Ein verschneites Weihnachtsfest in Cornwall - Jane Linfoot - E-Book
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Ein verschneites Weihnachtsfest in Cornwall E-Book

Jane Linfoot

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Beschreibung

Ein Dezember, den man nie vergisst! Weihnachten auf einem Schloss in Cornwall! Ivy ist begeistert, als sie gebeten wird, das Schloss bis zu den Weihnachtsfeiertagen instagramtauglich gemütlich zu dekorieren und in Szene zu setzen. Als Ivy dort ankommt, muss sie allerdings feststellen, dass noch viel Arbeit vor ihr liegt. Das Gebäude ist alles andere als weihnachtlich geschmückt und Bill, der Hausherr, nicht sonderlich erpicht darauf, dies zu ändern. Zu allem Überfluss kennt Ivy ihn. Seit sie Bill vor einigen Jahren im Skiurlaub begegnet ist, kann sie ihn nicht vergessen – und jetzt sollen sie die Weihnachtsfeiertage miteinander verbringen. Sofort ist Ivy klar, dass hier einige Komplikationen auf sie warten, die sie definitiv nicht eingeplant hatte. »Das ist ein Buch, das spricht mir aus der Seele.« – Tina Bauer (Niederbayern TV Passau, Bücherecke mit Tina Bauer und Helmut Degenhart, 10.12.2020)

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Seitenzahl: 586

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Zum Buch:

Ein Jahr ist es her, dass Ivy kurz vor Weihnachten einen schrecklichen Unfall hatte. Nicht nur äußerlich hat sie tiefe Narben davongetragen, die noch lange brauchen werden, um zu heilen. Deshalb stürzt sie sich in die Arbeit und konzentriert sich darauf, etwas für andere zu tun statt für sich selbst. Wenn sie all ihre Energie darauf verwendet, ihren Freundinnen und deren Familien ein wunderschönes Weihnachtsfest zu bereiten, kann sie vielleicht für ein paar Tage ihre Schuldgefühle vergessen. Doch plötzlich steht sie dem Mann gegenüber, von dem sie seit ihrer ersten und einzigen Begegnung träumt, und mit einem Mal kann sie vor ihren Gefühlen nicht mehr fliehen, sondern muss sich ihnen stellen und herausfinden, ob sie stark genug ist, sie zu akzeptieren und nach vorn zu sehen.

Zur Autorin:

Jane Linfoot schreibt romantische Geschichten um lebenslustige Heldinnen mit liebenswerten Ecken und Kanten. Mit ihrer Familie und ihren Haustieren lebt sie in Derbyshire in einem kreativen Chaos. Sie liebt Herzen, Blumen, Happy Ends, alles, was alt ist und fast alles, was aus Frankreich kommt. Wenn sie nicht gerade Facebook unsicher macht oder shoppt, geht sie spazieren oder arbeitet im Garten.

HarperCollins®

Copyright © 2020 für die deutsche Ausgabe by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg © 2019 by Jane Linfoot Originaltitel: »A Cosy Christmas in Cornwall« erschienen bei: HarperImpulse, an imprint of HarperCollins Publishers, UK Published by arrangement with HarperCollins Publishers Ltd., London

Covergestaltung: bürosüd, München Coverabbildung: mauritius images / Travelbild /Alamy Lektorat: Christiane Branscheid E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783749950218

www.harpercollins.de

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1. Kapitel

Seid fröhlich!

»Könnte es ein besseres Geschenk geben für eine Frau, die schon alles hat?«

Ich strahle zu Merwyn auf dem Beifahrersitz rüber. Als ich die Worte Cockle Shell Castle lese, die in den imposanten Torbogen eingraviert sind, bin ich so aufgeregt, dass ich Schwierigkeiten habe zu atmen. Vorsichtig lenke ich mein Auto durch das Tor und auf die gewundene Zufahrtsstraße. Als wir um eine Kurve biegen und die vom Mondlicht angestrahlten fahlen Mauern und burgartigen Türmchen in Sicht kommen, entfährt mir ein Seufzen. Ich habe meine Erwartung die letzten sechs Stunden, seitdem wir London verlassen haben, in Zaum gehalten, doch jetzt, da wir hier sind, habe ich einen riesigen Schmetterlingsschwarm im Bauch. Schon auf den Bildern hat das Schloss wunderschön ausgesehen, doch in natura, über den Lichtern des Armaturenbretts, hat es etwas regelrecht Verwunschenes. Als ich das Auto neben einigen großen würfelförmigen Übertöpfen parke und zum Gebäude hochsehe, erlebe ich einen dieser seltenen Momente, in denen man sich wie in einem Märchen fühlt.

»Weihnachten in einem Schloss in Cornwall am Meer ist einfach das perfekte Geschenk! Es ist, als würden einen diese schmalen Sprossenfenster richtig hereinlocken. Wir haben solches Glück, hier sein zu können.«

Nach so langer Zeit in seinem Reisegeschirr sagt mir Merwyns Seitenblick, dass er weniger enthusiastisch ist als ich. Er mag oft mehr wie ein schmutziger brauner Wischmopp als ein Hund aussehen, doch mit seiner »Wuschelige Weihnachten!«-Krawatte ist er einfach unglaublich süß, und er war eine überraschend angenehme Reisebegleitung. Er hat nicht einmal gegrummelt, als ich ununterbrochen Weihnachtslieder gehört und zu I Wish it could be Christmas Every Day mitgesungen habe – was definitiv mein Motto wäre, wenn ich eins hätte. George, mein Exfreund, hätte es nie zugelassen, dass ich ununterbrochen Pirate FM höre; manchmal ist es gut, Vergleiche mit der Vergangenheit anzustellen und festzustellen, dass man jetzt besser dran ist.

»Los komm, Zeit, deine Beinchen ein wenig zu strecken. Wir müssen hintenrum, um den Schlüssel abzuholen.« Ich schlüpfe in meinen Mantel und ziehe meine Wollmütze weiter in die Stirn, hake Merwyns Leine ein und lasse ihn über mich drüber wuseln, als ich die Autotür öffne. Dann nehme ich den Papierstoß mit den Anweisungen und folge meinem davonhüpfenden Hund.

Wir gehen an einem eisenbeschlagenen Eingangsportal vorbei, das groß genug ist, dass ein Riese hindurchpassen würde. Ich habe das Gefühl, ich sollte mich zwicken, um sicherzugehen, dass ich nicht träume. In diesem Moment fährt ein eisiger Windstoß unter meinen Kunstfellmantel und dringt durch meinen grob gestrickten schottischen Pullover – da weiß ich: Alles, was so kalt ist, muss einfach real sein.

Nur für den Fall, dass sich jemand fragt, wer die Frau ist, die alles hat – ich bin es definitiv nicht. Gott, nein! Es ist die ältere, erfolgreichere und ziemlich ambitionierte Schwester meiner besten Freundin Fliss, Liberty Johnstone-Cody. Libby ist eine dieser unglaublichen multitaskenden Business-Super-Mums, die vor einem Jahrzehnt mit einem Baby, einem Kleinkind und einer Idee für eine Babytrage angefangen hat und seitdem dabei ist, die Welt zu erobern.

Um das schon mal vorab klarzustellen: Während Libby super darin ist, Geld anzuhäufen und jede Gelegenheit zu nutzen, die sich ihr bietet, bin ich eher ein blindes Huhn, das ab und zu mal ein Korn findet. Ich hatte es immerhin geschafft, mir einen festen Freund zuzulegen, doch auch das hat nicht dauerhaft geklappt. Einmal hätte ich beinahe eine sehr kleine Wohnung gekauft, habe es aber doch nicht durchgezogen. Letztes Jahr um dieselbe Zeit habe ich etwas Furchtbares erlebt, das mir nur sehr schwer aus dem Kopf geht. Jedenfalls strenge ich mich jetzt wirklich an, es besser zu machen.

Ich habe einen Job, den ich mal sehr gemocht habe, ich bin Gestalterin für visuelles Marketing bei Daniels, einem familiengeführten Kaufhaus direkt hinter der Regent Street in London. Meine Mum nennt mich Schaufensterdekorateurin, doch in Wahrheit bin ich auch für den Entwurf und den Bau von Schaufensterauslagen verantwortlich. Aber so wie alles andere läuft auch das in letzter Zeit ein wenig schief, weil Fliss, meine beste Freundin, die im selben Team arbeitet, zweimal kurz nacheinander in Mutterschutz gegangen ist. Das erste Mal war geplant, das zweite war eine Katastrophe, weil es einfach zu schnell passiert ist.

Aber so ist das Leben für Fliss und mich; uns passieren so viele verdammte Missgeschicke, dass wir meistens einfach nur die Zähne zusammenbeißen und auf der Katastrophenwelle reiten. Wohingegen die vom Glück gesegnete Libby einen Rückschlag nicht einmal dann erkennen würde, wenn er ihr eine Ohrfeige verpassen würde, weil sie einfach keine Negativität zulässt.

