Ein Wiedersehen in Australien - Sophie Wörishöffer - E-Book

Ein Wiedersehen in Australien E-Book

Sophie Wörishöffer

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Beschreibung

Schuldlos verarmt landet der sechzehnjährige Anton zusammen mit seinem Vater in einer Matrosenschenke Londons. Ein betrügerischer Vetter verwickelt Letzteren ohne dessen Wissen in einen Raub. Er wird zum Tode verurteilt, dann als Sträfling nach Australien begnadigt. Mittellos, dem Hungertode nahe, setzt Anton alles daran, seinem Vater folgen zu können. Eine vielfach lebensgefährliche abenteuerliche Odyssee, beginnt ...

Cover: © Everett Collection / Shutterstock.com

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Sophie Wörishöffer

Ein Wiedersehen in Australien

Roman

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Zum Buch + Vater und Sohn. Der betrügerische Vetter. Unschuldig verhaftet. Im Gefängnis unter Mördern und Dieben. Vergebliches Harren ...

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Ein Wiedersehen in Australien

Sophie Wörishöffer

Coverbild: © Everett Collection / Shutterstock.com

 

 

Vater und Sohn. Der betrügerische Vetter. Unschuldig verhaftet. Im Gefängnis unter Mördern und Dieben. Vergebliches Harren ...

 

Es war vor länger als einem vollen Jahrhundert. In einer kleinen verräucherten Matrosenschenke von London saßen an einem Seitentisch zwei Männer, die flüsternd miteinander sprachen und so in ihre Unterhaltung vertieft schienen, dass sie die übrigen Gäste ganz außer Acht ließen; Vater und Sohn, wie man auf den ersten Blick erkannte. Der Ältere mochte etwa fünfundvierzig Jahre zählen, der Jüngere noch nicht ganz siebzehn; beide waren sie große stattliche Erscheinungen mit braunem Haar und ebensolchen Augen, die frei und offen in die Welt hineinblickten, wenn auch allerdings etwas verschieden rücksichtlich des Ausdruckes. Der Vater hatte unter der harten Hand des Lebens schon geseufzt und gerungen, das sah man – der Sohn glaubte mit dem kecken Mut seiner Jugend noch jedes Hindernis spielend nehmen zu können, das sah man auch.

Der Alte trommelte leise mit den Fingern auf der Tischplatte, seine Blicke schienen ins Leere gerichtet, ein tieferer Atemzug hob ihm die breite Brust. „Anton“, sagte er beinahe flüsternd, „Anton, weißt du auch, welch ein Tag heute ist?“

Sein Sohn zuckte wie im Erstaunen die Achseln. „Der zwanzigste Oktober“, antwortete er. „Wieso denn, Vater?“

„Das meine ich nicht, du! Aber wir haben eine traurige Erinnerung, die diesen Tag betrifft – denkst du nie mehr daran, mein Junge?“

Der Knabe senkte den Blick. „Vor zwei Jahren starb die Mutter! Ja, ja, ich weiß es, es war am zwanzigsten Oktober, als wir sie verlieren mussten.“

Der Alte streichelte die Hand seines Sohnes. „Du hattest nicht darauf geachtet, Anton, das vergebe ich dir vollständig. Es ist etwas anderes um deine und meine Jahre! Du lieber Gott, wenn man nie jung und sorglos gewesen wäre, woher nähme man dann wohl die Kraft, all das Ungemach des Lebens zu ertragen? – Was ich selbst dachte, das war auch vielleicht etwas Unvernünftiges, Törichtes, aber es umklammert je länger, desto fester meine Seele, es macht mich ganz mutlos. Anton, ich will dir alles sagen – der Brief vom Vetter ist heute gekommen!“

„Vater!“ Und der Knabe sprang wie elektrisiert vom Stuhl auf. „Was schreibt er denn? Wir werden doch eingeladen? Wir gehen doch noch heute zu ihm?“

„Still jetzt! Setze dich ruhig wieder hin, Anton. Der Brief ist ganz kurz und meines Erachtens sonderbar abgefasst. Heute Abend soll ich den Vetter aufsuchen!“

„Allein?“, rief Anton. „Ohne mich?“

„Ohne dich. Nur höre, was der Vetter schreibt.“

Und halblaut las der Alte dem jungen Menschen einige Worte vor. „Komm heute Abend um neun Uhr durch die Hintertür in das Palais. Da findest Du mich, und alles geht nach Wunsch. Sollten durch einen unvorhergesehen Zufall Lord und Lady Crawford über den Flur kommen, so verstecke Dich im nächsten besten Zimmer. Die Herrschaften lieben es nicht, wenn ihre Diener Besuche annehmen. Dein Vetter Thomas.“

Der Vorleser sah auf. „Gefällt dir das, Anton?“

„Warum nicht, Vater? Die Leute sind reich und vornehm, sie können in ihrem Hause befehlen.“

Der Alte schüttelte den Kopf. „Ich hab so ein schlimmes Vorgefühl“, versetzte er. „Gerade heute muss der Brief kommen – an diesem Tage, der schon einmal ein schweres Unglück brachte. Das ist nicht gut, denn –“

Er stockte, als sei schon zu viel gesagt. Sein Sohn sah ihn neugierig an. „Denn?“, wiederholte er.

„Nun – ich traue dem Vetter überhaupt nicht. Nein, ich traue ihm nicht. Du bist alt genug, um das zu erfahren, Anton.“

„Weshalb denn nicht, Vater? Seine Briefe an uns waren immer freundlich und teilnehmend, das musst du doch zugestehen.“

„Eben deshalb, mein Junge, eben deshalb! So lange ich in Holstein mein Landgut besaß, so lange es mir wohl erging, schrieb Thomas nur, wenn er Geld erlangen wollte – jetzt, nun mich Schlag nach Schlag getroffen hat, nun ich ganz verarmt bin, kommt er plötzlich mit dem Vorschlag, zusammen auszuwandern und in Amerika ein besseres Schicksal zu suchen. Er will Kapitalien besitzen, will alles brüderlich mit mir teilen – was dahinter steckt, das begreife ein anderer.“

Der Sohn lächelte. „Wie misstrauisch du bist, Vater! Unser unverdientes Unglück hat ihn gerührt, ihm Mitleid eingeflößt.“

„Das ist möglich, aber ich glaube nicht daran. Wenn du erst einmal so alt bist wie ich, mein guter Junge, dann siehst du auch nicht mehr alles im rosigen Lichte, verlangst Beweise, ehe du Vertrauen schenkst und trägst das Herz nicht länger so gleichsam in der offenen Hand, um es dem ersten Besten zu zeigen und ihn darin schalten und walten zu lassen.“

„Aber jetzt will ich gehen“, fügte er dann hastig hinzu. „Bis zu Lord Crawfords Palast ist es eine tüchtige Stunde Weges, ich habe also keine Zeit zu verlieren. Adieu, Anton! Gehe früh zu Bett, mein Junge – mich kannst du auf keinen Fall erwarten; es wird Mitternacht, bis ich zurück bin, denn Vetter Thomas will doch gewiss von den alten Geschichten einmal mehr erfahren, als man in Briefen mitteilt, und außerdem auch den neuen Plan mit mir genau überlegen. Dergleichen kostet Zeit.“

„Lass mich dich begleiten, Vater!“, bat Anton.

Aber der Alte schüttelte den Kopf. „Nein, nein, auf keinen Fall, ich könnte es nicht ertragen, dich im Dunkel allein auf der Straße zu wissen. Welch ein Gewühl, welch ein lärmendes Getriebe! – Der Wirt sagte mir, dass hier gestohlen und gemordet wird, oft um weniger Pfennige willen. Versprich mir, nicht aus dem Hause zu gehen, Anton.“

Der Knabe hob den Vorhang und sah aus dem Fenster. „Nur ein paar Schritte in die nächste Nachbarschaft erlaube mir, Vater! Da ist ein Puppentheater und ein tanzender Bär – ich möchte einen Augenblick hinüberlaufen.“

„Morgen, mein Junge, morgen, ich gehe dann selbst mir dir. Und höre noch, Kind, begib dich in unsere Kammer! Verstecke dich, Anton, du könntest den Werbern in die Hände fallen, könntest gepresst werden.“

Der Junge lachte belustigt. „Vater“, rief er, „nun du mich zum ersten Mal auf einige Stunden allein lassen sollst, ist es dir, als müsse inzwischen die Welt aus den Fugen gehen und mich unter ihren Trümmern begraben. Ich bin doch wahrhaftig kein kleiner Junge mehr.“

Der Alte seufzte. „Mir ahnt Böses, Anton.“

„Das ist deine Gewohnheit, Vater. Wann erwartest du, dass die Zukunft Gutes bringen werde?“

„Weil es auch wirklich so äußerst selten der Fall ist, Junge! Na, du bleibst in unserer Kammer, nicht wahr? Mir zuliebe tust du es?“

Anton reichte ihm die Hand. „Geh nur ruhig fort, Vater. Ich verspreche dir, das Haus nicht zu verlassen.“

„Dann adieu, Kind, adieu! In einigen Stunden sehen wir uns ja wieder. Sonderbar, ich muss mir’s selbst wiederholen, um es nur zu glauben – ich kann den Stein nicht vom Herzen schütteln!“

Anton begleitete ihn bis vor die Haustür. Durch den Nebel des Herbstabends schimmerte aus geringer Entfernung das Glühen mehrerer riesiger, von schwarzen Rauchwolken umgebenen Pechfackeln, zwischen denen das Kasperletheater seine Wunder dem schaulustigen Publikum entfaltete, während der Tanzbär brummend bald im Lichte, bald im Schatten seine plumpen Sprünge an der Kette vollführte. Kopf an Kopf gedrängt standen die Leute, Meister Petz erhielt Brot und Früchte, Kupfermünzen und Bonbons, es wurde gelacht und applaudiert, ein allgemeiner Jubel hielt die Menge in seinen Banden. Auch Anton sah sehnsuchtsvoll hinüber, er hätte gar zu gerne das beliebte Vergnügen geteilt.

