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Dramatisch, farbenfroh und voller Eleganz: Das Leben der Schönheitslegende Estée Lauder
New York, 1928: Die junge Esty darf im Schuppen ihres Onkels beim Mischen von Salben helfen. Sie experimentiert mit Düften und Ölen und kreiert ihre eigene Creme, die sie am Strand von Long Island an einem Klapptisch verkauft: Es wird ihr erster Erfolg. Esty nennt sich fortan Estée, zieht von Queens nach Manhattan und ergattert schließlich einen der begehrten Stände im Edelkaufhaus Saks. Mit originellen Ideen und unendlich viel Arbeit erobert das Mädchen aus Queens New York im Sturm. Aber der Erfolg hat einen hohen Preis. Er könnte sie die Liebe ihres Lebens kosten …
Historischer Hintergrund:
»Parfüm ist wie die Liebe. Ein bisschen ist nie genug.« ESTÉE LAUDER
Estée Lauder war ein Marketing-Genie und ihrer Zeit voraus: Sie verteilte kostenlose Proben ihrer Produkte in Schönheitssalons, Hotellobbys oder in der U-Bahn. Doch ihre Ehe zerbrach an der vielen Arbeit. Nach einer Scheidung versöhnte das Paar sich jedoch wieder, heiratete 1942 ein zweites Mal, und Estée und ihr Mann starteten als Lebens- und Geschäftspartner durch. Das Time-Magazine kürte Estée Lauder zu den 20 größten Geschäftsgenies des 20. Jahrhunderts.
Bedeutende Frauen, die die Welt verändern
Mit den historischen Romanen unserer Reihe »Bedeutende Frauen, die die Welt verändern" entführen wir Sie in das Leben inspirierender und außergewöhnlicher Persönlichkeiten! Auf wahren Begebenheiten beruhend erschaffen unsere Autor:innen ein fulminantes Panormana aufregender Zeiten und erzählen von den großen Momenten und den kleinen Zufällen, von den schönsten Begegnungen und den tragischen Augenblicken, von den Träumen und der Liebe dieser starken Frauen.
Weitere Bände der Reihe:
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Seitenzahl: 441
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Cover & Impressum
Manhattan, New York, Frühling 1941
Queens, New York, Herbst 1922
Manhattan, New York, Frühling 1941
Queens, New York, Sommer 1925
Queens, New York, Sommer 1925
Manhattan, New York, Frühling 1941
Mohegan Lake, New York, Sommer 1925
Manhattan, New York, Frühling 1941
Hempstead, New York, Herbst 1929
Manhattan, New York, Frühling 1941
Manhattan, New York, Frühling 1931
Commerce Street, New York, Frühsommer 1931
Manhattan, New York, Frühling 1941
Manhattan, New York, Sommer 1931
Manhattan, New York, Herbst 1931
Manhattan, New York, Frühling 1941
Manhattan, New York, Frühling 1932
Queens, New York, September 1932
Manhattan, New York, Frühling 1941
Manhattan, New York, Frühling 1934
Manhattan, New York, Frühling 1934
Coney Island, New York, Frühling 1937
Manhattan, New York, Herbst 1937
Manhattan, New York, Frühling 1941
Manhattan, New York, Sommer 1938
Brooklyn, New York, Sommer 1938
Manhattan, New York, Sommer 1938
Manhattan, New York, Frühling 1941
Florida, Miami, Herbst 1939
Manhattan, New York, Herbst 1939
Manhattan, New York, Frühling 1941
Manhattan, New York, Frühsommer 1940
Manhattan, New York, Winter 1940
Manhattan, New York, Frühling 1941
Manhattan, New York, Frühling 1941
Coney Island, New York, Spätsommer 1942
Wie ging die Geschichte weiter?
Nachwort
Vor dem Eingang des Theaters standen lange Schlangen von Yellow Cabs und hupten. Der turmähnliche Bau ragte in die geschlossene Wolkendecke und konkurrierte mit den Hochhäusern ringsum. Menschen in eleganten Abendroben stiegen aus den Taxis und eilten durch den Nieselregen zum hell erleuchteten Portal. Über dem Eingang prangte in Leuchtschrift der geschwungene Namenszug: Paramount. Darunter war in einem gerahmten Schild die Adresse zu lesen: Broadway 1502.
Kaum hatten die Besucher das trockene Foyer betreten, drängten sie weiter zu den Garderoben, wo sie sich erneut anstellten – diesmal, um ihre Mäntel und Hüte abzugeben. In Pelz gehüllte Damen mit exquisiten Kopfbedeckungen auf perfekt gelegten Wasserwellen standen dicht gedrängt neben Herren in schwarzen Smokings.
Estée war zwischen zwei korpulenten Damen in der Warteschlange eingekeilt. Sie nahm Düfte von Dorothy Gray, Elizabeth Arden und Charles Revson wahr, die sich mit Schweiß, Alkohol und würzigem Tabak vermengten. In diese bunte Mischung, die einen glamourösen Abend versprach, stahl sich auch die Note ihres eigenen Parfums, das sie gestern in ihre Gesichtscreme gerührt hatte. Die ätherischen Öle stammten von unscheinbaren Pflanzen, die auf den grasbewachsenen Stränden von Coney Island wuchsen, zwischen Sanddünen und Schilf. Estée hatte sie letztes Wochenende gesammelt. Voller Wehmut dachte sie an den unbeschwerten Nachmittag zurück, und trotz der Hitze in der Warteschlange war es ihr, als könnte sie noch immer den kühlen Wind auf ihren erhitzten Wangen spüren. Er streichelte zärtlich ihre Haut, während sie die sanften Wellen des Atlantiks beobachtete, die unaufhörlich an den Strand rollten und …
»Wir sind an der Reihe, Honey.« Charles’ Stimme holte sie aus ihren Tagträumen zurück. Er half ihr aus ihrem dünnen Mantel und übergab ihn der jungen Garderobiere, die ihm freundlich lächelnd das Nummernzettelchen reichte.
»Willst du ein Glas Champagner, bevor wir in den überheizten Publikumssaal gehen?«
Seitlich führte eine breite, mit rotem Teppich ausgelegte Treppe zu einer Bar, wo den Zuschauern vor der Vorstellung und während der Pausen Getränke und kleine Imbisse angeboten wurden.
»Ja, gerne.« Estée mochte das edle Getränk, das man in langstieligen Gläsern servierte, deren Ränder so dünn waren, dass man Angst hatte, sie könnten zerbrechen, wenn man zu fest danach griff. Champagner war der Inbegriff von Luxus und Reichtum, und noch vor ein paar Jahren hätte sie alles gegeben, um sich ein Glas davon zu gönnen. Heute war der prickelnde Aperitif zur Selbstverständlichkeit für sie geworden. Jeder Abend, den sie nicht zu Hause verbrachte – und das waren in den letzten Monaten etliche gewesen –, hatte damit begonnen.
Charles und Estée gingen hinauf zur Bar.
»Warte hier«, sagte er und schob Estée zu einem der Tische an der Fensterfront. Von ihrem Platz aus konnte Estée die anderen Gäste beobachten. Die wichtigsten Menschen der New Yorker High Society waren gekommen – aus Kunst, Wirtschaft und Politik. Drüben in der Ecke plauderte Hedy Lamarr mit Clark Gable. Neben den Schauspielern erkannte Estée die Besitzer von Bonwit Teller, einem der nobelsten Kaufhäuser auf der Fifth Avenue. Das Gebäude war so außergewöhnlich, dass Menschen aus anderen Bundesstaaten eigens anreisten, um die Fassade zu bewundern: ein Kunstwerk aus Platin, Bronze und gehämmertem Aluminium. Estée nickte Walter Bonwit freundlich zu. Nächste Woche hatte sie mit dem Sohn des Kaufhausgründers einen Termin, bei dem sie ihm ihre neue Produktpalette vorführen durfte – eine einmalige Chance, die Charles ihr verschafft hatte. Estée sollte vor Glück strahlen, doch sie sah dem Treffen mit einem erschreckenden Gleichmut entgegen. Vielleicht lag es an der Gewissheit, dass sie das Spiel bereits gewonnen hatte. Walter Bonwit würde ihr einen Verkaufsstand gewähren, das hatte er Charles bereits versichert.
Estées Blick glitt weiter zum Bartresen. Auch dort hatte sich eine Schlange gebildet. Es waren ausschließlich Männer, die geduldig warteten. Nicht eine Frau war darunter, die einem Mann einen Drink spendierte. Männer, die sich von Frauen einladen ließen, wurden belächelt.
