohnst du?«
»New York.«
»Wo?«
»New York!«
»Oh, New York. Wohnst du in einem Haus oder in einer Wohnung?«
»Einer Wohnung.«
»Was?«
»Einer Wohnung!«
Gestern hatte sie ein Hörgerät getragen, aber heute hörte sie weder schlechter noch besser.
»Gehört dir die Wohnung, oder hast du sie gemietet?«
»Gemietet!«, sagte ich sehr laut.
»Du brauchst nicht so zu schreien«, sagte sie.
»Okay.«
»Bist du verheiratet?«
»Nein.«
»Nein?«
»Nein.«
»Hast du Kinder?«
»Nein.«
»Keine Kinder?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich habe niemanden, mit dem ich sie bekommen könnte.«
»Ja«, sagte meine Großmutter, »das stimmt. Du musst heiraten.«
»Großmutter«, sagte ich. »Kann ich dich etwas fragen? Ich möchte dir dabei helfen, den Überblick über deine Medikamente zu behalten. Weißt du bei jedem der Medikamente, warum du es nimmst?«
Meine Großmutter wirkte nicht sonderlich überrascht. »So richtig weiß ich das nicht«, sagte sie. »Aber warte, ich hab’s mir aufgeschrieben.«
Sie förderte ein kleines Notizbuch zutage. Über ungefähr ein Dutzend Seiten erstreckte sich darin eine Liste mit den Namen von Medikamenten und gelegentlich einem Vermerk, wofür sie gedacht waren (»Herz«, »Husten«). Sie hatte schon immer eine ausladende und verschnörkelte Handschrift gehabt, aber nun war sie noch ausladender und noch verschnörkelter. Nirgends stand etwas von Demenz.
Ich sah vom Notizbuch auf und bemerkte, dass meine Großmutter zum Kühlschrank gegangen war und eine Flasche Rotwein herausgeholt hatte. Sie war halb leer, und im Hals klebten abgebrochene Korkstückchen. Sie kämpfte mit dem Korken.
»Wollen wir einen Schluck Wein trinken und darauf anstoßen, dass du hier bist?«, fragte sie. »Ich bekomme ihn nicht auf.«
Es war sieben Uhr morgens.
»Vielleicht später«, sagte ich. »Jetzt muss ich erst mal kurz weg und was nachsehen. Ich bin in einer Stunde zurück.«
Sie sah enttäuscht aus. »Muss das sein?«
Es musste. Widerwillig stellte meine Großmutter den Wein zurück in den Kühlschrank.
Ich ging in mein Zimmer und schnappte mir meinen Laptop und meine Umhängetasche. Ich war schon fast aus der Tür, als das Telefon klingelte. Meine Großmutter war auf der Toilette, also ging ich ran. Eine ältere Frau wollte meine Großmutter sprechen. Ich sagte, sie könne gerade nicht ans Telefon kommen, aber ich würde gern etwas ausrichten. Die Frau stellte sich als Alla Aronowna vor. Meine Großmutter war noch immer auf der Toilette. Ich schrieb ihr eine Nachricht, dass Alla Aronowna angerufen hatte, und legte sie auf den Küchentisch. Dann ging ich raus.
Meine Großmutter hätte kaum zentraler wohnen können – der Kreml war nur fünfzehn Gehminuten entfernt –, aber ich brauchte vierzig Minuten, um einen Ort zu finden, an dem ich meine E-Mails abrufen konnte.
Am Tag zuvor hatte ich auf dem Weg von der Metro zu meiner Großmutter keine Cafés oder anderen Orte mit WLAN gesehen, also ging ich weiter den Boulevard hinauf zur nächsten Metro-Station, den Sauberen Teichen. Das war immer der geschäftigste und belebteste Ort der ganzen Nachbarschaft gewesen, und hinter dem Postamt hatte sich ein Internet-Café mit lauter verschwitzten, computerspielsüchtigen Russen befunden. Die Gegend war noch immer sehr lebhaft: Neben dem Eingang zur Metro gab es das große Postamt, ein McDonald’s, ein Durcheinander aus kleinen Kiosken, die Handys, DVDs und Fleischspieße verkauften, sowie eine Statue des Dichters Gribojedow. Hinter Gribojedow erstreckten sich die namensgebenden Sauberen Teiche. Schräg gegenüber von diesem urbanen Ballungsraum stand das gigantische RussOil-Gebäude, der Hauptsitz des größten Ölkonzerns des Landes, das aus schwarzem Marmor bestand und das gesamte Licht um sich herum zu verschlucken schien. Aber das alte Internet-Café war von der Filiale einer deutschen Bank verdrängt worden. Ohne WLAN.
Ich gab mich geschlagen und folgte der Sretenka, die sich inzwischen in eine Geschäftsstraße verwandelt hatte, nach Norden. Es war eine hübsche, europäisch geprägte Straße, schmaler als die meisten anderen, mit Reisebüros und Restaurants und Bars, einem experimentellen Theater, einer Hugo-Boss-Filiale und einem miesen Buchladen mit den neuesten Bestsellern im Fenster, der im zweiten Stock offenbar einen Stripclub beherbergte – ein unbeleuchtetes Neonschild in der Form einer nackten Frau hing an der Fassade. Morgens um halb acht erwachte die Straße langsam zum Leben: Schwarz glänzende ausländische Autos jagten stadtauswärts, hin und wieder hielt eins an, und ein gut gekleideter Mann oder eine hübsch angezogene Frau stieg aus, ein elegantes Handy am Ohr. Dies war nicht das Russland, das ich in Erinnerung hatte. Ich fand mehrere Cafés im europäischen Stil, mit kleinen Tischen und kleinen Schildern im Fenster, die mit WLAN warben. Aber sie waren alle unglaublich teuer. Das Billigste auf der Karte, ein Tee, kostete zweihundert Rubel – fast neun Dollar. Einerseits musste ich herausfinden, ob meiner Großmutter ihre Demenz-Medikamente ausgegangen waren, andererseits: neun Dollar für eine Tasse Tee? In den Cafés drängten sich gut angezogene Russen, die an unverschämt teuren Cappuccinos nippten. Was war das für ein Scheiß.
