Ein Wintertraum in London - Joanna Bolouri - E-Book
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Ein Wintertraum in London E-Book

Joanna Bolouri

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Beschreibung

Ein Weihnachtsmann zum Verlieben

Kurz vor den Feiertagen steht Anwalt Nick plötzlich ohne Job und ohne Freundin da. Während sich alle auf das Fest freuen, schlägt er sich als Weihnachtsmann verkleidet in einem Londoner Einkaufszentrum durch. Hier trifft er den 4-jährigen Alfie, der nur einen Wunsch hat: Seine Mutter Sarah soll endlich wieder glücklich sein. Also arrangiert Nick ein Date für sie mit seinem besten Freund. Die beiden verstehen sich gut. Doch je näher das Fest rückt, desto mehr spürt Nick, dass sein Herz für Sarah schlägt. Wird er Alfie seinen Weihnachtswunsch erfüllen können und dabei auch sein eigenes Glück finden, oder ist es dafür schon zu spät?

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Das Buch

Kurz vor den Feiertagen steht Anwalt Nick plötzlich ohne Job und ohne Freundin da. Während sich alle auf das Fest freuen, schlägt er sich als Weihnachtsmann verkleidet in einem Londoner Einkaufszentrum durch. Hier trifft er den vierjährigen Alfie, der nur einen Wunsch hat: Seine Mutter Sarah soll endlich wieder glücklich sein. Also arrangiert Nick ein Date für sie mit seinem besten Freund. Die beiden verstehen sich gut. Doch je näher das Fest rückt, desto mehr spürt Nick, dass sein Herz für Sarah schlägt. Wird er Alfie seinen Weihnachtswunsch erfüllen können und dabei auch sein eigenes Glück finden, oder ist es dafür schon zu spät?

Die Autorin

Nachdem Joanna Bolouri mit dreißig Jahren einen Schreibwettbewerb der BBC gewonnen hatte, begann sie, Drehbücher zu schreiben, und arbeitete mit Comedians und Schauspielern zusammen. Sie hat mehrere Romane veröffentlicht, und Artikel von ihr sind u.a. in der Huffington Post und der schottischen Sun erschienen. Mit ihrer Tochter lebt sie in Glasgow. Ein Wintertraum in London ist ihr erster Roman bei Heyne.

Joanna Bolouri

EinWinterTrauminLondon

Roman

Aus dem Englischen von Jens Plassmann

wilhelm Heyne Verlag

München

Die Originalausgabe All I Want for Christmas erschien erstmals 2020 bei Quercus, London.

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Deutsche Erstausgabe 09/2022

Copyright © 2020 by Joanna Bolouri

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Evelyn Ziegler

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München,

unter Verwendung von © Getty Images (shomos uddin); FinePic®

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-27287-6V001

www.heyne.de

Für meine wunderbare Familie

Prolog

»Da hat sich bereits eine riesige Schlange bei Ihnen gebildet, Nick. Das muss schneller gehen. Ungeduldige Kinder werden sofort laut. Und ich bezahle Sie schließlich nicht fürs Zurechtmachen. Also los!«

Mein erster Arbeitstag im Southview Shopping Centre, und schon hege ich eine solide Abneigung gegen meine Chefin Geraldine, die gerade mit mürrischer Miene in den Personalraum schielt und die in der Lage zu sein scheint, allein mit ihrer Aufgeblasenheit die Tür aufzuwerfen. Geraldine kann nicht älter als vierzig sein, hat jedoch bereits diesen toten Blick einer Frau, die seit Jahrhunderten dazu verdammt ist, stets als dieselbe Abteilungsleiterin im Einzelhandel wiedergeboren zu werden. Je länger sie dort steht, desto lauter wird in meinem Ohr das ferne Stimmengewirr aus dem Einkaufszentrum, das an ihr vorbeikriecht und den bis dahin so stillen Rückzugsraum mehr und mehr erfüllt. Klingt tatsächlich, als sei so viel los, wie Geraldine behauptet.

»Bin gleich da!«, antworte ich betont fröhlich, obwohl ich in Wahrheit eine süße Erlösung durch den Sensenmann in diesem Moment nur allzu freudig begrüßt hätte.

Alles, nur nicht das.

Geraldine starrt mich noch eine Weile finster an, bevor sie sich langsam abwendet. Das Klackern ihrer Stöckelschuhe wird schwächer und schwächer, dann ist sie durch die Schwingtüren am Flurende verschwunden.

Während ich in meine übergroßen schwarzen Stiefel schlüpfe und den Gürtel festschnalle, spüre ich, wie mir eine winzige Schweißperle gemächlich über die Schläfe läuft und in meinem Bart verschwindet. Herrgott, ist das heiß. Warum müssen Einkaufszentren den Temperaturregler bloß immer auf »Sahara« stellen? Bis heute Nachmittag um fünf werde ich mich in eine einzige große Pfütze verwandelt haben, sofern ich nicht vorher bereits an Schmach und Erniedrigung gestorben bin.

Ich wische mir mit dem Ärmel über die Stirn, rücke die Mütze zurecht und betrachte mich ein letztes Mal im Spiegel. Ich erkenne mich selbst kaum wieder, was vermutlich auch so sein soll und wofür ich definitiv dankbar bin. Erkannt zu werden wäre etwas, was mein derzeit höchst fragiles Selbstbewusstsein nicht ertragen könnte. Mit einem lauten Seufzer streiche ich die Jacke über meinem gewaltigen Kugelbauch glatt.

Herzlich willkommen am absoluten Tiefpunkt deines Lebens, du Loser. Sei bloß froh, dass Weihnachten nur einmal im Jahr ist.

Ich hole tief Luft und trotte widerwillig hinaus und auf die beiden Schwingtüren zu, durch die nur wenige Minuten zuvor die bocksfüßige Geraldine verschwunden ist. Ein Schritt auf die strahlend hell erleuchtete Einkaufsfläche, und schon hält gefühlt halb London inne, um mich anzustarren. Ich kann nicht fassen, dass ich mich darauf eingelassen habe. Prompt laufen meine Wangen knallrot an, womit meine Verwandlung perfekt wäre.

»MAMI! SCHAUNUR! DAISTSANTA! DAISTDERWEIHNACHTSMANN!«

Verfluchte Scheiße! Schon geht’s los.

1

Vier Wochen früher

»Ach, komm! Willst du mich verarschen! Das kann doch unmöglich stimmen!«

Ich fixiere das Display meines Handys so scharf ich kann, in der Hoffnung, dass die Zahlen meines Kontostands sich gleich auf magische Weise zu einem Betrag umarrangieren, der meine akute Schluckblockade wieder aufhebt. Rasch klicke ich die letzten Umsätze an, um nachzuprüfen, ob ich vielleicht Opfer eines Identitätsdiebstahls geworden bin und irgendein Fremder dafür verantwortlich ist, dass ich nahezu restlos pleite bin.

Ein kurzer Scroll durch meine Einkäufe sorgt dafür, dass der Kloß in meinem Hals bis tief in meine Magengrube stürzt. Kein Zweifel. Das bin ich alles selbst gewesen: Die Läden stimmen, die Mengen stimmen, die Wochentage stimmen. Ich bin nicht nur bankrott, ich bin spielend leicht zu durchschauen. Keine Ahnung, was von beidem schlimmer ist.

Ich werfe einen Seitenblick in die Ecke unseres Wohnzimmers, wo meine letzte Amazon-Bestellung noch unberührt liegt und mich höhnisch daran erinnert, dass ich dämlich genug bin, online Kettlebells zu ordern, während ich zugleich Monat für Monat den Beitrag für eine ungenutzte Mitgliedschaft im Fitnessstudio überweise. Gott, was bin ich doch für ein Idiot. Ein Idiot mit unverändert dürren Ärmchen. Das Beste wäre, die Dinger einfach zurückzuschicken und wenigstens diese vierzig Pfund zu retten. Zwar bliebe das rettende Ufer auch dann viele Meilen außer Sichtweite, aber immerhin wäre es ein Anfang.

