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Man kann sich nicht vor dem Leben schützen Sommer am Meer – aber nichts wünscht sich Hazel sehnlicher, als einfach nur in ihr altes Leben zurückzukehren. Ihre kleine Schwester und sie mussten mit ihrer Mutter in einen winzigen Küstenort ziehen und jetzt ist alles anders: Ihre Mama trifft eine alte Kindheitsfreundin wieder und deren Tochter will Hazel unbedingt in ihre Clique aufnehmen, obwohl Hazel keine neuen Freunde möchte. Das Schlimmste ist, dass sie fest davon überzeugt sind, dass es diese merkwürdige Meerjungfrau aus der Legende, um die sich alles im Ort dreht, wirklich gibt. Und die sieht angeblich genauso aus wie Hazel. »Dieser zart gewebte emotionale Roman enthält fein ausgearbeitete Charaktere, die das Herz erobern.« – Publishers Weekly - Ein warmherziger Pre-Teen-Roman vor der Kulisse des Meeres und mit der Atmosphäre eines Sommers - Über Freundschaft, Familie und den Mut, sich seinen Ängsten zu stellen
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Seitenzahl: 398
Sommer am Meer – aber nichts wünscht sich Hazel sehnlicher, als einfach nur in ihr altes Leben zurückzukehren.
Ihre kleine Schwester und sie mussten mit ihrer Mutter in einen winzigen Küstenort ziehen und jetzt ist alles anders: Ihre Mama trifft eine alte Kindheitsfreundin wieder und deren Tochter will Hazel unbedingt in ihre Clique aufnehmen, obwohl Hazel keine neuen Freunde will. Das Schlimmste ist, dass sie fest davon überzeugt sind, dass es diese merkwürdige Meerjungfrau aus der Legende, um die sich alles im Ort dreht, wirklich gibt. Und die sieht angeblich genauso aus wie Hazel.
Ein berührender Roman über Freundschaft, Familie und den Mut, sich seinen Ängsten zu stellen.
Von Ashley Herring Blake ist bei dtv außerdem lieferbar:
Mein neues Herz lernt, wie man l(i)ebt
Ashley Herring Blake
Aus dem amerikanischen Englisch von Michelle Landau
Hinweis zu diesem Buch:
In Ein wunderschönes blaues Chaos werden sensible, potenziell belastende Themen behandelt. Diese umfassen: Tod, Ertrinken, Trauer, Panikattacken und Posttraumatische Belastungsstörung. Wir hoffen, dass dieses Buch auf niemanden retraumatisierend wirkt.
Für C, B und W, die mich trotzdem lieb haben
Ich sehe aus dem Fenster und starre den Tod an.
Na ja, nicht wirklich den Tod. Aber einen Ozean, nur gut hundert Meter von der Tür unseres neuen Hauses entfernt, kann man ebenso gut als Tod bezeichnen; all das nebelverhangene Wasser, das nur darauf wartet, den nächsten Schwimmer zu verschlingen – das klingt genau nach meiner Art Unglück. Und von den ganzen Wasserwesen will ich gar nicht erst anfangen, jede Menge faszinierende, aber trotzdem tödliche Haie, Quallen und wer weiß, was noch, lauern dort in der dunklen Tiefe. In den letzten zwei Jahren, in denen ich mit Mama und Peach durchs ganze Land gereist bin, habe ich uns mit meinem wachsamen Auge bestimmt ein paar Katastrophen, Dutzende Verletzungen und eine Unzahl von alltäglichen Ärgernissen und Missgeschicken erspart. Ich habe nicht vor, diesen blöden Atlantik jetzt gewinnen zu lassen.
Das ist jedoch leichter gesagt als getan.
Denn da gibt es zum Beispiel meine Schwester Peach. Eigentlich heißt sie Penelope, aber als sie geboren wurde, war ich – meinen Müttern zufolge – total verrückt nach Pfirsichen. Ich habe sie andauernd gegessen, habe sogar auf Bettwäsche mit Pfirsichmuster bestanden – und, um es mal so auszudrücken, Siebenjährige sollten sich wirklich nicht allein die Fingernägel lackieren dürfen. Ich sah aus, als hätte ich meine Fingerspitzen in Pfirsichmarmelade getunkt. Meine Mütter haben den Nagellack eine ganze Woche lang drangelassen, weil sie das Ganze anscheinend unglaublich süß fanden.
Als Penelope geboren wurde, habe ich sie immer nur Peach genannt – also Pfirsich –, was meine Mütter wohl auch ziemlich süß fanden, denn der Name ist hängen geblieben. Und er passt perfekt zu meiner Schwester. Eine zarte kleine Frucht, die ständig irgendwo blaue Flecken oder Beulen hat, egal wie sehr ich mich bemühe sie zu beschützen. Ich will gar nicht daran denken, in was für Desaster sie ohne mich hineinstolpern würde. Natürlich passt Mama auch auf sie auf, aber irgendjemand muss ja auch auf Mama aufpassen, deswegen habe ich jeden Tag beide Hände voll damit zu tun, die Ordnung in unserer Familie zu wahren und potenzielle Gefahren aufzuspüren.
Und jetzt ist da dieser Ozean, der unter dem wolkenverhangenen Himmel aussieht wie ein gigantisches schwarzes Loch, das uns alle mit einem einzigen Happs verschlingen kann.