Sein Vater schob ihn wie unwillkürlich tiefer in den Hausgang zurück. „Ich habe dein Versprechen, mein Junge!“

„Ja! Ja! Wahrhaftig, ich werde es halten.“

„Das glaube ich dir, Kind, du hast es immer getan. Adieu, mein Junge, adieu, in vier Stunden bin ich wieder bei dir!“

Und er ging fort, nicht ahnend, dass er seinen Liebling erst nach langer, qualvoller Trennung am anderen Pol der Erde wiedersehen sollte.

Während sich Anton gehorsam in die Bodenkammer verkroch, wanderte der alte Krommer, sein sorgengepeinigter Vater, mit gesenktem Blick durch das lärmende Gewühl der Londoner Gassen. Rechts und links von ihm brannten knarrende, vom Wind gepeitschte Straßenlaternen an hohen Pfählen, die jedes Mal zugleich den Stand irgendeines Verkäufers, eines Wunderdoktors oder Krüppels bildeten. Universaltropfen pries der eine und Universalseife der andere; dieser sang mit heiserer Stimme und in grauenhaften Versen die Geschichte einer jüngst begangenen sechsfachen Mordtat, während jener seiner Bitte um einen einzigen Penny im heulenden Tone so lange wiederholte, bis er in einen krampfhaften Husten verfiel und notgedrungen ein wenig verschnaufen musste. Alle diese verschiedenen Klänge bildeten ein Chaos, aus dem der einzelne Laut nur den völlig Eingeweihten erkennbar hervordrang. Vater Krommer dagegen empfand den Lärm um ihn her mit jener heimlichen Angst, die immer den Landbewohner überfällt, wenn er plötzlich in das Herz der Großstadt versetzt wird und nun ihrem verwirrenden, betäubenden Treiben ohne Verständnis gegenübersteht. Er wusste, dass ihn diese Straße noch fast eine halbe Stunde lang in gerader Linie dahinführen musste, deshalb ging er langsam durch das Gedränge, während alle seine Gedanken mit tiefer ehrlicher Herzenstrauer die Heimat im fernen Holstenlande sehnsüchtig umschwebten.

Am Kellersee in Holstein stand das strohgedeckte alte Haus, unter dessen Schutz er geboren worden war, das alle seine Erinnerungen in sich schloss und aus dem ihn die Ungunst des Schicksals vertrieben hatte. Er sah im Geiste die traute Stätte, das Strohwerk auf dem Giebel, die Mauer von Quadersteinen an der Straßenflucht und den grünen, tannenumrauschten Berg im Hintergrunde der Aussicht. Ein anderer, Glücklicherer, nannte nun diesen geliebten Fleck Erde sein Eigentum, er selbst sollte nie dahin zurückkehren, sollte nie seinen einzigen Sohn als Herrn und Gebieter da erblicken, wo die Familie Krommer seit länger als einem Jahrhundert in Wohlstand und Ehren auf der eigenen, von Generation zu Generation vererbten Scholle gelebt hatte. Armer Anton! Er musste nun die Heimat verlassen und im fernen Amerika mühsam mit der Kraft seiner Arme den Boden urbar machen, auf dem vielleicht dereinst für ihn ein Haus erstand, in dem er nach harter Arbeit ausruhen durfte, um den aufhorchenden Kindern von der deutschen Heimat zu erzählen, vom Holstenlande, dem geliebten, nie vergessenen.

Ein tiefer Seufzer hob die Brust des Alten. „Dass es auch so kommen musste! Und alles des leidigen Geldes wegen.“

Dann dachte er wieder an den Vetter. Thomas Schwarz war immer ein leichtsinniger Bursche gewesen, ein ungern gesehenes Glied der ehrbaren Familie Krommer, er hatte sich zu Hause allerhand schlimme Streiche zu Schulden kommen lassen und wurde aus diesem Grunde in die weite Welt geschickt, um Mores zu lernen. Hier trieb er sich herum und dort, machte Bekanntschaft mit dem Innern mehrerer Gefängnisse und bettelte bei den Verwandten um Unterstützung, bis er endlich für eine Zeitlang verschwand und dann in London als Diener des Crawfordschen Hauses wieder auftauchte. Das war damals, als Peter Krommer sein Besitztum verlor, und nun schrieb der Windbeutel von Vetter, er habe Vermögen gesammelt und wolle in Amerika eine Farm gründen, ja, er bot dem älteren Verwandten großmütig seine Hilfe an, er lud ihn ein, nach London zu kommen, und versprach, für ihn die Passage nach der Neuen Welt zu bezahlen.

Als ihm das Letztere wieder einfiel, stand Krommer einen Augenblick still, um gewissermaßen recht mit Muße den Zweifel, welchen er empfand, in sich wirken zu lassen. Woher hätte wohl Thomas so viel Geld nehmen sollen? Mit Ehren wenigstens war das nicht möglich.

Und der Alte erstickte tapfer den Seufzer, der sich auf seine Lippen drängen wollte. Die Geschichte hatte irgendeinen dunklen Punkt, dessen war er ganz sicher. Weshalb auch sonst das Geheimnis, weshalb der bestimmte Befehl, nicht im Palais Crawford zu erscheinen, bis der Brief gekommen war und die Stunde genau festgelegt hatte?

Krommer schüttelte im Weitergehen für sich den Kopf. Ob es denn auch Menschen gab, die ihrer Dienerschaft verboten, einmal den Besuch von Familiengliedern zu empfangen? Das hatte er wahrlich niemals getan. Wenn die alten Mütterchen aus dem Armenhause herbeigehumpelt kamen, um ihre Kinder zu sehen, dann war ihnen in der warmen, behaglichen Küche eine Mahlzeit vorgesetzt worden, man hatte sie freundlich empfangen und mit einem Segenswunsch wieder entlassen – sollte das hier anders sein?

Aber es nützte nichts, jetzt noch nach dem Wenn und Aber zu fragen. Da schimmerte bereits das hell erleuchtete Palais Crawford durch den Abendnebel, er musste nun an dem Portal vorübergehen und in einem Seitengässchen den Eingang für die Dienerschaft zu gewinnen suchen. Das wäre wohl auf dem ersten Blick hin unmöglich gewesen, aber Krommer hatte mit echt deutscher Gründlichkeit schon mehrere Tage vorher die Umgebung studiert und alle Einzelheiten derselben ausgekundschaftet, er brauchte jetzt nur das Seitenpförtchen zu öffnen und quer über den geräumigen Hof zu gehen, dann war er am Ziel.

Auch hier, innerhalb der weiten Umfassungsmauer, brannten einzelne Laternen, die den gepflasterten Raum notdürftig erhellten. In den Ställen waren Diener beschäftigt, außer diesen aber sah man sonst keinen Menschen.

Mit der Ruhe des guten Gewissens begab sich Krommer in das Palais, wo ihn Thomas um neun Uhr erwartete. Es war schon einige Minuten über diese Zeit hinaus, der Vetter musste daher auf dem Gange stehen und Wache halten, denn er sehnte sich sicher sehr, einmal Nachrichten aus Deutschland zu bekommen, ja, nach so langer Trennung, mit einem Verwandten nun zu sprechen. Das geräuschvolle, schmutzige und vom Nebel umhüllte London konnte ihm doch gewiss die sonnige Heimat ganz und gar nicht ersetzen.

Und richtig, da stand er ja schon! Potz Blitz, der durfte sich sehen lassen. Blau und silbern glänzte sein ganzer Anzug, er trug eine gewaltige Puderperücke und Schuhe mit talergroßen Schnallen, an den Händen schimmerten weiße Manschetten, der Bart war gewichst und gedreht, dass die Spitzen zu beiden Seiten vom Gesicht abstanden. Nach Peter Krommers Meinung sah der Vetter aus wie ein Herzog; er wagte es kaum, ihn zu begrüßen.

„Du lieber Heiland“, stammelte er, verlegen den Schlapphut vom Kopfe ziehend, „bist du es denn wirklich, Thomas?“

„Komm nur mit mir! Rasch! Rasch!“

Das war eine etwas seltsame Begrüßung, dem langsamen, umständlichen Wesen des Deutschen wenig zusagend, aber dennoch leistete er der erhaltenen Aufforderung schleunigst Folge, und beinahe im Laufschritt erreichten die beiden Vettern das kleine, drei Treppen hoch gelegene Zimmer des Dieners. Hier erst reichte Thomas dem Verwandten die Hand. „Guten Abend, Vetter, guten Abend! Sei mir herzlich willkommen in London!“

„Ich danke dir!“, pustete Krommer. „Du bist ja ein ganzer Kerl geworden. Und solch einen herrlichen Dienst willst du aufgeben?“

Thomas schnitt eine Grimasse. „Das fremde Brot schmeckt allemal bitter“, brummte er. „Trotz dieser bunten Kleider und der großen Perücke bin ich ein Sklave, der wie eine leblose Sache nach Belieben der Herrschaft hin- und hergeschoben wird. Bill hier und Bill dort! Springt man nicht wie ein Hase, sobald nur die Klingel ertönt, dann gibt es schon Vorwürfe.“

Krommer machte große Augen. „Bill?“, wiederholte er. „Bill?“

Thomas lachte. „Denkst du, man werde diesen Engländern seinen wahren Namen verraten, Vetter? ‚Seid klug wie die Schlangen‘, das ist ein feiner, beherzigenswerter Satz. Ich habe ihn zu meinem Wahlspruch gemacht.“