Libby hat sich innerhalb von sechs Sekunden, nachdem das Angebot auf Facebook-Marketplace aufgepoppt war, dazu entschieden, das Schloss in Cornwall für zwei Wochen zu mieten. Sie hat die Miete selbst bezahlt, denn so ist sie, und danach hat sie ihren Mann Nathan dazu gebracht, das Geld dafür hinzulegen. Doch das nimmt dem Ganzen nur ein wenig die Romantik. Manchmal müssen wir Frauen etwas für uns selbst tun, da ist nichts falsch dran. Nüchtern betrachtet ist Nathan ein äußerst erfolgreicher Banker, der selten früh genug nach Hause kommt, um seine Kinder noch zu sehen. Er hat also auch keine Zeit, sich auf Facebook rumzutreiben. Sich sein Geschenk selbst zu kaufen, bedeutet, die zwei Sekunden Begeisterung zu opfern, die man erlebt, wenn man es auspackt. Doch die gute Seite ist, dass man genau das bekommt, was man will, und dass man nie enttäuscht ist. Und das Beste daran: Man hat die Kontrolle. Für Libby ist Kontrolle das Allerwichtigste.

Das ist noch der andere Aspekt, wenn man so eine mega Powerfrau ist, die sich um vier Kinder und ein florierendes Unternehmen kümmert, mit einer Geschwindigkeit von 1 000 000 Kilometern pro Stunde durchs Leben rast und nebenbei auch noch mit Obst jongliert: In der heutigen Zeit ist es nicht genug, so jemand zu sein – man muss es der Welt auch zeigen. Wenn es keine Social-Media-Posts gibt, ist es egal, was man tut, es könnte genauso gut nie stattgefunden haben.

Die zwei Weihnachtswochen in einem Schloss zu verbringen, wird für Libby also vollkommen für die Katz sein, wenn sie nicht alle darüber informiert; sie muss unbedingt Fotos davon auf Instagram hochladen. Und nicht nur das: Jedes einzelne Foto muss großartiger aussehen als alles andere, was gepostet wird. Überhaupt kein Druck also. Und hier komme ich ins Spiel: Ich bin hier, um Libbys Weihnachten im Hochglanz erstrahlen zu lassen und ihre Posts genialer aussehen zu lassen als alle anderen.

Vor ein paar Jahren wäre Fliss die naheliegende Wahl für diesen Job gewesen. Doch sie ist im Moment durch schlaflose Nächte und maulende Kleinkinder außer Gefecht gesetzt. Außerdem – sie wird mir wohl nicht böse sein, wenn ich das ausplaudere – klappt Multitasking bei ihr einfach nicht. Sie hat es in den letzten drei Jahren kaum mal geschafft, aus ihrem Schlafanzug rauszukommen. Deshalb hat sich Libby an mich gewandt.

Als sie vor einem Monat wie eine Sturmtrupplerin ins Daniels reinmarschiert kam und mich darum bat, ihr Schlossweihnachten zu gestalten, wild mit den Armen herumrudernd und mit Begriffen wie »prächtig« und »luxuriös« um sich werfend, war ich schneller in der Personalabteilung, um um Urlaub zu bitten, als man »Schaufenster« sagen kann.

Damit ihr einen kleinen Eindruck bekommt: Fliss und Libby sind beide winzig, hübsch und – je nach Woche – unterschiedlich blondiert. Groß und schlaksig, wie ich bin, fühle ich mich neben ihnen immer wie der freundliche Riese aus Roald Dahls Kinderbuch. Und seit ich vor recht genau einem Jahr einen Autounfall hatte und nun deutliche Schnittwunden im Gesicht habe, ist es noch schlimmer. Danach musste ich meinen süßen dunklen Kurzhaarschnitt zu einem welligen Bob auswachsen lassen, der ständig Zuwendung braucht und mir irgendwie nicht wirklich steht. Das Ganze wird dann je nach Wetterlage von einem entsprechenden Hut oder einer Mütze gekrönt. Es ist nicht so, dass ich den Unfall verharmlosen will – wie könnte ich, wenn der Mann, der das Auto gefahren hat, dabei umgekommen ist –, doch die einzige Möglichkeit, damit umzugehen, ist für mich, mich in die Arbeit zu stürzen. Das Angebot, an Weihnachten zu arbeiten, war für mich also quasi lebensrettend.

Da ich immer noch 24 Urlaubstage habe, die ich vor März nehmen muss, konnte mir die Personalabteilung meine Bitte kaum abschlagen. Libby hat mir außerdem einen Riesenbatzen Geld versprochen, aber ehrlich gesagt hätte ich es auch umsonst gemacht. Nichts gegen meine Eltern – ich bin ihnen sehr dankbar dafür, wie sie mir letztes Jahr zu Hilfe gekommen sind –, aber noch ein weiteres Weihnachten in Yorkshire mit ihnen und meinen Großmüttern, und alle besorgt um mich, das hätte ich einfach nicht ertragen. Jetzt, wo Libby mir die Chance gegeben hat, alles für ihre kornische Schlossfeier zu dekorieren, hoffe ich, sie wird so viele Forderungen stellen, dass ich gar keine Zeit haben werde, daran zu denken, wie schrecklich der letzte Dezember war.

Das Gute ist, dass Weihnachten zu meinen absoluten Fachgebieten zählt. Im Einzelhandel plant man immer während der aktuellen Weihnachtszeit schon für die nächste. Hinter den Kulissen in Daniels ist es also die meiste Zeit des Jahres Weihnachten.

Gerissen, wie sie ist, hat Libby darauf bestanden, das Schloss schon ein paar Tage vor dem eigentlichen Mietbeginn zu beziehen, was ehrlich gesagt wahrscheinlich gar nicht so schwer einzufädeln war. Wir wissen alle, dass im Dezember Ferienwohnungen nur gering ausgelastet sind – die Leute sind zu beschäftigt mit Partys und Reisevorbereitungen. So bin ich also schon ein paar Tage früher als der Rest der Truppe gekommen, um verschiedene Lieferungen in Empfang zu nehmen.

Merwyn und ich gehen um das Schloss herum. Der Mond leuchtet wie ein Scheinwerfer durch die kahlen Zweige der Bäume; die Zinnen oben auf den Turmmauern heben sich bleich gegen den sternenübersäten schwarzen Nachthimmel ab.

Die Person, die ich suche, heißt – ich werfe einen Blick auf die Papiere in meiner Hand – Bill. Nicht, dass ich etwas gegen ältere Menschen habe, aber sind nicht die meisten Schlossverwalter so alt und klapprig wie die Gebäude selbst? Ich bereite mich mental darauf vor, jeden Moment über einen gebückten weißhaarigen und runzligen Greis zu stolpern. Aber vielleicht habe ich auch einfach nur zu viele Disney-Filme gesehen.

Ich weiß, dass Merwyn der Spaziergang guttut und Schlossgelände meistens riesig sind, doch nach einem ganzen Tag im Auto war ich nicht darauf vorbereitet, dass so viele Meter zwischen der Vorder- und der Hintertür liegen. Bei dem Reihenhaus, in dem ich aufgewachsen bin, lag die Eingangstür an der Seite und die Hintertür nur ein paar Meter davon entfernt um die Ecke. Mein Dad hat immer gewitzelt, dass er beide Türen zugleich aufmachen könne, wenn er sich an einer entsprechend günstigen Stelle positionieren würde. Aber natürlich müssen die zehn prächtigen Schlafzimmer für insgesamt 25 Gäste, mit denen das Schloss sich rühmt, ja irgendwo Platz finden.

Wir setzen unseren Weg fort. Der Mond taucht den Rasen in sein fahles graues Licht und die Büsche werfen lange Schatten – ich glaube nicht, dass ich jemals zuvor schon Mondschatten gesehen habe. Über dem Geräusch von Merwyns Schnüffeln und dem Wind, der am Haus zerrt, höre ich ein paar Klänge Musik. Schon komisch, wie wenig man hören muss, um einen Song zu identifizieren. Es dauert ungefähr eine Sekunde, bis ich rausgefunden habe, dass es dieses Lied ist, in dem sie immer wieder »Fröhliche Weihnachten« auf Spanisch singen und den Refrain dann mit »bottom of your h-e-a-r-t« beschließen.

Für meinen Ex George war es das nervigste Weihnachtslied aller Zeiten. Nachdem ich fünf Jahre mit ihm verbracht hatte, war ich irgendwann der gleichen Meinung. So wie ihr wahrscheinlich auch. Es ist sicher nicht die Art von Song, die jemand wie Bill hört. Er steht wohl eher auf Frank Sinatra. Oder Santa Baby von Eartha Kitt. Ich hoffe nur, dass dieser Bill, nachdem wir es jetzt schon so weit geschafft haben, nicht ausgegangen ist. Wir gehen weiter die Hauswand entlang, und je näher wir ihrem Ende kommen, desto lauter wird die Musik. Ich spüre meinen Ärger wie kleine Nadeln im Nacken.

Dann biegen wir um die Ecke, und mir fällt die Kinnlade runter. Vor mir erstreckt sich ein breiter Innenhof mit wunderschönem Kopfsteinpflaster, angestrahlt von der Art weichem, aber trotzdem hellem Licht, das nur von teuren Designerleuchten kommen kann. Am Rand stehen aus Stein gehauene Bänke und Laubengänge, und in der Mitte befindet sich der größte Whirlpool, den ich je gesehen habe. In einer Ecke davon, hinter den Dampfwolken, faulenzt ein Mann, seine muskulösen Arme auf den Rand des Pools gelegt. Sogar durch den Dampf hindurch, der alles weichzeichnet, kann ich ausmachen, dass er keine einzige Falte im Gesicht hat.

Boah. Oder auf den zweiten Blick vielleicht eher: B-O-A-H.