Ich schließe die App, werfe das Handy mit einem gequälten Stöhnen aufs Sofa und beginne in der großen Wohnung, deren Miete ich schon bald nicht mehr bezahlen kann, auf und ab zu laufen.

Alles nur ein kurzer Hänger, versichere ich mir. Du kommst bestimmt demnächst wieder auf die Beine. Ein wenig einschränken vielleicht … Setz dir einfach ein festes Budget!

Budget. Gott, wie ich das Wort hasse! Ja, zugegeben, als jemand, der streng formal betrachtet arbeitslos ist, sollte ich womöglich einen Hauch sparsamer sein, aber Angela ist ganz sicher nicht scharf darauf, sieben Tage die Woche mit einem knauserigen Freund daheim zu hocken. Sie ist eine Frau, die den großen Auftritt liebt. Prompt stand die Sache ja auch auf Messers Schneide, kaum dass sie von meinem Rauswurf erfuhr.

»Aber du wolltest mit mir nach Marbs, Babe«, musste sie mich sofort erinnern, als ob ich nicht bereits heimlich versucht hätte, die Anzahlung zurückzubekommen. Sie wischte sich weiter durch Instagram, ohne auch nur für eine Sekunde den Kopf zu heben, um mich anzusehen. »Was ist mit Marbs?«, bohrte sie nach.

»Ich weiß, Liebling, es ist nur …«

»Was ist mit Marbs, Babe?«, wiederholte sie und sang die Worte jetzt fast. »Ich habe eine nicht-invasive Lipo und eine Keratinkur hinter mir, und das alles hab ich bestimmt nicht gemacht, um in London zu bleiben …«

»Verstehe ich ja, aber Marbella müsste vielleicht ein wenig …«

»WAS. IST. MIT. MARBS?«

Schon witzig, wenn man mit einem ehemaligen Reality-TV-Star liiert ist, denn um Realität scheren die sich tatsächlich am wenigsten. Angela ist schön, unabhängig, sexy und der wahrscheinlich am stärksten auf die eigene Karriere fokussierte Mensch, der mir je begegnet ist (und ich habe mal mit einem Typen zusammengearbeitet, der die Geburt seines Sohns verpasst hat, weil ihm ein Abendessen mit einem Klienten wichtiger war).

Ich bin immer schon bereit gewesen, viel Kraft zu investieren, um zu bekommen, was ich will – und Angela bildet in diesem Punkt keine Ausnahme. Dreitausend britische Pfund und eine sonnenverbrannte Brustwarze später hatte ich immer noch eine Freundin und sie zwei Fotos von ihren gebräunten Pobacken in der Sun.

Blauäugig wie ich bin, habe ich niemals damit gerechnet, so lange ohne Anstellung zu bleiben, dass das Geld knapp werden könnte. Aber in den vier Monaten seit meinem Rauswurf bei Kensington Fox LLP habe ich dreiundzwanzig Vorstellungsgespräche absolviert, auf die dreiundzwanzig gleichlautende Absagen folgten.

»Herzlichen Dank für Ihr Interesse. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg für Ihr weiteres berufliches Fortkommen.«

Ich weiß nicht einmal, ob ich irgendein weiteres berufliches Fortkommen habe. Offenkundig schlagen mir die Türen in genau demselben Tempo vor der Nase zu, wie sich die Nachricht von meinem Rauswurf herumspricht. Wie zum Teufel konnte alles bloß so rasant den Bach runtergehen?

Angela meint, ich sähe viel zu gut aus, um lange ohne Job zu bleiben, was natürlich nett von ihr ist, da sie allerdings auch meint, dass es sich bei Ponys um Baby-Pferde handelt, verlasse ich mich einstweilen lieber nicht zu sehr auf ihre Einschätzung.

Ich schüttele mir kurz den Kopf frei und mache mich ganz nutzbringend daran, die alten Pizzakartons und Bierflaschen vom Couchtisch zu räumen. Natürlich stammt all der Müll von mir, da ich hier der Einzige bin, der Domino’s zur Selbstmedikation benutzt. Je prekärer meine finanzielle Lage wird, desto stärker wächst bei mir das Bedürfnis, zu Hause herumzuliegen und mein Selbstmitleid zu pflegen. Mein Mitbewohner und Ex-Kollege Matt tut zwar sein Bestes, mich aufzumuntern, aber selbst mir ist klar, wie schwierig es sein muss, jemanden zu motivieren, der eine Vorliebe für Stella Artois zum Frühstück entwickelt hat.

»Reiß dich zusammen, Nick«, hatte er letzte Woche gefordert. »Du musst wieder auf die Spur kommen. Schließlich ist dir nur ein Fehler unterlaufen …«

»Zwei!«, verbesserte ich sofort. »Es waren zwei.«

Von meinem gemütlichen Platz auf der Couch aus hatte ich Matt, der sich vor dem Flurspiegel die dunkelblonden Haare gelte, genau im Blick, und mir war keineswegs entgangen, wie er bei meiner Antwort die Augen diskret verdrehte. Er stiefelte durchs Wohnzimmer in die Küche und nahm mit seinen klebrigen Fingern das Portemonnaie von der Arbeitsplatte.

»Also gut, dann sind dir eben zwei Fehler unterlaufen, aber …«

»In Wahrheit sogar drei, aber vom dritten hat keiner etwas gemerkt, deshalb zählt der nicht. Bietet eigentlich irgendwer Frühstückskebab an? Gibt’s das überhaupt?«

»Hör mal, Alter«, sagte Matt nach einem Stoßseufzer. »Ich meine doch bloß, dass das jetzt nicht das Ende der Welt ist. Du wirst schon was finden. Ich würde halt nur mit dem morgendlichen Saufen Schluss machen.«

»Streng genommen habe ich gestern Abend mit dem Trinken angefangen, also zählt es noch zum saufenden Abend, äh … abendlichen Saufen. Ach, du weißt schon, was ich meine.«

»Ich will damit ja nur sagen, man schmiert schnell ab …«

»Schmierig sind hier bloß deine Haare, sonst nichts«, brummte ich, aber Matt hörte mir gar nicht zu. Er war viel zu beschäftigt damit, berufstätig zu sein.

»Mm-hmm«, erwiderte er nur auf dem Weg zur Wohnungstür. »Ich bin weg. Dusch mal, Kollege.«

Ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, gar nicht neidisch auf Matt zu sein. Abgesehen von seinem übermäßigen Verbrauch an Haarprodukten ist Matt Buckley ein scharfsinniger Mensch mit einem beruhigenden Kontostand, einem klugen Vermögensplan und wohlhabenden Eltern, die stets für ihn da sind. Am neidischsten aber bin ich darauf, dass Matt noch immer bei Kensington Fox arbeitet. Sosehr mir auch das Geld fehlt, weitaus mehr fehlt mir die Arbeit. Ich habe diesen Job geliebt – die energiegeladene Geschäftigkeit im Büro, die Meetings, die After-Work-Drinks, das Netzwerken, den Zusammenhalt. Jetzt bin ich draußen und verzweifelt darum bemüht, wieder irgendwo dazuzugehören – egal wo –, nur um bei jedem Anlauf aufs Neue krachend zu scheitern.

Meine Ersparnisse habe ich mittlerweile fast komplett verpulvert, ebenso wie den Hunderter, den Matt für Notfälle immer in der Dose auf dem Kühlschrank aufbewahrt. Im Augenblick habe ich eben das Gefühl, dass das gesamte Leben ein Notfall ist. Dabei ist die Erfahrung, pleite zu sein, für mich keineswegs neu. Als Kind einer alleinerziehenden Mutter in einer Hochhaussiedlung in Tottenham aufzuwachsen war schon mal nicht der üppigste Start, bedeutete aber immerhin, dass ich früh lernen musste, mich durchzuschlagen. Ich jobbte neben der Schule, um meine Mutter zu unterstützen, und steckte zwischen Schule und Arbeit jede freie Minute die Nase in die Bücher. Das brachte mir ein Stipendium für die Uni ein, wo ich abends zu meiner Spätschicht in einen rund um die Uhr geöffneten Asda-Supermarkt ging, während sich meine Freunde auf irgendwelchen vom Studentenwerk organisierten Themenabenden oder Schaumpartys die Hucke vollsoffen.