„Hier ist übrigens ein Glas Wein“, fuhr er dann fort, „und hier ein wenig Brot und Fleisch. Ich habe gerade heute für dich gar keine Zeit, Vetter!“

„Nicht? Nicht? Ja, aber du schriebst mir doch, dass –“

„Ich musste später meinen Plan ändern. Wirklich, es bleiben uns kaum noch ungestörte zehn Minuten.“

Krommer seufzte. „Du lieber Himmel“, sagte er, „man hätte doch so manches zu verabreden, du willst gewiss hören, wie es den Deinigen zu Hause ergeht, ich dagegen möchte deine Pläne kennen lernen, ich –“

Thomas hob die Hand. „Das alles besprechen wir im Wirtshause, lieber Vetter. Ich komme nächstens zu dir – vielleicht sind wir in fünf oder sechs Tagen schon auf hoher See und haben Europa für immer im Rücken.“

Krommer erschrak. „So schnell“, sagte er. „Hast du denn Geld, Thomas?“

Der Diener machte sich an einem Nebentischchen zu schaffen. „Es ist mir ein Gewinn zugefallen“, versetzte er, „eine hübsche Summe sogar. Eben dieser Angelegenheit wegen bat ich dich, heute hierher zu kommen, Peter.“

„So! So! Nun, was ist es denn, das du mir sagen wolltest?“

„Wenig und doch sehr viel, ganz wie du die Sache ansiehst. Ich schlafe mit noch zwei anderen Dienern in derselben Kammer – du kannst ja die Betten zählen! – und da erscheint mir denn das Geld nicht so recht sicher. Man lernt die Menschen nie vollständig kennen, vielleicht vertraut man einem unter ihnen wirklich von Herzen und später geht gerade er hin und verrät uns. Du selbst hast gewiss schon ähnliche Erfahrungen gemacht, mein guter Peter?“

Der Deutsche winkte ihm seufzend. „Leistete ich denn nicht daheim in Holstein für meinen besten, ältesten Freund die Bürgschaft, welche mich ruiniert hat?“, fragte er seufzend. „Glaubte ich nicht so ganz unbedingt vertrauen zu dürfen und wurde doch getäuscht?“

Thomas hob die Hand. „Siehst du wohl? Da kann man sich gar nicht schützen, gar nicht genug vorsehen. Deshalb wollte ich dir einen Vorschlag machen, Peter!“

„Und der wäre?“

„Du nimmst das bare Geld mit dir und hebst es für uns beide, oder besser, für uns und deinen Sohn bis zur Abreise auf. Willst du das?“

Krommer nickte. „Wenn du mir’s anvertrauen magst, Thomas. Ich werde dein Eigentum behüten wie meinen Augapfel.“

„O natürlich, natürlich; da gibt es ja gar keine Frage. Wir sind nahe Blutsverwandte, die einander unmöglich täuschen könnten. Ich will gleich die Kassette holen.“

Krommer hielt ihn zurück. „Einen Augenblick“, bat er. „Sieh, Thomas, du musst mir nichts übel nehmen und immer bedenken, dass ich alt genug bin, um dein Vater sein zu können, aber – ja, das Wort will nicht recht von den Lippen –, mein lieber Thomas, du hast doch die Summen mit Ehren erworben?“

„Vetter Krommer!“

„Nun, nun“, beschwichtigte der Alte. „Ich wollte dich ja nicht beleidigen. Aber bei so jungen Gesellen wie du –“

Der herrschaftliche Diener lächelte gezwungen. „Ich hatte einmal Gelegenheit, einem vornehmen Kavalier das Leben zu retten“, murmelte er. „Da gab es dann ein stattliches Geschenk, genug für uns beide. So, nun weißt du alles.“

„Ach! Und deinen Genossen hast du davon nichts erzählt?“

„Keine Silbe. Du allein kennst mein Geheimnis.“

Der Alte nickte. „Das ist vernünftig, sehr vernünftig. Man muss nie seine Angelegenheiten an die große Glocke hängen.“

„Aber die Menschen spionieren einen Teil derselben doch aus. Meine Genossen wissen wenigstens, dass ich Geld besitze, mehr als meinen Jahreslohn, daher erscheint mir die Summe hier in dieser Kammer nicht sicher. Willst du sie mitnehmen, Vetter?“

„Gewiss. Ich bürge dir vollständig.“

Thomas holte aus einer Schieblade eine Kassette hervor; sein Gesicht war blass, sein Blick verstört, er sah nach allen Seiten, als stehe hinter ihm schon der Verräter. „Jetzt ist es die höchste Zeit für mich“, raunte er. „Ich muss hinunter und meinen Dienst versehen. Geh, Vetter, geh – morgen besuche ich dich!“

„Ist das ganz gewiss?“, fragte Krommer.

„Ganz gewiss. Adieu, adieu! Und noch eins, du – wenn der Lord oder die Lady über den Flur gehen sollten, so tritt in das nächste Zimmer, bis ich draußen leise pfeife. So, nun schiebe diesen Kasten unter deinen Rock.“

„Alle Wetter!“, sagte leise der Deutsche, als er die Kassette in Empfang nahm. „Das wiegt schwer!“

„Bares Geld“, raunte Thomas. „Gold!“

„Man würde mich totschlagen, wüssten es die Leute!“

„Wahrhaftig! Nun knüpfe den Rock zusammen. Vorwärts!“

Thomas schob seinen Vetter bei den Schultern aus dem Zimmer und begleitete ihn die Treppe hinab. „Hier ist keine Seele“, sagte er aufatmend, „wenn du nun glücklich über den Hof gelangst, so haben wir gewonnenes Spiel.“

„Sind denn deine Herrschaften so unfreundliche Menschen, dass sie es dir nicht vergönnen, deinen Vetter wiederzusehen?“

„Hochmütig sind sie, eingebildet, geldstolz. Dahin, Peter, dahin!“

Die hell erleuchtete Treppe lag vor den beiden Männern, dann der Korridor und wieder eine Treppe. Thomas ging immer dicht hinter dem Alten her, nun aber, auf dem Gange der Bel-Etage nickte er einen flüchtigen Abschiedsgruß. „Es geht alles gut, Vetter. Auf Wiedersehen!“

„Behüt dich Gott, Thomas!“

Der Diener verschwand, und Vater Krommer wanderte auf den dichten, jeden Schall dämpfenden Teppichen gelassenen Schrittes zur Treppe, die in das Parterre hinabführte. Also einen Gönner hatte Thomas gefunden, einen vornehmen Freund, der ihm wohl wollte – ja, wer konnte denn auch an dergleichen denken?

Und etwas wie die Erinnerung an ein derbes, deutsches Sprichwort schlich sich durch die Seele des Alten. „Je ärger der Strick, desto besser das Glück.“

Aber freilich, Thomas wollte ihm und seinem Sohne helfen, er wollte den Gewinn mit seinen Verwandten teilen, das war hübsch von ihm – vielleicht hatte er sich ja zum Besseren bekehrt, war vernünftig geworden. Man muss, so lange es nur möglich ist, immer an das Gute glauben, aber an das Böse erst dann, wenn die Beweise unwiderleglich geworden sind.

Vater Krommer setzte bei jedem Schritt seinen Knotenstock so fest auf die persischen Teppiche, als klettere er mit Mühe über frischgepflügtes Ackerland, seine arglose Seele war emsig beschäftigt, das Bild des früher so leichtsinnigen Vetters von allen Flecken reinzuwaschen, da plötzlich erklangen auf der Treppe die Schritte zweier Ankommenden, und ehe sich der überraschte Mann dessen versah, gewahrte er ein paar Herren, die im lebhaften Gespräche begriffen, ihm gerade entgegen kamen.

‚Das ist der Lord‘, dachte er voll Schreck, ‚der herzlose, gebieterische Lord! Was tue ich nun, um den armen Thomas nicht in Schaden zu bringen?‘

Dann fiel ihm des Vetters Mahnung wieder ein: „Geh in das nächste Zimmer, bis die Bahn frei ist!“, und kurz entschlossen öffnete er die gerade zur Hand befindliche Tür, um hindurch zu schlüpfen und drinnen hinter einem hohen Ofenschirm zu kriechen. ‚Hier wird mich niemand entdecken‘, dachte er aufatmend.

Aber diese Freude sollte nur von kurzer Dauer sein. Noch empfand der Alte die behagliche Wärme des matt erleuchteten Raumes wie eine wahre Wohltat, als plötzlich die Tür wieder geöffnet wurde und beide Herren in das Zimmer traten. Krommer erschrak heftig, durch sein Bewusstsein flog blitzartig der Gedanke, dass man ihn im Fall einer Entdeckung für einen Dieb halten werde, er biss die Zähne zusammen, um sich auch nicht einmal durch einen Atemzug zu verraten.

Die beiden Herren sprachen englisch miteinander, es wurde eine Klingel in Bewegung gesetzt, und nach wenigen Sekunden erschien ein Diener, der offenbar mehrere Befehle erhielt. Er brachte Erfrischungen, rückte die Sessel an den Tisch und ließ die Fenstervorhänge herab, dann trat er plötzlich hinter den Ofenschirm, um das Feuer zu schüren.

Sein halblauter Ausruf, seine erschrockene Bewegung ließen die beiden Herren aufblicken, es erfolgte ein kurzes Fragen und Antworten, dann standen alle drei hinter dem Schirm, und Vater Krommer wurde am Arm aus seinem Versteck hervorgezogen.

Man redete ihn an, er verstand den Sinn der Worte natürlich nicht, und noch eine zweite Frage wurde gestellt, dann endlich kam dem verängstigten Manne die Sprache zurück. Beinahe stammelnd sagte er: „Ich bin kein Dieb! Lassen Sie mich los!“

Einer der Herren wandte sich plötzlich zu dem anderen und rief einige Worte, worauf dieser lächelnd nickte und den Alten vom Kopf bis zu den Füßen musterte.