Charles würde es niemals dulden, dass Estée die Getränke bezahlte. Er hatte auch die sündhaft teuren Karten für den heutigen Abend besorgt. Eine ganz besondere Vorstellung erwartete sie, und schon nach wenigen Stunden war der Saal völlig ausverkauft gewesen. Benny Goodman und seine Band spielten, doch vor ihm trat ein junger, vielversprechender Sänger auf, dem man eine große Karriere vorhersagte. Frank Sinatra. Er hatte letztes Jahr mit Tommy Dorsey einen großen Erfolg gelandet. Estée mochte das Lied: »All or Nothing«. Im Moment hörte sie es jedoch nur selten, denn die melancholische Melodie versetzte sie in eine schwermütige Stimmung. Dann ertappte sie sich dabei, dass ihre Augen feucht wurden und sie in Erinnerungen schwelgte.
»Sind Sie Mrs Lauder?« Eine junge Frau in einem schmal geschnittenen, knöchellangen Abendkleid trat auf sie zu. In ihrem Haar steckte eine goldene Feder, die ebenso aufgeregt wippte, wie ihre Besitzerin sprach. Estée konnte nicht anders, sie musste das auffällige Mode-Accessoire anschauen. Wer auch immer bei der Vorstellung hinter der Frau saß, würde den ganzen Abend bloß die Feder sehen.
»Ich habe Sie neulich bei Saks getroffen«, plapperte die Frau munter weiter. »Ihr Verkaufsstand ist großartig, einfach großartig.«
»Es freut mich, dass er Ihnen gefällt. Danke!«
»Natürlich sind die anderen Stände auch nicht zu verachten. Aber Ihrer ist etwas ganz Besonderes, und wissen Sie, warum?« Sie sah Estée erwartungsvoll an und klimperte dabei mit ihren aufgeklebten Wimpern, die Estée ihr am liebsten von den Augenlidern gezupft hätte. Wie konnte die hübsche Frau sich selbst dermaßen verunstalten? Dabei war ihr Gesicht ebenmäßig und schmal, ihre Lippen wohlgeformt, und die Augen hatten einen außergewöhnlichen Grünton.
Ohne Estées Antwort abzuwarten, fuhr die Frau fort: »Sie stehen selbst an Ihrem Stand – das macht ihn so besonders. Jeder kann sehen, dass Ihre Produkte wirken. Sie sind das lebende Beispiel. Der Inbegriff von Schönheit.«
»Vielen Dank!« Es war nicht das erste Mal, dass Estée Komplimente für ihr Aussehen erhielt.
»Außerdem sind Ihre Cremes für alle Frauen erschwinglich und nicht so schrecklich überteuert.« Die Fremde senkte die Stimme: »Es ist doch furchtbar ungerecht, dass nur reiche Frauen sich Schönheit leisten können.«
»Ich stimme Ihnen vollkommen zu«, sagte Estée. »Jede Frau hat ein Recht darauf, der natürlichen Schönheit, die in ihr steckt, ein bisschen nachzuhelfen.« Sie zwinkerte der Frau verschwörerisch zu.
Diese klatschte vor Begeisterung in die Hände. Sie trug lange schwarze Handschuhe, die ihr bis zu den Ellbogen reichten. Eine Spur zu vertraulich beugte sie sich zu Estée und räusperte sich verlegen: »Haben Sie vielleicht einen kleinen Ratschlag für mich? Ich will heute ganz besonders hübsch aussehen.« Sie senkte die Stimme noch weiter. »Ich bin mit einem jungen Mann hier, den ich beeindrucken möchte.«
Estée zögerte. Sicherlich hatte die junge Frau Stunden vor dem Spiegel verbracht, um ihr Haar in die richtige Form zu bringen und sich zu schminken. Trotzdem wirkte sie nervös. Das Letzte, was sie jetzt brauchte, waren Ratschläge, die sie noch weiter verunsicherten.
»Sie sehen blendend aus«, meinte Estée.
»Wirklich?« Allein dieses Kompliment führte dazu, dass die junge Frau sich aufrichtete und ihre Schultern straffte. »Könnten Sie mir nicht trotzdem noch den letzten Schliff verpassen? Ich habe gesehen, wie Sie Kundinnen bei Saks beraten.«
Estée zögerte. Der jungen Frau schien viel an ihrer Meinung zu liegen. »Wenn Sie wollen, kann ich kurz nachhelfen.«
»Vielen Dank!« Erleichtert atmete die junge Frau aus.
»Aber es ist wirklich nur, um Sie zu beruhigen«, sagte Estée. »Denn Sie sehen bereits großartig aus.« Sie stellte ihre Handtasche auf den Tisch, klappte sie auf und suchte nach ihrem Glow, einem hellrosa Gesichtspuder in einem kleinen Gläschen.
»Damit zaubert man auf jede Wange einen kleinen Schimmer.« Estée schraubte das Gläschen auf und reichte es der jungen Frau.
Die fragte verlegen: »Würden Sie vielleicht …?«
Verstohlen warf sie einen Blick über ihre Schulter, dabei rutschte die Feder noch weiter in ihre Stirn, und die künstlichen Wimpern am linken Auge lösten sich.
»O nein!« Verzweifelt griff sie in ihr Gesicht und zwinkerte hektisch. Kurz fürchtete Estée, sie würde zu weinen beginnen und damit ihren Lidstrich völlig zerstören.
»Alles ist gut«, beruhigte Estée sie. Sie legte ihre Hand auf den Unterarm der Fremden und drehte sie in den Schutz des Vorhangs, sodass niemand sie sehen konnte.
»Darf ich die Feder wegnehmen? Damit ich den Glow auftragen kann?«
»Ja, bitte. Tun Sie alles, was Sie können.«
Rasch nahm Estée die Feder aus dem Haar, zupfte die Wimpern vom anderen Augenlid und wischte mit einem Taschentuch die Kleberreste weg. Vorsichtig tupfte sie Glow auf die Wangen der jungen Frau und verstrich die Farbe mit ihren Fingerspitzen. Sie tat einen Schritt rückwärts. Was sie sah, stimmte sie zufrieden.
»Wollen Sie einen Blick wagen?« Estée kramte einen kleinen Spiegel aus ihrer Handtasche und reichte ihn der Frau. Augenblicklich breitete sich ein Lächeln auf dem jungen Gesicht aus. »Sie sind ein Genie, Mrs Lauder. Ich sehe richtig hübsch aus.«
»Sie sind richtig hübsch«, korrigierte Estée. »Jede Frau ist hübsch. Sie muss es bloß herausfinden. Und die richtigen Produkte können dabei helfen.«
»Verkaufen Sie mir Ihr Puder?«
»Gerne.« Estée lachte. »Morgen ab zehn bei Saks in der Fifth Avenue.«
»Ich werde da sein.«
Estée hielt die Frau zurück. »Sie sollten sich nicht nur an einem einzigen Abend schön fühlen, sondern an jedem Tag Ihres Lebens«, riet sie. »Und niemals für einen Mann, sondern stets für sich selbst.«
»Wie bitte?«
»Sie sind es wert, dass Sie auf sich achten. Und Sie werden sich mit jedem Tag besser fühlen. Vertrauen Sie mir.«
Die junge Frau zögerte, dann verabschiedete sie sich lächelnd. Mit erhobenem Kopf lief sie zurück zu ihrer männlichen Begleitung.
»Sag bloß, du hast eben eine deiner Kosmetikberatungen gemacht?« Charles, der die Szene aus einigen Metern Entfernung beobachtet hatte, trat jetzt näher und reichte Estée den Champagner. Kleine Bläschen stiegen in dem schmalen Glas auf.
»Die Frau hat mich erkannt«, entschuldigte sich Estée. »Sie wollte einen kleinen Tipp von mir.«
»Es ist lobenswert, wie sehr du dich für deine Marke engagierst. Ich bewundere dich dafür«, sagte Charles. »Aber das Paramount-Theater ist kein geeigneter Ort für eine Schminkberatung.«
»Es gibt keinen unpassenden Ort«, erwiderte Estée. »Neulich habe ich zwei Töpfe meiner Creme im Aufzug verkauft.«
»Tatsächlich?« Charles verdrehte die Augen. Dann setzte er sein Glas an die Lippen. In seinem maßgeschneiderten Anzug und dem feinen Hemd sah er sehr gut aus. Sein Haar war akkurat mit Wachs nach hinten gelegt, und keine einzige Strähne verirrte sich an die falsche Stelle. Seltsamerweise wünschte Estée, sie würde es tun. Auch sein modischer Schnurrbart war perfekt getrimmt. Ob er mit einem dieser Schnurrbartschoner schlief?