Das meiste Kopfzerbrechen bereitet mir nicht, dass ich gefeuert wurde, weil ich einen heiklen Abgabetermin vermasselt hatte (was nicht allein meine Schuld gewesen war), oder dass ich am Abend desselben Tages die Frau eines wichtigen Kunden versehentlich vollgekotzt hatte, sondern vielmehr wie hart ich dafür schuften musste, an diesen Punkt zu kommen, und wie kurz davor ich gerade stehe, all das zu verlieren.

2

Die ersten drei Wochen eines extrem kalten Oktobers sind vorbei, und in ganz London dürfte es niemanden mehr geben, der keine Kopie meines Lebenslaufs bekommen hat. Selbst Ahmet, der Besitzer des Kebab House, will an mich denken, sollte bei ihm irgendeine Position frei werden. Ich könnte natürlich Auslieferungen machen oder für Uber fahren, aber dafür braucht man wenigstens ein Auto, und mir fehlt selbst für die letzte Rostbeule das Geld.

Wie es aussieht, bin ich für McDonald’s überqualifiziert, wohingegen es mir an den nötigen Fähigkeiten für Debbie’s Hundesalon mangelt, denn »ein Jurastudium hilft dir nicht die Bohne, wenn du einen verängstigten Hund vor dir hast, der sich nicht die Krallen stutzen lassen will, Nick«. Auch wenn ich Debbies Urteil ein wenig zu hart fand, so hat es mir doch vor Augen geführt, wie wenig echte Fähigkeiten ich tatsächlich besitze.

Ja, ich kann Firmenzusammenschlüsse abwickeln und millionenschwere Verträge aushandeln, aber ich habe keine Ahnung davon, eine Kasse zu bedienen, einen Cocktail zu mixen oder einer dieser riesigen brodelnden Maschinen einen trinkbaren Kaffee zu entlocken. Mir gehen langsam die Optionen aus. Hoffentlich wird es heute besser. Lieber Gott, bitte, lass es heute besser werden.

Auf meinem Weg durch Covent Garden beschleunige ich meinen Schritt und ziehe die dünne Jacke fest um den Körper. Mein Ziel ist GL Recruitment, eine Personalvermittlung, die jener Greta Lang gehört, die mir vor fünf Jahren den Laufpass gegeben hat. Drei Monate waren wir zusammen gewesen. Während ich mich in dieser Zeit ständig daran zu erinnern versucht hatte, wie sie ihren Tee am liebsten mochte, war sie zu dem Schluss gekommen, dass die Sache mit uns beiden null Zukunft besaß und sie besser die Finger von mir lassen sollte. Rückblickend betrachtet, lag sie damit nicht ganz falsch. Wahrscheinlich bin ich in der Tat unfähig zu einer dauerhaften Beziehung mit jemandem, der koffeinfreien Kaffee trinkt. Unabhängig davon, dass ich »nicht der Richtige für sie« war, sind wir jedoch gute Freunde geblieben, und bei ihrer Vermittlungsagentur klingele ich nun schon in der Hoffnung, dass sie mich aus diesem tiefen Sumpf der Verzweiflung ziehen kann.

Gretas Büro ist klein, elegant und höchst energiegeladen, was exakt ihrer Person entspricht.

»Nimm doch Platz, Nick«, begrüßt sie mich und wischt rasch einige winzige Baguettekrümel von ihrer Bluse auf den Boden. Offenbar habe ich sie beim Mittagessen erwischt. »Kann ich dir etwas anbieten?«

»Abgesehen von einem Job?«, frage ich zurück, ziehe mir einen Stuhl heran und schüttele den Kopf. »Nee, alles gut.«

Sie lächelt und schiebt sich die Brille auf den Kopf. Ein Brotkrümel, der ihr entgangen ist, hängt nun in ihrem braunen Haar. Früher, zu unseren gemeinsamen Zeiten, war Greta noch blond gewesen, genau wie Angela, aber mir gefällt sie so brünett viel besser. Es bringt ihre grünen Augen besser zur Geltung. Verdammt, ich glaube, mir ist bislang noch nie aufgefallen, dass sie grüne Augen hat. Sie hat mich völlig zu Recht in die Wüste geschickt.

Greta tippt kurz auf ihrem Laptop und räuspert sich dann. Das Geräusch kommt mir bekannt vor. Genau so hat sie auch geklungen, bevor sie mir auf sehr taktvolle Weise mitteilte, dass es aus sei zwischen uns. Es ist das Geräusch, das unmittelbar vor dem Überbringen einer schlechten Nachricht kommt.

»Ich will ganz ehrlich sein, Nick. Es sieht nicht besonders gut aus.«

Hab ich’s doch gewusst!

»Um diese Zeit im Jahr haben wir in den Wirtschaftskanzleien einfach kaum offene Stellen. Derzeit beherrschen Saisonjobs zu Weihnachten den Markt, und die haben sich Studenten meist schon vor Monaten geschnappt. Nach den Feiertagen stehen die Chancen sicherlich besser …«

»Dass ich noch immer arbeitslos bin?«

Eine Freundin in einer Personalvermittlung zu haben bringt natürlich nur etwas, wenn Firmen auch tatsächlich einstellen. Je länger ich arbeitslos bleibe, desto schlechter sieht das in meinem Lebenslauf aus. Gretas mitleidiges Lächeln ist nicht unbedingt das, wonach mir gerade der Sinn steht, aber sie schenkt es mir trotzdem.

»Anwälte werden in der Branche ständig gefeuert und geheuert«, versichert sie mir mit einem Gesichtsausdruck, der ganz anderes vermuten lässt. »Ich finde schon etwas für dich. In der Zwischenzeit musst du deine Ansprüche bloß ein wenig senken.«

»Ich habe überhaupt keine Ansprüche«, entgegne ich. »Hast du gewusst, dass man eine Ausbildung, Praxiserfahrung und ein Portfolio an Nachweisen braucht, um Hunde zu waschen?«

»Was? Ich hätte nie gedacht … Moment mal, du magst doch gar keine Hunde.«

»Schon richtig, aber …«

»Wie kannst du denn mit Kaninchen so?«, unterbricht sie mich und beginnt, in irgendwelchen Unterlagen zu blättern. »Ich hätte da möglicherweise etwas mit Kaninchen …«

»Ich dachte eigentlich eher an einen befristeten Aushilfsjob als Bürokraft«, bremse ich sie. »Datenerfassung vielleicht?«

Mir dreht sich zwar der Magen um bei der Vorstellung, acht Stunden am Tag stupide auf die Tastatur einzuhämmern und Daten abzuspeichern, aber immer noch besser als gar nichts.

»Wenn ich etwas in der Art hätte, würde ich es dir sofort anbieten, Nick«, antwortet Greta. »Es tut mir leid. Ich versuche wirklich mein Bestes, aber inzwischen bin ich so ziemlich alle Optionen durch, die ich habe. Ich habe mir den Einzelhandel angesehen, Callcenter und selbstverständlich auch die Variante Datenerfassung … es ist einfach eine schwierige Zeit im Jahr.«

»Schon klar«, sage ich und massiere mir die Stirn. Kopfschmerzen kündigen sich an. »Im Moment würde ich quasi alles machen.«

»Es wird sich bestimmt irgendwas ergeben«, erklärt sie, klingt dabei aber alles andere als optimistisch. Der Krümel löst sich endlich aus ihrem Haar und fällt auf den Schreibtisch. »Stellenangebote kommen ständig herein.«

Ich nicke und bemühe mich nach Kräften, eine zuversichtliche Miene aufzusetzen, glaube aber nicht, dass sie es mir abnimmt.