»Hazel, komm schon!«, ruft Peach von der offenen Tür unseres Cottages. Sie ist fünf und ihre braunen Locken hängen ihr in einem einzigen wirren Durcheinander ums Gesicht. Ich habe Mama angefleht, ihr die Haare zu schneiden – die Gefahr, dass sie sich mitten in der Nacht selbst stranguliert, wäre dann viel geringer –, aber Peach lässt das nicht zu. Sie findet es toll, dass sie und Mama dieselben Haare haben, findet es toll, dass sie zusammenpassen.
Mein eigenes gewelltes weißblondes Haar ist nur schulterlang, genauso wie Mum ihr Haar getragen hat. Peach und Mama hingegen haben dunkle Locken, die ihnen bis über den Rücken fallen. Sie haben auch die gleichen Augen, schokobraun, meine sind blau wie Mums. Als sie noch am Leben war, hat Mum immer Witze darüber gemacht, dass wir vier perfekt zusammenpassen, zwei und zwei.
Jetzt sind wir nur noch zwei und eins, und ich bin die, die nicht dazugehört.
»Hazey!«
»Ich komme ja schon, Peach, gib mir eine Sekunde.« Ich hüpfe von der oberen Koje des Stockbetts in dem winzigen Zimmer, das Peach und ich uns teilen und in dem ich die letzte Stunde damit verbracht habe, auf meinem Handy nach Karten und Touristeninformationen zu Rose Harbor im Süden von Maine zu suchen, wo wir unseren Sommer verbringen werden. Die Stadt ist klein, in den Hügeln und den Dünen wachsen überall wilde Rosen und es gibt eine alte Legende über eine Meerjungfrau im Hafen, zu deren Ehren jedes Jahr im Juli ein großes Festival veranstaltet wird. Und, nicht zu vergessen, es gibt natürlich auch den extrem wütend aussehenden Ozean voller Schlingseegras und scherenschnappenden Hummern und unzähligen Bakterien.
Vor zwei Tagen, als wir unsere Mietwohnung in Ohio ausgeräumt haben, habe ich Mama gefragt, ob wir nach Hause fahren. Zurück nach Kalifornien, wo wir mit Mum gelebt haben, wo wir eine Familie waren. Wir waren seit zwei Jahren nicht mehr dort, nicht mehr, seit Mum gestorben ist, und immer wenn unser Mietvertrag in einer neuen Stadt ausläuft, hoffe ich.
Ich sage mir, dass diese Stadt die letzte ist.
Dass wir in ein paar Tagen zu Hause sind.
Aber das sind wir nie. Mama sagt dann immer nur, dass wir noch nicht bereit sind, was in meinen Augen überhaupt keinen Sinn ergibt. Ich war nie nicht bereit. Ich hasse die Rumreiserei, hasse die gemieteten Wohnungen und Häuser voll Gott-weiß-was, das von Gott-weiß-wem zurückgelassen wurde. Wieso sollte eine Doppelhaushälfte in Colorado besser sein als unser Zuhause, unser gelbes Haus in der Camelia Street, mit der lebhaften Innenstadt von Berkeley direkt um die Ecke? Mama gibt mir nie eine klare Antwort darauf und ich bringe es nicht über mich, sie anzuflehen, ich kann nur nicken.
Schließlich ist es meine Schuld, dass wir so sind. Es ist meine Schuld, dass wir zu dritt sind und nicht zu viert.
Hier sind wir nun also, in einem winzigen Cottage am Ende der Welt, schwankend über dem Abgrund. Als mir klar geworden ist, dass unser Weg nicht nach Hause, sondern ans Meer führt, hat sich mein Magen zu einem engen Knoten verschlungen und sich seitdem nicht wieder gelöst. Peach kann inzwischen schwimmen, aber unsere Familie weiß besser als irgendjemand sonst, dass selbst die beste Schwimmerin innerhalb weniger Minuten ertrinken kann, vor allem in Ozeanen und Flüssen, in denen Felsen und Strömungen wie verborgene Wasserdämonen lauern.
Also habe ich gegen Rose Harbor argumentiert. Oder besser gesagt, ich habe Mama gesagt, dass ich es nicht für eine gute Idee halte. Mama und ich diskutieren nicht. Wir tun kaum noch irgendetwas. Und, wie immer, hat Mama meine Warnungen einfach ignoriert und gesagt, dass Peach schon klarkommt und ich das Meer früher doch geliebt habe.
Mehr hat sie nicht gesagt.
Du hast das Meer früher geliebt, Hazel.
Dann hat sie geseufzt, als wäre diese Änderung in meinen Vorlieben das Schlimmste, was hätte passieren können. Kein Wort über das Warum, kein Wort über Mum.
Ich kann mich nicht mal erinnern, wann sie das letzte Mal Mums Namen ausgesprochen hat.
