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Wo liegt das Glück, wenn nicht in einem Rosengarten?
Nach dem Tod ihres Mannes und dem Auszug der Kinder sucht die Botanikerin Sandra einen Neuanfang für sich. Sie kauft ein altes Gärtnerhaus auf Usedom an der Ostsee, zu dem ein verwilderter, aber einmalig schöner Rosengarten gehört. Doch die Pflege der empfindlichen Pflanzen erweist sich als schwieriger als gedacht, so dass sie den britischen Rosenexperte Julian zu Rate ziehen muss. Der hilft ihr zwar, verhält sich sonst jedoch merkwürdig abweisend. Dann findet Sandra heraus, dass ihr Garten ein Geheimnis birgt – aber um es zu lüften, müssen sie und Julian sich zusammenraufen ...
Mit wunderbaren Rosenrezepten zum Nachkochen.
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Seitenzahl: 314
Nele Jacobsen, geboren 1976 in West-Berlin, ist Diplom-Politologin und Journalistin und arbeitete jahrelang für Print und Fernsehen. Mit ihrer Familie lebt und schreibt sie in der Nähe von Dresden. In ihrem Garten am Elbhang blüht ihre Lieblingsrose, eine »Eliza«, jedes Jahr ab Juni in silbrig schimmerndem Pink. Bei atb ist außerdem ihr erster Roman »Unser Haus am Meer« lieferbar.
Mehr Informationen zur Autorin unter www.nele-jacobsen.com.
Wo liegt das Glück, wenn nicht im Rosengarten?
Nach dem Tod ihres Mannes und dem Auszug der Kinder sucht die Botanikerin Sandra einen Neuanfang für sich. Sie kauft ein altes Gärtnerhaus auf Usedom an der Ostsee, zu dem ein verwilderter, aber einmalig schöner Rosengarten gehört. Doch die Pflege der empfindlichen Pflanzen erweist sich als schwieriger als gedacht, so dass sie den britischen Rosenexperte Julian zu Rate ziehen muss. Der hilft ihr zwar, verhält sich sonst jedoch merkwürdig abweisend. Dann findet Sandra heraus, dass ihr Garten ein Geheimnis birgt – aber um es zu lüften, müssen sie und Julian sich zusammenraufen …
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Nele Jacobsen
Ein Sommer im Rosenhaus
Roman
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Kapitel 72
Rosenrezepte
Impressum
Nun lass den Sommer gehen,
lass Sturm und Winde wehen.
Bleibt diese Rose mein,
wie könnt’ ich traurig sein?
Joseph von Eichendorff
Willst du ein Leben lang glücklich sein,
werde Gärtner.
Chinesisches Sprichwort
Sandras Zeigefingerkuppe schwebte einen halben Zentimeter über der Eingabetaste: Fünf Millimeter Luftlinie zum Glück, dachte sie. Oder war es zum Unglück? Oder gar Ruin? Ihr Blick ging zur Zeitanzeige.
Noch vier Stunden zweiundzwanzig Minuten bis zum Versteigerungsende. Und es war bereits kurz vor acht Uhr abends, wie sie erschreckt feststellte. Sie hatte viel zu lange geträumt und mit dem Eintragen ihrer Daten und des Gebotes getrödelt, und das Scannen ihrer Papiere hatte ewig gedauert. Tine und die anderen würden jeden Moment hier sein und am gedeckten Tisch Platz nehmen wollen, um gemeinsam zu feiern: Abschied.
Sandras Finger zitterte. Sie rückte näher an den Computerbildschirm heran, als ob die Nähe zu dem Foto ihr bei der Entscheidung helfen würde.
Sie ließ ihre Augen über das Bild gleiten: die Rückfront des backsteinernen Gärtnerhauses mit seinem Reetdach und dem wunderschönen Rosengarten an einem sonnigen Junitag. Die Blüten an den unzähligen Rosenstöcken und -sträuchern bildeten ein Meer der Farbenpracht. In Zartrosa, Hellgelb, Weiß, Pink und Orange ragten sie über das Unkraut des verwilderten Grundstücks hinweg. Sandra erkannte strauchige Wildrosen, üppige Kohlrosen, zarte Noisette- und Bourbonrosen, stolze Edelrosen und sogar eine Fuchsrose. Die Hauswand im Hintergrund überwucherten zwei Ramblerrosen in Weiß und Tiefrot. Sie waren bis an den Rand des Reetdaches hochgeklettert.
Sandra meinte fast, den zarten, lieblichen Duft in der Nase zu spüren. Den Duft, der an warmen Sommerabenden über den windschiefen Holzzaun wehte, wenn sie und Tobias Hand in Hand an dem Haus vorbeispaziert waren, nach einem guten Glas Wein und einer Käseplatte im Dorfgasthof. Wie oft waren sie stehen geblieben vor dem verwunschenen Garten. Wie oft hatten sie die alten Rosen bewundert, die ihre schönen Köpfe stolz in die Luft streckten; das grüne Chaos um sie herum und die jahrelange Vernachlässigung kümmerten sie nicht. Sie hatten dem Vogelgezwitscher und dem Rauschen des Windes in den Buchen gelauscht, die den Rand des Grundstücks säumten, und dem Quaken der Frösche in dem Bach, hinter dem der Park des alten Gutshauses Bantekow lag. Zu DDR-Zeiten war das Gutshaus mit seiner wunderschönen Freitreppe und Säulenterrasse von der LPG als Verwaltungsgebäude genutzt worden. Seit der Wende gammelte es vor sich hin. Das kleine, mit Reet gedeckte Gärtnerhaus hatte einst zum Gutshof gehört, das wusste Sandra aus den Gasthofgesprächen. Aber nun stand es einzeln zum Verkauf. Mitsamt seinem einzigartigen Rosengarten.