»Kopf hoch, Nick«, sagt sie leise. Offenbar möchte sie unserem Treffen unbedingt einen positiven Ausklang geben. »Sehen wir uns morgen Abend auf der Party? Könnte jetzt genau das Richtige für dich sein, meinst du nicht? Einfach mal auf andere Gedanken kommen. Allerdings bin ich mir gar nicht sicher, ob wir eure Zusage bekommen haben …«

»Sicher, darauf freuen wir uns doch schon die ganze Zeit!«, heuchele ich und zwinge meine Mundwinkel zu einem Lächeln. »Die Zusage habe ich Matt gegeben, wahrscheinlich hat er mal wieder vergessen, den Brief einzuwerfen. Du kennst ihn ja!«

Noch eine Lüge. In Wahrheit hatte ich die Party vollkommen vergessen. Die monochrom in Weiß und Silber gehaltene Einladungskarte zur Verlobungsparty liegt in diesem Augenblick auf unserem Couchtisch, wo sie mir als Untersetzer dient.

»Wunderbar, dann sehen wir dich morgen! Und Matt natürlich auch.« Greta strahlt wie jemand, der gerade alle meine Probleme gelöst hat. Sie strahlt allerdings auch wie jemand, der mit einem Geschenk rechnet. Hatten sie eine Geschenkliste angefügt? Wenn ich mir nicht mal anständige Untersetzer leisten kann, wie sollte ich dann an ein Verlobungsgeschenk kommen?

Ich beschließe, mich bei Matts Geschenk einzuklinken, was auch immer er für das glückliche Paar besorgt haben mag, danke Greta für ihre Hilfe und verdrücke mich schnell aus ihrem Büro, wobei ich etwas von meiner Bank murmele, deren Schalterzeiten ich noch erwischen muss. Draußen in der eisigen Luft bleibe ich erst einmal stehen und atme tief durch, um gegen den anwachsenden Kloß in meinem Hals anzukämpfen. Wie konnte mein Leben nur so aus den Fugen geraten? Kein Geld, keine Aussichten auf einen Job, eine den Temperaturen absolut unangemessene Jacke, und morgen muss ich es ertragen, in einem Raum voller erfolgreicher Menschen zu sein, die alle ihren Kram geregelt bekommen und die höflich nicken, wenn ich ihnen erzähle, dass ich von Kensington Fox weg bin, um mal etwas Neues auszuprobieren – als ob mein Lebenstraum darin bestünde, Hunde zu waschen … oder Kaninchen, sollte es nach Greta gehen.

Ich greife nach meinem Handy und schreibe Angela, ob sie Lust hat, zu dieser Party mitzugehen, dann informiere ich noch Matt darüber, dass er für die fehlende Zusage verantwortlich ist. Zitternd eile ich anschließend zur Station Charing Cross, um die U-Bahn zur London Bridge zu nehmen. Matt antwortet zuerst.

Null Problemo. Vom Sofa runter? Super!

Kurz darauf meldet sich auch Angela:

Sorry, Babe, bin verplant. Call u XOXO

Ich antworte »Alles gut«, obwohl ich doch ein wenig verstört bin. Angela lässt nie eine Party aus, daher muss sie bereits einen ähnlich attraktiven Termin haben. Einen attraktiveren. Einen, bei dem sie mich nicht dabeihaben will. Sonst nimmt sie mich immer mit. Ist es ihr etwa peinlich, sich jetzt mit mir sehen zu lassen? Sofort setzt Paranoia ein und quält mich den ganzen Weg bis nach Hause.

Als Matt kurz nach sieben von der Arbeit heimkommt, trifft er mich dabei an, wie ich all meine Sachen aus dem Kleiderschrank aufs Bett werfe. In meinem für gewöhnlich eher aufgeräumten Zimmer sieht es aus wie auf einem Flohmarkt.

»Suchst du was?«, erkundigt er sich amüsiert.

»Ich kann mein Paul-Smith-Hemd nicht finden«, erwidere ich. »Das wollte ich morgen anziehen.«

»Herrgott, stell dich nicht so zickig an. Nimm halt was anderes.«

»Ich will aber das«, erwidere ich schnippisch und tue so, als würde ich meine langen Haare zurückwerfen. »Es bringt meine Titten so schön zur Geltung.«

Matt lacht und macht sich daran, mir beim Suchen zu helfen. »Du meinst doch nicht etwa das Jeanshemd? Soweit ich mich erinnere, hast du das mit Curry versaut.«

»Nein, das gelbe.«

Matt hält inne. »Das Hemd, das deine Freundin so hasst?«

»Ja! Ich habe es nicht mehr gesehen, seit wir …« Ich breche meine Suche ab und schaue Matt an, der vielsagend die Brauen hebt.

»Sie würde doch nicht … oder?«

»Na ja, an diesem Abend hat sie jedenfalls dafür gesorgt, dass keinem in der Bar entgangen ist, was sie von dem Hemd hält …«

Das ist kein richtiges Gelb, Nick, das ist senffarben. Gelbbraun – wie frisch erbrochen! Und es steht dir nicht! Diese Farbe steht keinem! Was hast du dir dabei nur gedacht?

Unfähig, mir vorzustellen, dass sie ein Paul-Smith-Hemd einfach wegwerfen würde, schüttele ich den Kopf, aber in meinem tiefsten Innern bin ich mir nicht so sicher. Sie hat einmal ein großes Flakon Jo Malone, das ich ihr zum Geburtstag gekauft hatte, in den Müll geschmissen, weil ihr die Limited-Edition-Flasche nicht so gut gefiel wie die normale.

»Frag sie«, schlägt Matt vor. »Wenn sie’s war, wird sie es mit ziemlicher Sicherheit sofort zugeben. Die kennt da nichts.«

Matt mag Angela nicht besonders. Er sagt es zwar nie direkt, aber ich merke es daran, wie angespannt er in ihrer Gegenwart ist. Irgendwie misstraut er ihr, und ich habe nie verstanden, warum, vor allem wenn man bedenkt, was für Frauen er selbst uns bisweilen in die Wohnung schleppt. Mein Gott, er war sogar kurz mit einer Amerikanerin zusammen, die ihn immer mit Babystimme Daddy genannt hat, egal wer in Hörweite war. Angela mag mitunter etwas oberflächlich sein, aber sie hat ein gutes Herz.

»Ich werde doch meine Freundin nicht fragen, ob sie mein Hemd weggeschmissen hat«, beharre ich. »Das würde klingen, als wäre ich jetzt völlig durchgeknallt.«

»Stimmt«, räumt er lachend ein. »Und wenn sie es zugibt, müsstest du damit klarkommen, eine Freundin zu haben, die völlig durchgeknallt ist. Was von beidem wäre schlimmer?«

»Scheiß drauf, kauf ich mir eben ein neues Hemd«, grummele ich und beginne, die Sachen wieder vom Boden aufzuheben. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass auf meinem Kundenkonto bei John Lewis noch eine Gutschrift ist.«

»Wenn du schon dabei bist, könntest du auch gleich eine Flasche Champagner für Greta und Will kaufen«, schlägt Matt vor und geht hinüber ins Wohnzimmer. »Gemeinsam etwas schenken ist jedenfalls nicht drin. Sähe ja aus, als wären wir ein Ehepaar – gruselig.«

»Kein Problem, Daddy.«

»Leck mich, Fast-Hemdloser-Nick.«

Ich schmeiße meine restlichen Klamotten in den Kleiderschrank mit dem festen Vorsatz, sie später ordentlich einzuräumen. Jetzt muss ich erst einmal klären, wie ich mit fünfzig Pfund zu einem passenden Hemd und einer vorzeigbaren Flasche Sekt komme.

3

»Hey, Jungs! Schön, dass ihr es geschafft habt!«

Zumindest vermute ich, dass Greta das bei unserem Eintreten in die Bar Black gerufen hat, aber bei dem Lärmpegel, der im Inneren herrscht, kann man das nicht so genau sagen. Sie umarmt mich – wobei sie mein neues blaues Hemd zerknittert, das zwar so schmal geschnitten ist, dass schon auf dem Herweg der erste Knopf abplatzte, das dafür aber siebzig Prozent runtergesetzt war – und bedankt sich für das Geschenk, das ich mitgebracht habe. Ich hoffe wirklich, sie mag 2018er-Rosé-Schaumwein. Matt überreicht ihr zwei mit Swarovski-Kristallen besetzte Sektgläser, und ich hasse ihn.