Jetzt ziehe ich meinen waldgrünen Koffer unter dem Bett hervor, wo er neben Peachs kleinerem gelbem Koffer gelegen hat. Ich habe die meisten meiner Klamotten schon ausgepackt und sie in die obere Hälfte des hölzernen Kleiderschranks gelegt, der schon in dem möblierten Cottage war, aber manche Dinge lasse ich immer in meinem Koffer. Ich ziehe den Reißverschluss meiner marineblauen Bauchtasche auf – der ich den passenden Titel »Sicherheitstasche« gegeben habe – und beginne sie mit Materialien aus meinem Koffer aufzufüllen: Pflaster, antibakterielle Salbe, Sonnencreme, Desinfektionstücher, Desinfektionshandgel, Mückenspray, Haargummis, eine Pinzette, eine Minitaschenlampe, ein Handyladegerät, ein paar Müsliriegel und ein Zwanzig-Dollar-Schein.
»Hazel!«, ruft Peach, ihre Stimme hallt durch den kurzen Flur. »Nicholas und ich sind bereit für Abenteuer.«
Ich schiebe meinen Koffer zurück unters Bett und gehe ins Wohnzimmer. Peach steht in der offenen Haustür, die salzige Meeresbrise weht ihr durch die Haare, und Nicholas, ihr lila Stoff-Narwal, hockt auf ihrer Schulter. Der Wal war das letzte Geschenk von Mum, sie hat es ihr an dem Morgen gegeben, als wir zu unserem Kajakausflug an die Mendocino-Küste aufgebrochen sind. Peach war damals erst drei, es war also völlig klar, dass sie nicht mitkommen konnte, aber sie hat trotzdem geschmollt. Mum hat Nicholas aus dem Spielzeugladen in unserem Viertel mitgebracht, um die Enttäuschung ein bisschen abzuschwächen, und Peach trägt das Ding jetzt immer mit sich rum, klammert sich daran, als wäre es Mum selbst. Nicholas ist inzwischen ziemlich ranzig, so abgeliebt und abgeknuddelt, dass sein Fell ganz fusselig geworden ist und eins seiner schwarzen Knopfaugen fehlt.
Ich mustere Peach von oben bis unten, um sicherzugehen, dass alle Knöpfe geschlossen, alle Reißverschlüsse zugezogen und Schnürsenkel gebunden sind.
Sind sie nicht.
»Peach, du musst Schuhe anziehen.«
»Aber wir gehen doch an den Strand.«
»Na und?« Ich sehe runter auf meine ordentlich geschnürten Sneaker.
»Uuuuuuund«, sagt meine Schwester gedehnt und verdreht die Augen. Das ist ihre neuste Angewohnheit. Das Augenverdrehen. »Ich will meine Zehen in den Sand graben.«
Ich presse die Lippen zusammen und trete hinaus auf die Terrasse. Es ist später Nachmittag, düster und verhangen, die Wolken über uns wirbeln ineinander, als wären sie kurz davor, eine Sintflut auf uns loszulassen. Der dunkelblaue, tiefe Ozean schäumt unter ihnen wie ein wildes Tier. Selbst so ist er wunderschön, aber Schönheit kann trügerisch sein. Da muss man sich nur Quallen anschauen.
Ein paar Stufen führen von unserer Terrasse runter auf einen Kiesweg, der garantiert voller Zeug ist, das zarte, kleine Füße aufschlitzen kann. Aber trotz der ganzen Gefahren hier muss ich zugeben, dass die Sicht wirklich toll ist. Unser Haus – laut einem Holzschild neben der leuchtend blauen Tür heißt es Sea Rose Cottage – ist alt und klein, mit hellen Steinen und strahlend weißen Dachbalken. Um uns herum sind überall Hügel und steinige Wege, Bäume, die an einem sonnigen Tag vermutlich tiefgrün sind. Und das Cottage ist ziemlich abgelegen – das nächste Haus ist ein kleines meergrünes Cottage, ungefähr vierhundert Meter den Strand runter, das ich gerade noch so sehen kann.
Ich atme die salzige Luft ein und hake beide Daumen im Riemen meiner Sicherheitstasche ein, sage mir, dass alles gut gehen wird. Ich habe uns schon so weit gebracht. In zwei ganzen Jahren gab es keine gebrochenen Knochen, keine Krankenhausaufenthalte, nichts, das mehr erfordert hätte als ein Pflaster und etwas antibakterielle Salbe. Peach hüpft um mich herum, brabbelt irgendetwas vom Sand und den Wellen und dass sie das alles wirklich erleben will, nur dass sie beleben sagt, und das ist so süß, dass ich sie nicht mal korrigieren kann.
»Hazel«, ruft Mama aus der Küche, wo sie das Geschirr durchsieht, das unser Vermieter uns zur Verfügung gestellt hat, und spült, was gespült werden muss. Ich stecke den Kopf zurück ins Haus und sehe sie am großen Porzellanspülbecken stehen, wo sie gerade mit einem gestreiften Handtuch eines der Einmachgläser abtrocknet, die wir als Trinkgläser benutzen sollen. »Gönn deiner Schwester ein bisschen Spaß am Strand, ja? Sie geht nicht schwimmen. Es ist noch viel zu kalt so früh im Juni.«
Ich blase die Backen auf und stoße dann langsam die Luft aus. »Sag ihr wenigstens, dass sie Flip-Flops anziehen soll.«
Mama lächelt, aber das Lächeln erreicht ihre Augen nicht. Das tut es nie, nicht mehr. Zumindest nicht, wenn es mir gilt. Aber da kann ich ihr wohl keinen Vorwurf machen.