Gott sei Dank sind diese für mich total untypischen Gedanken nicht aus meinem Mund gekommen. Obwohl ich in einem teuren Laden arbeite, begegnen mir nicht jeden Tag so hübsche dunkle Augen, zerzauste Haare, sexy Stoppeln und markante Wangenknochen. Jetzt, da ich das alles so direkt vor Augen habe, könnten meine Alarmglocken nicht lauter schrillen. Es ist großartig, ein paar Sekunden lang rohe Kraft und Schönheit zu sehen, so, wie man einen Tiger von einem Platz hinter einer Absperrmauer, mit ein oder zwei Gräben und einem dicken Sicherheitsglas dazwischen gern beobachtet. Aber man würde ihm niemals von Angesicht zu Angesicht in der Wildnis begegnen wollen.

Der Mann wirft den Kopf zurück und wischt sich das Wasser aus den Augen. Dann legt sich seine Stirn in verwirrte Falten. »Hi, kann ich dir helfen?«

Mein Mund steht immer noch offen. »Ich bezweifle es sehr, außer du kannst mir sagen, wo Bill ist.«

Seine Stirn glättet sich, und der harte Ausdruck in seinen Augen wird sanfter. »Heute muss dein Glückstag sein. Ich bin Bill.«

Als sein leises Lachen an meine Ohren dringt und sich unsere Blicke treffen, setzt mein Herz aus, denn das hier ist nicht irgendein Typ, der da in den Wellen herumplanscht – ich kenne ihn.

Oh Scheiße.

Ich schlucke hart und klappe gerade noch rechtzeitig den Mund zu, bevor mein herumflatternder Magen heraushüpfen und auf dem Steinpflaster Rad schlagen kann. Sein Haar mag länger sein und sein Gesicht verbrauchter, und anfangs war ich verwirrt, weil ich ihn noch nie nackt gesehen habe. Auf der Liste mit all den Typen auf der Welt, die ich am liebsten nie mehr sehen würde, steht er ganz oben. Das ist eine lange Geschichte, und ich hätte nie erwartet, mich noch einmal mit ihr auseinandersetzen zu müssen …

Chamonix, Januar 2013. Das einzige Mal, dass ich mit George Skifahren war; wir, seine Freunde und Freunde von Freunden teilten uns eine Skihütte. Genau genommen tat ich, statt Ski zu fahren, alles, um es zu vermeiden: Ich gab einen Haufen Geld aus (was ich mir eigentlich nicht leisten konnte), fuhr immer wieder Lift und probierte in jedem einzelnen Café die heiße Schokolade. Die meiste Zeit aber saß ich vor dem Kaminfeuer und las, während der Rest der Gruppe draußen auf den Pisten die Art von Kunststücken vollführte, die bei mir die Frage aufwarfen, wieso sie nicht im Olympischen Skiteam waren.

George und ich wohnten bereits seit ein paar Monaten zusammen, und er fing gerade damit an, die Art von Arschlochverhalten zu zeigen, die er bis dahin unterdrückt hatte. Das Ganze hatte dann noch eine schlimmere Wendung genommen, als ich, nachdem ich einen frühen Flug genommen hatte, an die Tür der Hütte klopfte und sie von diesem Adonis in Socken namens Will geöffnet wurde … der Typ im Whirlpool hier. Arrghh … der, na ja … Kennt ihr dieses Gefühl, wenn eure Eingeweide dabei sind, euren Körper zu verlassen, weil ihr jemanden so unglaublich toll findet?

Wir hatten eine wundervolle Zeit, als wir zusammen Feuer gemacht haben, bevor der Rest der Truppe kam. Stellt euch gemütliche und romantisch karierte Wollsofas, mit Schaffell bedeckte Böden, mit Kiefernholz verkleidete Wände und eine Aussicht auf entfernte schneebedeckte Berge vor und multipliziert das mit hundert – dann bekommt ihr eine Vorstellung davon, wie herrlich es war.

Doch wie gesagt war ich damals mit George zusammen, und ich hasse Leute, die betrügen. Also musste ich diese völlig unangebrachte Anziehungskraft verbergen. Mein Unterbewusstsein hingegen war da offensichtlich anderer Ansicht. Die ganzen zehn Tage lang erwischte ich mich immer wieder dabei, wie ich meinen Rücken durchdrückte und meinen Körper zeigen ließ, dass ich »frei und verfügbar« sei, während ich eigentlich nichts dergleichen im Sinn hatte. Diese superdünnen Oberteile aus Merinowolle trugen zudem kaum dazu bei, meine ziemlich große Oberweite zu verbergen. Ich habe dem armen Will praktisch die ganze Zeit über meine Nippel ins Gesicht gedrückt.

Und dann unsere Lachanfälle … Das war die andere unglückselige Sache: Wir haben uns über die Witze des jeweils anderen, die sonst keiner kapiert hat, regelrecht ausgeschüttet.

Doch jetzt, da ich ihn nach all den Jahren vor mir im Whirlpool sitzen sehe, wird mir klar, dass er sich so weit von seiner Vergangenheit distanziert hat, dass er sogar seinen Namen in »Bill« geändert hat. Es war ja nicht so, dass wir uns gut gekannt hätten, wir waren einfach nur zufällig für eine kurze Zeit Hüttenmitbewohner. Wenn man bedenkt, dass ich mit meinem neuen Haarschnitt und dem, was er verbergen soll, so anders – und so viel hässlicher – aussehe, wir damals sehr viel getrunken haben, er ziemlich sicher die gleiche Alkoholamnesie hat wie ich und er mich nicht einmal damals auf dem Radar hatte, nehme ich an, dass er keine Ahnung hat, wer ich bin.

Alles, was ich tun muss, ist, mein Herz so weit zu beruhigen, dass es nicht mehr so laut schlägt wie zwei gegeneinanderprallende Skier, dann sind wir wieder da, wo wir angefangen haben – bei meinem unangebrachten Staunen angesichts einiger gebräunter Brustmuskeln. Und von da aus werden wir irgendwie weitermachen.

Ich räuspere mich und versuche verzweifelt, meinen Stolz wiederzufinden, damit wir das Gespräch auf einer etwas sachlicheren Ebene fortführen können. »Also, ich stell mich dir mal ordentlich vor, Bill, ich bin …«

Bill hebt die Hand und schneidet mir das Wort ab. Die Fältchen in seinen Augenwinkeln kommen mir unerträglich bekannt vor. »Halt, halt, du musst dich mir nicht vorstellen, es kann schließlich nur eine Ivy Starforth geben.« Seine Lippen kräuseln sich. »Du erinnerst dich doch an mich? Ich bin Will Markham, wir haben uns in Chamonix getroffen.«

Ich halte eine Sekunde lang inne, um meinen Magen auf den Boden fallen und wieder zurück zu seinem Platz gleiten zu lassen. Dann versuche ich, den Schaden einzudämmen. »Ja, aber du verwirrst mich – in meinem Gedächtnis gibt es nur einen trockenen Banker namens Will, der viel mehr anhat. Und vor mir befindet sich ein sehr nasser Bill im Innenhof eines Schlosses. Was hat das zu bedeuten?«

»So haben mich die Leute zu nennen begonnen, als ich nach Cornwall gezogen bin.« Er schnieft. »Ist dein Mann auch dabei?«

Ich habe Mühe, ihm zu folgen. »Bitte?« Wenn er mich vorher nicht bei meinem richtigen Namen genannt hätte, würde ich denken, dass er die falsche Person meint.

Er runzelt die Stirn. »Du hast doch einen?«

Es ist eine Erleichterung, dass wir so weit von der Realität weg sind. Wie sehr er auch vor all den Jahren meine Libido angefacht hat, ich rede hier gerade mit einem Banker. Dieses Exemplar hier ist so arrogant, dass es annimmt, meinen Familienstand besser zu kennen als ich selbst. Ich hoffe, dass Merwyn das mitbekommt, damit ich mich später mit ihm darüber unterhalten kann, denn ich kann kaum glauben, dass das gerade passiert.

»Soweit ich mich erinnern kann, habe ich keinen Mann.«

»Und wie weit kannst du dich zurückerinnern?«

»Bis zurück in meine Kindheit.«

Eine von Bills Augenbrauen schießt in die Höhe. »Na, wie super ist das denn? Ich gratuliere dir von tiefstem Herzen dazu, nicht verheiratet zu sein, Ivy Starforth.«

Für den Moment lasse ich mal beiseite, wie surreal die ganze Situation ist. Er schien völlig überzeugt zu sein, dass ich einen Mann habe. Was mich angeht: Ich bin nicht stolz auf den Nachmittag, den wir allein in der Hütte verbracht haben. Tatsächlich hatte ich ihn in irgendeinem Aktenschrank in meinem Erinnerungsarchiv weggesperrt, auf dem in großen Buchstaben steht, dass ich ihn nie wieder öffnen soll. Nicht, dass irgendetwas Furchtbares passiert wäre. Zumindest nicht im wirklichen Leben. In meinem Kopf dagegen schon ein paarmal – vielleicht ein paar tausend Mal –, denn nach dem Urlaub war es echt gut, ihn im Bedarfsfall als Vorlage für meinen Traummann vor Augen zu haben. Aber das ist genau der Sinn solcher Träume, die außer Reichweite sind: Man verwendet sie, um durch harte Zeiten zu kommen, in dem sicheren Wissen, dass sie nicht real sind und auch nie real sein werden. Und man erwartet sicher nicht, im entlegenen Cornwall frontal mit ihnen zusammenzustoßen.