„Sind Sie ein Deutscher?“, fragte er in Krommers Muttersprache.

„Ja, lieber Herr, ja! Und ein ehrlicher Mann dazu. Ich habe nur einen der Bedienten dieses Hauses auf ein Viertelstündchen besucht, das ist alles.“

„Aber wie kommen Sie dann in dies Zimmer hinein?“

„Mein Vetter sagte mir, dass es dem edlen Lord nicht erwünscht sei, die Angehörigen seiner Dienstboten ins Haus kommen zu lassen – ich sollte mich für einen Augenblick verstecken.“

Der deutsch sprechende Herr berichtete jetzt dem anderen, was er gehört hatte. Es wurden Worte laut, die Vater Krommer wieder nicht verstand, deren Sinn aber doch mit erschreckender Deutlichkeit in sein Bewusstsein drang. „Flausen!“, hatte der eine gesagt, und: „Ein Spitzbube!“ der andere.

„Wahrhaftig, ich bin ein ehrlicher Mann!“, beteuerte der Deutsche. „Sie können mir aufs Wort glauben.“

„Was tragen Sie denn da unter dem Rock?“, forschte der Herr.

„Das ist das Eigentum meines Vetters.“

„Zeigen Sie her!“

„Ich hab’s nicht nötig!“, rief Krommer. „Erst holen Sie den Thomas Schwarz herbei, denn dem gehört das Kästchen.“

Auch diese Worte verhalten ungehört. Der Deutsche wurde ohne Weiteres festgehalten und die Kassette hervorgezogen. „Sieh, sieh!“, hieß es. „Also das hier gehört dem Diener!“

Und der Herr deutete lächelnd auf die Krone, welche der Stahlplatte eingraviert war – er reichte das Kästchen seinem Gefährten.

Jetzt schwirrten die Ausrufe durcheinander wie Mücken im Sonnenschein. Die Klingel ertönte, Diener liefen ab und zu, endlich machte jemand eine Meldung, und in der Tür erschien die hohe Gestalt einer Dame, deren Blicke mit offenbarem Erstaunen das ganze Bild überflogen; erst als sie die Kassette bemerkte, schien ihr Interesse plötzlich erregt zu werden. „Was bedeutet das?“

Die Herren gaben ihr Erklärungen, und nun öffnete Mylady mit entsetzten Blicken den Behälter. Aller Augen sahen hinein, auch die des Deutschen.

Juwelen kamen zum Vorschein, Gold und Perlen, es blitzte wie Sonnenglanz im Tautropfen, es funkelte und glühte so gewaltig, dass Peter Krommer wie vernichtet gegen die Wand taumelte.

Das Schmuckkästchen der Lady, ihre Diamanten! Thomas Schwarz musste es gestohlen haben.

Kalter Schweiß brach aus allen Poren des geängstigten Mannes. „Rufe doch jemand meinen Vetter herbei!“, sagte er im flehentlichen Tone.

Es hörte ihn keiner. Die Schmucksachen wurden gezählt und genau besehen, während ein Diener davonlief und sehr bald mit einem Polizisten zurückkehrte. Krommer hatte ein Gefühl, als schwanke unter seinen Füßen der Boden – jetzt sollte er als Dieb verhaftet werden. Wie ein Gericht der Finsternis brach es über ihn herein.

„Herr!“, wandte er sich an den, der deutsch sprechen konnte, „Herr! Wollen Sie nicht veranlassen, dass man wenigstens meine Aussage hören möge? Ein einziges Wort meines Verwandten muss doch hinreichen, um die ganze Sache aufzuklären.“

Der Angeredete zuckte die Achseln. „Es ist durchaus überflüssig“, versetzte er, „denn man hat ja das gestohlene Gut bei Ihnen gefunden.“

„Aber ich wusste nicht, dass es gestohlen sei. Thomas Schwarz gab mir das Kästchen in Verwahrung.“

„Wer ist dieser Mann?“

„Ach ja, ja – hier nennt er sich Bill!“

„Er führt also einen falschen Namen. Das wird immer hübscher.“

„Man möge den Diener Bill herbeirufen“, befahl der Lord.

Minuten vergingen. Im ganzen Hause und im Hofe wurde gesucht, aber von Thomas war nichts zu hören und zu sehen. „Er sei spurlos verschwunden“, hieß es.

„Seine besten Sachen und sein Geld hat er mitgenommen“, berichtete einer der Bedienten.

„Und was diesen Mann betrifft“, setzte ein anderer hinzu, „so sah ich ihn seit mehreren Tagen das Haus umschleichen.“

„Er hat also spioniert. Bill und er handelten im Einverständnis.“

„Und dieser alberne Patron wird allein die Suppe auslöffeln müssen. Den anderen Vogel finden wir ja niemals wieder.“

„Vorwärts!“, befahl der Polizist, indem er eine hänfene Schlinge aus der Tasche zog. „Alles Weitere geht die Behörden an.“

Dabei fasste er Krommers Arm und wollte ihm die Schnur um die Hände streifen, aber der Deutsche trat plötzlich zurück, seine Augen schossen Blitze, die Fäuste waren geballt. „Also binden möchtet ihr mich“, schrie er. „Hoho! Das geht nicht so schnell.“

Und seine Arme wirbelten durch die Luft, um mit wuchtigem Schlage bald hierhin, bald dorthin zu treffen. Er drängte zur Tür und trieb eine Zeitlang die ganze Schar der Angreifer vor sich her, aber das galt doch nur für den ersten, unerwarteten Anlauf, kaum eine halbe Minute später wurde er umzingelt und nach harter Gegenwehr zu Boden geworfen. Einer der Diener presste das Knie auf die Brust des Wehrlosen, ein anderer hielt ihm die Füße fest, und so gelang es, seine Handgelenke mit der bedeutungsvollen Schlinge zu umschnüren. Krommer schrie vor Wut und Verzweiflung laut auf.

„So wahr ein Gott über mir ist, ich bin schuldlos!“

„Vorwärts! Vorwärts!“, gebot der Polizist.

„Dass Gottes Fluch euch treffe! Dass ihr –“

Sie schleppten ihn fort, sie erstickten seine Worte, dass nur noch ein Murmeln, ein halbgebrochenes Schluchzen unter dem Druck ihrer Fäuste hervorklang. Wie ein Schlachttier wurde er weiter gezerrt, bis sich nach ziemlich langer Wanderung die Pforte eines Gefängnisses hinter dem Unglücklichen schloss.

Das Knarren eines großen eisernen Riegels, der Klang des Schlüssels, das alles drang wie aus weiter Ferne an sein Ohr. Man schob ihn am Arme vorwärts bis in ein dunkles Gelass, dessen Tür durch einen Balken gesperrt wurde, dann blieb er allein, niemand bekümmerte sich mehr um ihn.

Krommer zitterte an Händen und Füßen. „Ist hier jemand?“, fragte er flüsternd, voll heimlichen Grauens.

„Ein Neuer!“, sagte eine heisere Stimme.

„Ein Grüner! Den haben sie zum ersten Mal erwischt.“

„Sprach er nicht deutsch, Kinder?“

Und eine Flut von Fragen brach über den ratlosen Mann herein, natürlich alle in englischer Sprache, sodass er nichts verstand und von den Galgengesichtern, die ihn umgaben, auch nichts sah, aber er fühlte und wusste, dass er jetzt der Mittelpunkt allgemeiner Aufmerksamkeit sei – das erschreckte ihn immer mehr.

Mit Dieben und Mördern, mit den schlimmsten Verbrechern zusammengesperrt – großer Himmel, wenn das die Verwandten in Holstein gesehen hätten!

Und ein anderer aus der Freundschaft war es, der ihn in diese Lage brachte, Thomas Schwarz, der verlorene Sohn, der Taugenichts.

Krommer ächzte. Was sollte in der fremden Stadt aus seinem Sohne werden? Lauter Bilder des Jammers und Erschreckens, wohin er nur sah …

„Ich glaube, der ‚Neue‘ heult!“, sagte wieder eine Stimme.

„Vielleicht hat er Heimweh nach irgendwelchen Fleischtöpfen Ägyptens.“

Ein lautes Lachen ertönte ringsumher. „Der Kerl sieht erschreckend dumm aus“, rief einer. „So ein Biedermannsgesicht, ein Erzphilister, der seine Steuerquittungen liebkost und Sonntags Hausarme speist.“

„Buckliger Schreiber!“, rief jemand. „Sprichst du denn nicht das zungenrädernde Deutsch? Ich meinte es doch gehört zu haben.“

„Gewiss! Aber umsonst tue ich’s nicht.“

Das war in Krommers Muttersprache gesagt; er horchte auf wie ein Kavalleriepferd, das den Ton der Trompete vernimmt. „O!“, bebte es über seine Lippen. „Ein Deutscher!“

„Das bin ich wahrhaftig nicht, aber deine Sprache kann ich verstehen. Wie siehst du denn eigentlich aus, Kamerad? Lass doch einmal dein Aushängeschild sehen!“

Und der Bucklige zog den Deutschen zum Fenster, wohin alle Übrigen nachdrängten. Vater Krommers Augen hatten sich jetzt an die Dunkelheit gewöhnt, er unterschied deutlich die einzelnen Gestalten und bei einigen auch die Gesichtszüge. Der Schreiber hatte ein blasses, bartloses Antlitz mit verschmitztem Ausdruck und kleinen schlauen Augen, er hielt die Hände in den Taschen, wo sie fortwährend allerlei nicht zum Vorschein gelangende Gegenstände umher kugelten, ganz, als beschäftige der Krüppel seine Fantasie ausschließlich mit Plünderungsgedanken, die ihm sozusagen in den Fingerspitzen kribbelten.