Nie hatten Tobias und sie in den Jahren, die sie in der Gegend Urlaub gemacht hatten, einen Fuß in den Garten selbst setzen können. Sie hatten die dicke, verrostete Eisenkette am schiefen Tor zwischen den Backsteinpfeilern respektiert und geträumt: Eines Tages werden wir es kaufen, dieses Rosenparadies.
Aber Tobias war nicht mehr hier. Jetzt, wo sie die Möglichkeit hatte, das Haus tatsächlich zu bekommen. Sie schloss die Augen, als sie merkte, wie in ihr die Tränen aufstiegen. Sie musste diesen Traum ziehen lassen oder es allein wagen.
Aber könnte sie das überhaupt? Ganz allein? Denn nur sie würde das Haus bewohnen, würde den Garten bewirtschaften und seine Schönheit genießen. Ihre Tochter Tine ging nun ihre eigenen Wege. Und wenn sie ihn tatsächlich wagte, diesen Klick: Was bedeutete er – ihr Glück oder ihren Ruin?
Sie lehnte sich im Schreibtischsessel gegen die Lehne. Was machte sie hier eigentlich? Wie kam sie nur darauf, dass es eine gute Idee war, ihre gesamten Ersparnisse sowie den zu erwartenden Erlös ihrer Eppendorfer Altbauwohnung in dieses marode, seit Jahrzehnten nicht bewohnte Gärtnerhaus in der Inselmitte von Usedom zu stecken? Was verband sie denn schon mit der Insel außer ein paar schönen Urlaubserinnerungen? Aus ihrer Familie hatte dort niemand gelebt. Außer, erinnerte sie sich, dieser Ururgroßtante, von der ihre Oma manchmal erzählt hatte. Sie hatte als Dienstmädchen auf einem der Güter gearbeitet und war dann der Familienlegende nach in einem Kloster gestorben. Aber das war Ende des 19.Jahrhunderts gewesen.
Sollte sie denn jetzt ein ganzes Haus dort kaufen, nur weil sie mit Tobias davon geträumt hatte – und weil die alten Rosen in dessen Garten ihresgleichen suchten? Sie blickte noch einmal auf das Foto. Die wunderschönen alten Rosen.
Die Liebe zu Rosen begleitete sie nun schon so lange, seit ihrer Kindheit. Eigentlich hatte sie sie ihrer Oma Trude zu verdanken. Direkt nach dem Krieg hatte die einen Schrebergarten für die Familie organisiert und dort alles, was nötig war, angebaut. Rundherum um ihre Kartoffel-, Rotkohl- und Tomatenbeete und die kleine Rasenfläche hatte sie eine dichte Wildrosenhecke gepflanzt. Sandra hatte als Kind an Sommer- und Herbsttagen auf der Wiese getollt, während die Oma unermüdlich Kartoffeln ausgrub, Äpfel und Pflaumen erntete und einkochte in ihrer kleinen Küche mit den zwei Kochplatten im Schuppen. Sandra hatte gelernt, alle Früchte des Gartens zu schätzen, die Rosen ebenso wie die Hagebutten. Aus ihnen hatte die Oma Marmelade gekocht, die Rosenblütenblätter hatte sie gepresst und Rosenöl extrahiert. Rosenöl war Omas Allheilmittel gewesen: gegen schlechte Laune, gegen Rheuma, gegen entzündete Hautstellen. Bei Oma hatte es stets geholfen – ob aus Einbildung oder tatsächlich. Ein paar Fläschchen von Trudes Rosenöl hatte Sandra immer noch in der Speisekammer stehen, obwohl sie bestimmt nicht mehr verwendbar waren. Oma war schließlich schon zwanzig Jahre tot. Aber es war die Erinnerung, die zählte. Die Erinnerung an die schönen Tage in ihrem kleinen Garten. An die wohligen Gerüche, die aus dem Schuppen waberten. An den Glauben von der Allmacht der Rose. An Omas Liebe zu ihr, der Enkelin, und zu den Rosen. Eine Liebe, die sich auf Sandra übertragen hatte.
Sie hatte Tobias durch ganz Europa geschleppt, um die schönsten Rosengärten zu besuchen: den der berühmten Gartengestalterin Gertrude Jekyll in seinem typisch englischen Landhausstil, den rekonstruierten Park des legendären Schlosses Malmaison der Rosenkaiserin Joséphine bei Paris, die wunderschönen botanischen Anlagen auf den Inseln der oberitalienischen Seen. Traumhafte Refugien. Aber nirgendwo auf ihren Reisen hatten sie auf einem Privatgrundstück solch eine große Sammlung alter Rosenpflanzen gesehen wie in Bantekow, diesem Garten im Dornröschenschlaf. Es war ein echter Liebhabergarten, das hatte Sandra auf den ersten Blick erkannt, als sie vor exakt sechs Jahren das erste Mal vorbeispaziert waren.
Der Dornröschengarten musste wachgeküsst werden. Sandra nickte. Von ihr.
Wem er wohl einmal gehört hatte? Warum war das Gärtnerhaus so lange unbewohnt geblieben? Sie scrollte noch einmal durch den Text der Immobilienfirma: Nein, über die Geschichte des Gartens stand dort nichts. Nur dass das Haus und das Grundstück im Auftrag des Bürgermeisters von Bantekow meistbietend verkauft werden sollten. Leider hatte Sandra die Versteigerung gerade erst entdeckt – ihre Anrufe in der Immobilienfirma und auch im Rathaus hatten nur noch die Anrufbeantworter entgegengenommen. Fragen konnte ihr niemand mehr beantworten. Immerhin hatten sie ein Video mit eingestellt, auf dem das Haus von innen zu sehen war. Sanierungsbedürftig, keine Frage. Viel DDR-Standard, zum Teil zerborstene Dielen, alte Wasserinstallationen. Aber baufällig schien es nicht zu sein; das bestätigte auch ein Gutachten eines Statikers, das eingescannt war.