Aber zurück zu dem, was in Chamonix passiert ist. George bekam noch einen Last-Minute-Auftrag rein und musste seinen Flug umbuchen. Während also alle anderen bis zum Abend arbeiteten, waren Will und ich die einzigen, die schon eher angekommen waren. Also haben wir miteinander geplaudert, während wir darauf warteten, dass die anderen eintrafen. Mehr war da nicht.

Aber irgendwie war er so entspannt und nett – nicht zu vergessen heiß –, dass ich mir auf einmal inständig wünschte, mit ihm zusammen zu sein statt mit dem Mann, der im Augenblick in einer FlyBe-Maschine saß, auf dem Weg zu einem spektakulären Winterurlaub, zu dem er mich überredet hatte. Und den ich, wie üblich mit George, am Ende nicht sehr genoss.

Weder davor noch danach habe ich mich je wieder für ein paar Stunden in einer Fantasie häuslicher Zweisamkeit verloren. Ich habe diesen Ausrutscher immer auf die Urlaubsstimmung und die großen Mengen Glühwein geschoben. Heute hätte es sicher nicht noch mal zwischen uns gefunkt. Ganz im Gegenteil. Unbewusst habe ich sofort gespürt, wie arrogant Will ist, und das, obwohl er sich praktisch komplett im Wasser befindet. Was nur zeigt, wie wenig man sich auf einen ersten Eindruck, der bereits sieben Jahre zurückliegt, verlassen kann. Und dass ein paar getäfelte Wände und die Wärme brennender Holzscheite das Urteilsvermögen so sehr vernebeln können, dass man sich noch Jahre später wegen mentaler Untreue schuldig fühlt. Normalerweise bin ich nämlich nicht die Art Mensch – echt. Ich schwärme selten für jemanden. Ich halte mir zugute, loyal, treu, charakterfest und ehrlich zu sein – weshalb ich an jenem Abend so angewidert von mir war und mich so für mich selbst geschämt habe.

Bill verengt die Augen noch mehr. Seine Stimme wird sanfter. »Es ist unglaublich, dich wiederzusehen, Ivy. Warum meldest du dich jetzt erst?«

Ich schaffe es, das warme Braun seiner Augen zu ignorieren. »Ich bin nicht zu meinem privaten Vergnügen hier, Will – ich meine Bill –, oder wer immer du auch bist.« Hoffentlich zeigt ihm das, wie wenig ich seit 2013 an ihn gedacht habe. Fliss kennt ihn nicht mal – und ich erzähle ihr alle meine Geheimnisse. Falls er oder irgendjemand sonst jemals die Wahrheit rausfände, würde ich vor Scham sterben. »Das ist totaler Zufall, einer dieser Momente, in denen man wieder mal merkt, wie klein die Welt ist …« Ich könnte mir in den Hintern beißen dafür, wie abgedroschen das klingt. »Ich bin hier wegen der Weihnachtsvermietung.«

Seine Augenbrauen schießen nach oben. »Scheiße. Okay. Echt? Das kann nicht sein, du bist einen Tag zu früh dran!«

Er hat diese Art, die einem suggeriert, dass niemand ihm je widerspricht, also zwinge ich mich dazu, standhaft zu bleiben. »Mrs. Johnstone-Cody hat alles arrangiert. Und sie macht nie Fehler. Es war ausgemacht, dass wir heute ankommen.« Ich mein ja nur. Nach mehr als 350 Meilen Fahrt würde ich ungern zurückfahren und morgen wiederkommen. Auch schöne Menschen machen mal einen Fehler, er muss hier falschliegen.

Ein verwirrter Ausdruck erscheint auf seinem Gesicht, dann ist er wieder verschwunden. »Na ja, egal, welcher Tag heute ist, es ist jedenfalls toll, dich zu sehen, Ivy.« Das ist die Sache mit attraktiven Leuten – sie machen einen Fehler und gehen dann nahtlos zum Tagesgeschäft über, so als wäre nichts passiert. Plötzlich bewegt sich seine Hand auf mich zu. Ich starre sie eine Sekunde lang voller Entsetzen an und komme dann nah genug, dass ich die Spitze eines der triefenden Finger streife.

»Nun, da du schon hier bist – wie wär’s, wenn du auch kurz reinhüpfst?«

Ich kann nicht glauben, was ich da höre. Schlösser, Whirlpools, appetitliche Männer, die die absurdesten Vorschläge machen … Es fühlt sich an, als wäre ich in einer Episode von Made in Chelsea gelandet. »Auf keinen Fall. Aber danke für das Angebot.« Ich bin immer für Spaß zu haben, aber sogar ich ziehe eine Grenze, wenn es darum geht, mit jemandem in einen Whirlpool zu steigen, von dem ich mal kaum die Finger lassen konnte. Besonders, wenn er immer noch so unglaublich heiß ist …

»Hm, dein Pech. Es ist superwarm, und das Blubbern fängt grade erst richtig an.« Er taucht kurz unter und kommt dann wieder hoch. Seine muskulösen Schultern sind gebräunt und schimmern im Licht, sein Blick ist sanft, aber intensiv. Soweit ich an seinem einen halb geschlossenen Auge erkennen kann, macht er sich über mich lustig.

Ich komme aus dem Norden, meine Eltern hatten nur einen sehr beschränkten Horizont. Erst mit Mitte zwanzig habe ich mich nach London aufgemacht, also bin ich es gewohnt, die Leute mit meiner sozialen Ungeschliffenheit und der Tatsache, dass ich »bugger« statt »bogger« sage, zum Lachen zu bringen. Wenn ich so drüber nachdenke, war das – ich, die Witzfigur aus dem Norden – wahrscheinlich der Grund, wieso in Chamonix so viel gelacht worden war. Auch wenn ich mich daran gewöhnt habe, dass die angesagten Leute sich über mich lustig machen, bedeutet das nicht, dass es mir gefällt. Wenn Bill wie die anderen aus Georges Bekanntenkreis ist, ist er einer dieser privilegierten Typen, die mit Champagner gestillt wurden und davon ausgehen, dass der Rest der Menschheit das auch wurde. Die Art Mensch, die nicht einmal weiß, was eine Hintertür ist, geschweige denn, wie man sie benutzt. Seine Wangenknochen verraten ihn. Und sein Akzent. Ich weiß, dass es falsch ist, Vorurteile zu haben, und noch falscher, Leute abzuschreiben, ohne sie richtig zu kennen. Doch nachdem George mich auf diese schreckliche Art sitzengelassen hat, kann ich keinem Kerl mit geschliffenen Vokalen mehr vertrauen.

»Das glaube ich dir gern.« Ich brauche eine Sekunde, um das Thema zu wechseln. »Was ist mit der Musik?«

»Feliz Navidad? Es ist so viel subtiler als die üblichen Weihnachtslieder.« Obwohl er das Gesicht verzieht, sieht er immer noch perfekt aus. »Ich hörs in Dauerschleife, um in weihnachtliche Stimmung zu kommen.«

So kann man es auch sehen. George betrachtete Wiederholungen als faul, als fehlende musikalische Kreativität. Aber es wäre ja auch schlecht, wenn wir alle dasselbe gut finden würden. George ist privilegiert aufgewachsen, doch als er die Dreißig erreichte, machte er eine schwere Zeit durch – wo ich ihm gerade recht kam. Als Überbrückungshilfe. Als Sprungbrett. Als Fußmatte, auf die er treten konnte, um an bessere Orte zu gelangen. Die Zeit mit George hat mich gelehrt, dass normale Leute Abstand zu reichen Leuten halten sollten. In der Minute, in der es ihm wieder besser ging, hat er mich für eine Frau verlassen, die besser in sein neues, wohlhabendes Leben passte. Für mich ging danach alles den Bach runter. So sehr, dass es in einem Unfall geendet ist.

Jetzt verwende ich all meine Energie darauf, auf einer besseren Welle zu reiten, und glaubt mir, Typen spielen da überhaupt keine Rolle. Besonders nicht solche, die sprechen, als hätten sie eine Pflaume verschluckt und die in Innenhöfen kornischer Schlösser in Wirlpools herumplanschen, obwohl sie ganz genau wissen, dass sie eigentlich sofort rausspringen und sich um ihre Gäste kümmern sollten.

Aber denkt jetzt nicht, dass ich ganz Südengland abgeschrieben hätte. Fliss zu treffen und in ihre sehr südenglische Familie aufgenommen zu werden, hat mein nordenglisches Herz geöffnet, und dafür werde ich immer dankbar sein. Fliss ist nicht nur meine beste Freundin, sie war auch meine Partygenossin und meine Zimmernachbarin an der Uni. Sie war meine Übersetzerin, wenn es um soziale Dinge ging, und sie war an meiner Seite, als ich die beängstigende Welt des studentischen London erkundete. Später hat sie mir dann meinen Job bei Daniels verschafft.

Um über schönere Dinge zu reden: Man braucht nur einmal das W-Wort zu sagen, da schaue ich schon hoch und begutachte den Laubengang. Okay, ich gebs zu, ich kann einfach nicht anders, es ist mein Beruf. Auch wenn der Außenbereich schon jetzt wahnsinnig schön und gepflegt ist, in meinem Kopf stehe ich bereits auf einer Leiter und schmücke ihn mit Lichterketten. Rosa- und türkisfarbene Lichter, die von dem Gerüst der Pergola hängen und sich im Wind bewegen, würden fantastisch aussehen.