„Hast du Geld, mein Junge?“, fragte er den Deutschen.

Krommer hielt unwillkürlich die zusammengeschnürten Hände empor, als wolle er seine geringe Barschaft verteidigen. „Besitzen Sie nicht vielleicht ein Taschenmesser, lieber Herr?“, fragte er ganz mutlos. „Die Seile schneiden mich sehr.“

Der Bucklige lachte. „Sie?“ wiederholte er. „Sie? – Nein, mein guter Junge, hier geht alles auf du und du. Hole die Geldtasche nur getrost hervor.“

„Ich kann ja keinen Finger bewegen!“

Der Schreiber suchte mit den Augen unter der Menge. „Wolf“, sagte er in englischer Sprache, „komm doch einmal hierher. Es gibt Arbeit für dich.“

Durch den Kreis schob sich ein langer, schmächtiger Geselle mit dunklen, tiefliegenden Augen und schwarzem Haar. Zwischen seinen halb geöffneten Lippen schimmerten weiße, blitzende Zähne – er klappte wie verlangend damit zusammen. „Soll der Wolf Futter haben?“, fragte er in den tiefsten Tönen seines besonders klangreichen Organs.

„Nage! Nage!“, riefen zehn Stimmen durcheinander. „Wetze die Beißer. Ritz! Ritz! Das Vergnügen winkt!“

Sie lachten sämtlich. Der als Wolf Bezeichnete nahm die schmerzenden Hände des Deutschen zwischen seine beiden und hob sie empor, dann begann er das hänfene Gespinst zu zernagen. Faden nach Faden zerriss, mit unheimlicher Eile knirschten die Zähne des Beißenden, zupften und rupften, bis das Seil nachgab und ein letzter kräftiger Ruck es vollends auseinander platzen ließ.

„Wieder einer!“, sagte der Wolf, indem er behaglich seine achtungswerten Kauwerkzeuge klappern ließ. „Der Achtundneunzigste.“

„Tausend Dank, guter Freund“, ächzte Krommer, während er die zerschundenen, steifgewordenen Handgelenke mühsam nach allen Seiten drehte. „Betreibst du das Beißen aus Neigung?“

Der Schreiber übersetzte die Frage und dann auch die Antwort. „Es hilft ihnen alles nichts“, gurgelte der Wolf.

Das klang etwas geheimnisvoll, und der Bucklige beeilte sich, die nötigen Erläuterungen hinzuzufügen. „Die Polizisten bringen immer ihre Gefangenen mit übereinander geschnürten Händen“, lächelte er, „sie möchten die Sache gern durchsetzen, können es aber nicht, denn der Wolf beißt alles los.“

„Aber am nächsten Tage werden doch die Fesseln neu angelegt?“

„Der Wolf beißt sie gleich wieder weg.“

„Hat er denn ein so mitleidiges Herz?“, fragte ganz gerührt der Alte.

Ein schallendes Gelächter durchbrauste den Raum. „Das nun wohl nicht“, versetzte der Schreiber, „aber er hasst die Machthaber, und darum trotzt er ihnen. Das ist das Glück und die Freude seiner Seele. Wenn da so ein breitspuriger Unterbeamter denen, welche die Hausordnung verletzt haben, seine hänfenen Armbänder zur Extrabestrafung anlegt, dann wetzt der Wolf schon die Zähne – der Mann des Gesetzes weiß das auch, die beiden sehen einander fortwährend an, sie führen seit Jahr und Tag einen stummen, aber erbitterten Krieg, in dem keine Partei auch nur um Haaresbreite weicht oder nachgibt. Der Beamte hat einmal versucht, einem Gefangenen eine stählerne Kette anzulegen – einmal! –, dann sah er das Lächeln in den Mundwinkeln des Wolfes und bereute schon seine Unvorsichtigkeit. Als er zurückkam, hatte unser guter Freund hier jedes einzelne Glied der Kette auf den Fußboden gespuckt – und dann sah er ihm wieder stumm ins Auge. Gleich einer Daumschraube hängt dieser Blick an dem erbosten Alten.“

Der Deutsche empfand etwas wie einen Schwindel. In welch eine Gesellschaft war er geraten.

„Ist denn der Wolf schon ein ganzes Jahr hier?“, fragte er zögernd.

„O, schon länger. Jetzt hat er freilich sein Urteil!“

Und der Zeigefinger des Krüppels beschrieb um den Hals einen Kreis. „Diese Schlinge wird der arme Wolf indessen schwerlich durchbeißen können“, setzte er hinzu.

Krommer fuhr zurück, als habe ihn eine Schlange gestochen. „Ihr wollt doch nicht vom Hängen sprechen“, rief er, „von einem Todesurteil? O nein, nein, das wäre zu grässlich!“

„Etwas ganz Alltägliches“, meinte der Schreiber. „Unser Freund hat in einer schlimmen Stunde einen Mann, den er hasste, niedergeschlagen und –“

„Es ist nicht wahr!“, donnerte der Wolf. „Du sollst es nicht behaupten, Buckliger, oder ich zerdrücke dich zwischen meinen Fäusten wie eine leere Eierschale!“

Der Schreiber rieb die mageren Hände. „Immer deine plumpen Manieren, du Bärenhäuter!“, sagte er lächelnd. „Ich selbst bin natürlich von deiner Unschuld vollkommen überzeugt, aber andere Leute sind es nicht, und von diesen sprach ich.“

„Der Böse hole sie alle! In diesem verfluchten Hause kommt ein ehrlicher Kerl zum hänfenen Kragen, ehe er sich dessen versieht.“

„Was hast du denn verübt?“, wandte er sich an den Deutschen.

„Ich! – O, nichts. Ich bin so schuldlos wie –“

„– ein neugeborenes Lamm, das können wir uns denken. Es sind in dieser ehrenwerten Gesellschaft nur Gentlemen.“

Und ein neues Gelächter ertönte ringsumher. „Vielleicht beschuldigt man dich indessen des Diebstahls“, rief einer, „auch das ist schlimm genug. Du und der Wolf, ihr ziert nebeneinander den Galgen.“

Krommer fühlte, dass sich ihm auf dem Kopfe die Haare zu sträuben begannen. „Die Diamanten der Lady Crawford soll ich gestohlen haben“, seufzte er. „Es war ein Bubenstück meines Vetters, das mich in diese Verlegenheit brachte.“

Einige der Verbrecher pfiffen leise. „Die Diamanten der Lady Crawford!“, hieß es. „So hoch griffst du hinaus, Unseliger? – Ja, da ist dir die Hochzeit mit des Seilers Töchterlein gewiss genug.“

„Ihr meint es?“, schrie der Deutsche. „Aber wer hängt denn Diebe? – Wenn ich nämlich ein solcher wäre! – In meiner Heimat werden nur die überführten Mörder mit dem Tode bestraft.“

„Dann würde ich unbedingt dort gestohlen – bitte um Verzeihung! –, mich dort in den falschen Verdacht des Diebstahls gebracht haben.“

„Mittlerweile“, sagte der Schreiber, indem er festen Griffes den Arm des Deutschen umkrallte, „mittlerweile befinden wir uns in England, Kamerad, und du entgehst dem Galgen so wenig, wie das Leben dem Tode entgeht! Hättest Klügeres tun, als dich mit den Leuten vom höchsten Adel erzürnen sollen! – Aber nun es einmal geschehen ist, musst du die Folgen tragen. Gib her dein Geld, toter Mann, die Lebenden können es vortrefflich gebrauchen!“

Krommer machte gewaltsam seinen Arm frei. „Ich will nicht!“, schrie er. „Lasst los! – Lasst los! – Was ich habe, das ist bitter wenig, und wenn’s denn wirklich für mich zum Sterben geht, meines Sohnes ganzes Erbteil!“

„Dein Junge kümmert uns gar nicht, Kamerad! Her mit dem Gelde!“

„Lass den Bengel arbeiten, dann kann er auch essen. Ach, ihr Götter, der Glückliche ist frei, was braucht er denn noch mehr?“

Die ganze Horde umdrängte und umzingelte den Deutschen, bis dieser, mit dem Rücken gegen die Fensterwand gekehrt, nicht weiter zurückgetrieben werden konnte. Draußen hatte ein halbes Mondlicht die Nebelmassen durchbrochen, es fiel ein grauer schattenhafter Streif in das Dunkel des Gefängnisses und beleuchtete alle diese Schurkengesichter, die mit gierigen Blick danach trachteten, das geringe Besitztum des Deutschen an sich zu bringen. Einer schob den anderen zur Seite, der Stärkere verdrängte den Schwächeren, ihrer mehrere den Einzelnen. Es dauerte nur Sekunden, dann fühlte Krommer die diebsgewohnten Fäuste an seinem Körper.

„Du brauchst nie wieder Geld – gib es her!“

„Und die Uhr! Die Uhr!“

„Er hat also eine? – Oho, die muss mir gehören!“

„Oder mir! Das findet sich erst.“

In jede Tasche des unglücklichen Mannes fuhr eine Männerfaust. Man hielt ihm die Arme, man bog ihm den Kopf hintenüber und klemmte seine Knie wie in einen Schraubstock; er konnte kaum atmen, so eng war er überwältigt. Das Geld, die Uhr, Taschenmesser und Pfeife, selbst Taschentuch und Halsbinde, alles flog davon, und dann, als man ihm nichts mehr nehmen konnte, fiel der gänzlich Ausgeplünderte in einen Winkel, während die Verbrecher sich im Knäuel am Boden wälzten und einer dem anderen die gemachte Beute zu entreißen suchte.