Noch vier Stunden und acht Minuten.
Warum hatte sie diese Versteigerung nur nicht schon früher entdeckt? Sie war überhaupt keine Freundin der schnellen Entscheidung. Aber nun half alles nichts: Entweder sie bot jetzt mit – oder sie ließ dieses Haus für immer ziehen. Dieses Haus mit dem schönsten Rosengarten der Welt. Dieses verwunschene Haus in dem winzigen Ort Bantekow auf der Sonneninsel Usedom, mitten in der Stille der Natur.
Sie schüttelte den Kopf. Am Ende der Welt. Na ja, zumindest am Ende von Deutschland.
Wollte sie da wirklich hin? Weg aus Hamburg? Von ihren Freunden und dem Eppendorfer Stadtteilverein, der ihr ehrenamtliches Suppenkellenschwingen jeden Mittag um zwölf Uhr bei der Essensausgabe vermissen würde? Weg von den Kindern – ach, nein. Sie musste sich erst an den Gedanken gewöhnen, dass die Kinder ja selbst weg waren. Tom war schon vor drei Jahren zum Studieren fortgezogen, und Tine würde morgen gehen. Und dann war Sandra ganz auf sich gestellt. Wie seit Anfang ihres Studiums nicht mehr, als sie bei ihren Eltern ausgezogen war vor siebenundzwanzig Jahren. Was sollte sie nur anfangen mit ihrer Zeit und ihrem Elan, den sie durchaus noch spürte? Sie konnte sich doch jetzt nicht einrichten wie im Rentnerdasein. Schließlich war sie erst sechsundvierzig Jahre alt.
Aus der Küche drang köstlicher Geruch zu ihr. Der toskanische Rinderschmorbraten, den Tine sich für ihr Abschiedsessen gewünscht hatte, schien noch nicht angebrannt zu sein.
Trotzdem – was saß sie hier am Computer und vertrödelte ihre Zeit? Sie würde sich ja doch nicht trauen. Schon wanderte ihr Zeigefinger wieder Richtung Eingabetaste.
Oder doch?
Es klingelte an der Haustür. Sandra zog die Hand zurück, ließ die Seite der Immobilienfirma offen und ging zur Tür.
»Mama!« Tine umarmte sie fest und vergrub den braunen Schopf an ihrem Hals. Wie damals, wenn sie ihr beim Abholen aus dem Kindergarten in die Arme gerannt war mit dem Rucksack schief auf dem Rücken und den Spuren des Mittagessens auf dem Pulli. Sandra spürte, wie Tränen in ihr aufstiegen. Und den schnellen Herzschlag ihrer Tochter. War Tine etwa doch aufgeregt? Sandra schaute Tine in die Augen und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn – bevor sie sie schnell weiter in den Flur schob und sich den anderen zuwandte; nicht, dass sie jetzt schon anfingen zu weinen.
Sie begrüßte Tines Freundinnen Sarah und Liane, die viele Jahre hier in der Familienwohnung ein und aus gegangen waren. Solange Tine noch Schülerin war und hier wohnte. Sandra dachte mit Schrecken an das leere Zimmer, zweite Tür rechts, Tines altes Kinderzimmer. In den vergangenen Wochen hatten sie es nach und nach ausgeräumt. Seit ein paar Tagen war es fast leer bis auf das weiße verschnörkelte Metallbett, das verwaist mit der Ikea-Blümchentagesdecke in der Ecke am Fenster stand; Tine hatte in letzter Zeit bei ihrem Freund Philipp in der WG gewohnt. Sandra war nicht die Einzige, der der Abschied schwerfiel.
»Rosen von uns allen, Mama!« Tine hängte ihren Dufflecoat an die Flurgarderobe und zeigte auf einen riesigen Strauß langstieliger gelber Teerosen, den Philipp in der Hand hielt. Sandra nahm ihn und strich über die prächtigen Blüten. Genau solche hatte sie über den Zaun hinweg in dem Garten in Bantekow ges… Schluss, schalt sie sich. Es war Tines Abend. Sie musste sich ihrer Tochter widmen, eine gute Gastgeberin sein, nicht traurig wirken, und sie musste sich um den – verdammt! »Der Braten!«
Mit dem Strauß im Arm rannte sie in die Küche und ließ Tine und die Gäste im Flur stehen.
Etwas weniger Sauce war es geworden als sonst, ein wenig verschrumpelt sah der Braten aus, als sie den Deckel des Bräters lüftete, aber der Duft von Rotwein, Knoblauch, sonnengetrockneten Tomaten, Oliven und sehr viel Rosmarin beruhigte sie. Er würde schmecken.
»Hmm!« Tine schaute mit in den Topf. »Das werde ich so vermissen.«
»Den Braten.« Sandra sah sie lächelnd an.
»Dich natürlich auch, Mama.« Tine umarmte sie.
»Da bin ich froh.« Sandra ließ die Arme hängen. Bloß nicht zu viel Körpernähe, bloß nicht anfangen zu heulen.
»Dich am allermeisten.«
Sandra machte sich los und drehte Tine den Rücken zu, um auf den Schrank zu zeigen. »Deckt ihr den Tisch? Ich mache die Vorspeise fertig.« Zum Glück hatte sie die schon vorbereitet im Kühlschrank, dachte sie. Mozzarella mit getrockneten Feigen und Chili.
»Wie schön, dass Sie Tine einen Abschiedsabend zu Hause bereiten«, sagte Philipp, umfasste Tines Hüfte und gab ihr einen Kuss. »Bevor es über den großen Teich geht.« Er schaute ihr in die Augen. »Dass du einfach so abhaust.« Er schüttelte den Kopf.
»Komm. Sechs Stunden Flugzeit – und du bist bei mir.« Sie befreite sich aus seiner Umarmung.
»Das Flugzeug fliegt auch andersherum.« Seine Stimme klang ein wenig schneidend.