»Wir sind alle oben in der VIP-Etage«, brüllt sie und zeigt zur Treppe am hinteren Ende des Pubs. »Will ist schon oben. Holt euch schon mal etwas zu trinken! Ich komme gleich nach.«

Wir zwängen uns durch die Menge und steigen hoch in den »Veranstaltungsraum«, der im Grunde nur ein absperrbarer Balkonbereich über dem eigentlichen Schankraum ist. Bis heute ist mir nie aufgefallen, wie protzig der Laden geworden ist. Als wir anfingen herzukommen, hieß die Bar Black noch Libertines und war nicht so durchgestylt und glatt. Andererseits galt das für uns selbst wohl auch. Ein wenig vermisse ich das gemütliche Sammelsurium an Sofas und die Retro-Jukebox, die weichen mussten zugunsten von rutschigen Barhockern und dämlichen Fußballhymnen. Natürlich gibt es massenweise andere Bars in London, aber irgendwie fühlt sich die hier noch immer wie unsere Kneipe an – selbst wenn man sich jetzt auf sonderbar geformten Hockern Muster in die Arschbacken sitzt.

Für einen Dienstag ist viel los. Die meisten stehen trinkend in After-Work-Grüppchen zusammen und verströmen eine Duftmischung aus Stress und Tom Ford. Es sind immer dieselben Gesichter, Woche für Woche. Eigentlich sind das hier meine 80-Stunden-Wochen abreißenden, Karriereleitern hochkletternden, selbstmotivierten, Content erschaffenden, sozial aufsteigenden Schicksalsgenossen, bloß dass ich derzeit Schwierigkeiten habe, mich dazugehörig zu fühlen. Ich fange an, meine Welt mit anderen Augen zu betrachten.

»Für dich muss das doch ein bisschen komisch sein«, sagt Matt und lenkt damit meinen Blick weg von einer Frau, die gerade versucht, unbemerkt in ihre Handtasche zu dampfen. Matt deutet auf Gretas Verlobten Will, der sich ein paar Schritte entfernt mit unserer gemeinsamen Freundin Harriet unterhält.

»Ich meine, du bist früher selbst mit Greta zusammen gewesen, und jetzt heiratet sie den da.«

Der da ist Dr. William Howard, ein dreiundvierzigjähriger, Ferrari fahrender Chirurg, der mein Nachfolger bei Greta wurde. Wir sind uns seitdem bestimmt zehnmal begegnet, dennoch bezweifle ich, ob er auch nur weiß, wie ich heiße.

»Warum sollte das komisch sein?«, erwidere ich. »Stimmt schon, wir waren mal zusammen, aber ich freue mich trotzdem, dass sie jemanden gefunden hat, mit dem sie glücklich ist. Ich verzehre mich nicht insgeheim nach Greta, falls du das denkst.«

»Nein, ich weiß. Ich meine bloß, weil, na ja…«

»Was? Weil er ein Haus in Notting Hill besitzt, eine Privatklinik an der Harley Street und einen Haaransatz, der einfach nicht zurückweichen will, während ich bloß eine arbeitslose Flachpfeife bin, der aller Wahrscheinlichkeit nach die eigene Freundin die Klamotten entsorgt?«

»So ungefähr«, bestätigt Matt und versetzt mir einen freundschaftlichen Stoß. »Du kriegst das schon hin, Alter. Versuch einfach, den Abend zu genießen.«

»Oh, das mit Sicherheit«, antworte ich und angele mir ein Glas Sekt vom Tisch. »Ich freue mich wirklich für Greta, das weißt du doch. Sie verdient ihr Glück.«

»Ehrlich gesagt, würde ich ihn allein schon für ein Foto mit seinem Auto heiraten«, erklärt Matt und winkt Will. »Nimm’s nicht persönlich, mein Freund, aber du musst doch zugeben, dass Greta es gut getroffen hat.«

Natürlich hat Matt recht. Aber im Augenblick kann ich gut darauf verzichten, daran erinnert zu werden, was für ein entsetzlicher Versager ich bin. Das ist mir selbst klar genug. Außerdem war Matt derjenige, der mich seinerzeit Greta vorgestellt hat, also ist er in Wirklichkeit an allem schuld. Ich stürze den Sekt hinunter und nehme mir das nächste Glas, während Will auf uns zusteuert.

»Hey, Leute, schön, euch zu sehen!«, ruft er und schüttelt jedem energisch die Hand. »Muss nur mal eben für kleine Jungs, gleich wieder da.«

Für kleine Jungs? Wer sagt denn so was? Mein Selbstwertgefühl macht einen Sprung um mindestens drei Prozent.

Wir setzen uns an ein Seitentischchen zu Harriet, einer zierlichen Person mit blassem Teint, die mit Matt und Greta im selben Studentenheim gewohnt hat. Nach ihrem Studienabschluss in englischer Literatur ist sie Schriftstellerin geworden und hat seitdem mehrere erfolgreiche Krimis veröffentlicht. Ich bin gleich im ersten Jahr meines Jurastudiums zu diesem kleinen Freundeskreis gestoßen und habe ihn nie wieder verlassen. Harriet ist mit Noel da, ihrem Ehemann, der immer wirkt, als würde er hinter seinem mächtigen Bart uralte Geheimnisse hüten. Es sind nette Menschen.

»Erinnerst du dich noch an Brian Wilson?«, wendet Harriet sich an Matt, bevor der noch seinen Mantel ausgezogen hat.

»Den von den Beach Boys?«, fragt er stirnrunzelnd zurück.

»Nein«, lacht Harriet. »Der Typ, der in Brixton über uns gewohnt hat. So ein dünner Hering. Hatte diesen Kater mit dem komischen Ohr. Du erinnerst dich an ihn, Nick, oder?«

Ich nicke. »Hieß der Kater nicht Phil Wilson?«

»Genau! Also, ich habe gerade Greta erzählt, dass ich ihn letzte Woche bei Costa getroffen habe! Er war zurück in der Stadt, um Verwandte zu besuchen. Ansonsten lebt er jetzt in Frankreich. Hat vier Kinder. Stellt seinen eigenen Wein her oder irgend so was. Der hat’s echt geschafft!«

Frankreich, mhm? Sollte ich vielleicht besser nach Frankreich ziehen? Ich leere mein drittes Glas Sekt und grübele weiter. Bis auf die andere Seite des Kanals ist mein Ruf gewiss noch nicht gedrungen. Allerdings müsste ich Französisch lernen.

»Musst du noch fahren?«, erkundigt sich Matt mit Blick auf die Flasche Sprudelwasser, die vor Harriet steht. Die Frage drängt sich auf, da Harriet dafür berüchtigt ist, als Erste sturzbetrunken zu sein und als Letzte das Licht auszumachen. Harriet schüttelt den Kopf und schiebt ihren Stuhl zurück, um den Grund zu zeigen.

»Dreizehnte Woche«, verkündet sie mit ihrem durchdringenden walisischen Dialekt und streichelt ihren nicht vorhandenen Babybauch. »Wir haben gerade erst angefangen, es den Leuten zu sagen. Kein Alk, keine Kippen, kein Sushi, keine Mayo. Und dann ist mir auch noch ständig kotzübel. Überaus beschwerlich das Ganze.«

»Aber der Zeitpunkt passt super«, sagt Noel, der neben ihr vor Stolz über beide Backen strahlt. »Ich bin befördert worden, und wir können endlich in etwas Größeres ziehen.«

»Verantwortlicher Leiter für Digital Marketing«, prahlt Harriet in Noels Namen. »Alles in allem liegen ein paar wirklich nervenaufreibende Wochen hinter uns.«

Wir gratulieren den beiden, und ich tue mein Möglichstes, die leise Stimme in meinem Kopf zu ignorieren, die mich hartnäckig piesackt.

SCHAUHIN! So machen erwachsene Menschen das, du Loser. Bring dein Leben auf die Spur.