Nur Zischlaute wurden gehört, Flüche und abgerissene Worte, dann hie und da ein halbunterdrückter Wehlaut. Krommer fühlte eine Art von Betäubung über alle seine Sinne hereinbrechen, er tastete in den leeren Taschen herum und fragte sich vergeblich, ob das ihm gestohlene Geld wirklich auf immer dahin sei, dann rasselten ganz unerwartet draußen die Schlösser und Riegel, das große eiserne Tor sprang auf, und mit der Laterne in der Hand erschien ein Gefängniswärter, dessen rechte Hand eine starke Lederpeitsche durch die Luft pfeifen ließ.

„Halunken!“, schrie der kleine breitschultrige Mann mit dem Branntweingesicht. „Halunken, wollt ihr auseinander!“

Und dann fiel das Züchtigungsinstrument klatschend auf den Rücken des Nächststehenden, auf Köpfe, Arme und Schultern, gerade in bleiche, erbitterte Gesichter hinein, auf trotzig geballte Fäuste.

Überall Schreien, Wehklagen, Flüche, überall Drohungen, die dem Deutschen das Blut in den Adern erstarren ließen. Es widersetzte sich keiner der wild durcheinander flüchtenden Gefangenen dem prügelnden Aufseher, sie beugten sich vor der Peitsche, sie schützten mit erhobenen Armen ihre Gesichter, aber es fiel nirgends ein Hieb, es wagte keine Hand, das Marterinstrument im Schwunge aufzuhalten.

Nur einer sonderte sich aus der Mitte der Übrigen, nicht in der Weise eines Angreifers, sondern unmerklich, ganz langsam, aber sicher – der Wolf. Er lächelte und hielt die Arme verschränkt, als wisse er, dass ihn kein Hieb treffen werde, er klappte mit den spitzen, weißen, im Lampenschein glänzenden Zähnen.

Ein Blick des wildesten Hasses brach aus den Augen des Aufsehers. Die Männer standen einander sekundenlang gegenüber, lauernd und heimlich bebend wie der Jäger und das Wild, die sich auf Tod und Leben bekämpfen – dann sank die Peitsche herab, und der Beamte machte kehrt, begleitet vom Zischen und Heulen seiner Opfer.

Hundertmal hatte er die Handschlinge angelegt, immer in der Hoffnung, ein gefürchtetes Züchtigungsmittel zu erlangen, und eben so häufig hatte sein Widersacher diesen Plan vereitelt. Er hasste ihn, er hätte ihn kaltblütig erdrosseln können.

Im Gehen wandte er sich nochmals um und sah zu dem anderen zurück, dann, als sich ihre beiderseitigen Blicke trafen, fuhr er mit dem Zeigefinger um seinen Hals herum. „Du wirst gehängt!“, hieß diese Geste.

Der Wolf fletschte die Zähne, aber er sprach kein Wort.

Dann fiel ein letzter Schimmer der verschwindenden Laterne in das wüste Chaos zurück. Krommer fühlte unter seinen Füßen etwas Feuchtes, Klebriges – als er mechanisch hingriff, fielen von der bebenden Hand einzelne Tropfen herab – Blut –, warmes, rotes Menschenblut.

Das war zu viel. Seit Stunden hatte ein schreckensvoller Eindruck den anderen verdrängt, die Nerven des erschütterten Mannes hielten es nicht länger aus, er sank ohnmächtig zu Boden, während die Tür donnernd ins Schloss fiel und tiefe Finsternis den Ort des Schreckens undurchdringlich umhüllte.

Indes sich alle diese Vorgänge zutrugen, wartete Anton vergeblich auf die Rückkehr seines Vaters. Zuerst öffnete er in der Bodenkammer ein Fenster und sah hinüber zu den Fackeln des Puppentheaters, das ihn so außerordentlich interessierte. Wenn auch sein Blick von allen den Herrlichkeiten dieses Ortes nichts entdecken konnte, so schwelgte er doch in der Hoffnung, morgen hingehen und das Schauspiel ansehen zu dürfen. Da war der Teufel und der Erzengel, ein Kaminfeger und ein Mühlknappe, endlich ein Kater von übernatürlicher Größe. Wie sehr sehnte sich Antons Herz, das Wunder von Angesicht zu Angesicht zu sehen.

Der Wind wehte kalt über den Themsestrom, das Brausen und Brummen der Tausende verschiedener Stimmen klang dumpf und gleichförmig zu dem einsamen Knaben herauf, es machte ihn müde und ließ Leib und Seele zusammenschauern, in einem Frösteln, das den Mut lähmte, indem es die Tätigkeit der Nerven herabdrückte. Wo blieb doch nur der Vater?

Schon elf Uhr! Er musste nun in jedem Augenblick kommen.

Unten im Schenkzimmer sangen die Matrosen, eine Hand spielte in schrecklichen Tönen die Harfe, ein Hund heulte, und wüstes Lachen klang dazwischen. Einmal entstand eine Rauferei, geballte Fäuste schlugen auf die Tischplatte, Stühle und Gläser wurden auf den Fußboden geworfen, das ganze Haus erdröhnte von der Wucht der Hiebe, die da einer dem anderen versetzte.

Anton seufzte heimlich. Zwei verschiedene Welten. Zwei verschiedene Welten, diese hier und jene andere in der fernen Heimat am Kellersee, wo die deutschen Buchenwälder rauschten und wo einfache friedliche Menschen lebten, Leute, denen Szenen wie die gegenwärtige, etwas Unbekanntes waren.

Er setzte sich auf den Bettrand und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Jetzt dachte er nicht mehr an das Puppentheater und den tanzenden Bär; die Einsamkeit hatte ihre schädliche Wirkung auf ihn ausgeübt – er grübelte.

Alle seine Gedanken flogen über das Weltmeer. Wie mochte es aussehen in dem unbekannten Amerika, welche Zukunft erwartete wohl ihn und den Vater?

Wieder verrann eine Stunde; die dumpfen Schläge der Kirchenuhren verkündeten Mitternacht. Anton ließ den Kopf auf das Kissen zurücksinken – es schadete ja nicht, wenn er wirklich, ehe der Vater kam, einen Augenblick schlief.

Schon nach Minuten hatte ihn der Traum in seine leichten buntfarbigen Schleier gehüllt. Er wanderte durch das heimatliche Dorf, es sah die Gespielen der glücklichen Kindheit, sah das Elternhaus und die Mutter, die lang entbehrte. Sie streichelte ihm das Gesicht, sie küsste ihn und nannte ihn ihren einzigen Liebling wie ehedem, als er noch ein kleiner Knabe war.

Aber auch einzelne Strahlen von den Erlebnissen der Gegenwart mischten sich hinein in den beglückenden Traum. Da war das Puppentheater – ob wohl die Dorfjungen dergleichen jemals gesehen hatten? Er wollte ihnen alle diese Herrlichkeiten zeigen, wenn nur erst sein Vater zurückgekehrt war. Der hatte vorhin von der teuren Wirtshausrechnung gesprochen, hatte geseufzt und sich gefragt, woher er denn die Mittel zum ehrlichen Bezahlen nehmen solle.

Anton murmelte im Schlafe und warf den Kopf von einer Seite zur anderen. Ja, wie lange waren sie denn schon in der fremden Stadt, er und sein Vater? Wochenlang? Vielleicht Monate?

Er fühlte, dass Hitze und Kälte in seinen Adern wechselten. Solch eine ungeheure Rechnung! Hunderte, Tausende – dass Gott sich erbarme! So viel Geld war in dem Lederbeutel, den der Vater bei sich trug, noch nie gewesen.

Dann hörte er wieder den Lärm in der Schenkstube. Er wollte sprechen und erwachte von dem Klange seiner eigenen Stimme.

Vollkommene Stille herrschte im Hause; tiefes undurchdringliches Dunkel erfüllte die Dachkammer.

Antons Herz schlug schneller. „Vater!“, rief er mit leiser Stimme.

Keine Antwort. Es regte sich nichts.

Der Knabe sprang auf und ging tastend bis zu dem Bette des Alten. Seine Hand fuhr eilig suchend über die Kissen. Nichts. Nichts.

Nun wurde das anfängliche Erschrecken zum Entsetzen. Anton fühlte mit allen Sinnen, dass ihn nicht mehr eine schöne Abendstunde umgab, sondern dass die Hälfte der Nacht bereits verstrichen sein müsse. Jene tiefe Stille, jenes Ruhen aller Lebenstöne kennt in den Großstädten nur der herannahende Morgen.

Anton rang im Dunkel die Hände, er schluchzte fast. „Gott o Gott!“, flüsterte er. „Was ist geschehen?“

Und dann horchte er. Kein Laut ließ sich spüren.

Wenn nur die Öllampe noch gebrannt hätte! Dies Dunkel in der totenstillen Umgebung war entsetzlich, es ließ das Gehirn erglühen und Funken vor den Augen erscheinen.

Kurzentschlossen tastete sich Anton zur Tür und drei Treppen hinab. Aus dem Erdgeschoss erglänzte ein schwacher Lichtschimmer, der ihm als Wegweiser diente; man scheuerte die unteren Räume des Hauses, man wusch Gläser und stellte Stühle und Tische an ihren Ort.

Anton sah den Wirt, einen Deutschen mit ehrlichem Gesicht und eben solchem Herzen. Der Mann ließ die Flasche, welche er spülte, sinken und schüttelte mit fragendem Blick auf seinen jungen Gast ziemlich erstaunt den Kopf. „Nun“, sagte er, „was ist denn dir begegnet, Bursche?“

Anton suchte sich möglichst zu beherrschen. „Wo mag mein Vater geblieben sein, Herr Romann? – Er ist doch nicht im Schenkzimmer?“

Die Wirtin und das Dienstmädchen sahen einander an, beide hielten mit ihrer Arbeit inne; es entstand jenes peinliche Schweigen, das den bösen Enthüllungen vorauszugehen pflegt.