»Du hast es noch nicht geschafft, dich um die Deko für hier draußen zu kümmern?« Ich spreche das Offensichtliche aus und erwarte, dass er sagt, dass er das als Letztes erledigen wird, und mir vielleicht mitteilt, was er geplant hat.

»Deko?«

Ich registriere seinen ausdruckslosen Blick, und plötzlich fallen mir zwei Dinge ins Auge.

Erstens: Obwohl Merwyn neben mir steht und Bill noch eindringlicher anstarrt, als ich es tue, habe ich seine Leine gar nicht mehr in der Hand. Wie ist das nur passiert? Und zweitens: Seitdem ich näher gekommen bin und das elektrisierende Prickeln seiner Berührung tapfer ertragen habe, habe ich mit meinen »Russell and Bromley«-Chelsea Boots (ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk an mich selbst, auf eBay erstanden) die ganze Zeit auf einem Handtuch rumgetreten. Nur dass ich jetzt erst merke, dass es nicht nur ein Handtuch ist. Obenauf liegen auch noch Boxershorts.

»Okaaaay.« Meine Stimme ist ganz schrill geworden. Während die Worte nackter, heißer, reicher Mann meiner Träume in einem Whirlpool durch mein Gehirn schießen, fange ich unter meinem schottischen Pulli plötzlich an zu schwitzen. Ich schaue die Boxershorts an und dann Bill; Merwyn folgt meinem Blick. Über den Rand des Whirlpools hinweg kann ich sehen, dass Bill dasselbe tut. Manchmal bleibt einem nichts anderes übrig, als das Rauschen des Blutes in den Ohren zu ignorieren und es einfach auszusprechen. Also hole ich tief Luft und drücke den Start-Knopf. »Du hast da drin gar keine Klamotten an, stimmt’s, Bill?«

In Bills Grinsen ist keine Spur von Reue. Keine Überraschung für mich. »Gut geraten, Ivy, ich sitze hier tatsächlich im Adamskostüm, danke, dass du das so offen aussprichst.« Dass er es zugibt, ist leider noch entwaffnender als seine übliche arrogante Art. »Zu meiner Verteidigung: Was auch immer Mrs. Johnstone-Cody gesagt hat, ich habe heute noch keine Gäste erwartet.«

Ich schniefe. »Das glaube ich dir aufs Wort.« Schön für ihn, dass er jetzt wieder so superzufrieden mit sich ist.

»Gut.« Netter Versuch, wir wissen beide, dass es absolut nicht gut ist. »Also, wenn du mir mein Handtuch und meine – ähm – Shorts reichen würdest, dann können wir zu deiner Willkommenstour vorspulen.«

Es ist eine Erleichterung, dass wir endlich so weit gekommen sind, dass er mich rumführen wird. »Wie reizend, mach ich sofort.«

Merwyn wirft mir einen seiner Blicke zu, die sagen sollen »Ich glaube kein Wort, und das solltest du auch nicht«, aber ich werde ihn nicht dafür ausschimpfen, dass er so frech ist, denn Merwyn und ich müssen hier eine gemeinsame Front bilden. Ich stecke mit meinen Schmetterlingen im Bauch, die vollkommen fehl am Platz, komplett unangebracht und verdammt beängstigend sind, schon genug in der Scheiße, da brauche ich nicht auch noch einen Streit mit meinem Hund.

Während ich mich zum Handtuch hinunterbücke, schätze ich in Gedanken dessen Größe ein und überlege, wie viel es an einer Schaufensterpuppe verdecken würde, wenn es in einem Schaufenster von Daniels ausgestellt wäre. Dann übertrage ich das Ganze auf den Körper, den ich viele Jahre in Gedanken immer wieder ausgezogen habe, und die Antwort lautet: bei Weitem nicht genug. Und dann sind da noch die – ähm – Boxershorts. Nachdem ich jahrelang Georges Unterwäsche vom Boden aufgehoben habe, habe ich darin viel Übung. Als ich meine Hand danach ausstrecke, kommen mir die blassblauen Karos darauf plötzlich genauso kostbar wie Bill selbst vor. Der Gedanke, dass sie tatsächlich ihm gehören, lässt mich lange genug erstarren, dass ich in meinem Kopf ein stummes Oh-mein-Gott hauche.

Im nächsten Moment bereue ich dieses Oh-mein-Gott bereits, denn Merwyn bekommt mein Zögern sofort mit. Er betrachtet das winzige Zeitfenster als Herausforderung – und nimmt sie an. Mit einem Satz schnappt er sich die Shorts, dreht sich um und rennt durch den Innenhof davon. Er macht noch zwei vergnügte Sprünge und schüttelt die Shorts wie wild umher, dann saust er in Richtung Schatten, das Handtuch und die Leine ebenfalls hinter sich herziehend.

Ich renne bis zur Ecke des Innenhofs, wo ich ihn zwischen den Büschen verschwinden sehe. Es hat keinen Sinn, ihm zu folgen, da Merwyn denken wird, dass es ein Spiel ist. Je mehr ich ihn jage, desto schneller wird er laufen.

»Tja, also das habe ich nicht kommen sehen.« Bill schüttelt den Kopf; ich habe keine Ahnung, ob er es ironisch meint oder nicht. Meiner Erfahrung nach braucht es mehr als ein Paar verschwundene Boxershorts, um so coole Typen wie ihn aus der Fassung zu bringen, selbst wenn die Shorts mit 100 Kilometer pro Stunde in die Nacht verschwinden.

»Wenn du ein Handtuch von anständiger Größe gehabt hättest, wäre das nicht passiert; das wäre zu schwer für ihn gewesen.« Ich mein ja nur. Damit er es für die Zukunft weiß.

Doch ich kann nur mir die Schuld geben. Merwyn ist mein Hund, ich bin also verantwortlich. Na gut, in Wahrheit ist er gar nicht meiner, aber ich habe jetzt keine Zeit, das auszuführen. »Gib ihm eine Minute, er wird gleich wieder zurück sein.« Davon gehe ich zumindest aus. Was Merwyn am meisten hasst, ist, ignoriert zu werden, also kommt er hoffentlich jeden Moment zurück, um nachzusehen, wieso ich nicht mit ihm spiele.

Bill hat eine Augenbraue hochgezogen. »Die Zeit vergeht wie im Flug, wenn man in einem Whirlpool chillt – willst du nicht kurz reinkommen, während wir warten?« Das ist genau das, was ich mit cool gemeint hab – durch nichts aus der Ruhe zu bringen, die Bedenken der restlichen Welt einfach ignorierend und nur auf seine eigenen hedonistischen Prioritäten fixiert. »Zum zweiten und zum letzten Mal, ich komme nicht rein. Aber danke für das Angebot.«

»Botschaft verstanden, laut und deutlich. In diesem Fall werde ich die Zeit dazu nutzen, dir vorzuschlagen, dass du dir für heute Nacht ein Zimmer in diesem Teil des Hauses suchst, dann werde ich dir den Rest morgen früh zeigen.«

»Okay.« Es hat keinen Sinn, ihm zu widersprechen. Außerdem hat er es ein »Haus« genannt, kein »Schloss«, aber darauf werde ich jetzt nicht herumreiten. Es zeigt mir nur wieder, dass er an Häuser gewöhnt ist, die so riesig wie Downton Abbey sind.

»Es ist etwas zu essen da, falls du hungrig bist, Wein, falls du dich entspannen willst, und wenn du dir komplett die Kante geben willst, kannst du auch die Ginfässer anzapfen.«

Also echt, als hätte ich die roten Flaggen nicht bereits gesehen – man kann niemandem trauen, der einem so viel anbietet. »Für ein Mädchen für alles strengst du dich wirklich an.«

Er sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Lass uns hoffen, dass du das im neuen Jahr auch noch denkst, wenn du deine Rezension schreibst.«

»Eigentlich habe ich mir selbst etwas zum Abendessen mitgebracht.« Könnte ein paar Tage dauern, bis sich meine Innereien nicht mehr jedes Mal in heißen Sirup verwandeln, wenn er mich ansieht. Hoffentlich habe ich mich, bis die anderen am Wochenende ankommen, bereits so daran gewöhnt, dass sein Charme dann an mir abprallt.

»Freut mich zu hören.«

Ich war mir noch nie so unsicher, ob jemand es ernst meint oder nur einen Scherz macht. »Ihr habt doch eine Mikrowelle?« Beim Gedanken an mein Käsemakkaroni-Fertiggericht läuft mir das Wasser im Mund zusammen; ich bin so froh, dass ich die extragroße Portion gekauft hab.

»Das wäre nicht sehr authentisch.« Sein skeptisches Stirnrunzeln ist wieder da.

Ich muss das einfach kommentieren. »Sagte er, während er im ultramodernen Whirlpool saß.«

»Keine Sorge, Ivy-Sternchen, ich bin sicher, dass der AGA-Herd das auch hinkriegen wird.«

Ivy-Sternchen, so nennt mich Fliss immer. Der Spitzname kommt von unserem allerersten Boss, den wir bei Daniels hatten – er bellte immer ›Ivy Starforth, was für ein Stern‹, wenn ich eine gute Idee hatte. George hat den Namen wohl mal erwähnt, doch die Tatsache, dass Bill sich nach sieben Jahren noch daran erinnert, lässt mich zusammenzucken. Ich stehe da, kratze mich innerlich am Kopf und versuche verzweifelt, meinen flauen Magen zu beruhigen, als ich plötzlich das Geräusch von Pfoten auf dem Kies vernehme.