»Oh, dahinten stehen Mike und Benjamin Raven«, meinte Charles. »Ich muss kurz mit ihnen reden.«
»Nur zu«, sagte Estée. »Ich bin ein großes Mädchen, ich komme auch allein klar.«
»Es dauert nicht lange. Oder willst du mitkommen? Ich muss mit den beiden wegen einer Produktion im kommenden Herbst sprechen.«
Estée winkte ihn weg. »Nein, geh nur. Ich bleibe hier und beobachte die Menschen. Das kann sehr unterhaltsam sein.«
»Meinst du das ernst?«
»Ja, wirklich. Mach dir keine Gedanken. Hol mich, bevor die Vorstellung beginnt.«
Er schickte ihr eine Kusshand zu und marschierte zielstrebig durch den Raum. Die Art, wie er ging, verriet, dass das Leben es gut mit ihm gemeint hatte.
Charles Moskovitz war Manager bei Metro-Goldwyn-Mayer, einer der bekanntesten Filmproduktionsgesellschaften Amerikas. Der brüllende Löwe zu Beginn der Filme war jedem ein Begriff, der schon einmal ein Lichtspieltheater besucht hatte.
Estée nippte an ihrem Champagner und beobachtete die Blicke, die er auf sich zog. Sie stammten von Frauen wie von Männern. Die einen bewunderten und himmelten ihn an. Die anderen wünschten, er würde sich in Luft auflösen oder den Raum auf der Stelle wieder verlassen. Kurz haderte Estée mit sich. Hätte sie Charles begleiten sollen? Jede neue Bekanntschaft konnte von Wert sein. Neue Kontakte zu einflussreichen Menschen konnten ihrem Geschäft durchaus nützlich sein. Man brauchte viele gute Freunde, die einem weiterhalfen. Estée hatte sich in den letzten Jahren ein Netzwerk an Bekannten aufgebaut, die sie unterstützten. Aber heute war ihr nicht danach.
Estée hatte alles, wovon sie immer geträumt hatte, und war auf dem besten Weg, noch erfolgreicher zu werden. Mit Fleiß und Ausdauer konnte sie es zur absoluten Spitze schaffen. Dennoch wollte sich heute Abend das erwartete Glücksgefühl nicht so recht einstellen. Der Champagner schmeckte schal. Nicht einmal das Mischen der neuen Creme hatte ihre Laune heben können, dabei hatte es eine Zeit in ihrem Leben gegeben, in der sie sich nichts Schöneres hatte vorstellen können …
Seit zwei Stunden saß Esty über ihrem Aufsatzheft, doch ohne nennenswerten Erfolg. Bis auf die Überschrift hatte sie noch nichts zu Papier gebracht. Anklagend leuchtete ihr die schnörkellose, blassblaue Handschrift vom blütenweißen Papier entgegen. Das Herbstlicht malte helle Flecken auf die Schreibtischplatte. Winzige Staubteilchen tanzten im Sonnenlicht. Statt ihr Referat über Harriet Beecher-Stowes Roman Onkel Toms Hütte zusammenzuschreiben, blätterte Esty lieber in der Zeitschrift ihrer Mutter. Die neueste Ausgabe des Woman’s Home Companion lag aufgeschlagen vor ihr. In dieser Ausgabe erfuhren die Leserinnen, mit welchen Wintermänteln sie beim Einkaufsbummel durch die Stadt eine gute Figur machen würden. Außerdem gab es Tipps für moderne Kurzhaarfrisuren, einen Artikel über Schauspielerinnen und Rezepte für üppige Kuchen zu Thanksgiving. Letztere übersprang Esty und blätterte stattdessen weiter zu den Modezeichnungen. Der dunkelrote Mantel war ein Traum. Leider war er mit Sicherheit sündhaft teuer. Nie im Leben würde sie ihre Eltern dazu überreden können, so ein wertvolles Stück zu kaufen.
Esty seufzte. Wenn sie erwachsen war, wollte sie so viel Geld verdienen, dass sie sich die schönsten Kleider in den edelsten Boutiquen von Manhattan kaufen konnte. Eines Tages würde sie am Broadway stehen und im Scheinwerferlicht das Publikum verzaubern. Sie würde in Stücken von Oscar Wilde und Floyd Dell spielen. Oder in einer Bühnenadaption von Onkel Toms Hütte mitwirken. Sie hatte das Buch gerne gelesen. Völlig problemlos würde sie morgen den Inhalt vor der Klasse wiedergeben, schließlich war sie eine begnadete Rednerin. Es war ihr unverständlich, warum Mr Stringer, der Lehrer für englische Literatur, darauf bestand, dass sie den Inhalt auch schriftlich zusammenfasste. Das war pure Zeitverschwendung. Lieber widmete sie sich weiter der Zeitschrift.
Esty schlug den Artikel mit den Schauspielerinnen auf. Mary Pickford lächelte ihr entgegen. Ihre Haut war porzellanweiß und makellos. Wie machte die Frau das nur? Esty hielt sich die Zeitschrift ganz nah ans Gesicht. Kein Zweifel, das Foto war echt. Die Schauspielerin war der Inbegriff von Schönheit.
Verträumt ließ Esty das Blatt sinken. Sie sah sich selbst in einem atemberaubend schönen Abendkleid auf der Bühne stehen. Immer wieder verbeugte sie sich vor einem begeisterten Publikum, das nicht aufhören wollte, ihr Applaus zu spenden. Esty konnte stundenlang ihren Träumen nachhängen.
Widerwillig schob sie die Zeitung zur Seite. Nun lag wieder ihr Schulheft vor ihr, doch sie konnte sich nicht dazu überwinden, etwas hineinzuschreiben. Stattdessen ließ sie ihren Blick durch den Garten schweifen. Ihr Schreibtisch stand in einer kleinen Dachbodennische. Von hier aus sah sie die Terrasse der Nachbarn und das wildromantische Grundstück, das ihr Vater vor Jahren gekauft hatte. Ein ehemaliger Friedhof, auf dem sie und ihre Schwester Renee unbeschwerte Kindheitstage zwischen Kirschlorbeer und Heckenrosen verbracht hatten. Jetzt im Herbst erinnerte die sanft hügelige Landschaft an ein farbintensives Gemälde. So als hätte ein übermütiger Künstler verschwenderisch in seine Palette gegriffen und die Farbtöne gekonnt aufeinander abgestimmt. Die Herbstastern blühten in einem satten Violett, das Laub spiegelte sämtliche Orange- und Gelbschattierungen, und auf den Sträuchern sorgten Hagebutten für kleine rote Farbakzente. Esty liebte jede Jahreszeit, aber den Herbst mochte sie ganz besonders. Die Luft war geschwängert von vollen, satten Aromen reifer Früchte. Man konnte meinen, die Natur wollte sichergehen, dass die Menschen ihre Vielfalt nicht über die kargen Wintermonate vergaßen. Mit einem letzten Aufbegehren präsentierte sie ihre gesamte Schönheit, bevor sie sich in den Winterschlaf zurückzog, um erst im Frühling wieder mit neuen, zarten Gerüchen die Menschen zu erfreuen.
Esty öffnete das weiß gestrichene Holzfenster vor ihrem Schreibtisch und atmete die spätsommerlich warme Luft ein. Am liebsten hätte sie ein leeres Marmeladenglas aus der Küche geholt, um die herrliche Geruchsmischung darin einzufangen. Am Vormittag hatte ihr Onkel John den Rasen mit einer Sense geschnitten. Wo mochte er jetzt sein? Ob er wieder im Schuppen eines seiner kleinen Experimente durchführte? Bei dieser Vorstellung hellte sich Estys Stimmung auf. Entschlossen schlug sie das Heft zu und schob es zur Seite.
Esther Mentzer stand darauf. Der Standesbeamte hatte den ungarischen Namen Esty nicht gekannt und deshalb kurzerhand eine amerikanische Esther in die Geburtsurkunde eingetragen, was Estys Familie nicht davon abhielt, sie so zu rufen, wie es ursprünglich geplant gewesen war.
Dem Referat konnte sie sich auch später widmen. Am Abend war immer noch Zeit dafür, und im schlimmsten Fall schrieb sie morgen beim Frühstück ein paar Sätze in ihr Heft. Jetzt wollte sie nach Onkel John sehen.