»Das klingt vernünftig«, sagt sie. »Hast du gehört, Peach Fuzz?«
Peach stöhnt genervt auf. »Naaa gut.« Dann stapft sie zurück in unser Zimmer und taucht kurz darauf mit ihren grellgrünen Flip-Flops in der Hand wieder auf. Sie geht direkt an mir vorbei und schnurstracks aus der Tür.
»Flip-Flops gehören an die Füße, Peach.«
Sie grummelt noch mehr, streift sich die labberigen Schuhe dann aber über die Füße.
»Ich komme in ein paar Minuten nach, okay?«, sagt Mama und stellt das Glas in einen der Schränke.
Ich nicke und folge meiner Schwester nach draußen. Kaum dass sie die oberste Stufe erreicht hat, quietscht sie auf und rast die restlichen Stufen hinunter.
»Peach, warte!«, rufe ich über den Wind. Entweder sie hört mich nicht oder sie will mich nicht hören, denn sie macht keine Anstalten, zu warten. Ich renne schnaufend hinter ihr her, doch trotz meiner langen, zwölfjährigen Beine, die früher ziemlich gut darin waren, sich durchs Wasser zu bewegen, hole ich sie nicht ein. Meine Schwester ist schnell wie der Wind.
Peach ist schon am Ende des Pfads, wo der Kies in Sand übergeht, Sand, der regelrecht übersät ist mit scharfen Steinchen und zerbrochenen Muscheln. Das bremst meine Schwester jedoch überhaupt nicht. Sie kickt die Flip-Flops von ihren Füßen, sobald sie den Strand erreicht hat, und rennt weiter in Richtung Wasser, direkt in die flache Gischt, bis die Wellen ihre Waden hinaufschwappen.
»Peach, komm sofort aus dem Wasser!«, rufe ich, bleibe stehen, bevor das Meer meine Schuhe berühren kann.
Sie kichert und quietscht. »Das ist so kalt!« Sie bückt sich, schöpft eine Handvoll Wasser – Nicholas noch immer unter ihren Arm geklemmt – und wirft es vor sich in die Luft. Winzige Tropfen bleiben an ihren Haarspitzen hängen und ich versuche nicht zu hyperventilieren.
»Peach.«
Doch sie kommt nicht aus dem Wasser. Sie kickt und dreht sich, und ich folge ihr parallel am Strand entlang, immer darauf achtend, Abstand zu den schäumenden Wellen zu halten. Ich spüre, wie meine Nase anfängt zu prickeln, ein sicheres Zeichen dafür, dass ich kurz davor bin, zu weinen. Ich gehe einen winzigen Schritt vor, nur um gleich wieder zurückzuweichen.
»Das macht Spaß!«, sagt Peach.
»Ja … total«, sage ich, als sich mein Atem wieder etwas beruhigt. »Komm raus. Wir können eine Sandburg bauen oder so.«
»Komm du doch rein.«
»Ich komme nicht ins Wasser.«
»Weil du Angst vor dem Meer hast?«
Sie stellt die Frage nicht, um mich zu ärgern, das weiß ich. Sie wendet sich mir zu, ihre Augen groß und neugierig, während sie einen Fuß durch das flache Wasser zieht. Ich frage mich, ob sie sich überhaupt an die Zeit erinnert, als ich das Wasser geliebt habe – Training um sechs Uhr morgens mit meinem Schwimmteam, Tagesausflüge in die Half Moon Bay, wo ich tief getaucht bin, auch wenn das Wasser meistens eiskalt war, und mit meiner Schnorchelmaske nach Lebenszeichen gesucht habe. Als ich noch davon geträumt habe, Meeresbiologin zu werden. Das Kitzeln in meiner Nase wandert hoch in meine Augen und ich blinzle hektisch, um das plötzliche Brennen loszuwerden. Meine Fingerspitzen zucken ohne meine Erlaubnis, als wollten sie aufbegehren, sich vorstrecken, um das kalte, salzige Wasser zwischen ihnen hindurchfließen zu spüren. Verräter. Ich wusste, dass dieser Ozean nichts als Ärger bringen würde.
Ich wende den Blick von Peach ab und schaue den Strand hinauf, nur lang genug, bis ich meine Emotionen wieder unter Kontrolle habe. Aus dem Augenwinkel sehe ich eine Bewegung, die meinen Blick zu dem meergrünen Cottage lenkt. Jemand steht auf der Terrasse – sieht aus wie eine Frau mit leuchtend roten Haaren, aber aus der Entfernung kann ich es nicht mit Sicherheit sagen. Sie beobachtet uns. Sie winkt.
Ich drehe mich weg und konzentriere mich wieder auf meine Aufgabe – meine Schwester am Leben zu halten –, und genau in dem Moment sehe ich, dass Peach an der Lippe blutet.
»Was ist mit deiner Lippe passiert?«, frage ich, eine Hand schon an meiner Sicherheitstasche.
Sie streckt die Zunge raus und leckt das bisschen Blut weg. »Hab draufgebissen.«
»Was? Wann?«
Sie zuckt mit den Schultern. »Als ich gerannt bin.« Aus dem kleinen Schnitt an ihrer Lippe quillt neues Blut und mir dreht sich der Magen um.
Ich rieche diesen salzig-metallischen Geruch, sehe Rot, das sich langsam im Wasser ausbreitet.