„Das weiß der Himmel!“, sagte endlich der Wirt. „Solch ein ordentlicher, gesetzter Mann – wie kann denn der bis zum Morgen ausbleiben?“

Anton hörte nur bestätigen, was er schon gewusst hatte. Wenn sich sein Vater im Hause befand, so suchte er gewiss das eigene Zimmer, nicht den wüsten Raum, in dem Betrunkene tobten. Aber wo konnte er sein?

Unbeschreibliche Angst erfüllte das Herz des Knaben. Er dachte an Verbrecher, die nachts den Wanderern auflauern, an Unglücksfälle aller Art. Wie ein Alb lastete die Stille ringsumher auf seinem Gehirn.

„Die Haustür ist doch offen?“, fragte er endlich. „Mein Vater muss hereinkommen können!“

„Es hat niemand angeklopft, junger Herr! Ich würde es unter allen Umständen gehört haben.“

Anton wandte sich ab, er war wie gelähmt. „Darf ich im Schenkzimmer auf ihn warten?“, fragte er mit halberstickter Stimme.

„Das kannst du immerhin, aber nimm nicht die Läden weg, rüttle auch nicht an den Eisenstangen – es könnte von draußen bemerkt werden.“

„Und dann hätte man Einbrecher zu fürchten?“

„Natürlich. Gegen die Sorte schützen nur unzerbrechliche Riegel.“

„Da in die Ecke setze dich“, fuhr er dann fort, „ich will dir einen Tropfen von etwas Wärmendem einschenken, mein Junge. Halte den Kopf oben; man muss nicht gleich alles verloren geben. Vielleicht sitzen der Alte und sein Verwandter noch beieinander, um über dies oder das zu sprechen.“

Anton schüttelte traurig den Kopf. „Daran ist gar nicht zu denken, Herr Romann. Mein Vater würde mich nie freiwillig in solche Unruhe stürzen.“

Der Wirt seufzte. „Ich muss nun notwendig ein paar Stunden schlafen“, erklärte er. „Das geht nicht anders. „Du wirst doch unter keiner Bedingung die Haustür öffnen, mein Junge?“

„Nur, wenn mein Vater klopfen sollte!“

„Ja! Ja! Ich weiß schon.“

Bei sich dachte der ehrliche Mann: ‚Das hat gute Weile!‘, aber er sprach wenigstens die trostlosen Worte nicht aus, sondern ging davon, um den Jungen in unbeschreiblicher Stimmung zurückzulassen. Sein Vater war tot, er glaubte es ganz fest, war auf der Straße ermordet worden.

Was sollte nun zunächst geschehen? Wohin musste er sich wenden, um hier Gewissheit zu erlangen.

Und bis ins Innerste erschüttert, weinte er wie ein Kind.

Der verzweifelte Sohn. Im Palais des Lords. Schmerzliche Eröffnung. Gekränkter Stolz und der Mut ehrlicher Überzeugung. Getäuschte Hoffnungen. Der Holländer. Vermeintliches Glück. In der Werkstatt der Falschmünzer

Stunde nach Stunde verrann. Draußen dämmerte, in wallende graue Nebelschleier gehüllt, der junge Morgen, und mit ihm erhoben sich jene vereinzelten Geräusche, die das Wiederbeginnen menschlicher Tätigkeit zu verkünden pflegen.

Das abgetriebene Ross des Gassenkehrers zog den Wagen am Hause vorüber, der Lumpensammler schlich hinterher, um mit dem eisenbeschlagenen Stocke die Rinnsteine zu durchforschen und gelegentlich in wüster Schlägerei das Werkzeug als Waffe gegen seinesgleichen zu benutzen. Dann folgte der Bauer, dessen Karren Milch zur Stadt brachte, der Brothändler und endlich der Gemüseverkäufer. Es war sechs Uhr morgens geworden, London erwachte, die Straßen füllten sich mit Menschen, das Leben des gestrigen Tages fand seine Fortsetzung im rastlosen, vorwärts drängenden Heute.

Der Wirt kam in die Schenkstube und sah den bleichen Knaben unbeweglich in seiner Ecke sitzen. Anton hatte das Glas mit dem Wein unberührt stehen lassen, er blickte auch jetzt kaum auf, sondern schien nur immer zu horchen, ob nicht eine Hand draußen an die Tür klopfe – ob nicht wenigstens jetzt, nun doch die Nacht vorüber war, sein Vater endlich Einlass begehren werde.

So hatte er während aller der Stunden dagesessen, so hatte sich seine erschreckte Seele zermartert in dem einen Gedanken: Wird mein Vater wiederkommen?

Eine naive kindliche Vorstellung ging durch sein Bewusstsein, ein Gedanke, mehr angepasst den Verhältnissen der dörflichen holsteinischen Heimat als denen der Großstadt, in welcher er sich befand. Wenn irgendein Unglück oder ein Verbrechen geschehen war – mussten dann nicht Leute kommen, die davon erzählten, musste sich nicht der allgemeine Unwille in Worte kleiden?

Armer Anton! Er sollte aus seinen knabenhaften Ideen von den Menschen jählings erweckt werden.

Herr Romann, der Wirt, schüttelte für sich den Kopf. „Sieh mich einmal an, mein Junge“, sagte er. „So wie sie jetzt ist, kann die Geschichte nicht bleiben, das musst du zugeben.“

Anton erstickte einen Seufzer. „Wie meinen Sie das, Herr Romann?“, fragte er halblaut.

„Hm! Du solltest, denke ich, deinen Verwandten aufsuchen, Junge. Das Palais Crawford zeigt dir jedes Kind.“

„Ich weiß, wo es steht, aber – kann ich denn von hier fortgehen? Wenn mein Vater unterdes käme?“

„Nun, dann wäre ja alles gut, nicht wahr?“

Anton hob mit Anstrengung die bleischweren Augenlider, sein Blick zeigte die Todesangst, welche er empfand. „Glauben Sie wirklich, dass wir meinen Vater jemals wiedersehen, Herr Romann?“

„Hm! Das kann ja kein Mensch wissen, mein guter Junge. Über dergleichen Dinge gibt es gar keine Meinung.“

Anton stand auf, er taumelte fast. „Ich will hingehen, Herr Romann! Aber eins müssen Sie mir versprechen. Wenn mein Vater zurückkommen sollte, dann lassen Sie ihn ohne mich nicht wieder fort! Sagen Sie ihm, dass ich –“

Die Worte blieben ihm in der Kehle stecken, er sah nur stumm vor sich hin, und auch der Wirt hatte Mühe, dieser Verzweiflung gegenüber seinen gewohnten Gleichmut zu bewahren. „Es ist ja gut“, sagte er nach einer Pause. „Wenn der Mann kommt, so werde ich ihn festhalten, und wäre es mit Gewalt. So, Bursche, jetzt setze dich hierher – meine Frau bringt gleich den heißen Kaffee.“

Aber Anton schüttelte den Kopf. „Ich kann nichts genießen. Nein, nein, danke sehr – es ist mir unmöglich.“

Er ging, ohne ein weiteres Wort hinzuzufügen, in seine Bodenkammer, um sich zu waschen und den guten Rock anzuziehen. Da stand des Vaters Bett, da lag dieser oder jener Gebrauchsgegenstand, den er täglich zur Hand nahm – Anton hatte das Gefühl, als werde ihm das Herz zerrissen.

Er horchte auch jetzt noch, obwohl nun unten die Haustür geöffnet war und beständig Leute ab- und zugingen. Wie schrecklich quälend empfand er die Furcht vor dem Schlage, der in jedem Augenblick fallen konnte, dessen Wesen aber gegenwärtig die dunkle Wolke noch verhüllte.

Ganz langsam begab er sich hinaus auf die dämmernde Straße, er zögerte immer noch, als sei es so vollständig unmöglich, sich von dieser Stätte, der einzigen, welche doch eine Art von Heimat für ihn bildete, freiwillig zu trennen und hinauszugehen in die unbekannte Weite.

Seine Blicke durchdrangen den Nebel. Musste nicht der Vater endlich, endlich zurückkehren, musste er nicht erkennen, dass sein Sohn ohne ihn verloren war?

Es rann eiskalt durch alle Adern des jungen Menschen. Da stand, mit rohen grauen Brettern rings verschlossen, die Bude, in welcher sich das Puppentheater befand – Antons Blick wandte sich voll Grauen. Wie öde, wie verächtlich erschien ihm heute das Gaukelspiel, auf dessen Anblick er sich noch am Abend vorher so lebhaft gefreut hatte.

Und nun machte er schnellere Schritte, ja, er lief beinahe. Einmal nicht mehr in dem Hause, das ihn zeitweilig beherbergte – einmal draußen in der Fremde, hielt ihn nichts mehr zurück, so rasch wie nur möglich seinem Ziele entgegenzueilen. Er fühlte, dass es seine Kräfte überstieg, länger die Qualen der Ungewissheit zu ertragen.

Jetzt war es vollständig Tag geworden, die Menge flutete in allen Straßen, das unentwirrbare Getöse der Großstadt schwirrte überall. Anton hatte den Weg, der eine volle Stunde beanspruchte, in fünfundvierzig Minuten gemacht, er klopfte jetzt mit bebender Hand an die Seitenpforte des Palais Crawford, und als ihm geöffnet wurde, sah er mit seinem blassen überraschten Gesicht dem Portier unruhig entgegen.