Tine nahm die Teller aus dem Schrank und reichte sie Philipp. »Ich wage zu bezweifeln, dass ich am Anfang viel wegkann.«
»Wirst du etwa auch so ein Supernerd wie alle dort?« Er zog die Besteckschublade auf und klapperte mit Messern und Gabeln.
Tine faltete die Papierservietten mit Stars and Stripes, die Sandra besorgt hatte. »Diese Supernerds sind die zukünftigen Chefs der Welt.«
»Du auch? Ob du dann noch was von mir wissen willst? Vom Musikstudenten in Hamburg?«
Sandra hörte nicht weiter zu. Dass ihre Tochter einmal in Harvard studieren würde, hätte sie allerdings genauso wenig wie Philipp gedacht. Tine war immer gut in der Schule gewesen, hatte sich für vieles interessiert. Aber dass sie sich ausgerechnet für Sandras altes Fachgebiet interessieren und Botanikerin werden würde, war eine Überraschung gewesen. Und erst recht ihr Engagement bei dem Bewerbungsverfahren für Harvard. Am Ende hatte Tine die Zusage nicht zuletzt Professor Werner vom Botanischen Garten zu verdanken. In den vier Jahren, die sie dort als Schülerin mitgearbeitet hatte, war sie dem alten Professor ans Herz gewachsen. Er hatte ihr eine vorbehaltlose Empfehlung geschrieben, und sein Wort hatte Gewicht. Schließlich war er in den siebziger Jahren mit seinen Forschungsergebnissen zu den Bestäubungsmechanismen von Orchideen nur knapp am Nobelpreis für Biologie vorbeigeschrammt. Sie lächelte. Und was vielleicht auch zu der wohlwollenden Empfehlung beigetragen haben könnte, dachte sie, war seine Sympathie für Tines Mutter. Aus der hatte er nie einen Hehl gemacht. Genauso wenig wie aus der Tatsache, dass er maßlos enttäuscht gewesen war, als Sandra bei der Geburt von Tom – nach ihrer Promotion summa cum laude und im zweiten Jahr als wissenschaftliche Mitarbeiterin an seinem Lehrstuhl – den Beruf an den Nagel gehängt hatte, um sich um die Familie zu kümmern. Umso mehr hatte er sich gefreut, als Tine bei ihm aufgetaucht war und sich als interessiert und begabt herausgestellt hatte. Wenn schon nicht die Mutter, konnte er nun wenigstens die Tochter auf die spannende Reise in die internationale Wissenschaft schicken.
»Schade, dass Professor Werner auf diesem Kongress in Stockholm ist und nicht kommen kann. Ich hätte ihm so gern noch einmal gedankt«, sagte Tine und stellte den letzten Teller auf den Tisch.
»Wir schicken ihm einen Gruß aufs Handy.« Sandra hantierte mit dem Mozzarella und verteilte das Olivenöl aus Siena über Käse und Feigen.
»Jetzt?« Tine zog ihr Telefon hervor.
»Komm her!« Mit dem Kochhandschuh umarmte Sandra ihre Tochter und lächelte Kopf an Kopf mit ihr in die Kameralinse des Handys, als Tine abdrückte. Sofort wandte sie sich wieder der Vorspeise zu, während Tine tippte. Noch ein wenig Balsamico, und Sandra bat alle, am langen Holztisch im Esszimmer Platz zu nehmen, und servierte.
Sie sah Tine lächeln, die Wangen wurden immer röter vom Rotwein und vom guten Essen. Hörte das Stimmengewirr und das Lachen. Und sie dachte an den Rosengarten. Sandra linste auf die Armbanduhr. Noch eine Stunde und zweiundfünfzig Minuten bis zum Versteigerungsende. »Bereit fürs Dessert?« Sie wartete keine Antwort ab, sondern sprang auf und lief in die Küche. Wenn sie jetzt gleich den Nachtisch äßen, danach vielleicht noch einen Limoncello als Digestif nähmen, den Ulrike ihr neulich von der Wellnessfarm in der Toskana mitgebracht hatte, auf der man sie um zehn Jahre jünger gespritzt hatte, dann könnten ihre Gäste in einer Stunde raus sein. Und sie hätte noch fünfzig Minuten, um zu überlegen, ob sie nicht doch …
Stopp, schalt sie sich. Dies war Tines Abschiedsfest. Ihre einzige Tochter ging für zwei Jahre in die USA. Und sie hatte nichts Besseres zu tun, als an Rosen zu denken?
Sie nahm das Rosen-Tiramisu aus dem Kühlschrank. Ob es sehr auffallen würde, wenn sie mal kurz ins Arbeitszimmer huschen und nach dem Auktionsstand schauen würde? Wie viele Gebote es jetzt waren? Nein, jetzt hatte sie den Nachtisch angekündigt. Sie stellte die Kristallteller auf das Tablett und betrat wieder das Esszimmer. Gleich würden alle noch Kaffee wollen, dachte sie und verfluchte ihre schrecklich langsame Jura-Maschine.
Als sie exakt eine Stunde und vierunddreißig Minuten später die Tür hinter den jungen Leuten geschlossen hatte und gen Arbeitszimmer lief, standen ihr die Tränen in den Augen. Ihre Tine war erwachsen. Und sie war fort.
Philipp würde sie morgen von der WG aus zum Flughafen fahren. Sandra würde nicht mitfahren. Sie hasste Abschiede am Flughafen und wollte Tine das Bild ihrer heulenden Mutter ersparen. Das war nicht die richtige Erinnerung an das alte Leben, wenn man voller Elan und Freude aufbrach, um herauszufinden, was die Welt für einen bereithielt.
Sie setzte sich auf den Schreibtischstuhl. Schon leuchteten ihr vom Bildschirm die Rosen entgegen. Noch sechzehn Minuten Bedenkzeit. Noch vierzehn, das Richtige zu entscheiden und ihren weiteren Lebensweg einzuschlagen.