Gut gelaunt lief sie aus dem Zimmer, warf die Tür eine Spur zu laut ins Schloss und hüpfte voller Vorfreude die Treppen ins Erdgeschoss hinunter. Die letzten drei Stufen nahm sie mit einem Sprung. Gut, dass ihre Mutter sie nicht sah, sie würde ihre Tochter nur wieder wegen ihres Ungestüms schelten. Durch die Hintertür schlüpfte Esty in den Garten, lief an den Blumenbeeten vorbei, verweilte einen Moment bei den Duftnesseln und spätblühenden Rosen, um den betörenden Geruch einzuatmen. Dann ging sie weiter zum Schuppen. Das kleine, hellblau gestrichene Holzhäuschen befand sich in der hinteren Ecke des Gartens. Hier und dort blätterte die Farbe ab, und die Latten hätten einen frischen Anstrich gebraucht.
Esty klopfte, wartete das lang gezogene »Komm rein!« ab und öffnete dann die Tür. Die rostigen Scharniere quietschten. Es dauerte einen Moment, bis Esty sich an das Halbdunkel des Schuppens gewöhnt hatte. Hier wurde sie mit völlig anderen Geruchsnoten konfrontiert. Sie schloss die Augen, um jede einzelne Nuance in sich aufzunehmen. Mandelöl mischte sich mit Patschuli und Bienenwachs. Sheabutter mit Avocadoöl. Die Wände des niedrigen Raums waren bis zur Decke mit Regalen vollgestellt, die über und über mit Gläsern, Töpfen und Dosen befüllt waren. Darin befanden sich getrocknete Pflanzen, diverse Flüssigkeiten und Pulver, und auf jedem Behälter klebte ein Namensschild. Esty liebte es, die Reihen abzugehen und all die exotisch klingenden Namen zu lesen, die sich wie Zungenbrecher anhörten.
In der Mitte des Raums stand Onkel John vor einem Holztisch, auf dem ein Destillationsapparat aufgebaut war.
»Was für eine nette Überraschung, Esty«, sagte er mit seinem harten deutsch-tschechischen Akzent, bei dem er jedes Wort dermaßen verzerrte, dass man genau hinhören musste, um zu erkennen, dass er Englisch sprach. Eigentlich mochte Esty nicht an die Herkunft ihrer Familie erinnert werden, doch sie verehrte ihren Onkel und sah ihm jeden Makel nach, so auch seine eigenwillige Aussprache.
»Bist du mit den Hausaufgaben schon fertig?« Onkel John drehte sich zu ihr. In seiner Rechten schwenkte er einen Glaskolben, in dem eine dickflüssige Masse hin und her schwappte. Das Gebräu bestand aus zwei Schichten, die sich farblich voneinander unterschieden. Wie immer, wenn er in seinem »Labor« arbeitete, trug er einen weißen Kittel.
In der alten Heimat, als er noch Johann Schotz hieß, war er Teilhaber einer kleinen Apotheke in Böhmen gewesen, von deren bescheidenen Einkünften weder er noch sein Geschäftspartner hatten leben können. Als die Kriegstrommeln gerührt wurden und ganz Europa in Flammen aufging, hatte Johann eine Entscheidung getroffen. Er war seiner Schwester nach Amerika gefolgt, bevor der österreichische Kaiser auch ihn an die Front rufen konnte, wo er mit Tausenden anderen Männern einen sinnlosen Tod gestorben wäre. Seither wohnte er gemeinsam mit Esty, ihrer Schwester Renee und deren Eltern unter einem Dach. Ihre sechs älteren Geschwister, Kinder aus der ersten Ehe ihrer Mutter, waren bereits von zu Hause ausgezogen.
Onkel John wartete auf Estys Antwort. Interessiert musterte er sie über den Rand seiner kleinen Metallbrille.
»Ich brauche eine Pause vom Schreiben«, erklärte Esty und verschwieg, dass ihre Heftseiten noch leer waren. Sie trat näher und bestaunte die Töpfe und Gläser auf dem Holztisch.
»Ich fühle mich geehrt, dass du deine Zeit mit mir verbringen willst.« Onkel John lächelte verschmitzt. »Eine kleine Lektion eines alten Apothekers gefällig?«
»O ja, bitte!« Letzte Woche hatte Onkel John ihr erklärt, wie man mithilfe eines Ölauszugs den Heilpflanzen wichtige Wirkstoffe entlockte, die man später für die Weiterverarbeitung von Heilsalben benötigte.
»Das Wichtigste ist die Hygiene«, sagte Onkel John mit gespielter Strenge.
»O ja, natürlich!« Esty lief zum Spülbecken. Eine quadratische Seife lag auf einem abgeschlagenen Porzellanteller. Esty griff danach. Onkel John hatte die Seife selbst hergestellt. Sie roch nach Maiglöckchen und Lavendel. Esty befeuchtete ihre Hände mit Wasser und rieb sie anschließend mit Seife ein. Augenblicklich entstand herrlich weicher Schaum, der sich wie eine kuschelige Daunendecke um ihre Finger schmiegte. Esty ließ sich Zeit, seifte jeden Finger einzeln ein und schaute den luftigen Dufthäubchen nach, die sanft von ihren Fingern ins Waschbecken schwebten, um sich dort aufzulösen. Dann hob sie den Schaum zu ihrem Gesicht.
»Nicht, Esty!«
Erschrocken hielt sie mitten in der Bewegung inne.
Onkel John hob warnend den Zeigefinger. »Wasser und Seife verhalten sich wie Gift für die Haut in deinem Gesicht.«
Sofort ließ Esty die Hände sinken, wusch die letzten Schaumwölkchen ab und trocknete ihre Hände.
»Aber womit soll ich denn sonst mein Gesicht waschen?«
»Mit einem sanften Öl«, antwortete Onkel John. »Es nimmt die Schmutzrückstände des Tages auf und sorgt dafür, dass deine Poren nicht verstopfen.«
Esty war verwirrt. »Aber verstopft das Öl denn die Poren nicht viel mehr als Wasser?«
»Nein, es reinigt und nährt deine Haut.«
Esty war immer noch nicht überzeugt.
»Du brauchst Öl, um Öl zu beseitigen«, fuhr Onkel John fort. »Denk an einen Fettfleck in deinem Kleid. Willst du ihn beseitigen, musst du ein anderes Öl benutzen, zum Beispiel Terpentin.«
Nun begann Esty zu verstehen.
»Damit wir dieses Experiment nicht durchführen müssen, hol dir bitte einen Kittel.«
Er wies auf die Rückseite des Schuppens, wo ein weiterer Apothekermantel hing. Nur zu gerne lief Esty nach hinten. Sie fühlte sich jedes Mal unglaublich wichtig, wenn sie in das Kleidungsstück schlüpfte. Der Kittel reichte ihr bis zu den Knöcheln, und sie musste die Ärmel hochkrempeln.
»Was bereitest du heute zu?« Aufgeregt beugte sich Esty über einen der Destillationskolben.
»Eine Creme«, antwortete Onkel John. »Anders als die Salbe, die wir letzte Woche gemischt haben, enthalten Cremes Wasser, weshalb sie einen Emulgator benötigen.«
Esty nahm das neue Wort wissbegierig in sich auf. »Emulgator«, wiederholte sie voller Ehrfurcht.
Onkel John schmunzelte. »Emulgatoren sorgen dafür, dass zwei Flüssigkeiten, die normalerweise nicht mischbar sind, sich vermengen.«
Esty wollte nicht einfältig erscheinen, deshalb fragte sie nicht nach, doch Onkel John erkannte auch so, dass es weiterer Erklärungen bedurfte.
»Nimm beispielsweise eine Salatmarinade«, sagte er. »Deine Mutter vermischt Essig, Öl und Zitronensaft. Während der Essig und der Zitronensaft auf den Boden absinken, bleibt das Öl an der Oberfläche.«
Esty hatte schon unzählige Male beobachtet, wie ihre Mutter die Marinade in einem verschließbaren Behälter schüttelte, um die Flüssigkeiten zu vermengen.
»Cremes sind Emulsionen aus Wasser und Fett. Sie ziehen rasch in die Haut ein und spenden Feuchtigkeit.« Onkel John schwenkte seinen Kolben, und nun erkannte Esty, dass aus den zwei Flüssigkeiten eine einzige geworden war.