„Ist der Diener Thomas Schwarz zu Hause? Ich möchte ihn sprechen.“

Der Portier wandte den Kopf. „Wieder ein Deutscher!“, rief er einem anderen, auf dem Hofe arbeitenden Manne zu. „Gehört vielleicht auch zu der Diebsgenossenschaft! – Ob man ihn festhält?“

„Lass ihn eintreten und schließe die Pforte, dann kann man seine Lordschaft fragen. Ich wenigstens will in dieser Angelegenheit keine Verantwortung übernehmen.“

„Ich wahrhaftig auch nicht.“

Der Portier zog, während er das sagte, den Schlüssel aus dem Schloss und versenkte ihn in seiner Tasche, dann deutete er auf eine in der Nähe stehende Bank und sprach einige Worte, die wohl eine Einladung zum Sitzen enthielten – Anton verstand sie natürlich nicht.

Der zweite Diener war fortgelaufen, mehrere andere dagegen versammelten sich zur Gruppe, deren Mittelpunkt Anton und der Portier bildeten. Dieser Letztere stand so, dass er in jedem Augenblick den Arm des Knaben ergreifen und ihn an einer etwa beabsichtigten Flucht verhindern konnte.

‚Eine sonderbare Haltung beobachten diese Leute‘, dachte Anton. ‚Aber Gott sei Dank, Thomas muss doch zu Hause sein, sonst würde ja niemand hingehen, um ihn herzuholen.‘

Seine Unruhe hatte jetzt den höchsten Grad erreicht. Dass er auch den Vetter nicht kannte! Es wurde dadurch alles schwerer.

Nach einigen Minuten kam der Diener zurück und winkte dem Knaben, ihm zu folgen. „Seine Lordschaft will ihn sehen!“, rief er den Übrigen zu.

„Ist aber der Junge ein Esel!“, rief einer.

„Pst! Vielleicht versteht er uns.“

„Jedenfalls will er spionieren!“

Neugierige Blicke begleiteten den schlanken Knaben, als er jetzt ruhigen Schrittes über den Hof ging. Der steckte doch wahrhaftig ohne alle Ursache seinen Kopf in den Löwenrachen.

Anton begriff nicht so recht, weshalb man ihn führte, anstatt den Vetter herbeizurufen, er folgte seinem Begleiter durch das mit allem erdenklichen Luxus ausgestattete Palais bis in ein Zimmer, wo ihn zwei Herren erwarteten, der Lord und jener junger Verwandte, welcher der deutschen Sprache mächtig war. Verwirrt sah der unerfahrene Junge von einem zum anderen. Dahinter steckte doch kein Diener, so viel erkannte er auf den ersten, hastig prüfenden Blick.

„Komm einmal hierher, Bursche!“, befahl der Schwager des Lords. „Sage uns, wer du bist und was dich in dies Haus führt.“

Anton hielt die Mütze zwischen den eiskalten Fingern, er hob furchtlos das Auge zu dem Fragenden und gab kurzen Bescheid. „Wohin ist mein Vater gegangen?“, setzte er dann im stehenden Tone hinzu. „O, ich bitte Sie, liebe Herren, sagen Sie es mir – ich ängstige mich seinetwegen schon seit gestern Abend so unbeschreiblich.“

Die beiden Engländer sprachen einen Augenblick miteinander, dann erfuhr Anton in wenigen kurzen und kalten Worten, was geschehen war. „Dein Vater ist ein Dieb“, schloss der Schwager des Lords, „oder doch wenigstens ein Diebsgenosse. Er sitzt im Gefängnis und erwartet sein Urteil.“

Die schrecklichen Worte waren kaum gesprochen, als auch schon der junge Engländer es bereute, sie so schonungslos geäußert zu haben, er fürchtete, dass Anton auf der Stelle umsinken werde.

Die Augen des armen Knaben waren starr, seine Farbe aschfahl, die Brust rang im Übermaß des Schmerzes keuchend nach Atem. Minuten vergingen, ehe er sprechen konnte, dann fielen die Worte einzeln, kaum verständlich von seinen bebenden Lippen.

„Mein – Vater – ein Dieb!“

„Es ist so, Bursche, aber da du offenbar von der schimpflichen Geschichte nichts weißt, so will seine Lordschaft dir gegenüber großmütig handeln und dich, wenn du ohne Mittel dastehen solltest, in den Dienst –“

Weiter kam er nicht. Anton hatte zornsprühend die geballte Faust erhoben, als wolle er den vor ihm Stehenden zu Boden schlagen. „Ich sollte in den Dienst des Lords treten? – Ich? Der Sohn des beleidigten, zur Verzweiflung getriebenen Mannes? Nimmermehr, lieber will ich als Lastträger arbeiten!“

Der Herr zuckte die Achseln. „Versuche es“, sagte er sehr ruhig. „Probiere aus, was in London die leere Hand eines sechzehnjährigen Knaben wert ist.“

„Das will ich“, versetzte trotzig der Junge. „Hierher führt mich mein Weg niemals wieder. Nur eins noch: Wo ist mein Verwandter? Kann ich Thomas Schwarz einen Augenblick sehen?“

Der Herr verneinte. „Einen Mann dieses Namens kennt hier niemand, wohl aber gab es im Hause bisher einen Diener, der sich Bill nannte – Bill Roberts –, es scheint derselbe zu sein, den du meinst, er hat sich indessen nach der Entdeckung des Diebstahls sogleich geflüchtet.“

„O Himmel! – Und man weiß nichts von ihm?“

„Durchaus nichts!“

Anton neigte mit kurzem Gruße den Kopf. „Dann habe ich in diesem Hause keine Zwecke mehr zu erfüllen“, versetzte er. „Adieu!“

„Adieu, Bursche! Und wenn es dir früher oder später an Brot fehlen sollte, so darfst du immerhin bei Seiner Lordschaft wieder anklopfen.“

Antons erhobene Hand schien den Worten wehren zu sollen. „Niemals – und müsste ich am Wegesrande verhungern.“

„Das kann dir, wenn dein Eigensinn stärker ist als alle Vernunft, sehr wohl geschehen, mein lieber Junge.“

„Gut! Gut! Das muss ich allein verantworten.“

Und voll eines Grames, einer Verzweiflung, die ihm das Herz zerrissen, voll bitteren Grolles, machte sich der Junge auf den Heimweg. Was aus ihm selbst werden würde, das kümmerte ihn sehr wenig, aber sein Vater, sein unglücklicher Vater – er hätte laut aufschreien können vor innerer Qual.

Der Wirt entsetzte sich, als er Antons Erzählung angehört hatte. „Auf Diebstahl entdeckt? Und das bei einem so hohen Herrn wie Lord Crawford? Du lieber Himmel, das ist ein Unglück.“

Er stand mit gefalteten Händen vor dem Knaben und sah ihn traurig an. „Der Alte ist unschuldig“, sagte er nach einer Pause, „er hat sich von dem entflohenen Schurken in die Falle locken lassen und muss nun für ihn büßen. Aber stehlen wollte er nicht, darauf gäbe ich wohl meinen Kopf zum Pfande.“

Anton reichte ihm gerührt die Hand. „Ich danke Ihnen, Herr Romann. Wahrhaftig, Sie sind der Einzige, welcher meinem armen Vater Gerechtigkeit widerfahren lässt. Er ist unschuldig, so gewiss ein Gott im Himmel lebt, der den schmachvollen Betrug zerreißen und die Ehre des schwer beleidigten Mannes retten wird!“

„Möchte es so geschehen“, nickte der Wirt. „Das ist eine böse Geschichte.“

„Ich baue fest auf Gott!“, rief Anton. „Er kann nicht, wird nicht den Schuldlosen untergehen lassen!“

„Und nun eine andere Frage“, setzte er dann kurz entschlossen hinzu. „Ich muss natürlich bis zur Entscheidung der Sache hier in London bleiben und muss mein Brot verdienen, um zu leben. Können Sie mich in Ihre Dienste nehmen, Herr Romann? Ich begnüge mich mit trockenem Brote und einem Strohlager, ich will auch die niedrigsten Arbeiten mit Vergnügen ausführen.“

Der ehrliche Mann seufzte tief; man sah, dass er mit der eigenen Überzeugung lebhaft kämpfte. „Ich kann es nicht, mein bester Junge“, sagte er endlich, „ich kann es bei Gott nicht. In dieser ganzen Straße findest du nur Wirtshäuser, hinter jeder Tür wird Gin und Grog verkauft; die Konkurrenz mit den Engländern ist uns Deutschen beinahe unmöglich, sodass man den Himmel dankt, wenn nur täglich die Kinder satt geworden sind. Ich habe ihrer acht, wie du weißt.“

Anton nickte. „So will ich nur gleich fortgehen, um mit anderweitig Arbeit zu verschaffen“, sagte er. „Man braucht am Hafen immer Leute genug und muss ja auch gerade jetzt Schneeschaufler anstellen. Wenn ich nun irgendeinen Posten gefunden habe, nehme ich meine Wohnung, bis der Vater freigesprochen ist, hier bei Ihnen, Herr Romann!“

„Schön! Schön!“, sagte eifrig der Wirt. „Gott gebe, dass alles nach Wunsch ausfallen möge, mein guter Junge.“

Dann aber, nachdem Anton fortgegangen war, wandte er sich kopfschüttelnd an seine Frau. „Ach, Mutter, wenn wir doch den armen Jungen hier behalten und für ihn sorgen könnten!“, seufzte er aus Herzensgrund. „Was wird aus ihm? – Er glaubt, dass man in der Welt nur die Hand auszustrecken braucht und auch schon Arbeit in Hülle und Fülle vorfindet.“

Die Frau fuhr mit dem Schürzenzipfel über das abgehärmte Gesicht. „Wir können ihn nicht umsonst ernähren, Alter, es ist ganz unmöglich. Du lieber Gott, unsere eigenen Kinder werden nur notdürftig satt!“

„Ich weiß es ja, Mutter! Es tut einem nur immer wieder so leid, dass der Geldbeutel ungestraft dem Herzen Gesetze geben darf.“