Sandra zog die Schreibtischschublade auf und nahm ihren Glücksbringer heraus, ein Herz aus Rosenquarz, kaum größer als ihr Handteller. Sie schloss die Augen und drückte ihn.
Tine und Tom führten ihr eigenes Leben. Ihre Freundin Ulrike war ein Workaholic mit Singleproblemen und zeitaufwendigem Schönheitswahn. Die Suppenkelle konnte jemand anders schwingen. Auf ihrem Hamburger Balkon würden die Rosen nie richtig wachsen. Sie war jetzt sechsundvierzig Jahre alt. Ihr Mann war tot. Was sollte sie die nächsten vierzig Jahre tun?
Sie öffnete die Augen und starrte auf die bunten Blüten von Bantekow. Der Rosenquarz in ihrer Hand war warm geworden. Sie hatte das Gefühl, dass das Steinherz pulsierte. Doch es war nur ihr eigener Herzschlag, den sie da spürte – schnell, aber gleichmäßig. Irgendwie bestimmt und zielstrebig kam er ihr vor.
Was sollte sie also tun bis ans Ende ihres Lebens, das zur Hälfte schon gelebt war? Das Leben, das sie mit Tobias hatte verbringen wollen, der ihr vor zwei Jahren plötzlich genommen worden war. Sie starrte auf die Rosen, bis die Farben verschwammen.
Sie beugte sich vor. Das. Sie drückte die Eingabetaste.
»Du wirst nicht glauben, was ich gerade getan habe!« Sandra lief im dunklen Schlafzimmer auf und ab.
»Und du wirst nicht glauben, was ich gerade durchmache.« Ulrikes Stimme klang gar nicht verschlafen, wie Sandra erwartet hatte, schließlich war es fast ein Uhr nachts. Nach ihrem Klick hatte sie die Dankeszeile der Immobilienfirma angestarrt, sich vom Schreibtischstuhl auf den Parkettboden gleiten lassen und die Beine in der Luft geschüttelt vor Freude. Dann hatte sie getanzt. Und zu guter Letzt hatte sie Angst bekommen und zur Beruhigung eine ganze Tafel Schokolade gegessen. Danach war ihr wieder wohl genug gewesen, um Ulrike anzurufen.
Und die klang jetzt gar nicht müde. Sondern betrunken.
Dass sie es immer schaffte, ihre Probleme und Neuigkeiten dringender erscheinen zu lassen als Sandras. Sie seufzte. Also gut. Erst Ulrike. »Was ist los, mein Herzblatt?«
»Ich habe es ausgerechnet«, sagte Ulrike undeutlich. »Auf meinen Reisen für diese Firma habe ich zweihundertsiebzehn Nächte in Hotels auf jedem verdammten Kontinent übernachtet, habe einhunderteinundvierzig Gin Tonics getrunken, was meiner Schönheit und meiner Gesundheit nicht zuträglich war, aber bei diesen ganzen Geschäftsessen mit all diesen Anzugärschen, die sowieso lieber mit einem Mann verhandelt hätten, zum guten Ton gehörte.« Sie zog die Nase hoch, und Sandra hörte, wie sie noch einen Schluck trank. »Ich habe, wenn ich im Headoffice in Hamburg war, jeden Tag zwölf bis vierzehn Stunden im klimaanlagenkalten Büro verbracht und mir in den Perlonstrumpfhosen und Highheels mehrmals eine Blasenentzündung und fast den Tod geholt. Wie eine Glucke habe ich mich um meine einhundertsiebenundzwanzig Abteilungsmitarbeiter gekümmert. Und die haben der Firma die meisten Deals gebracht – mehr als jede andere Abteilung. Sogar ich selbst habe an den Kram geglaubt, den wir verkauft haben.« Sie lachte verächtlich.
Ach herrje, dachte Sandra und hörte Ulrike schlucken, als sie wieder trank. Wie hatte das nur passieren können? Ulli war doch verheiratet mit ihrem Job. Sie liebte ihr Business. Nicht umsonst war sie vor einigen Jahren von diesem Branchenblatt zur Managerin des Jahres gewählt worden. »Du wirst doch sofort was Neues fin…«
»Hab ich schon«, unterbrach Ulrike sie. »Ein Headhunter hat mich gleich heute angerufen. Von wegen Diskretion in dieser Scheißfirma.« Sie lachte böse. »Jedenfalls ziehe ich in ein paar Wochen nach Singapur. Was dagegen?«
Sandra starrte entsetzt auf ihr Spiegelbild über der Frisierkommode. »Um dort zu leben?« Wollten sie denn alle alleinlassen? »Das geht doch nicht!«
»Wusstest du, dass der Name Singapur Stadt der Löwen bedeutet und mich eine Zigarette am falschen Ort bis zu tausend Singapur-Dollar kosten kann? Oh!« Sandra hörte schnelle Schritte. »Ich muss kotzen.«
Die Leitung tutete.
»Du, ich habe möglicherweise gerade ein Haus gekauft mit einem unglaublich schönen Rosengarten mitten im Nichts auf Usedom. Ich werde dort hinziehen, das Haus instand setzen und den Rosengarten retten. Und dann werde ich dort alt«, sagte Sandra zu dem Tuten. »Schön, dass du dich so sehr dafür interessierst, was deine beste Freundin macht.« Sie warf sich angezogen aufs Bett.
Bloß nicht an Ulli in ihrem Bad denken. Sie verzog das Gesicht. Und bloß nicht an Tine denken, die bald aufstehen und zum Flughafen fahren würde.
Dann schon lieber an die Rosen. Und daran, dass sie in wenigen Stunden erfahren würde, ob ihr Gebot erfolgreich gewesen war: ob sie diejenige war, die diesen Traumgarten und das schnuckelige Häuschen besitzen würde.