»Merwyn!« Ich bereite mich darauf vor, mich mit einem »Willkommen Zurück«-Bodyslam auf ihn zu stürzen. Während ich mich hinhocke und versuche, seiner Zunge auszuweichen, landen wir plötzlich auf dem Boden, aber wenigstens kann ich ihn nun am Halsband festhalten. Ich raffe mich wieder auf und bin stolz darauf, recht behalten zu haben. »Schau, ich hab dir ja gesagt, dass er wiederkommt.«

»Mit Schlamm bedeckt und ohne meine Boxershorts und mein Handtuch, wie ich hinzufügen darf.« Bill schüttelt den Kopf. »Weißt du, wie viel Calvin Kleins kosten? Ich kann es mir nicht leisten, sie von Hunden verbuddeln zu lassen.«

»Zufälligerweise weiß ich das auf den Cent genau. Ich weiß auch, dass Calvin Klein keine Boxershorts mit diesem Karomuster herstellt und sie auch niemals hergestellt hat, soweit ich mich erinnern kann.« Es hat Vorteile, das gesamte Sortiment an Männerunterwäsche auswendig zu kennen. Natürlich rein geschäftlich. Was Merwyn angeht, so ist sein süßes braunes pelziges Gesicht von der Schnauze bis hinter die Ohren mit Dreckklümpchen verklebt. Genauso wie seine Pfoten und Füße. Er hat bestimmt rumgebuddelt. Ich hab ihn noch nie so dreckig gesehen, aber ich werde jetzt keinen Aufstand deswegen machen. Er wird dieses Mal ohne Schimpftirade davonkommen. »Da hat wohl jemand ein Bad nötig.«

Bill grunzt. »Lass uns hoffen, dass er nicht so wasserscheu ist wie du.«

Es war ein sehr langer Tag, und ich erhole mich immer noch von dem Schock, Bill/Will hier begegnet zu sein. Auch eine Frau kann nur begrenzt viel aushalten. Um ehrlich zu sein war ich nicht hundertprozentig sicher, ob Merwyn zurückkommen würde. Nun, da er es getan hat, will ich ihn nur noch sauber machen und mich dann in einen gemütlichen Sessel fallen lassen. Vorzugsweise in einem Zimmer, das sich so weit weg von Bill wie möglich befindet. Was Begegnungen mit der Vergangenheit angeht, ist diese hier so heftig wie der Ausbruch jenes isländischen Vulkans, der wegen seines Staubs in der Atmosphäre den weltweiten Flugverkehr zum Erliegen gebracht hat. Die Nachbeben könnten wochenlang dauern.

»Sollten wir nicht langsam reingehen?« Ich kneife die Augen zu, schlüpfe aus meinem Mantel und strecke ihn in Bills Richtung. Jemand muss hier mal Bewegung reinbringen.

»Steig aus dem Pool und verdeck alles Wichtige damit. Sag mir Bescheid, sobald du bedeckt bist, dann folge ich dir hinein.«

Ich schwöre, ich habe nicht vorhergesehen, dass dieses Angebot darin resultiert, dass ich Bills muskulöse Pobacken zu Gesicht bekomme. Oder wie verstörend ich es finde, wie der marineblaue Pelzbesatz meines Mantels gegen seine Schenkel klatscht, während er läuft. Oder dass ich mir wegen der Wasserflecken auf dem Futter Sorgen mache. Aber manchmal muss man Dinge in die Hand nehmen und mit den Konsequenzen leben.

Wir gelangen an eine erfrischend normal große und breite Hintertür. Bill streckt die Hand hinauf zu einer kleinen steinernen Nische, woraufhin die Musik erstirbt. Doch anstelle der Stille, die ich hier, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, erwartet hätte, vernehme ich ein seltsames Geräusch – eine Art wiederholtes Rumpeln, wie bei einem Sturm, nur lauter.

»Du meine Güte, was ist denn das für ein Geräusch?«

Bill schaut mich durchdringend an, was mir sehr unangenehm ist. »Das sind die Wellen, die an den Strand rollen. Damit musst du rechnen, wenn du in einem Schloss in der Nähe des Meeres übernachtest.« Er lacht, was mir irgendwie noch unangenehmer ist. »Willkommen in Cornwall, Ivy Starforth. Ich hoffe, du wirst dich nicht darüber beschweren, denn dieses Geräusch können wir leider nicht abstellen.«

Als ich sein tiefes, polterndes Lachen höre und das Licht in seinen dunkelbraunen Augen tanzen sehe, habe ich auf einmal das seltsame Gefühl, dass uns allen große Herausforderungen bevorstehen.

Sogar Libby.

2. Kapitel

Fröhlich und heiter (nicht wirklich)

Donnerstag, 12. Dezember

Nachdem ich Merwyn gebadet habe, schreibe ich Fliss, bevor mein Handyakku leer ist, noch eine SMS: Bin gut angekommen, kuschle mich gerade ins Bett und lausche dem Meeresrauschen, bald mehr xx

Etwas knapp, aber damit scheint mir alles so weit abgedeckt, bis es hell genug ist, damit ich mir ein Bild von allem machen kann. Da wir selbst unsere schlimmsten Erlebnisse miteinander teilen, wird sie unbedingt auch jeden Schlossverwalter-Horror hören wollen. Aber ich werde mir das alles aufsparen, bis ich besser verstehe, was hier vor sich geht.

Dann steige ich hinauf in mein winziges Zimmer, über eine noch winzigere Treppe in der Küche. Als ich ins Bett schlüpfe, fällt mir kaum auf, dass es hier weniger wie eine Festung, sondern eher wie eine Kiefernhütte aus den Siebzigern aussieht. Na gut, eigentlich fällt es mir doch auf, denn so bin ich nun mal; aber da habe ich bereits aufgehört, mich darum zu kümmern, und außerdem bin ich in der Wohnung des Verwalters sowieso nur kurzzeitig untergebracht. Ich gebe zu, dass ich, während ich einschlafe, darüber nachdenke, wie Will-Schrägstrich-Bill hier gelandet ist. Als ich zehn gemütliche Stunden später aufwache, ist mir klar: Selbst wenn mir heute ein »Prinzessin auf der Erbse«-Himmelbett angeboten wird, werde ich auf diese herrliche Matratze hier nicht verzichten wollen.

Nachdem Merwyn und ich unsere Morgenrunde auf dem Schlossgelände gedreht haben, ist das Wasser im Kessel auf dem AGA-Herd heiß, und ich fülle meinen wiederverwendbaren Kaffeebecher. Ein paar Cranberry-Macadamianuss-Riegel später bin ich wach genug, um auf einem Hocker am Küchentresen zu sitzen, ohne runterzufallen. Ich checke gerade mein Handy, als Bill reinkommt.

»Morgen, Ivy, wie steht’s?« Er ist größer und kräftiger, als ich ihn in Erinnerung hatte. Seine Schultern beulen die Barbourjacke aus, seine Jeans spannen sich über seinen Schenkeln. »Du weißt schon, dass du deine Mütze aufhast?«

Ich hatte zehn Stunden Zeit, um meine Verteidigung aufzubauen, und so schaffe ich es, mich hinter verlegenem Grummeln zu verstecken.

Die Mütze … hm … Seitdem ich diese Verletzung im Gesicht habe, trage ich je nach Saison verschiedene Varianten davon, selbst bei der Arbeit. Meine Haare habe ich zu einem eher dilettantischen Bob mit Seitenscheitel wachsen lassen, aber ich brauche immer noch eine Mütze, um meine nach vorne gekämmten Fransen zu positionieren und die lange, gezackte Narbe zu verbergen, die sich von der Mitte meiner Stirn hinunter zum Ansatz meines rechten Ohrs zieht. Ich versuche, nicht daran zu denken oder den Leuten zu erzählen, wie sie entstanden ist. Doch als ich für den Bruchteil einer Sekunde meine Augen schließe, um die Bilder, die durch mein Gehirn schießen, wegzublinzeln, beginnt sich in meinem Kopf alles so schnell zu drehen, dass ich mich an der Arbeitsfläche festhalten muss. Nach ungefähr einem Jahr habe ich die Flashbacks einigermaßen unter Kontrolle. Aber wenn sie passieren – so wie jetzt –, kann ich nichts tun, als sie über mich ergehen zu lassen.