»Sieh her, Esty, das ist die Basis für eine Creme. Nun können wir der Masse zufügen, was immer wir wollen: Pflegestoffe, Duftöle, Medikamente …«
»Können wir eine Creme für Bella mischen?«
»Ist das deine italienische Freundin?«
Esty nickte. Isabella war ihre älteste und beste Freundin. Deren Eltern stammten aus dem Süden Italiens und waren vor Bellas Geburt in die Vereinigten Staaten eingewandert. Wenn Esty bei Bella zu Besuch war, bekam sie jedes Mal die wohlschmeckendste Pasta und die knusprigste Pizza serviert. Bella hatte wunderschönes, dichtes Haar mit glänzenden Locken. Als Kind hatte Esty sie um ihre hübsch gebräunte Haut beneidet, doch seit Bellas Körper weibliche Rundungen angenommen hatte, litt die Freundin unter Hautunreinheiten. Während ihr Kinn rot glänzte, waren die Wangen trocken und schuppig. Ihre Nase und ihre Stirn waren mit kleinen Pickeln übersät, die Bella aufdrückte, sobald sie zu groß wurden, was die Sache nur noch schlimmer machte. Esty, die mit einem reinen Teint gesegnet war, verstand Bellas Unzufriedenheit.
»Natürlich können wir deiner Freundin eine Creme mischen.« Onkel John stellte den Kolben zur Seite. »Erst letzte Woche habe ich in einer Fachzeitschrift von einem Strauch gelesen, den es nur in der Neuen Welt gibt.«
»Neue Welt – wir sind doch in Amerika«, erinnerte Esty ihren Onkel.
»Meinetwegen«, murmelte er. »Der Strauch hat einen seltsamen Namen wie so vieles hier.« Es war kein Geheimnis, dass Onkel John seiner alten Heimat nachtrauerte. Am liebsten hätte er das nächste Schiff bestiegen und wäre zurück nach Europa gefahren, doch er hatte seinen Besitz vollständig verkauft und alles hinter sich gelassen.
»Virginische Zaubernuss oder Hamamelis virginiana.«
Esty hatte die Namen noch nie zuvor gehört, sie klangen, als hätte Onkel John sie in einem dicken Märchenbuch aufgestöbert.
»Die Rinde des Strauchs wirkt zusammenziehend und entzündungshemmend.« Er nahm seine Brille ab. »Kannst du dich erinnern, wie wir die Rinde in die Creme bekommen?«
»Ja, natürlich!«, rief Esty begeistert. »Wir machen einen Ölauszug.«
»Du bist eine kluge Schülerin«, lobte Onkel John.
»Mein Englischlehrer, Mr Stringer, sieht das leider anders.«
Onkel John machte eine wegwerfende Handbewegung und setzte die Brille wieder auf. »Vergiss den Lehrer.« Dann zeigte er auf ein Glas im obersten Regalfach. »Hol uns lieber die Zaubernuss.«
Esty trat zum Regal und suchte nach einem Glas mit der Aufschrift »Hamamelis virginiana«. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um an das Glas zu gelangen. Vorsichtig fischte sie es vom Regalbrett.
»Darf ich daran riechen?«
»Nur zu.«
Esty schraubte den Deckel ab und hielt die Nase ans Glas. Im nächsten Moment verzog sie das Gesicht und wich zurück. »Um Himmels willen!«
Onkel John lachte. »Was hast du denn erwartet? Wir haben aus der Rinde des Strauchs den Auszug gemacht. Nicht aus den Blüten.«
»Das kann Bella sich unmöglich ins Gesicht reiben«, sagte Esty entschieden. Sie malte sich aus, wie Onkel Johns Gemisch aus Wasser und Fett in Verbindung mit dem Rindenauszug riechen würde. Die Vorstellung war wenig erfreulich.
»Ganz egal, welchen Geruch die Creme zuerst hat«, erklärte Onkel John. »Du bestimmst den Endzustand, indem du die gewünschten Duftstoffe zufügst.«
»Du meinst, ich kann Rosen- und Zitronenwasser beimengen?«
»Selbstverständlich. Aber du solltest bedenken, dass jedes Duftwasser ebenfalls Wirkstoffe in sich trägt.«
»Du meinst, Rosenblätter haben eine heilende Wirkung?«
»Ja, natürlich. Sie sind entzündungshemmend und wundheilend. Weshalb sie sich für deine Creme gut eignen würden.«
Estys Blick wanderte über die Regalbretter. Mit einem Mal bekamen die lateinischen Namen eine neue Bedeutung: Rosa canina, Boswellia, Hippophae rhamnoides … Sie klangen nicht nur so eindrucksvoll wie Zutaten eines Zaubertranks, sie hatten offenbar auch eine magische Wirkung. Esty wollte sie alle kennenlernen und erfahren, wozu man sie verwendete.
»Heißt das, ich kann auch eine Creme für Maria mischen?«
»Wer ist Maria?«
»Bellas Freundin. Sie leidet unter rauen Lippen. An manchen Tagen sind sie so schuppig, dass die Haut aufplatzt und blutet. Danach bilden sich hässliche Krusten. Es sieht fürchterlich aus und tut mit Sicherheit weh.«
»Oh, die Ärmste«, sagte Onkel John mitfühlend. »Eine Lippenpflege herzustellen ist ein Kinderspiel.«
»Sarah hat kleine Pusteln an den Wangen, und ihre Augenlider sind immer gerötet.«
»Auch dagegen sollte man etwas unternehmen können«, meinte Onkel John.
Esty ging in Gedanken ihre Klassenkameradinnen durch. Es war erstaunlich. Jede klagte über einen mehr oder weniger störenden Makel. Egal, wie hübsch die Mädchen auch waren – rundum zufrieden schien keines zu sein. Dabei waren sie alle auf ihre ganz eigene Art schön. Bella hatte strahlende Augen, Maria ein ansteckendes Lachen und Sarah eine perfekt geschnittene Nase.
»Onkel John«, sagte Esty ernst und feierlich. »Würdest du mir beibringen, wie man eine wirklich gute Creme mischt? Ich will, dass all die Mädchen sehen lernen, wie hübsch sie in Wirklichkeit sind.«
»Du meinst, dass eine Creme das bewirken kann?« Onkel John klang ein wenig belustigt.
Doch Esty ließ sich nicht beirren. »Ja, sie müssen bloß lernen, ihre Schönheit zu sehen. Wenn sie sich ein bisschen Zeit nehmen und sich mit einer herrlichen Creme etwas Gutes tun, dann wird das gelingen. Ganz sicher.«
»Na, wenn das so ist«, entgegnete er lächelnd, »zeige ich dir das natürlich gern. Wir sind übrigens schon mittendrin in der ersten Lektion.«
Aufwachen, die Vorstellung beginnt gleich!« Charles schnippte mit den Fingern an Estées Ohr.
»Lass das!« Lachend schob sie seine Hand weg. »Ich schlafe nicht.«
Er hob belustigt seine buschigen Augenbrauen. »Das sah eben aber anders aus.« Galant bot er ihr seinen Arm an, und Estée hakte sich unter. Gemeinsam mit den anderen Gästen drängten sie von der Bar in den Zuschauersaal. Ganz vorne im Tross entdeckte Estée die junge Frau von vorhin. Wie gut, dass die Feder jetzt in ihrer Handtasche steckte.
»Ich bin gespannt, ob dieser Frank Sinatra wirklich so toll ist, wie alle behaupten«, bemerkte Charles und drückte seine Zigarre in einem der goldenen Aschenbecher aus, die an der Wand angebracht waren.
»Ich habe nur Gutes von ihm gelesen«, sagte Estée.
»Das heißt noch gar nichts«, meinte Charles finster. »Was meinst du, wie viele angebliche Sterne am Broadwayhimmel ich in den letzten Jahren kennengelernt habe. Den Durchbruch hat nur eine Handvoll geschafft.«
Estée verschwieg, dass sie auch einmal davon geträumt hatte, ihr Name würde in Leuchtbuchstaben von den wichtigsten Bühnen der Stadt strahlen. Mittlerweile war es ihr wichtiger, ihren Namen auf Pflegeprodukten zu lesen.
»Wir sitzen in der zweiten Reihe«, sagte Charles, während er Estée in den Zuschauersaal führte. Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, wie die Zuschauer die Köpfe drehten. Hin und wieder drangen Gesprächsfetzen zu ihr.
»Ist das nicht Charles Moskovitz? Wer ist die attraktive Dame an seiner Seite?«
»Keine Ahnung, die wechseln doch ständig.«
Estée blieb stehen und betrachtete das Paar, das sich eben unterhalten hatte. Die beiden waren etwa im Alter ihrer Eltern. Der Schmuck im Haar der Dame zeugte von Reichtum und Geschmacklosigkeit. Unzählige bunte Edelsteine glitzerten im Licht der Deckenlampen wie das Diadem einer jungen Prinzessin.