»Schon mal was von Schrottimmobilien im Osten gehört?« Ulli blies den Rauch ihrer Zigarette in Sandras Balkonrosen, die kaum mehr waren als ein kläglicher Versuch, so etwas wie einen Minirosengarten anzulegen. Doch die engen Kästen behagten den stolzen leuchtend rosafarbenen Portlandrosen nicht, das spürte Sandra. Genauso wenig mochten sie die direkte Sonne am Nachmittag und den eisigen Schatten am Morgen und am Abend. Die Blätter welkten vor sich hin, die Blütenpracht hatte sich im letzten Sommer sehr in Grenzen gehalten, selbst im Juni. Rosen waren eben nichts für den Balkon. Rosen gehörten in den Garten.
Sie blickte dem Rauch hinterher, wie er in die ruhige Eppendorfer Seitenstraße mit den Altbauhäusern und den Linden zog, deren Wurzeln die Bürgersteigplatten an vielen Stellen angehoben hatten. All die Jahre war sie über diese Platten zu den Geschäften am Eppendorfer Baum gelaufen, um den Kindern und Tobias ein frisches Abendessen aufzutischen. Eigentlich liebte sie ihre Wohngegend. Die Menschen um sie herum waren ihr so vertraut. Wer von ihnen hatte wohl auch den Traum, irgendwo anders zu leben? Wenn wir alt sind, dann ziehen wir dorthin, wo es uns gefällt, und fangen ein neues Leben an. So dachte man sich das immer. Sandra verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln. Wenn wir alt sind. Wenn dann noch beide da sind, sollte man sich lieber dazudenken. Und: Wenn sie es dann tatsächlich wagten. Träume gab es viele. Nur die wenigsten Menschen lebten sie am Ende auch.
»Hast du darüber überhaupt nachgedacht?« Ullis Stimme drang wieder zu ihr durch. »Was machst du, wenn du jetzt den Zuschlag bekommst und feststellst, dass das Haus ein einziger Schrotthaufen ist?« Sie beugte sich auf ihrem Balkonstuhl vor und nahm eine saure Gurke aus dem Kater-Bauernfrühstück, das Sandra ihr zubereitet hatte. Sie selbst hatte nichts anrühren können. Denn in wenigen Minuten sollte eine E-Mail von der Immobilienfirma kommen.
Sandra blickte auf das iPad, das sie auf dem Schoß hatte. Noch nichts. Aber von Tine gab es Post. Am Flughafen geschrieben heute Morgen.
Liebe Mama, sitze am Gate, Flieger scheint voll zu werden. Bin aufgeregt, nun geht es wirklich los! Ich danke Dir so sehr, liebe Mama, dass Du mir das ermöglichst und mich bei allem unterstützt hast. Ich drück Dich, bis zur nächsten Mail– dann aus Boston. Deine Tine
Sandra lächelte. Eine tolle Tochter hatte sie, sie würde das packen. Und ja, das Teilstipendium half, aber einen Großteil der Studiengebühr mussten sie dennoch selbst zahlen. Sie – das hieß Mama. Denn Tine würde zwar ein wenig jobben, aber viel beitragen konnte sie bei dem anstrengenden Studium dort nicht. Sandras Herz schlug schneller. Hatte sie wirklich alles gut durchgerechnet? Der Hauskauf, falls er denn zustande kam, die Sanierung und so weiter, waren das eine. Tines Studiengebühren kamen noch obendrauf. Womöglich übernähme sie sich ja wirklich mit all dem? Vielleicht wäre es doch das Beste, wenn ihr Gebot nicht erfolgreich wäre?
Sie hörte das Knacken der Gurke, als Ulrike hineinbiss, und blickte auf.
»Was machst du dann?«, fragte Ulli kauend noch einmal.
»Dann habe ich trotzdem den wunderbaren Rosengarten. Und darauf kommt es doch an.«
»Das nenne ich Optimismus. Oder Blauäugigkeit. Baust du dir dann dort ein Zelt auf zwischen deinen Rosen? Oder schläfst du im Käfer?« Ulrike lachte. »Wo ist denn das überhaupt, Bantekow?« Sie zog ihre Kaschmirstola enger um die Schultern und griff erneut zu. »Spinnst du eigentlich, mir so einen Haufen Kohlenhydrate aufzutischen? Was meinst du, wie lange ich dafür heute Abend auf meinen Hometrainer muss?« Sie schob sich eine riesige Fuhre Kartoffel und Ei in den Mund und kaute zufrieden lächelnd.
»Auf Usedom, nur ein paar Kilometer von Heringsdorf und Ahlbeck entfernt. Falls Frau Ich-reise-grundsätzlich-nur-in-Wellnesstempel-in-Regionen-die-ich-nicht-aussprechen-kann sich darunter was vorstellen kann.«
Ulrike schluckte. »Wenn du wie ich ohne Familie geblieben wärst, dann wären deine besten Buddys im Urlaub auch das Salatbuffet, der Masseur und die Yogatrainerin, das kann ich dir versichern.« Nun füllten sich ihre Augen tatsächlich mit Tränen.