Plötzlich sitze ich wieder im Auto und rase rückwärts durch die Dunkelheit den Hang hinunter. Indem ich mich fest an die Granitplatte der Kücheninsel klammere und meinen Nacken gerade halte, kann ich die Bilder, die in meinem Gehirn rotieren, vielleicht rechtzeitig anhalten, bevor der Teil kommt, wo es sich anfühlt, als würden wir wie in einer Waschmaschine umhergewirbelt … der Teil, als der Ast durch die Windschutzscheibe kracht … bevor das Glas zerspringt und in einem Diamantenschauer auf uns runterregnet. Bevor ich meinen Arm in die Dunkelheit strecke und Michaels warme Schulter fühle, die gegen das Lenkrad gedrückt ist. Ihn frage, ob alles okay ist. Mir das Hirn zermartere, wie ich jemanden, den ich erst seit ein paar Stunden kenne, dazu bringen kann, aufzuwachen und mit mir zu sprechen. Ich bemerke, dass ich mich nicht bewegen, nur die Songs im Radio mitzählen kann, denn selbst nachdem das Auto sich immer und immer wieder überschlagen hat, läuft im Radio weiter die Morningshow. Wieder und wieder bitte ich ihn, doch aufzuwachen, aber er antwortet nicht. Zu dem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, dass er niemals wieder antworten oder aufwachen wird. Weil sein Genick gebrochen und er bereits tot ist.

»Ivy, alles okay?« Bills Stimme dringt durch die Dunkelheit in meinem Kopf. »Ich hab dich was wegen deiner Mütze gefragt. Du weißt schon, dass du vergessen hast, sie abzunehmen?«

Ich ignoriere das mit der Mütze und zwinge mich zurück ins Hier und Jetzt in die Küche. »Nachricht konnte nicht gesendet werden.« Jetzt erinnere ich mich, was ich gerade sagen wollte. »Es ist nicht der beste Start in den Morgen, aber ich werds überleben.«

Was den Unfall betrifft: ein Nachhauseweg von einer frühen Weihnachtsparty, der nie so hätte enden sollen. Nach einem Jahr kann ich noch immer nicht erklären, wieso ich überlebt habe und Michael gestorben ist. Die einzige Möglichkeit, um weiterzuleben, ist, nicht jede wache Minute daran zu denken. Und der einzige Weg, wie ich das schaffen kann, ist, rund um die Uhr zu arbeiten und etwas für andere Leute, statt für mich selbst zu tun. Wenn ich all meine Energie darauf verwende, Fliss, Libby und ihren Familien ein wunderschönes Weihnachten zu bereiten, wird es mich für ein paar Tage die schrecklichen Fehler vergessen lassen, die ich an jenem Abend begangen habe.

Bill bläst Luft aus den Backen. »Dass Nachrichten nicht rausgehen, ist typisch für Cornwall. Keine Sorge, wenn du wieder nach Hause fährst, wirst du dich daran gewöhnt haben.«

»Du meinst, man hat hier keinen Empfang?« Ich kann nicht glauben, was ich da höre, auch wenn es wenig überraschend für mich ist, dass er das Problem einfach mit einem Achselzucken abtut, weil es nicht seins ist. Es ist gut, dass ich den Smalltalk übersprungen habe, wir haben keine Zeit zu verlieren. Erleichtert stelle ich fest, dass ich mich aus meinem persönlichen schwarzen Loch wieder herausgeholt habe und zurück bei den banalen Alltagssorgen bin, die andere Leute umtreiben.

»Es ist eher so, dass der Empfang kommt und geht, man muss die Hotspots finden. Auf der Spitze des Südturms klappt es normalerweise am besten.« Und abermals: Das Ganze macht ihm viel weniger zu schaffen, als es eigentlich sollte.

Ich schnaube. So leicht lasse ich ihn nicht vom Haken, denn ich bin wirklich empört, auch wegen der anderen Gäste. »Jetzt verstehe ich, wieso ihr zur Hauptsaison noch was frei hattet. Wie hält man es hier denn aus?«

Er zieht wieder eine seiner selbstgefälligen Grimassen. »Ich finde, dass die Größe und das Aussehen der Küche die mangelnde Kommunikationstechnologie mehr als wettmachen.«

Was mich daran erinnert: Ich war so mit unbedeutenden Ablenkungen beschäftigt, dass ich ganz vergessen habe zu erwähnen, wie wundervoll der Blick aus meinem Schlafzimmerfenster ist. Als ich aufgewacht bin, schaute ich auf die Rasenfläche hinter dem Schloss, die in einen langen Sandstrand übergeht und auf das blassblaue Wasser dahinter, auf dem die Sonne glitzert … Durch die weit geöffneten Küchentüren hat man einen ähnlichen Ausblick, hinaus auf den breiten Bogen der Bucht und eine entfernte Ansammlung von Häusern – dort habe ich wohl gestern die Lichter gesehen.

Um zu verhindern, dass ich an ihm vorbeimuss, gehe ich einmal um die Kücheninsel herum und bleibe dort stehen, wo man eine noch bessere Aussicht hat. »Ist das da die nächstgelegene Stadt?«

Bills Lippen verziehen sich zu einem Lächeln. Aus irgendeinem bescheuerten Grund muss ich an diese Parfumwerbung denken, in der ein Typ durch einen Raum geht und alle Frauen nacheinander umfallen und Orgasmen haben. Nicht der idealste Gedanke, den ich im Kopf haben kann, als ich seine Stimme wieder höre.

»Das Dorf St. Aidan ist auf der anderen Seite der Bucht. Und um die typischen Fragen einer Besucherin aus London gleich vorab zu beantworten: Man muss nur fünfzehn Minuten den Strand entlanggehen und findet dort ein ausreichendes Angebot an Bars, Fish-and-Chips- und Surf-Läden, und alles malerischer, als man zu träumen gewagt hätte. Eine Megadosis malerischer Landschaft.«

Ich ignoriere die Stichelei über die »Besucherin aus London« und grinse hinunter zu Merwyn, der sich an die Beine meines Stuhls schmiegt. »Na schau, da haben wir schon eine Aktivität für den Nachmittag.« Merwyn steht voll hinter mir.

Was Bills Küche anbelangt: Es gibt zwar keine Mikrowelle, dafür aber zwei Dualit-Toaster mit jeweils vier Schlitzen, einen riesigen AGA-Herd, eine Kücheninsel und einen langen Esstisch sowie ein paar voluminöse Sofas aus altem Leder. Nicht zu vergessen eine hohe abgeschrägte Decke mit dicken Holzbalken. Bill hat recht – wenn ich Hausmädchen wäre und hier wohnte, würde ich sicher nie kündigen, selbst wenn mein zweites Zuhause Downton Abbey wäre. Aber wann immer ich mir sein Haus vorgestellt habe – und wenn ich ehrlich bin, habe ich das hin und wieder getan –, hat es niemals so ausgesehen. Es ist alles einfach viel zu unpersönlich. Ich suche die Wände und Regale nach Hinweisen ab, die mir etwas über sein Leben verraten, doch das Einzige, das ich herausfinde, ist, dass er Toast mögen muss.

»Also, falls du bereit bist, könnte ich dich jetzt ein bisschen herumführen?« Nun, da er nicht mehr hinter Dampfwolken verborgen ist, sehe ich, dass seine Stoppeln schon beinahe in einen Bart übergehen. Sein braunes Haar ist genauso wellig und zerzaust wie letzte Nacht. Als er meinen Blick auffängt, wird mir plötzlich so heiß, dass ich wünschte, ich hätte meinen eisbärweißen flauschigen Rollkragenpulli erst später angezogen.

»Super Idee, ich dachte schon, du würdest nie fragen.« Ich rutsche vom Stuhl, lese Merwyn, seine Leine und meinen Mantel auf, ziehe die Mütze weiter runter und werfe einen Blick auf mein Handy. Es ist schon nach zehn. »Schön zu sehen, dass Landbewohner nach einer durchzechten Nacht wirklich erst am späten Morgen mit der Arbeit beginnen.«

Bill schüttelt den Kopf und geht durch den Korridor in Richtung Hintertür. »Das sagt die Richtige. Ein paar von uns sind schon seit fünf auf, um Gin abzufüllen und zu verschicken.«

»Jaja, und ich bin der König von Cornwall.« Ich muss da was richtigstellen. »Es tut mir ja leid, dass ich deinen Klischeevorstellungen nicht entspreche, aber nicht alle Londoner sind besessen von Designer-Gin.« Unser Dekoratorenteam bei Daniels hat sich vier Jahre hintereinander dafür entschieden, unsere Weihnachtsparty in einer Après-Ski-Location zu veranstalten – Gin-Verkostungsbars waren noch nicht mal im Gespräch. Wir können alle persönlich bezeugen, wie schlimm ein Glühwein-Kater ist, doch wir feiern immer wieder da, weil die Erinnerung daran so warm und heimelig ist.

Bill schwingt einen Schlüsselbund hin und her, während wir durch den Innenhof und um das Schloss herumgehen. Er sagt über die Schulter zu mir: »Die meisten Leute ziehen es vor, für den bestmöglichen Auftritt durch die Vordertür reinzukommen. Ich denke mal, es wird dir nichts ausmachen, dieses Klischee zu erfüllen?«

Ich hätte gern eine ähnlich schnippische Antwort parat, doch als ich ihn einhole, schwingt die gigantische Vordertür bereits auf.

»Hereinspaziert und willkommen.« Zum Glück für uns beide hat er in den Tour-Guide-Modus umgeschaltet. »Die Gäste lassen die Eingangstür normalerweise unverschlossen und benutzen den Key Code an der Tür der Eingangshalle.«

Er hält die Tür für mich auf. Ich mache einen großen Sprung, um so schnell wie möglich an ihm vorbeizukommen und gelange in eine riesige Halle mit unebenem steinernem Boden und einer Treppe, die so groß und klotzig ist, dass es scheint, als wäre sie aus ganzen Baumstämmen hergestellt worden. Einen kurzen Moment lang bin ich überrascht, dass der gigantische Weihnachtsbaum noch nicht hier ist, aber wir sind ja einen Tag früher dran als erwartet, also denke ich an etwas anderes. Zum Beispiel daran, dass ich mir in einem so großen Anwesen wie diesem die Größe der Kronleuchter gar nicht auszumalen vermag. Ich schaue nach oben, doch anstelle einer Kaskade aus funkelndem Kristall hängen da nur einige riesige nackte Glühbirnen mit glühenden gelben Drähten mit einem Gewirr aus Kabeln darüber.