Vierzig Minuten und einen Tequila später machen sich Greta und Dr. Besser-als-ich zu einer kurzen Dankesrede an ihre Gäste bereit. Ein paar bekannte Gesichter erkenne ich in der Menge, aber die meisten scheinen »befreundete Pärchen« zu sein, die sich dann nach der Scheidung für eine Seite entscheiden müssen. Absolut sicher bin ich mir allerdings darin, dass keiner der hier Anwesenden jemals im Leben den Fuß in einen Aldi gesetzt hat, während ich mit dem Kassierer Greg längst per Du bin.

»Wir freuen uns sehr, dass ihr alle gekommen seid«, schwärmt Greta. »Es bedeutet uns ungeheuer viel.«

Will nickt und schlingt den Arm um Gretas Taille. »Vor vier Jahren hat diese bezaubernde Frau eingewilligt, mit mir essen zu gehen, und vor vier Wochen sogar darin, meine Frau zu werden. Ich bin der glücklichste Mensch auf Erden. Sie ist einfach magisch.«

Wow, selbst unten in der Bar steht einigen Frauen der Mund offen. Ich meine, zugegeben, Greta ist toll, aber magisch? Welche irre Penn-&-Teller-Nummer zieht sie bei ihm denn ab, wenn sie alleine sind?

»Jedenfalls wird Mitte März die Hochzeit stattfinden, zu der ihr alle demnächst die Einladung erhaltet. Und jetzt bitte ich euch: esst, trinkt und freut euch mit uns! Cheers!«

Wir erheben alle unsere Gläser und rufen Glückwünsche. Ich bemühe mich nach Kräften, eine positive Haltung an den Tag zu legen, aber umgeben zu sein von beeindruckenden Menschen, die Verlobungen, Babys, Karrieresprünge und Wein kelternde Nachbarn aus vergangenen Tagen in Brixton vorzuweisen haben, macht mich doch eher beklommen. Auch wenn ich versuche, die Erfolgsmeldungen der anderen nicht als persönliche Kränkung zu verstehen, bin ich dafür letztlich viel zu ichbezogen.

Ich entschuldige mich und suche die Toiletten auf. Bei meinem Glück wird beim Pissen vermutlich ein frischgebackener Nobelpreisträger neben mir stehen.

Gott sei Dank bin ich dann aber allein, einmal abgesehen von einer besetzten Kabine, in der jemand an einer eigenartigen Schniefkrankheit zu leiden scheint. Beim Händewaschen betrachte ich mich im Spiegel in der Hoffnung, dass die kleine Stimme in meinem Kopf gleich zur rettenden Motivationsansprache anheben wird, mir womöglich gar versichert, wie wertvoll meine Existenz ist. Na los, erzähl mir schon, dass ich für Großes geschaffen bin!

Deine Frisur sieht beschissen aus.

Scheiße. Vernichtend geschlagen schleiche ich zur Tür hinaus, um mich nun vollkommen sinnlos zu betrinken, da stoße ich draußen auf Greta in Begleitung einer älteren Frau, deren Outfit so makellos seriös ist, als würde sie für ein politisches Amt kandidieren.

»Nick! Genau nach dir habe ich gesucht! Das ist Alice. Ich dachte, ihr beide solltet euch mal kennenlernen.«

Warum? Ist sie auch komplett am Arsch?

»Wunderbar«, antworte ich und gebe Alice die Hand. »Freut mich. Tolle Party übrigens, Greta. Ich amüsiere mich ganz prächtig.«

Greta schenkt mir ein begeistertes Grinsen, während Alice keinen Ton herausbringt. Wer ist die Frau? Herrgott, Greta will mich doch wohl nicht verkuppeln? Angela ist heute zwar nicht dabei, aber ich bin trotzdem noch immer fest liiert. Außerdem dürfte Alice stramm auf die sechzig zugehen, und sie entspricht ganz sicher nicht meinem Typ. Nicht dass ich etwas gegen ältere Frauen hätte, aber gleich doppelt so alt ist mir schon ein wenig zu heftig.

»Und woher kennt ihr beide euch so?«, frage ich.

»Alice wohnt neben mir. Darüber hinaus leitet sie zufälligerweise das Southview Shopping Centre. Du weißt schon, die Mall ganz in der Nähe von deiner Wohnung?«

»Ach, klar … so ein Zufall, da habe ich eben erst das Hemd hier gekauft. Bei John Lewis gibt’s derzeit ganz anständige Angebote.« Während ich noch auf mein Hemd zeige, frage ich mich, warum ich den ganzen Blödsinn überhaupt erzähle, wenn ein schlichtes »Ja« völlig genügt hätte. So mustert Alice abschätzig meinen Oberkörper, und ich verspüre den dringenden Wunsch zu flüchten.

»Oh, schön«, nimmt Greta den Faden wieder auf. »Denn wie ich gerade in diesem Moment von Alice erfahren habe, ist dort eine Stelle zu besetzen. Wink des Schicksals, was?«

Es geht bloß um einen Job! Gott sei Dank. Ich entkrampfe ein wenig. Wenn das so ist, kann Alice mustern, was immer sie möchte.

»Die Anstellung ist nur befristet, aber für dich absolut ideal.«

»In Ordnung, super, was …«

»Keinerlei Fahrtkosten, kein Stress, und die nötigen Backgroundchecks liegen auch vor …«

»Backgroundchecks? Wofür …«

»Vor allem aber bist du total zugänglich und sympathisch. Kinder lieben dich sofort!«

»Greta, worüber in aller Welt reden wir hier? Was für ein Job?«

»Santa«, antwortet sie mit breitem Grinsen. »Du wirst bestimmt der perfekte Weihnachtsmann.«

4

Heute

Im Southview Shopping Centre hat die Werkstatt von Santa Claus nur wenig Ähnlichkeit mit einer gemütlichen, stimmungsvollen Felsengrotte, die vor Geschenken überquillt. Sie ist eher ein offener, nur mit ein paar dicken roten Kordeln abgesperrter Weihnachtsbereich, der aus einem überraschend geschmackvoll dekorierten Weihnachtsbaum, etwas künstlichem Schnee und natürlich einem riesigen Thron für Santa besteht. Ein roter Teppich läuft vom Eingang, wo sich bereits eine Schlange bis um die benachbarte Saftbar herum gebildet hat, bis zum Thron.

Du schaffst das, Nick, spreche ich mir Mut zu und winke den erwartungsvollen Kindern. Du hast Arbeit, und du verbreitest fröhliche Weihnachtsstimmung, was gibt’s da zu mäkeln?

»Vamos! Du bist zu spät!«

Erschrocken schnelle ich herum und sehe eine etwa dreißigjährige, eins fünfzig große Frau in einem Elfenkostüm vor mir, die ganz offenkundig ebenso begeistert wie ich von ihrem Job ist.

»Du bist Nick?«

»Ja.«

»Izzy.«

»Freut mich …«

»Pass mal auf, ich trage dieses Kostüm, aber ich bin nicht Dienstmädchen für dich, kapiert?«, stellt sie sofort klar. »Komm nicht an und bitte mich zu helfen. Letztes Jahr hat auch mal die geheult oder dann der, aber das ist nicht mein Job, kapiert?«

Schade, dass sie nicht so liebreizend ist wie ihr spanischer Akzent.

»Äh, sicher, kapiert.«

»Du kümmerst dich um los niños, ich kassieren, kapiert?«

Sie wedelt mit ihrem mobilen Kartenabrechnungsgerät vor meiner Nase, während ich brav nicke. Irgendwie habe ich das Gefühl, an einer Art Raubüberfall teilzunehmen.

Ich setze mich auf meinen Thron, und Izzy lässt das erste Kind mit seiner Mutter durch. Alles easy, rede ich mir nervös ein. Die einfachste Sache der Welt. Schließlich hast du schon Meetings mit Deborah Meaden gemeistert, Herrgott noch mal! Sind doch bloß Kinder. Reiß dich gefälligst zusammen.