Sandra wunderte sich immer wieder über diese empfindsame Seite ihrer sonst so resoluten Freundin, die von einer Sekunde auf die nächste auftauchen konnte, und nahm ihre Hand. »Entschuldige.«
»Vergiss es!« Ulrike zog die Hand weg. »Also: Was ist so toll dort oben, dass du bereit bist, dort zu versauern?«
»Von wegen versauern.« Sandra warf einen schnellen Blick auf die Mails – immer noch nichts. »Du müsstest die Landschaft mal erleben. Weite Felder bis zum Horizont, windschiefe Alleebäume und endloser blauer Himmel. Freiheit, Ulli. Und natürlich die Ostsee mit ihren wunderschönen Stränden. Die Kaiserbäder, alles nur ein paar Minuten entfernt mit dem Auto. Dort ist Trubel, wenn man möchte. Aber in Bantekow, im Herzen der Insel, herrscht Ruhe. Das Lauteste, was du da hörst, sind das Gezwitscher der Vögel und das Rauschen des Windes in den Bäumen.«
»Und das Geknatter der Traktoren.« Ulrike rümpfte die Nase. »Die Gülle stört dich nicht? Hab neunzehn lange Jahre in solch einem Gestank verbracht, bis ich endlich nach Hamburg fliehen konnte. Bin froh über jeden Tag, den ich in der Stadt sein darf. Würde mir was fehlen, wenn ich mich in so ein Kuhkaff setzte, wo man nicht tot über dem Zaun hängen will.«
»Ich hänge dort sehr gern über dem Zaun.« Sandra verschränkte die Arme, nicht ohne vorher noch einmal auf die Mails zu schielen. »Über meinem noch herzurichtenden, aber sehr schönen uralten Holzzaun zwischen romantisch bröckelnden Backsteinpfeilern.«
»Okay, ein kleiner Rückzug sei dir gegönnt«, lachte Ulrike. »Aber wir haben erst Bergfest in diesem Theater, das sich Leben nennt. Ein wenig durchhalten musst du noch.« Sie streichelte Sandras Wange über das Tischchen hinweg. »Und weißt du was? Ich kann zwar nicht nachvollziehen, was du dir da für ein Fleckchen Erde ausgesucht hast. Aber, dass du dich jetzt in ein neues Abenteuer stürzen willst, das find ich klasse.«
»Das machst du doch auch.« Ob das Mailprogramm kaputt war? Sandra drehte das iPad hin und her. Vielleicht schlechter Empfang?
»Mein Aufbruch ist ja nicht freiwillig.« Ulli zuckte die Schultern. »Aber diese Herren werden schon sehen, was sie davon haben, mich rauszuschmeißen. Dann greife ich eben von Singapur aus an. Solange ich nicht aus Geldnot wieder zurückmuss in das Kinderzimmer bei meinen Eltern in Melkdorf, wo morgens um halb sechs die Hähne krähen und die Kühe blöken, ist mir alles recht.« Sie stach senkrecht in eine Bratkartoffel. Bing, machte das iPad. Sandras Herz machte einen Hüpfer.
»Nun lies schon«, sagte Ulrike.
»Kann nicht.« Sandra konnte wirklich nicht. Was, wenn es nicht geklappt hatte? Was, wenn der Rosengarten an jemand anders ging? Er konnte doch niemandem so viel bedeuten wie ihr. Sie würde ein Juwel daraus machen. Wenn sie ihn bekäme.
Sie reichte das iPad an Ulrike, ohne hinzusehen. »Lies du.« Sie schloss die Augen.
Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass Ihr Gebot nicht erfolgreich war. Dennoch vielen Dank für Ihre Teilnahme an der Versteigerung. Bitte beachten Sie auch weiterhin unser sehr interessantes Angebot an Immobilien in Mecklenburg-Vorpommern.
Mit freundlichen Grüßen…
Julian knallte den Laptopdeckel zu und schaute sein Gegenüber, einen Mann im Businessanzug, böse an. Zum Glück spielte der an seinem Handy und nahm ihn nicht wahr. Julian blickte an ihm vorbei durchs Fenster. Die U-Bahn bremste ab und fuhr in die Station Marble Arch ein. »Mind the gap«, ertönte die Durchsage, als die Türen sich zischend öffneten. Leute drängten aus dem Waggon und noch viel mehr hinein.
Wie hatte das nur passieren können? Er war sich so sicher gewesen, erfolgreich zu sein. Gut. Er war mit seinem Gebot nicht bis an die Höchstgrenze des Vorstellbaren gegangen. Warum auch? Wer außer ihm würde sich schon für ein verlassenes, seit Jahrzehnten leerstehendes Haus mit einem verwilderten Rosengarten mitten im grünen Nichts interessieren, das noch dazu neben einem vergammelten Gutshaus stand? Das musste schon jemand sehr Verrücktes sein. Er selbst hatte immerhin ein begründetes Interesse an dieser Immobilie.
Die Türen schlossen sich zischend, die Tube fuhr an und schlängelte sich quietschend durch den engen Tunnel.
Er hatte sich verzockt. Und, das musste er sich ebenfalls eingestehen, viel mehr als das, was er geboten hatte, hätte er nicht auf den Tisch legen können. Die Scheidung und die Unterhaltszahlungen hatten sein Budget erheblich geschmälert. Er ballte die Fäuste. Und nun waren das Haus und der Garten weg. Es hätte ihm zugestanden.
Er verstaute den Laptop im Rucksack. »The next station is Notting Hill Gate«, erklang die Ansage.
Na warte, dachte er, als die Türen aufglitten und ein Windstoß Tunnelluft in den Waggon wehte. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Wir werden noch sehen, wer am Ende das Haus und den Garten sein Eigen nennen wird. Wäre doch gelacht, wenn mir nicht Mittel und Wege einfallen würden, den unbekannten Abstauber zum Verkaufen zu bringen. Und zwar zu meinem Preis.
Am Ausgang der U-Bahn wandte er sich auf dem Bürgersteig nach links. Zwischen den hell erleuchteten Schaufenstern und den im Stau stehenden Chrysler-Taxis und roten Doppeldeckerbussen lief er in Richtung seines Apartments. Das Dröhnen des Presslufthammers, der mitten auf der Kreuzung ein Stück der Straße aufriss, hörte er kaum – in Gedanken war er bei den Rosen von Bantekow.