Ich blinzle und der Geruch ist verschwunden, das Wasser ist wieder blaugrau, sonst nichts. Ich schüttle den Kopf, versuche die Erinnerungen loszuwerden, aber mein Atem bleibt zwischen meinen Rippen gefangen.
»Komm raus, wir müssen Eis oder so für deine Lippe besorgen«, sage ich.
»Ist gar nicht schlimm!« Sie schöpft Wasser in ihre Hände und reibt es über ihren Mund. Ich schaudere, sehe die Millionen Mikroben vor mir, die durch diesen einen kleinen Schnitt in ihren Körper dringen können.
»Eklig! Lass das.«
»Wieso? Das hilft.« Sie kippt sich noch eine Ladung Wasser über den Mund. Dieses Mal bleibt ihre Lippe danach sauber, das Blut ist zumindest für den Moment verschwunden. Ich atme ein paarmal tief aus.
»Was ist los, ihr zwei?«, fragt Mama, die durch den Sand auf uns zugelaufen kommt. Sie ist barfuß, ihre Sandalen baumeln von ihren Fingern. An einem Handgelenk trägt sie die Perlenarmbänder, die Peach für sie gemacht hat, in allen Farben des Regenbogens. Ich trage selbst auch fünf dieser Armbänder und bin mir ziemlich sicher, dass mindestens zwei von Peachs Bändern inzwischen raus aufs offene Meer treiben.
»Sie schwimmt«, sage ich und deute auf meine Schwester.
»Ich schwimme nicht«, sagt Peach.
»Und sie blutet«, sage ich.
»Tu ich gar nicht, Hazey!«, kreischt sie und ballt die Fäuste.
Mama geht ein paar Schritte ins Wasser, beugt sich dann vor, um den Schnitt zu inspizieren. »Das sieht wirklich nicht schlimm aus, Peach Fuzz. Aber geh nicht tiefer rein, okay? Das Wasser ist ja eiskalt.«
Peach nickt und hüpft weiter durch die Gischt.
»Mama«, sage ich.
Sie sagt nichts. Sie kommt nur langsam zu mir zurück, ihre blassen Beine nass und von Gänsehaut überzogen, und setzt sich in den Sand.
»Beruhig dich, Hazel«, sagt sie sanft. »Setz dich. Versuch dich zu entspannen.«
Ich setze mich, entspanne mich aber definitiv nicht. In letzter Zeit scheint kaum noch etwas anderes aus Mamas Mund zu kommen als Beruhig dich, Hazel. Doch solche Worte regen mich nur noch mehr auf und geben mir das Gefühl, als würde irgendetwas mit mir nicht stimmen, als bekäme ich nicht mal die simpelsten, einfachsten Dinge hin.
»Bist du fertig geworden?«, frage ich Mama, um mich abzulenken.
In jeder neuen Stadt organisiert Mama die Küche, während ich alle Betten beziehe und unsere Wäsche sortiere. Früher in Kalifornien haben sich Mama und Mum die ganze Hausarbeit geteilt, obwohl Mum Bildende Kunst an der Universität unterrichtet und Mama zu Hause an ihren Büchern gearbeitet hat. Jetzt, wo Mum nicht mehr da ist, muss ich die Sachen übernehmen, die sonst liegen bleiben würden. Ich habe Peach beigebracht, wie man die Waschbecken putzt, aber ans Klo lasse ich sie sicher nicht.
»Alles fertig«, sagt Mama und wischt sich etwas Sand vom Knie. »Und bei dir?«
»Auch fertig. Peach braucht neue Jeans. Ihre haben beide Löcher an den Knien.«
»Wie lange haben die jetzt gehalten? Einen Monat?«
»Vierundzwanzig Tage.«
Sie lacht. »Ich besorge nächste Woche welche, wenn ich in der Stadt bin.«
»Das kann ich auch machen«, sage ich. Ich suche immer Peachs Klamotten aus. Zumindest war es in den letzten zwei Jahren so, meistens bei Target, während Mama sich in der Bücherecke umsieht. »Gib mir einfach ein bisschen Geld und ich …«
»Ich mache das schon, Hazel«, sagt Mama. Sie sieht mich mit schief gelegtem Kopf an, ihr Blick ist sanft, aber sie hat die Augen leicht zusammengekniffen. »Okay?«
Ich nicke und wende den Blick ab, meine Kehle schnürt sich mit jeder Minute mehr zusammen.
»Whiii!«, quietscht Peach und kommt auf uns zugeplatscht. »Ich liebe diesen Ozean, Mama!«
»Das freut mich, Süße. Aber du darfst nur ins Wasser gehen, wenn Hazel oder ich dabei sind, okay?«
Peach nickt und das war’s, keine weiteren Wasser-Warnungen. Mama steht auf und wischt sich den Sand von ihren Shorts. »Habt ihr Lust, ein bisschen die Stadt zu erkunden? Ich dachte, wir gehen heute essen und heben uns das Einkaufen für morgen auf.«
»Okay«, sage ich, auch wenn die Stadt erkunden das ist, was mir bei jedem Umzug am wenigsten Spaß macht. Beim Einkaufen habe ich wenigstens ein Ziel, einen Plan. Erkunden überlässt zu viele Variablen dem Zufall, zu viele Leute, die ich nicht einschätzen kann, zu viele Hindernisse. Ich stehe ebenfalls auf und versichere mich, dass meine Sicherheitstasche fest um meine Taille geschnallt ist.