Ich lächele und winke dem kleinen Mädchen zu. Prompt schreckt es einen Schritt zurück und klammert sich an das Bein seiner Mutter. Grandioser Start, Nick.

»Nicht länger als eine Minute pro Kind«, hatte Geraldine mich bei der Einweisung ermahnt. »Name, Alter, was es sich wünscht, dann lassen Sie die Eltern ein Foto machen, geben dem Kind ein Geschenk aus dem Sack und nehmen das nächste dran. Stets lächeln und dennoch flott, so ist es richtig. Noch Fragen?«

»Gibt es unterschiedliche Geschenke für Jungs und Mädchen?«

»Nein«, hatte sie zurückgeblafft. »Wir sind genderneutral. Neue Richtlinien. Das heißt auch, Auf-dem-Schoß-Sitzen entscheiden die Eltern. Aber vor allem die Jüngeren lieben es.«

Das kleine Mädchen, das gerade unbedingt von meinen Knien herunter möchte, ist da offensichtlich anderer Meinung.

»Polly, alles in Ordnung, mein Liebling, schau mal hier rüber! Ein Lächeln für Mummy!«

Polly hat nicht die geringste Lust auf den ganzen Mist. Ich sehe auf das schreiende, sich windende Mädchen mit der blauen Pelzmütze herab und habe vollstes Verständnis. Krampfhaft umklammert sie ein halb gegessenes Milky Way. Sie wäre jetzt genauso gerne irgendwo anders wie ich.

Pollys Mutter wirft mir flehentliche Blicke durch ihre dick eingefasste Brille zu, beschwört mich auf telepathischem Weg, die Situation zu retten, aber ich habe keine Ahnung, wie. Für mich ist Polly heute das erste Kind, mit dem ich es zu tun bekomme, und der Miene meiner Vorgesetzten nach zu urteilen, könnte es sehr wohl auch mein letztes sein.

»Hey, hey, meine Kleine«, sage ich in einer Stimme, die mich selbst überrascht. Klingt wie eine Mischung aus Santa und Ed Kemper. Ich versuche, den Serienkilleranteil etwas herunterzufahren. »Kein Grund zu weinen. Erzähl Santa einfach, was du dir zu Weihnachten …«

»MuuuUmmm!«

Es ist schrecklich. Nachdem auf einem zweifellos vollkommen verschwommenen Foto dokumentiert ist, wie ich Polly den verpackten Schokoriegelmix überreiche, steckt ihre hypernervöse, ständig sich entschuldigende Mutter sie zurück in den Buggy und verspricht ihr zum Trost ein Eis. Das Letzte, was dieses Kind jetzt gebrauchen kann, ist noch mehr Zucker.

Mir bleibt kaum Zeit zum Luftschnappen, da klettert mir auch schon der nächste süße Knirps auf den Schoß. Wenigstens tut dieser Junge es mit vollster Begeisterung.

»Wie heißt du?«, frage ich und starre auf das Rotzbläschen, das sich an seinem linken Nasenloch gebildet hat. Gott, ist das eklig. Ich sehe, wie Geraldine Richtung Gastrobereich davonstöckelt, und entspanne sofort ein wenig.

»David«, antwortet er und blickt hinauf in meinen kratzigen Nylonbart, der mich schon jetzt in den Wahnsinn treibt, da darunter noch einmal echte Dreitagebartstoppeln jucken.

»Und wie alt bist du, David?«

»Sechs!«, verkündet er derart überschwänglich, dass ich lächeln muss. Erwachsene geben ihr Alter meist nur wie ein peinliches Geheimnis preis, aber David hat mit dem Älterwerden offenbar nicht die geringsten Probleme.

»Und was wünschst du dir zu Weihnachten?«

»Ein Trampolin! Wie das bei Robbie. So mit Netz außen rum, damit man Monstersaltos machen kann und Überschläge und immer höher springen und springen und springen!«

Ich werfe rasch einen Seitenblick zu den wartenden Eltern, die im Rücken ihres wild hüpfenden Jungen mit verzweifeltem Kopfschütteln signalisieren, dass Träume von teuren Outdoor-Trampolins in nächster Zukunft nicht zu erfüllen sind. Sein Vater mimt einen Fahrradfahrer, und ich nicke.

»Hm, mit Trampolins haben die Elfen in diesem Jahr leider ein paar Schwierigkeiten«, erkläre ich, woraufhin David das Hüpfen einstellt und alle Begeisterung aus seinem Gesicht schwindet. »Aber sie haben einige tolle Fahrräder gebaut! Stimmt’s nicht, Izzy?«

Izzys Kopf wirbelt herum, ohne dass ihr restlicher Körper sich bewegen würde, und ihr Blick brennt sich in mein tiefstes Inneres mit der Botschaft, dass mein letztes Stündchen geschlagen hat, sollte ich versuchen, sie in die Sache mit den niños hineinzuziehen.

»Na, was meinst du zu einem schönen neuen Fahrrad?«, wende ich mich wieder an David. »Wäre das nicht super? Vielleicht noch einen neuen Helm dazu?«

David sagt kein Wort. Er rutscht von meinem Schoß, verschränkt die Arme und schaut erst seine Eltern an, dann mich. Ein furchtbarer Job. Wie viele Kinder werde ich heute noch enttäuschen müssen? Wenn ich ihn nur irgendwie davon überzeugen könnte, dass ein Fahrrad besser ist als ein Trampolin.

»Die Bikes sind echt cool, David! Im Ernst. So ein cooles Bike hast du noch nie …«

»ICHWILLABEREINTRAMPOLIIIIIIIIIN!«

Der durchdringende Schrei, der mein Trommelfell an seine Belastungsgrenze bringt, hätte fast genügt, den Schmerz zu überlagern, der plötzlich von meinem Schienbein hochschießt. Aber auch nur fast. Ich schreie auf, und Davids Dad nimmt seinen Sohn mitsamt dessen kleinem, doch erstaunlich kraftvollem rechtem Fuß rasch auf den Arm, bevor er noch mehr Schaden anrichten kann.

»Verfluchte Scheiße, Junge! Kein Grund, mir gleich …«

Ich höre, wie ein Mädchen an der Spitze der Schlange nach Luft schnappt und hinter ihr mindestens zehn Kinnläden bis auf den Boden herunterfallen, während David von seinen verlegen dreinschauenden Eltern weggebracht wird.

»Mummy! Santa hat geflucht!«

O Gott.

»Unerhört!«, ruft eine grauhaarige Oma und zieht ihr leicht amüsiertes Kind am Arm fort. »Komm, Rosie. Wir gehen!«

»Es t-tut mir leid«, stottere ich, kann aber auch mit dieser Entschuldigung nicht verhindern, dass mehrere Eltern mich als den schlimmsten Santa aller Zeiten bezeichnen und ihre Kinder schnell vor mir in Sicherheit bringen. Am Ende der Schlange hat man zwar anscheinend nichts von dem Zwischenfall mitbekommen, aber bestimmt hat schon jemand von den anderen verlangt, mit dem Geschäftsführer zu sprechen. Sobald Geraldine davon erfährt, fliege ich hier hochkant raus.

Der Rest meines Tages verläuft auch nicht viel besser. Ich habe noch nie so viele verwöhnte Bälger in blinkenden Turnschuhen gesehen, die darauf bestehen, iPads zu bekommen oder PlayStations oder etwas, das sich Ricky the Trick-Lovin’ Pup nennt und bei dem es sich offenbar um einen Spielzeughund handelt, auch wenn es mehr nach einem Spielzeugzuhälter klingt.

Nachmittags um fünf hakt Izzy hinter dem letzten Kind die Absperrkordel ein zum Zeichen dafür, dass Santa für heute Feierabend hat. Nach diesem Tag beginne ich auch zu begreifen, warum Izzy so genervt wirkt. Mit kleinen Kindern zu arbeiten verlangt zweifellos eine gewisse Berufung und überfordert schnell jeden, der das nur als Job betrachtet.

»Und wie heißt du?«, frage ich das blonde Mädchen mit dem rosigen Gesicht, das bereits versucht, mir am Bart zu zupfen. Was bin ich froh, dass nach ihr Schluss ist!