»Estée Lauder.«
»Wie bitte?«
Estée lächelte zuvorkommend. »Sie haben sich eben gefragt, wie ich heiße. Und ich verrate es Ihnen: Estée Lauder. Ich stelle Kosmetikprodukte her und verkaufe sie. Bei Saks befindet sich mein Verkaufsstand gleich neben dem von Elizabeth Arden.«
»Also … wie …« Die Frau schnappte empört nach Luft und hielt sich Hilfe suchend am Arm ihres Mannes fest.
»Ich wünsche Ihnen einen unterhaltsamen Abend.«
»Ihnen auch … Mrs Lauder.«
Estée nickte höflich und ging weiter.
Als sie außer Hörweite waren, lachte Charles amüsiert auf. »Die beiden werden deinen Namen nicht mehr vergessen, das kann ich dir versprechen.«
»Gut so«, sagte Estée.
Vor der zweiten Reihe blieb Charles stehen. Mit Sicherheit hatten die Karten ein Vermögen gekostet. Ihre Plätze befanden sich in der Mitte der Reihe, und die Zuschauer, die schon saßen, mussten aufstehen, damit sie sich durchzwängen konnten. Estée schob ihr knöchellanges schwarzes Abendkleid zusammen und bedankte sich mehrmals leise, bis sie endlich bei ihrem Platz ankam und sich setzte.
Das Stimmengewirr der Zuschauer erinnerte Estée an einen summenden Bienenstock, an Möwengeschrei und an das ausgelassene Durcheinander in einem der Vergnügungsparks auf Coney Island, die sie als Kind so gern besucht hatte. Als sie die Augen schloss, meinte sie, sich selbst und ihre Freundin Bella zu sehen, wie sie sich gemeinsam auf den Weg zum Strand machten …
Kleine, mit heller Creme gefüllte Schraubgläser stapelten sich auf dem Küchentisch.
»Glaubst du wirklich, dass irgendjemand deine Cremes kaufen will, Esty?« Rose Schotz Mentzer stand mit verschränkten Armen neben dem Küchenherd und beobachtete stirnrunzelnd ihre Tochter dabei, wie sie jedes Glas liebevoll in Seidenpapier wickelte und dann vorsichtig in einen großen Korb schichtete.
»Mum, ich heiße Estée!«
Rose löste ihre Arme und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Unsinn«, sagte sie verärgert. »Du bist und bleibst Esty. Ich habe dich nach meiner verstorbenen Tante benannt, und die hieß nun einmal Esty.«
Genervt verdrehte Estée die Augen. Im letzten Schuljahr hatte Fräulein Bernard, die Kunstlehrerin, ihren Namen, Esther, mit einem französischen Accent versehen. Diese Veredelung fand Esty so hinreißend, dass sie beschloss, sich ab jetzt nur noch Estée zu nennen. Mit Esty oder Esther war sie ohnehin nie zufrieden gewesen. Ihre Schulkameradinnen, Freundinnen und Lehrer hatten die neue Variante akzeptiert, doch ihre Familie sträubte sich hartnäckig gegen die französisch klingende Version des Namens.
»Bella kommt auch mit«, sagte Estée. »Wir nehmen den Achtuhrzug nach Coney Island Beach.«
Rose schüttelte missbilligend den Kopf. Sie griff nach der geblümten Schürze, die an einem Haken an der Küchentür hing, und band sie um. In den letzten Jahren war ihr blondes Haar beinahe vollständig ergraut, doch ihre großen hellblauen Augen strahlten nach wie vor mit jugendlicher Stärke. Sowohl Estée als auch ihre Schwester Renee hatten das Glück, Rose’ Augen und ihre klassisch geschnittene Nase geerbt zu haben. Für Estée war ihre Mutter immer der Inbegriff von Schönheit gewesen. Obwohl sie sechs Kinder aus erster Ehe hatte und zehn Jahre älter war als er, hatte Estées Vater Max keinen Augenblick gezögert, Rose zu heiraten. Estée war immer davon ausgegangen, dass das Aussehen ihrer Mutter eine wichtige Rolle bei der Entscheidung ihres Vaters gespielt hatte.
Wenn es etwas an Rose’ Äußerem zu kritisieren gab, dann war es ihre Kleidung. Nie und nimmer hätte Estée sich die geblümten Schürzen umgebunden, sich in die altmodischen, bis zum Knöchel reichenden Kleider ihrer Mutter gezwängt oder die weißen Handschuhe übergestreift, ohne die sie nie das Haus verließ. Estée liebte schöne Kleider und fließende Stoffe, doch leider hatte sie im Moment nicht genug Geld, um so etwas zu erstehen. Das sollte sich mit dem Verkauf ihrer Cremes ändern. Sie würde erst wieder nach Hause zurückkehren, wenn sie genug Dollar zusammenhatte, um das hellgelbe Sommerkleid zu erwerben, das sie in der Boutique neben dem Lebensmittelladen gesehen hatte.
»Du willst dich tatsächlich wie eine schreiende Marktfrau an den Straßenrand stellen und selbst gemischte Cremes verkaufen?« Rose kämpfte hinter ihrem Rücken mit den Bändern ihrer Schürze. Estée stellte das letzte Cremeglas in den Korb, dann trat sie zu ihrer Mutter und half ihr beim Binden der Schleife.
»Es ist nicht irgendeine Creme«, sagte sie ernst. »Es ist das beste Produkt, das Frauen in ihrem Gesicht auftragen können. Onkel John und ich haben Monate an der Rezeptur gearbeitet. Alle Freundinnen, die bisher die Creme verwendet haben, sind begeistert. Du selbst hast gesagt, dass deine Haut sich geschmeidiger anfühlt, seit du dich für sie entschieden hast.«
Rose drehte sich um. Eine steile Sorgenfalte hatte sich zwischen ihren Augen gebildet.
»Ach, Esty, ich weiß, wie viel Zeit und Energie du in diese Creme investiert hast. Du hast tagelang den Schuppen meines Bruders nicht verlassen.« Ihre Stimme klang nun deutlich sanfter. »Ich will nur nicht, dass du enttäuscht wirst. Es ist nicht so einfach, Dinge auf der Straße zu verkaufen.« Sie strich ihrer Tochter zärtlich über die Wange. »Selbst in ordentlichen Läden laufen die Geschäfte im Moment schleppend.«
Damit spielte sie auf das Eisenwarengeschäft ihres Ehemanns an, das seit Jahren mehr Verlust als Gewinn machte. Zum Glück hatte Max Mentzer beim An- und Verkauf von Grundstücken etwas mehr Glück. Große finanzielle Sprünge waren für die Familie dennoch nicht möglich.
»Frauen wollen immer hübsch aussehen«, sagte Estée. Ihr Blick blieb auf dem Handrücken ihrer Mutter hängen, wo sich erste hellbraune Altersflecken zeigten. Estée hatte den kleinen Makel bisher noch nie wahrgenommen. Ob Rose deshalb das Haus nicht ohne ihre weißen Handschuhe verließ? Die Hände gaben gnadenlos Auskunft über das wahre Alter einer Frau. Beschämt zog Rose ihre Hand zurück und versteckte sie unter der Schürze. Sie war immer stolz darauf gewesen, dass der Altersunterschied zwischen ihr und Estées Vater für niemanden sichtbar war.
»Bella und ich werden heute Nachmittag eine Menge Spaß haben«, beruhigte Estée ihre Mutter.
»Hast du deinen Badeanzug eingesteckt?«
»Natürlich nicht«, sagte Estée. »Wir fahren nicht zum Baden, sondern zum Verkauf.«
In dem Moment klopfte es an der Vordertür. Estée lief ins Vorzimmer und riss stürmisch die Tür auf. Wie erwartet stand Isabella vor ihr. Die Freundin sah hinreißend aus, wie immer. Sie hatte ihre dichten dunklen Locken mit einem modischen roten Tuch gebändigt und trug ein luftiges Sommerkleid im selben Farbton. Die Hautunreinheiten, unter denen sie noch vor wenigen Jahren gelitten hatte, waren beinahe vollständig verschwunden.
»Buongiorno!« Bella liebte nicht nur italienisches Essen und italienische Musik, sie baute auch in jedes Gespräch ein paar Worte der Sprache ein, die bei ihr zu Hause gesprochen wurde. Sie war in New York zur Welt gekommen und eine waschechte Amerikanerin, genau wie Estée. Doch sie war ebenso stolz auf ihre Wurzeln wie alle anderen italienischen Auswanderer, die sich in Queens angesiedelt hatten. Die sonntäglichen katholischen Gottesdienste wurden in der Sprache der alten Heimat abgehalten, an allen Ecken gab es Pizzerien, und beim Gemüsehändler sprach man ebenso fließend Italienisch wie beim Bäcker. Manchmal fragte sich Estée, ob sie einen Unterschied zu Queens bemerken würde, wenn sie in einer italienischen Stadt über die Straße liefe.