»Wie ich sehe, sind die Leuchtkörper eher trendig als traditionell.« Trotz des Schocks, dass alles so anders ist als das Bild, das ich im Kopf hatte, versuche ich, es mit Libbys Augen zu sehen – und scheitere. Es ist alles so viel rustikaler, als ich erwartet hatte. Zum Beispiel hätte ich nicht gedacht, dass die Innenwände aus dem gleichen Stein sein könnten wie die Außenwände.

Bill nickt. »Die Elektriker haben überall im Schloss Lösungen gefunden, die umweltfreundlich und energiesparend sind.« Zumindest lenkt mich der Schock von den Schatten rund um seine Kieferpartie und von den Frauen in der Parfumwerbung ab. Was auch immer es war, worauf ich in Chamonix so reagiert habe – er hat es nicht verloren, leider. Es fühlt sich nicht wie der richtige Moment an, zu fragen, wo die luxuriösen Tapeten sind. Zumindest ein wenig Putz wäre gut gewesen. Verzweifelt drücke ich mir selbst gedanklich die Daumen in der Hoffnung auf ein »gemütlicheres« Feeling im nächsten Raum.

»Komm weiter und sieh dir die Chill-out-Bereiche an …«

Als ich mich umdrehe und die Rückseite von Bills Barbour-Jacke in mein Blickfeld kommt, bemerke ich ganz nebenbei, wie falsch sich das anhört, also versuche ich verzweifelt, mich an die Bilder zu erinnern, die Libby mir gemailt hatte. Im Moment kann ich mich nur an die wundervollen Außenaufnahmen erinnern und an Nahaufnahmen von Kissen, Kissenquasten, Kerzenhaltern und Ecken von Bilderrahmen. Dann tritt Bill zur Seite und gibt den Blick frei auf gefühlte Quadratkilometer Steinböden und Felssteinwände. Und dann ist da noch eine Art Galerie mit einigen kantigen Ledersofas, ein paar Couchtischen, einer eckigen Mauernische und einem recht hübschen Sideboard – falls man geschweißten Stahl mag. Und alles so reduziert und glatt, dass man keinerlei Spuren findet, die einem etwas über den Typen selbst verraten könnten.

Ich folge ihm zu einer weiteren Galerie. Dann dreht er sich um und sagt: »Okay, du hast die Wahl – wenn wir in den ersten Stock hochgehen, zeige ich dir die Schlafzimmer.«

Mir die Schlafzimmer mit dem Model der Parfumwerbung des Jahres anzusehen – dem Körper, der all die Jahre Gegenstand meiner geheimen Träume war –, ist der Teil, bei dem mir richtig mulmig wird. Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, dass ich es noch ein bisschen hinausschieben könnte, außerdem gibt es noch eine drängendere Sorge. »Und die restlichen Empfangsräume?«

Er lächelt. »Dass die Leute sich aber auch immer durch den Schein täuschen lassen. Die reine Wohnfläche eines Schlosses ist nicht so groß. Aber das heißt auch, dass wir die Heizung ordentlich aufdrehen und den Durchzug gering halten können.«

Diese winzige gute Nachricht bezüglich der Innentemperaturen hält mein Herz nicht davon ab, mir weiter in die Hose zu rutschen.

»Was?«

»Cockle Shell Castle ist als reiner Zierbau errichtet worden. Es sieht von außen beeindruckend aus, aber es ist nicht dafür gemacht, Unmengen von Leuten zu beherbergen.«

Oder womöglich nicht einmal große Weihnachtspartys aus London? »Zeig es mir einfach.« Und wo zur Hölle befinden sich eigentlich die Bibliothek und das Esszimmer? Ich kann nur hoffen, dass die ebenfalls oben sind.

Als er die Türen zu den vier Schlafzimmern im ersten Stock öffnet, ist der Schock darüber, dass sie genauso leer sind wie die Räume unten, schon nicht mehr ganz so groß – einfache Betten, Duschbäder, das war’s. Das Ganze stilvoll zu nennen würde zu weit gehen, und irgendwie hab ich auch keine Lust mehr, Kommentare abzugeben. Als wir schließlich vom zweiten Stock runtersteigen, der genauso aussieht wie der erste, nur mit niedrigeren Decken, beginnt es in meinem Hirn zu rattern. Die Anzahl der Schlafzimmer stimmt, wenn ich die in unserem Teil des Gebäudes mitrechne, doch der Rest könnte verkehrter nicht sein. Libby hat auf ein Anwesen gehofft, das voller Gelegenheiten für Schnappschüsse für zwei Wochen ist. Und – was noch wichtiger ist – ich auch. Selbst wenn man den nahen Hügel mit einrechnet – wenn wir Fotos vor den Felssteinwänden und den Sprossenfenstern gemacht haben, war’s das wohl.

Und jetzt starrt Bill mich auch noch an. »Du bist ja so still?« Es ist eine Frage, keine Feststellung.

Um ehrlich zu sein bin ich erstaunt, dass es ihm aufgefallen ist. »Für eine Weihnachtslocation sieht es hier aber nicht gerade festlich aus.« Ich versuche es noch mal. »Es ist alles sehr schlicht und kahl.«

»Stimmt.«

»Ich meine, du bist dir schon darüber im Klaren, wie viel sie dafür bezahlt?« Es ist ein offenes Geheimnis – alle anderen wissen es auch. Ich weiß, dass Libby denkt, dass es ein Schnäppchen ist, aber für Normalsterbliche wie Fliss und mich ist es ein so großer Betrag, dass uns beinahe die Augen aus dem Kopf gefallen sind. Als Fliss sich für ihre Hypothek krummgelegt hat, hat sie nicht mit eingerechnet, dass sie bald zwei Babys bekommen würde, und ich bin genauso pleite. Nur um George zu gefallen, habe ich einen Staffelmietvertrag für eine Wohnung unterschrieben, die sich in einer viel nobleren Gegend befindet, als ich mir eigentlich leisten kann. Echt so dumm von mir.

Bill kommt jetzt voll arrogant rüber, ein sicheres Zeichen dafür, dass er in der Defensive ist. »Natürlich weiß ich das, ich habe die Buchung entgegengenommen.«

Ich muss noch deutlicher werden. »Also Minimalismus war ja mal in, aber in London ist man durch diese »leere« Phase schon durch, dort regiert jetzt der Maximalismus. Für dieses Geld haben wir … überall mehr Zeug erwartet.«

»Ach wirklich.« Dieses Mal ist es eine Feststellung, keine Frage. »Welchen Einrichtungsstil du auch immer gerade bevorzugst, wir bieten hier eine Unterkunft für Junggesellenabschiede an, und die Leute sind normalerweise happy mit allem – keine Nachbarn, die sich ärgern könnten, viel Platz zum Partymachen, nicht viel, das kaputtgehen kann. Und dann gibt’s da noch den Gin. Ich weiß ja nicht, wie du zu Gin stehst, aber der wird eigentlich nie verschmäht. Das Schloss ist perfekt für solche Gäste – von den Schlafzimmern oben bis hinunter zum Boden in der Küche. Wo – um ehrlich zu sein – am Ende auch die meisten landen.«

Ich übergehe die Tatsache, dass er schon wieder über Gin spricht, und bereite mich mental darauf vor, ihm die Neuigkeit beizubringen. »Wir haben eine Weihnachtsfeier in luxuriöser Umgebung gebucht. Alles, bis hinauf zum Dach, sollte festlich geschmückt sein.« Was auch immer er jetzt sagen wird – ich habe die entsprechenden Bilder im Netz gesehen.

Er atmet lange aus. »Heiliger Strohsack. Jemand namens Nathan hat bei mir gebucht, aber er hat in seiner Nachricht nicht um besondere Dekoration gebeten.«

Das kann ich nicht unkommentiert stehen lassen. »Also hast du einfach diesen gigantischen Geldbetrag eingeheimst und bist untergetaucht?«

»Nicht ganz.« Er tritt von einem Fuß auf den anderen – ich scheine einen Nerv getroffen zu haben.

Es gibt eine Sache, die mich immer noch verwirrt. »Wo zur Hölle ist die Tapete?« Sie war definitiv auf den Bildern zu sehen, die Libby auf unsere geheime Pinterest-Seite hochgeladen hat – ich habe sie stundenlang durchgescrollt … Natürlich! Wie konnte ich nur so begriffsstutzig sein? Ich hole mein Handy raus, um sie durchzusehen, dann stöhne ich. »Wo ist denn dieser Hotspot, von dem du gesprochen hast? Und dann bräuchte ich noch das WLAN-Passwort, bitte.«

»Du kapierst es nicht, oder, Ivy?«

Mein Magen macht einen kleinen Satz, als er sich zu mir dreht, doch ich ignoriere es, weil ich innerlich wegen Libby koche. »Was kapiere ich nicht?«