»Dann besorgen wir dir doch mal was Trockenes zum Anziehen, Peach Fuzz«, sagt Mama und hebt Peach aus dem Wasser. Ihre Shorts sind durchweicht bis hoch zu den Taschen. Mama streckt ihre freie Hand nach mir aus und schiebt mir eine Haarsträhne hinters Ohr. Ihre Finger streichen über meine Narben, eine dichte Explosion aus silbernen Linien auf meiner linken Wange, wie die Äste eines kahlen Baums. Ich habe noch mehr kleine weiße Narben an anderen Stellen in meinem Gesicht und auf meinem linken Arm, korngroße Macken hier und da, Überbleibsel von dem Kajakunfall.
Sie sagt jedoch nichts dazu.
Tut sie nie.
Ich glaube, es ist keine Absicht, wenn sie meine Narben so berührt. Peach zählt manchmal meine Narben, wenn wir abends zusammen im Bett liegen. Sie kommt jedes Mal auf eine andere Zahl. Sie war drei, als Mum gestorben ist, ich weiß also nicht, an wie viel sie sich überhaupt erinnert. Ich kann mich an kaum etwas aus der Zeit erinnern, als ich drei war – nur ein paar unscharfe Bilder in meinem Kopf, Mum und Mama und ich im Park in der Nähe unseres Hauses, Mum, die mich auf einem gelben Dreirad schiebt, während Mama Fotos macht.
Trotzdem tut es gut, wenn Peach mich nach meinen Narben fragt, wenn sie sie sieht, wenn sie im Dunkeln flüsternd nach der Mutter fragt, die aussah wie ich, der Mutter, die ihr Nicholas geschenkt hat. Dann erzähle ich ihr zum Beispiel, dass Mum die steilen Felsen im Lassen-Nationalpark wie eine Spinne hochklettern konnte. Dass sie allergisch gegen Erdbeeren war und Schokolade gehasst hat. Dass sie sich Peach als Baby in einer Trage auf den Rücken geschnallt hat, wenn wir alle zusammen bei Point Reyes an der Küste wandern waren. Manchmal war der Nebel dort so dicht, dass ich nicht mal sehen konnte, was direkt vor meinen Füßen war. Ich erzähle ihr auch von Mama, der Mama, die ich früher kannte, der Mama, die nicht an mir vorbeigehen konnte, ohne mir einen Kuss auf den Scheitel zu drücken oder mich kurz zu umarmen, der Mama, die samstags am allerliebsten mit mir auf der Couch saß, zusammengekuschelt unter einer großen Decke, und stundenlang gelesen hat.
Peach liebt diese Geschichten, aber irgendwann bekommt sie dann eine kleine Falte zwischen ihren Augenbrauen und fährt mit dem Finger meine Narben nach, und genau in dem Moment wechsle ich dann das Thema oder sage ihr, dass wir jetzt schlafen müssen.
Ich will, dass sie sich an Mum erinnert, daran, wie unsere Familie war.
Ich will nicht, dass sie sich daran erinnert, wieso Mum für immer weg ist, wieso unsere Familie kaputt ist und dass es alles meine Schuld ist.
Wir wenden dem Ozean unsere Rücken zu und gehen den Pfad hinauf zu unserem kleinen Cottage. Mama trägt Peach und meine Schwester hat ihren Kopf auf Mamas Schulter gelegt. Umziehen ist immer anstrengend – das Einpacken eines Lebens, die Fahrt und dann das Auspacken eines ganz neuen Lebens, in einer neuen Stadt, einem neuen Haus mit kahlen Wänden und völlig frei von Erinnerungen. Ich fühle mich schwer, als ich zum Sea Rose Cottage hinaufsehe, als könnte ich in diesem Haus verschwinden, vergessen werden, genau wie Mum.
Kurz bevor wir unsere Veranda erreichen, bemerke ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Als ich mich umdrehe, sehe ich die rothaarige Frau aus dem grünen Haus auf uns zueilen, neben ihr her rennt ein rothaariges Mädchen, das etwa so alt aussieht wie ich.
»Komm schon, Mama, ich hab Hunger«, sage ich und beschleunige meine Schritte. Mama sucht immer recht abgelegene Häuser für uns aus und das ist das Einzige, was mir an all diesen neuen Orten gefällt. Seit dem Unfall fühle ich mich unwohl und sage kaum was, wenn andere Leute dabei sind, vor allem Kinder in meinem Alter, die oft ziemlich unhöflich mein Gesicht anstarren. Außerdem, wieso soll ich mich mit irgendjemandem anfreunden, wenn wir in drei Monaten sowieso wieder weg sind? Wieso soll ich mir Freunde suchen, die ich nur wieder verliere?