»Jennifer«, antwortet sie. »Ich bin drei!«

»Und was wünschst du dir zu Weihnachten?«

»Ein Barbie-Haus mit einem … Hatschii!«

Etwas Schleimiges wird aus ihrer Nase geschleudert und landet direkt auf meiner Hand. Mir wird übel. Entsetzt versuche ich, es abzuschütteln, während ihr Dad nur schallend lacht, als wäre das Ganze einfach hinreißend. Es ist nicht hinreißend, es ist ekelhaft grünlich.

»Barbie-Haus, verstanden«, sage ich rasch und reiche ihr ein Geschenk. »Fröhliche Weihnachten.«

Ich mache mir nicht mal die Mühe zu lächeln, als ihr Vater fotografiert. Mir langt’s! Ich sterbe vor Hitze, klebe vor Schweiß, bin mit blauen Flecken und Rotz bedeckt und habe die Nase voll. Von mir aus kann sich Geraldine den Job sonst wo hinschieben.

Kopfschüttelnd erhebe ich mich von meinem Thron und würde mir am liebsten gleich auf der Stelle den Bart vom Gesicht reißen. Obwohl die Weihnachtsgrotte geschlossen ist, stehen noch immer viele Leute davor und bestaunen die Dekoration, daher wäre es sicherlich keine gute Idee, meine Verkleidung ausgerechnet jetzt abzunehmen. Ich will nur noch nach Hause gehen, duschen und zur Feier meines neuen Jobs einen kuscheligen Abend mit Angela verbringen.

Ich wende mich gerade zum Gehen, als ein vielleicht fünfjähriger Junge unter der Absperrkordel durchschlüpft.

»Hey, junger Mann, wir haben geschlossen«, informiert Izzy ihn, aber er weicht ihr aus und rennt schnurstracks auf mich zu.

»Santa, ich …«

»Komm morgen wieder«, sage ich. »Santa muss jetzt nach Hause.«

»Aber morgen bin ich nicht da«, erwidert er verzweifelt. »Und ich hab dir doch noch gar nicht gesagt, was ich mir zu Weihnachten wünsche!«

»Tut mir leid, mein Junge.«

Ich greife in meinen Sack und gebe ihm eine Auslese-Schachtel. »Hier, geschenkte Schokolade ist besser als nichts.«

Er nimmt das Päckchen, aber sofort steigen ihm Tränen in seine riesigen braunen Augen. »Aber wenn ich dir meinen Weihnachtswunsch nicht erzähle, wird er nicht in Erfüllung gehen! Bitte, Santa.«

»Tut mir leid, aber …«

»Santa!«, zischt Izzy. »Einen kannst du noch machen, ja.«

Ich nicke, zugegeben auch, weil Izzy mir Angst einjagt, aber vor allem, weil ich heute nicht für noch ein weinendes Kind verantwortlich sein will.

Offensichtlich konnte er Izzys Herz ein wenig erweichen. Das allein sollte belohnt werden.

»Wie heißt du denn, junger Mann?«

»Alfie«, antwortet er und folgt mir zurück zu meinem Thron. Ich nehme Platz, und er stellt sich neben mich. »Alfie O’Brien.«

»Alfie. Das ist ein schöner Name. Und wie alt bist du?«

»Ich bin vier.«

»Und was wünschst du dir zu Weihnachten?«

Alfie holt tief Luft und sagt dann leise: »Ich wünsche mir, dass meine Mum wieder glücklich ist.«

Ach du meine Güte. Ich fühle mich unbehaglich. Im Umgang mit selbstlosen Kindern bin ich noch ungeschickter als im Umgang mit verwöhnten und egoistischen. Der ernste Ausdruck in seinem Gesicht macht mich völlig fertig.

»Ich bin mir sicher, dass sie schon jetzt sehr glücklich ist«, antworte ich betont fröhlich. »Allein schon, weil sie dich hat, richtig?«

»Sie tut so, aber eigentlich ist sie immer traurig, seit mein Dad gestorben ist«, widerspricht Alfie leise, den Blick zu Boden gerichtet. »Manchmal höre ich, wie sie weint.«

»Oh, das tut mir leid, mein Freund.«

Er zuckt mit den Achseln. »Bitte, Santa, mach sie einfach wieder glücklich. Das ist alles, was ich mir zu Weihnachten wünsche.«

Jetzt werden auch meine Augen feucht. Dieser süße kleine Junge glaubt aufrichtig, ich könnte seine Mum aus ihrer Trauer befreien, und ich habe keine Idee, wie ich darauf reagieren soll.

»Äh … na ja, weißt du …«

»ALFIE! Ach, Gott sei Dank, da bist du ja. Ich habe dich schon überall gesucht!«

Ich hebe den Kopf. Eine Frau kommt auf uns zugelaufen. Sie trägt eine der knallblauen Schürzen vom Café gegenüber der Weihnachtsgrotte.

Nein, Gott sei Dank, dass du da bist, denke ich bei mir. Ich hätte hier absolut keinen Ausweg gewusst.

»Das ist meine Mum«, flüstert Alfie und winkt ihr zu.

Sie hebt Alfie hoch und küsst ihn mehrmals auf die Wange.

»Mir ist ja vor Schreck fast das Herz stehen geblieben«, erzählt sie ihm. »Du kannst doch nicht einfach so davonrennen! Ich war kurz davor, die Polizei zu rufen … und die Avengers … und Spiderman …«

»Spiderman gehört zu den Avengers«, korrigiert Alfie sie kichernd. »Sorry, Mum, ich musste unbedingt zu Santa.«

Alfies Mum wirft mir einen entschuldigenden Blick zu, und ich spüre, wie es mir plötzlich die Brust zuschnürt und ein Prickeln das Rückgrat herunterläuft. O Gott, ist sie hübsch. Jetzt weiß ich auch, woher Alfie die großen Augen hat. Sie leuchten wie zwei dunkle Seen aus …

Herrgott, Nick, hör auf mit diesem unsensiblen Scheiß, du Idiot. Die Frau ist eine trauernde Witwe. Reiß dich gefälligst zusammen, Mann!

»Tut mir schrecklich leid«, sprudelt es aus ihr heraus. »Eine Sekunde steht er noch unmittelbar neben mir, und in der nächsten ist er schon …«

»Kein Problem!«, versichere ich ihr, und mehr denn je fällt mir auf, wie bescheuert meine Santa-Stimme klingt. Ich räuspere mich und füge hinzu: »Sehr netter Junge, das.«

Verfluchter Scheiß, jetzt klingt’s russisch.

Sie lächelt und wuschelt durch Alfies braunen Schopf. Ich sehe in alle möglichen Richtungen, Hauptsache, ich kann ihre Augen vermeiden. Verdammt, duftet sie gut.

»Los, Alfie«, sagt sie. »Sonst verpassen wir noch den Bus. Sag Tschüss zu Santa.« Sie nimmt Alfie an der Hand und wendet sich zum Gehen.

»Aber Santa hat noch gar nicht versprochen, dass er mir meinen Wunsch erfüllt!«, ruft er aus und dreht sich zu mir um. »Er muss es erst versprechen!«

O Gott, was soll ich bloß tun? Die Leute starren mich schon an!

»Santa, bitte!«

»Okay, okay, du bekommst es!«, lenke ich ein und unterstreiche das Ganze sogar noch mit einem Daumen-hoch-Zeichen. Sein kleines Gesicht leuchtet auf, und er erwidert die Geste. Im nächsten Augenblick sind Alfie und seine Mum verschwunden.

»Idiot!«, faucht Izzy mich an. »Du lügst ihn einfach an, und jetzt du ruinierst dem Kind das ganze Weihnachten.«

»Was hätte ich denn tun sollen? Seinen Wunsch ablehnen? Du hast doch selbst gesehen, wie nett und verzweifelt er gewesen ist.«

»Ja, und ab jetzt wird er hassen Santa.«

»Na, da du Santa ebenfalls hasst, könnt ihr ja vielleicht einen Club gründen.«