»Hallo, Bella«, sagte Estée und drückte der Freundin einen Kuss auf die Wange. »Ich bin schon fertig.« Sie eilte zurück in die Küche und holte den gepackten Korb.
Rose folgte ihrer Tochter zurück ins Vorzimmer. »Vergiss deinen Hut nicht.« Sie reichte Estée eine glockenförmig geschnittene Kopfbedeckung aus Stoff.
Als Frau ohne Hut aus dem Haus zu gehen, war sowohl in Bellas katholischer Familie als auch in Estées jüdischer undenkbar. Dabei hielt man es im Hause Mentzer alles andere als streng mit dem jüdischen Glauben. Die einzige Synagoge im Viertel befand sich einige Straßenzüge weiter, in der 54th Avenue, doch die Mentzers besuchten sie nur zu den großen jüdischen Feiertagen. Dafür beging man auch die christlichen Festtage, allerdings mit etwas weniger Aufwand. Nur zu Weihnachten kochte man groß auf, und es gab jedes Jahr einen Weihnachtsbaum, da Rose’ Großmutter Katholikin gewesen war. Estées Mutter kochte kein koscheres Essen mehr, seit sie Europa verlassen hatte, und der Sabbat wurde nur bedingt eingehalten.
Doch die Familie wurde an ihren jüdischen Glauben erinnert, wenn Estées Vater oder ihr Onkel in einer der Zeitungen aus Übersee antisemitische Artikel lasen. Hier in Queens gab es diese Anfeindungen nicht. Welchem Glauben ein Mensch anhing, war reine Privatsache und ging nur die Familie etwas an. Was zählte, war der wirtschaftliche Erfolg. Man wurde nach der Größe des Hauses und dem Betrag auf dem Bankkonto gemessen.
»Wie geht es dem Pizzaladen deines Vaters?«, erkundigte sich Rose höflich.
»Oh, ganz gut, danke«, antwortete Bella. »Er will in Zukunft nicht nur Pizza, sondern auch Pasta anbieten. Mamma steht seit Wochen in der Küche und bereitet Nudeln in allen nur denkbaren Formen an: Spaghetti, Cappellini, Anelli, Bavettine, Bucatini …«
»Ach du meine Güte, ich wusste gar nicht, dass es so viele verschiedene Nudeln gibt.«
Bella lachte. »Mamma hat bereits über zwanzig verschiedene Sorten gemacht. Dicke Nudeln, dünne, schmale, breite, Nudeln in Hutform und andere, die aussehen wie Hörnchen …«
Rose unterbrach den Redefluss des Mädchens: »Ich muss meinem Mann davon erzählen. Max und ich werden bald vorbeischauen und die Köstlichkeiten ausprobieren.«
»Mamma wird sich freuen.«
Estée hatte ihren Hut aufgesetzt und überprüfte ihr Aussehen im ovalen Spiegel über der Kommode. Sie war zufrieden mit dem, was sie sah. Ihr schulterlanges Haar fiel in hübschen großen Locken Richtung Kinn. Sie reichte Bella zwei zusammenklappbare Stühle, die sie zuvor aus dem Schuppen geholt hatte und mit denen sie einen provisorischen Verkaufsstand aufbauen wollte. Sanft schob sie die Freundin auf die Veranda. »Wir müssen gehen, sonst versäumen wir den Zug.«
»Einen schönen Tag!«, rief Rose und winkte den Mädchen nach.
Kaum waren sie außer Sichtweite, verlangsamte Estée ihre Schritte. »Ich dachte schon, du hörst gar nicht mehr auf mit dem Nudelaufzählen.«
»Ich hatte doch gerade erst begonnen. Soll ich sie noch einmal von vorn aufsagen?«, schlug Bella lachend vor. Dann blieb sie stehen, stellte die Klappstühle ab und öffnete ihre Handtasche. »Wo ist er nur?«, murmelte sie, während sie in der Tasche kramte. »Ah, da!« Mit einem triumphierenden Lächeln hielt sie einen Lippenstift in die Höhe.
»Du hast ihn nicht vergessen!« Estée machte einen kleinen Sprung vor Freude.
»Natürlich nicht«, sagte Bella. »Wie sollen wir Cremes verkaufen, wenn wir aussehen wie zwei Landpomeranzen? Dort hinten ist eine Bank, da setzen wir uns hin.« Sie deutete in eine Nebenstraße, wo zwei Bänke unter drei großen Nussbäumen standen. Hastig liefen Bella und Estée über den staubigen Weg und setzten sich in den Schatten der Bäume. Bella schraubte den Deckel des Stiftes ab, zog ihre Lippen breit und reichte ihrer Freundin den Stift. »Ich will, dass jeder Mann sich nichts sehnlicher wünscht, als diese Lippen zu küssen.«
»Ach, Bella.« Estée lachte. »Wir machen uns nicht für die Männer schön, sondern für uns selbst.«
»Hm.« Bella war anderer Meinung, aber sie konnte nichts sagen, da Estée gerade ihre Lippen mit einem satten Karminrot versah. Der Farbton harmonierte perfekt mit ihrem Kleid. Zum Glück hatte Estée sich heute für eine weit geschnittene graue Leinenhose und eine hellblaue Bluse entschieden und nicht für das lila Sommerkleid. Die Kombination der beiden Farbtöne hätte schrecklich ausgesehen.
»Jetzt ich«, forderte sie und gab Bella den Stift. Ihre Eltern wären entsetzt, wenn sie wüssten, dass sie sich schminkte. Die Freundin fuhr Estées volle Lippen mit höchster Konzentration nach. Dabei bemerkten die beiden gar nicht, dass Miss Brantoni aus dem Milch- und Käseladen getreten war. Breitbeinig stellte sie sich neben die Mädchen hin und schimpfte mit erhobener Faust.
»Hört sofort mit dem unmoralischen Geschmiere auf«, forderte sie mit starkem südländischem Akzent. »Ich werde deiner Mutter davon erzählen, dass du dich heimlich schminkst. Schämst du dich denn gar nicht, Isabella Rossi?«
Erschrocken ließ Bella den Stift sinken, dabei hinterließ sie auf Estées Kinn eine hässliche dunkelrote Spur. »Verd…«
»Sag bloß, du fluchst jetzt auch noch?« Miss Brantoni war außer sich. »So ein gottloses Verhalten. Das haben deine braven Eltern wahrlich nicht verdient. Der liebe Gott hat sich etwas dabei gedacht, als er euch erschaffen hat. Es ist eine Sünde, an seinem Aussehen etwas ändern zu wollen.«
Das Gesicht der dicklichen Frau glänzte, und Estée fand, dass es durchaus eine Cremepackung vertragen würde. Doch sie verkniff sich jeden Kommentar. Eine Weile keifte Miss Brantoni noch herum, dann stampfte sie in entgegengesetzter Richtung davon. Offenbar hatte sie noch mehr Besorgungen zu erledigen.
»Sicher weiß in einer Stunde das ganze Stadtviertel, dass wir zwei Lippenstift benutzt haben«, seufzte Bella.
»Und wenn schon«, meinte Estée trotzig.
In Wahrheit war es ihr ebenso unangenehm wie Bella, denn auch ihre Eltern waren der Meinung, dass nur liederliche Frauen Schminke auftrugen. Schönheit war etwas von Gott Gegebenes. Mit Farbe nachzuhelfen, war verwerflich. Da half es auch nicht, wenn selbstbewusste junge Frauen mit rot geschminktem Mund und dunkel gefärbten Augenlidern von Werbeplakaten und bunten Magazinen lächelten. Auszusehen wie die großen Schönheitsideale Hollywoods, war nur einer kleinen Gruppe von Frauen vorbehalten.
Bella zog ein weißes Taschentuch aus ihrer Handtasche und wischte damit über den Fleck. Doch dadurch wurde das Malheur nur noch größer. Estées Kinn war nun durchgehend dunkelrot gefärbt und erinnerte an den Apfel von Schneewittchen.
»Du siehst aus wie ein Zirkusclown«, sagte Bella niedergeschlagen.
»Nimm einen Tupfer von meiner Creme«, schlug Estée vor.
Bella griff in den Korb und holte eines von den zwei Gläsern heraus, die nicht in Seidenpapier gewickelt waren. Damit wollte Estée ihren potenziellen Kundinnen vorführen, wie die Creme sich auf der Haut anfühlte. Geschickt schraubte Bella den Deckel auf, tauchte einen Zipfel ihres Taschentuchs ins Glas und strich erneut über Estées Kinn. Schon nach zwei Versuchen sah das Gesicht wieder einwandfrei aus.