In den letzten zwei Jahren hat Mama mich zu Hause unterrichtet. Wir benutzen Onlinekurse und sie überprüft jeden Nachmittag, was ich gemacht habe. Wir haben nie wirklich darüber gesprochen. Wir haben über einiges nie wirklich gesprochen, aber seit wir Kalifornien verlassen haben, hat sie nie ein Wort dazu gesagt, dass Peach oder ich in eine richtige Schule in einem richtigen Gebäude gehen sollen. Ich nehme an, es ist den Aufwand einfach nicht wert, weil wir so oft umziehen, aber auch wenn wir irgendwann zurück nach Kalifornien gehen, will ich zu Hause unterrichtet werden. Von anderen Kindern umgeben zu sein, die mich nur anstarren und mir Fragen stellen würden, die ich nicht beantworten will, ganz zu schweigen von den unzähligen Gefahren, die in einer Schule zu finden sind, von Milliarden Bakterien bis hin zu Pausenhofbullis – nein danke. Peach und ich machen uns unsere eigene Schule zu Hause, wo ich auf uns beide aufpassen kann.
Leute gibt es aber leider überall und Nachbarn tendieren dazu, neugierig zu sein, vor allem wenn man neu in der Stadt ist. Manche finden es sicher nett, so willkommen geheißen zu werden, aber ich nicht. Ich werfe noch einen Blick zurück zum Strand, die Frau ist uns immer noch dicht auf den Fersen.
»Okay, okay, Haze, ganz ruhig«, sagt Mama, als ich gegen ihren Rücken drücke und versuche sie die Stufen hochzuschieben.
»Lass das, Hazey«, sagt Peach und haut mit Nicholas nach mir. Sie wird quengelig, was bedeutet, dass sie Hunger hat, also nur ein Grund mehr, sich zu beeilen.
Die Frau ist jetzt schon deutlich näher gekommen, nah genug, dass ich erkennen kann, dass sie kurze Haare hat, auf einer Seite rasiert, auf der anderen wellen sie sich elegant über ihre Stirn. Das Mädchen neben ihr hat lange, wilde, tiefrote Haare. Und ich meine, richtig wild. Sie sieht ein bisschen aus wie Merida aus dem Disneyfilm, nur dass ihr Haar eher wellig als gelockt ist, aber sie hat definitiv diesen Vogelnest-Look. Sie ist vielleicht drei Zentimeter größer als ich und trägt ein langärmliges dunkelblaues T-Shirt, auf dem in geschwungener meergrüner Schrift steht DIE ROSENMAID LEBT, und dazu Leinenshorts. An einem regenbogenfarbenen Band hängt eine dieser Sofortbildkameras um ihren Hals. Sie bemerkt meinen Blick und hebt eine Hand, um zu winken, doch ich drehe mich weg, bevor sie auch nur einen Finger bewegen kann.
»Evie?«
Mama erstarrt. Ich erstarre. Sogar Peach erstarrt, wobei sie natürlich kaum eine Wahl hat, weil sie wie ein Koala an Mama hängt. Wir drehen uns alle zu der rothaarigen Frau um, die jetzt so nah ist, dass sie stehen bleibt, die Hände in die Hüften gestemmt, während sie heftig atmet und Mama direkt anstarrt. Eine Sekunde lang habe ich die Hoffnung, dass das alles nur eine Verwechslung ist.
Mama heißt Evelyn, aber niemand nennt sie Evie. Zumindest nicht, soweit ich weiß. Nicht mal Mum hat sie so genannt. Aber dann höre ich, wie sie scharf die Luft einsaugt, und die fremde Frau kommt noch einen Schritt näher. Ich weiche zurück. Mama bleibt stehen.
»Evelyn«, sagt die Frau und zerstört damit meine letzte Hoffnung. Sie kennt meine Mutter.
Und ich habe absolut keine Ahnung, wer sie ist.
Claire?«, sagt Mama. Ihre Stimme ist ein hauchdünnes Flüstern.
Ein Strahlen breitet sich über das Gesicht der Frau aus und sie rennt auf uns zu, wirbelt mit ihren nackten Füßen den Sand auf. »Oh mein Gott, ich wusste, dass du es bist! Den Gang würde ich überall erkennen.«
Mama gibt ein komisches Geräusch von sich – halb Schluchzen, halb Lachen – und macht ein paar Schritte nach vorn. Sie setzt Peach ab. Ich ziehe Peach an meine Seite und weiche so weit wie möglich zurück, bis ich mit dem Rücken gegen das Geländer der Veranda stoße.
Dann umarmt die Frau Mama, schlingt ihre Arme komplett um Mamas Rücken. Sie legt sogar ihr spitzes Kinn auf Mamas Schulter. Zuerst wird Mama irgendwie ganz steif – ich kann mich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal jemanden umarmt hat, so richtig, abgesehen von Peach, die auf regelmäßiges Kuscheln besteht und oft auch in Mamas Bett schläft –, aber dann sieht sie plötzlich aus wie ein Stück Butter in der Mikrowelle, sie schmilzt in den Armen dieser Fremden.
»Claire«, sagt sie wieder, als könne sie es wirklich nicht glauben.
Die Frau weicht ein Stück zurück und nickt. »Meine Güte, es ist … was? Fünfundzwanzig Jahre her?«
»Das kommt hin«, sagt Mama.
»Was um alles in der Welt tust du hier?«, fragt die Frau.