Der Dieselmotor des roten Käfer-Cabrios verstummte, als Sandra den Zündschlüssel abzog. Sie hörte den Wind in den hohen Buchen am Bach hinter dem Gärtnerhaus rauschen, hörte die Frösche quaken und die Vögel singen. Auf dem bröckelnden Backsteinpfeiler des Gartentores saß eine Amsel und blickte ihnen mit schief gelegtem Kopf entgegen, offenbar nicht sicher, ob sie fliehen oder mitträllern sollte.
Sandra lehnte sich in ihrem Sitz zurück und schaute auf das Haus. Die Backsteinfassade, die weißgestrichenen, aber rissigen Fensterrahmen unter dem tiefhängenden Reetdach. Die grüne Holztür mit den weißen Streben und der geschwungenen Klinke. Wunderschön ist mein Haus, dachte sie. Wunderschön.
Heute Morgen waren sie losgefahren in Hamburg. Und als der vollgepackte Käfer von der Autobahn auf die von Alleebäumen gesäumte Landstraße gebogen war, hatte Sandra aufgeatmet. Die weiten Felder rechts und links der windschiefen Eichen. Die sattgrünen Waldstücke auf dem platten Land. Der weite Himmel mit seinen vielen Wolkenspielen. Die erste Kuhweide, der erste Traktor, der ihnen entgegengeknattert kam. Die Fahrt über die Brücke auf die Insel. Sandra hatte gespürt, wie sie ruhiger wurde.
Schon als sie vor ein paar Tagen im Büro des Notars in Hamburg gesessen hatte, der ihr den Kaufvertrag verlesen hatte, hatte sie sich diesen Moment vorgestellt: wie sie ankommen würde vor ihrem Haus in Bantekow. Vor dem alten Gärtnerhaus, in dessen geschütztem Rücken fast dreihundert alte Rosenstöcke darauf warteten, wieder freigeschnitten zu werden und Licht und Luft zu bekommen. Gedüngt zu werden, wieder wachsen zu dürfen. Wieder zu blühen, üppiger denn je und in allen Farben, die die Rosenwelt zu bieten hatte.
Der Notar hatte die Rosen kaum erwähnt, aber er hatte immerhin einige Informationen zur Geschichte des Hauses gehabt. Ja, es war das alte Gärtnerhaus, das zum Gut derer von Bantekow gehört hatte, die seit dem 18.Jahrhundert das Herrenhaus bewohnt und das Gut bewirtschaftet hatten. In den Wirren des Zweiten Weltkriegs hatten sie Gut und Ort verlassen und waren später enteignet worden; das Gut war von der LPG genutzt und heruntergewirtschaftet worden. Vom Verbleib der Familie Bantekow war nicht viel bekannt, außer dass sie ins Ausland gegangen war. In dem Gärtnerhaus hatte üblicherweise der Hauptgärtner des Parks gewohnt. Aber es hatte auch eine Zeit gegeben, in der dort ein Mitglied der Familie gelebt und gewirkt hatte: Theodor von Bantekow. Er hatte an der Universität von Heidelberg Agrarwissenschaften studiert und war Mitte der 1880er auf das väterliche Gut zurückgekehrt, um dort eine Rosenzucht aufzubauen, während sein älterer Bruder Johannes den landwirtschaftlichen Betrieb übernahm. Binnen dreißig Jahren hatte Theodor Hunderte Rosensorten in Europa, Amerika und Asien zusammengekauft und gesetzt und selbst neue gezüchtet. Sehr erfolgreich, wie der Notar wusste. Seine Madame Dorothee Bantekow und seine Meo waren heute noch im Handel, vertrieben von der Rosenfirma Flores aus Göttingen. Sandra war ganz aufgeregt gewesen, als sie das hörte. Denn die Sorte Meo kannte sie gut – eine spätblühende Kletterrose in zartem Rosé, die sich auf Sandras Eppendorfer Balkon allerdings divenhaft geweigert hatte, aus ihrem Pflanzkübel heraus an der Hauswand zu ranken, und nach einer Saison eingegangen war.
Nun besaß sie also die Geburtsstätte dieser herrlichen Rose. Vielleicht war die Urpflanze, die Theodor von Bantekow gezüchtet hatte, ja noch zu identifizieren? Vielleicht würde sie sie finden. Was würde sie noch entdecken? Welche Kreationen lauerten wohl noch zwischen all dem Gestrüpp? Wenn der Garten Ende der 1880er angelegt worden war, bedeutete das, dass es dort vermutlich auch einige sogenannte alte Rosen geben würde, Rosen also, die vor 1867 in den Handel gekommen waren. Und das wären echte Schätze, von Sammlern in der ganzen Welt begehrt.
Sie rutschte auf dem Autositz herum, als sie in der Handtasche nach dem Tor- und Hausschlüssel kramte. Was würde sie freischneiden, wenn sie endlich mit der Schere ans Werk gehen konnte? Vielleicht längst verloren geglaubte Sor…?
»Das ist es?« Ullis Stimme klang irgendwie besorgt und riss Sandra ihren Gedanken. Sie sah Ulrike von der Seite an, die auf das Haus starrte. »Dieses hier?« Ihre Freundin zeigte mit dem Finger auf die Backsteinfassade.
Sandra nickte eifrig. »Komm!« Sie suchte die Hausschlüssel in der Handtasche und stieg aus. »Ich zeig dir alles.«
Ulrike blieb sitzen und holte aus der Manteltasche ihres Trenchcoats eine Schachtel Zigaretten hervor und das Feuerzeug. »Mon dieu.« Sie steckte sich eine an.
»Komm schon.« Sandra lief um den Käfer herum, riss die Beifahrertür auf und reichte Ulrike die Hand. Vorsichtig setzte die ihre Christian-Louboutin-Lackpumps auf das Kopfsteinpflaster. »Das kann doch alles nicht dein Ernst sein.«
»Warte, bis du die Rosen siehst.«
»Ich sehe hier erst einmal einen großen Sanierungsfall.« Sie schaute sich geradezu ängstlich um.