»Wow!«, sagte Bella beeindruckt und betrachtete die Farbspuren, die im Taschentuch geblieben waren.
»Soll ich dir die Lippen weiter anmalen?«
»Unbedingt.«
Kaum hatte Estée sich in Position gebracht, öffnete sich erneut die Tür des Milchladens. Diesmal warnte ein lautes Klingeln die Freundinnen, doch die Lippen waren bereits dunkelrot. Wieder trat eine Frau auf die Straße und steuerte mit raschen Schritten auf die Bank unter den Nussbäumen zu.
»Ich habe ganz genau beobachtet, was ihr zwei da macht«, sagte sie.
»Wir haben uns den schlechtesten Platz in ganz Queens zum Schminken ausgesucht«, flüsterte Estée so leise, dass nur Bella sie verstehen konnte. Estée kannte die Frau vom Sehen. Ihr Mann war ein Kunde im Laden ihres Vaters, doch sie konnte sich nicht an den Namen der Familie erinnern. Sie wappnete sich gegen die nächste Moralpredigt, streckte die Schultern durch und überlegte sich Gegenargumente.
»Wie hast du es geschafft, dass das Kinn deiner Freundin so schnell sauber wurde?«, wandte sich die Frau an Bella.
»Wie bitte?« Bella schien ebenfalls mit mahnenden Worten gerechnet zu haben.
»Das Gesicht deiner Freundin ist makellos sauber.«
Estée reagierte prompt. »Ich habe eine All Purpose Creme entwickelt«, erklärte sie und nahm stolz das Glas aus Bellas Hand. »Die Creme reinigt und pflegt zugleich. Sie hält die Haut geschmeidig und feucht, sodass keine hässlichen Rötungen oder Falten entstehen. Und sie duftet himmlisch.« Estée schraubte das Glas auf und hielt es der Frau verkaufstüchtig entgegen. Die zögerte, dann schnupperte sie daran.
»Probieren Sie«, forderte Estée sie auf. Vorsichtig, als handelte es sich um eine gefährliche Masse, tauchte die Frau ihren Zeigefinger in das Glas, nahm einen kleinen Tupfer der Creme und verteilte sie auf ihren Händen.
»Die Creme ist auch hervorragend für die Gesichtspflege geeignet«, fuhr Estée fort. Sie schob das Glas der Frau noch einmal unter die Nase. Wieder nahm sie eine kleine Portion. Diesmal betupfte sie ihre Wangen und massierte die Creme langsam ein.
»Die Creme zieht wirklich rasch in die Haut ein«, sagte sie erstaunt, hielt beide Hände vors Gesicht und schnupperte daran. »Und sie riecht angenehm, ohne aufdringlich zu wirken.«
»Ein besseres Produkt werden Sie nirgendwo finden«, behauptete Estée. »Sie können die Creme abends ebenso verwenden wie morgens. Sie wird Ihnen immer einen rundum perfekten und frischen Teint verleihen.«
Die Frau überlegte kurz, dann öffnete sie ihre Handtasche und holte ihr Portemonnaie heraus. »Ich nehme ein Glas.«
Es kostete Estée ihre ganze Kraft, nicht vor Freude aufzuspringen und laut jubelnd um ihre Kundin zu tanzen. Stattdessen blieb sie ruhig, nannte der Frau eine Summe und überreichte ihr eines der in Seidenpapier verpackten Gläschen. Ihr erstes selbst verdientes Geld steckte sie mit gespielter Nachlässigkeit in die Hosentasche. Erst als die Frau um die Ecke gebogen war und sie mit Sicherheit nichts mehr hören konnte, fiel sie Bella um den Hals. Die beiden hüpften im Kreis und jubelten vor Freude. Dem alten Mann, der kopfschüttelnd an ihnen vorbeiging und etwas über verrückte junge Menschen murmelte, schenkten sie keine Beachtung.
Für zwei Nickel kaufte Estée Bahnkarten nach Coney Island. Wegen der fix geregelten Fahrpreise wurde die Halbinsel auch »The Nickel Empire« genannt. Jedes Wochenende strömte bis zu einer Million Besucher an den Strand und in die beliebten Vergnügungsparks, die mit ihren Riesenrädern, Pferderennbahnen und Ballsälen lockten. Bella und Estée hatten gerade noch zwei Plätze im hintersten Waggon des Zugs ergattert.
Das herrliche Spätsommerwetter zog auch unter der Woche zahlreiche Sonnenhungrige an den Strand. Alle wollten die letzten warmen Stunden genießen, bevor der Herbst ins Land zog und das Badevergnügen wieder für einige Monate beendete. Familien mit Picknickkörben und Sonnenschirmen drängten sich mit ihren Kindern in den Zug. Die wenigsten konnten sich für zehn Cent ein Hotdog bei Feltman’s leisten oder die fünfzig Cent für eine Kabine in einem privaten Strandbad erübrigen. Daher zogen die meisten zum öffentlichen Strand und dem Municipal Bath House. In den Picknickkörben hatten sie Wurstbrote und selbst gemachte Limonade dabei, und statt Sonnenliegen zu mieten, begnügten sie sich mit Badehandtüchern und mitgebrachtem Sonnenschirm. Die Kinder waren mit Schaufeln und Eimern ausgerüstet, und zwei besonders vorlaute Jungen drängelten sich zwischen den Passagieren hindurch zum Fenster, um einen Blick aufs Meer zu erhaschen.
Estée genoss die Fahrt und konnte es kaum erwarten, ihren Verkaufsstand aufzubauen. Sie wollte nicht zum öffentlichen Strand, sondern zu einem der riesigen Hotels, wo die wohlhabenden New Yorker ihre freien Tage verbrachten. Das Brighton Beach oder das Nassau Hotel mit seinen weitläufigen, gepflegten Stränden, Golf- und Tennisanlagen schwebten ihr vor.
Als der Zug in die Station Coney Island Stillwell Avenue einfuhr, sprang Estée ungeduldig auf. Sie wollte als eine der Ersten den Waggon verlassen, doch Bella hatte es weniger eilig. »Lass doch zuerst die anderen aussteigen«, meinte sie und hielt die Freundin am Arm zurück.
»Ich will keinen Augenblick verschwenden.«
Bella seufzte, verdrehte die Augen, stand widerwillig auf und drängte sich gemeinsam mit Estée auf den Bahnsteig. Die Menschenmenge zog zum Bahnhofsgebäude, einer kuppelförmigen Konstruktion aus Stahl und Glas mit rotbraunen Backsteinelementen. Mehrere Zeitungsjungen boten Lesestoff für den Strand an. Estée entdeckte die Lieblingszeitschrift ihrer Mutter, Woman’s Home Companion. Bei einem Kiosk konnten all jene, die keinen Proviant mithatten, noch rasch ein paar Äpfel, Brot und Limonade erstehen. Von einem Hotdog-Stand drang der Geruch von gegrillten Würstchen, Sauerkraut und geröstetem Brot zu ihnen. Bella blieb stehen und legte sich die Hand auf den Bauch. Das Knurren war so laut, dass Estée es hören konnte, trotz des Lärms, der um sie herum herrschte.
»Ich habe Hunger«, jammerte Bella.
Estée kramte in ihrer Hosentasche, wo sie immer ein paar Kaugummis hatte. Ihre Lieblingsmarke war Juicy Fruit vom Seifen- und Backpulverfabrikanten William Wrigley. Sie musste sie vor ihren Eltern verstecken, die der Meinung waren, Kaugummikauen schicke sich für junge Mädchen nicht.
»Hier.« Sie reichte ihrer Freundin einen Streifen.
»Ich soll einen Kaugummi kauen?«
»Das hilft gegen das Hungergefühl.«
»Ein ordentliches Hotdog wäre mir aber lieber«, sagte Bella, doch sie nahm den Kaugummistreifen entgegen, wickelte ihn aus dem Papier und steckte ihn in den Mund. Sie schien zu wissen, dass keine Macht der Welt Estée jetzt aufhalten konnte. Sie wollte zur Strandpromenade.
Kaum hatten sie das Bahnhofsgebäude verlassen, streifte salzige, warme Meeresluft ihre Wangen. Estée streckte ihr Gesicht in den Wind. »Hm, wie das duftet«, schwärmte sie. »Man sollte ein Parfum kreieren, in dem der Geruch des Sommers enthalten ist.«
Ende der Leseprobe