Wieder gab ich mich geschlagen und zog mich an unsere Kreuzung zurück: Meine Großmutter wohnte direkt an der Ecke, wo sich die Sretenka und der Boulevard trafen, allerdings wurde die Sretenka auf der anderen Seite des Boulevards zur Bolschaja Lubjanka, die zum Lubjanka-Platz führte, an dem die Zentrale des ehemaligen KGB, des heutigen FSB, lag. In diese Richtung ging ich nun. Verglichen mit der Sretenka wenige Minuten zuvor, war es ein trostloser Spaziergang, als würde die Behörde – in deren Kellern während des Terrors in den 1930er-Jahren Tausende Menschen erschossen worden waren – sämtliche Geschäfte abschrecken. Dass meine Großmutter so nahe am KGB wohnte, war schon immer ein gespenstisches Detail ihres Moskauer Lebens gewesen – einerseits lagen im Zentrum von Moskau die wirklich guten Immobilen, sie hatte also großes Glück gehabt, andererseits hatten sich dort eben auch die Hinrichtungskammern befunden. Es war, als würde man direkt neben Auschwitz wohnen.
Aber ich musste dringend meine Mails abrufen.
Ich ging die breite, stille Straße hinauf, bis ich den KGB erreichte. Das klotzige Gebäude aus dunklem, grobem Granit türmte sich drohend über einem großen, ausladenden Kreisverkehr, in dessen Mitte einst eine gigantische Statue des KGB-Gründers Felix Dserschinski gestanden hatte. Aber 1991 war Dserschinski entfernt worden, und nun stand in der Mitte des Kreisverkehrs nur noch sein Sockel, den man in einen überdimensionalen Blumenkübel verwandelt hatte.
Zu meiner großen Freude und Überraschung gab es direkt an diesem gewaltigen und immer noch Furcht einflößenden Platz ein kleines, gemütliches Café, das Coffee Grind, mit niedlichen kleinen Tischen, WLAN und einer handgeschriebenen Karte, auf der ich zumindest ein Getränk – die Spezialität des Hauses, einen Cappuccino – für vertretbare fünfundsiebzig Rubel, also drei Dollar, entdeckte. Vielleicht wurde es vom KGB subventioniert. Und wenn schon. Sie waren uns etwas schuldig.
Ich ging zum Tresen. »Hallo!«, begrüßte mich die hübsche Barista, als ob sie sich freute, mich zu sehen. Ich bestellte den Cappuccino und setzte mich.
Mir blieben nur noch fünfzehn Minuten, um meine Mails zu checken, wenn ich innerhalb einer Stunde wieder zu Hause sein wollte. Ich fand Dimas Erklärungen der Medikamente und kopierte sie schnell in mein Notizbuch; dann schrieb ich ihm eine kurze Nachricht, um zu fragen, warum ein Heimtrainer in meinem Zimmer stand und ob das Internet in seiner Wohnung funktionierte. Anschließend googelte ich »Demenz«. Es war ein Sammelbegriff, der auch Alzheimer umfasste. Hatte meine Großmutter Alzheimer? Mir lief die Zeit davon. Ich gab mir genau sechzig Sekunden für die Website mit den Stellenangeboten aus der Slawistik. Es war eine anonyme Seite, auf der Leute Hinweise auf offene Stellen posteten und sich über ihre Erfahrungen bei der Jobsuche beschwerten. (»Ich kann euch jetzt schon sagen, dass die Stelle sowieso an den internen Kandidaten geht.« – »Einer der älteren Professoren in der Auswahlkommission ist echt creepy. Er hat mir beim Bewerbungsgespräch die ganze Zeit auf die Brüste gestarrt.«) Es war nicht die einzige Möglichkeit, sich über offene Stellen zu informieren, aber die unterhaltsamste. Heute gab es nichts Neues. Ich gab mir dreißig Sekunden, um einen Blick auf Facebook zu werfen. Meine alten Kommilitonen richteten sich in ihren neuen Positionen als College-Professoren ein. Es gab Fotos von neuen Büros, Bitten um Tipps für die Lehrpläne (um alle daran zu erinnern: Ich bin jetzt College-Professor!) und anderes Zeug, von dem ich gedacht hatte, es würde mir nicht mehr so zusetzen, wenn ich mich erst einmal am anderen Ende der Welt befand. Aber es ging mir noch immer ziemlich unter die Haut. Alex Fishman, meine Nemesis aus dem Institut für Slawistik, hatte ein wunderschönes Foto von Princeton gepostet, wo er als Postdoc anfing. Was für ein Arsch. Ich klappte den Laptop zu, steckte ihn in die Tasche und ging wieder raus auf die Straße.
Es war jetzt acht Uhr morgens, und sogar die schläfrige, unheimliche Bolschaja Lubjanka erwachte langsam zum Leben. Teure deutsche Autos wurden vom Kreisverkehr ausgespuckt und glitten Richtung Sretenka; andere bogen auf einen riesigen Parkplatz ein, der zum FSB gehören musste. Einige der Autos fuhren auf den Bürgersteig und blieben dort stehen; elegant gekleidete Männer und Frauen auf dem Weg zur Arbeit schlängelten sich an ihnen vorbei, als wäre es vollkommen normal, dass jemand direkt auf dem Bürgersteig parkte.