»Wir sind gerade eingezogen. Wir bleiben den Sommer über hier.«
»Unglaublich«, sagt Claire und deutet dann mit dem Daumen über ihre Schulter auf das grüne Cottage. In der Nähe der Veranda fällt mir ein kurzer Steg auf, ein kleines Boot tanzt auf den Wellen. Ich schaudere. »Wir wohnen gleich da den Strand runter – kannst du das fassen?«
»Kann ich nicht«, sagt Mama, sie lacht und schüttelt den Kopf. »Kann ich wirklich nicht.«
»Lemon.« Die Frau – Claire heißt sie wohl – wendet sich dem Mädchen hinter ihr zu, die genau in dem Moment ihre hellblaue Kamera senkt. Sie reißt den Kopf hoch, ihre braunen Augen sind riesig und haben diesen schuldbewussten Ausdruck – und sie starrt mich direkt an. Ich ziehe meine Haare hinter dem Ohr vor und lasse sie wieder über meine vernarbte Wange fallen.
»Pack das Ding weg, damit ich dir meine alte Freundin vorstellen kann«, sagt Claire.
»Sorry, sorry«, sagt das Mädchen. Sie dreht die hellblaue Plastiklinse und das Objektiv schließt sich mit einem Klicken.
Ihre Wangen sind leuchtend rot angelaufen und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie gerade ein Foto von uns machen wollte, ohne uns vorher zu fragen. Oder besser gesagt ein Foto von mir, weil sie ja nur mich so angestarrt hat. Ich drücke meine Haare gegen meine Wange und beiße die Zähne zusammen.
»Hi, oh mein Gott, hi!«, sagt das Mädchen. Der Wind wirbelt ihr die Haare ins Gesicht und sie wischt sich ein paar Strähnen aus den Augen. Ihre Nägel sind türkis lackiert. »’tschuldigung. Wow, es ist echt windig heute.«
»Ist es am Strand nicht immer windig?«, frage ich, meine Stimme trocken wie ein altes Stück Brot.
Mama wirft mir über die Schulter hinweg einen Blick zu.
»Ja, stimmt, das ist es!«, sagt das Mädchen. Als sie ihr Haar unter Kontrolle gebracht hat, starrt sie mich wieder an, ihr Mund steht sogar ein bisschen offen. Ich spüre Hitze in meine Wangen steigen und starre finster zurück.
»Lemon, das ist Evelyn«, sagt Claire.
Das Mädchen starrt mich weiterhin an. Das ist echt merkwürdig. Claire stupst sie am Ellbogen an und sie scheint wieder zu sich zu kommen. »Sorry, tut mir leid, du siehst nur so …« Sie schüttelt den Kopf und ich starre auf meine Füße, mein ganzes Gesicht steht jetzt in Flammen. Meine Narben fühlen sich an wie helle Blitze auf meiner Haut.
»Sorry, hi, freut mich, dich kennenzulernen«, sagt das Mädchen schließlich, streckt den Arm aus und schüttelt Mama die Hand, wie eine Erwachsene.
»Gleichfalls … Lemon, richtig?«, sagt Mama.
»Clementine«, sagt das Mädchen. »Aber als ich klein war, konnte ich das nicht aussprechen und dann ist Lemon irgendwie hängen geblieben.«
»Hey, ich heiße auch wie eine Frucht!«, sagt Peach, macht sich von mir los und geht auf das Obstmädchen zu.
»Ehrlich?«, fragt Lemon, lehnt sich mit den Händen auf den Knien nach vorn, sodass sie auf Peachs Augenhöhe ist. »Lass mich raten … Erdbeere?«
Peach kichert. »Neee.«
»Hm … Mango?«
Peach schüttelt den Kopf.
»Aprikose? Pflaume? Drachenfrucht?«
»Drachenfrucht?«, sagt Peach und schlägt sich lachend die Hand vor den Mund. »So ein Quatsch!«
Lemon richtet sich auf und tippt sich mit dem Finger gegen das Kinn. »Tja, dann bin ich ratlos.«
»Peach! Ich heiße Peach!«
»Natürlich!«, sagt Lemon und stemmt die Hände in die Hüften. »Hübsch wie ein Pfirsich.«
Peach strahlt. »Mein richtiger Name ist Penelope Foster Bly, aber Hazey hat mich Peach genannt. Ihr zweiter Name ist auch Foster, weil …«
»Und das hier ist meine ältere Tochter, Hazel«, sagt Mama. Für eine Sekunde legt sie mir ganz leicht eine Hand auf den Rücken, zieht sie aber gleich wieder weg. Ich sehe zu ihr auf, ein Kloß in meinem Hals. Mums Nachname war Foster – Nadine Elizabeth Foster. Sie ist in England aufgewachsen, bis sie achtzehn war, und ist dann fürs Studium nach Amerika gekommen. Als ich geboren wurde, wollten sie und Mama, dass ich nur einen Nachnamen habe, also haben sie Foster als meinen zweiten Vornamen ausgesucht und mir Mamas Nachnamen gegeben, Bly. Und als Mama Peach bekommen hat, haben sie es genauso gemacht. »Sie ist zwölf.«
»Hey, ich auch«, sagt Lemon. Ich versuche meine Mundwinkel zu einem Lächeln zu heben, aber mein Magen ist so angespannt, dass es vermutlich eher aussieht wie eine Grimasse. Lemon bekommt natürlich ein perfektes Lächeln hin, aber ich sehe, wie ihr Blick über mein Gesicht wandert, dann runter zu meiner Sicherheitstasche huscht und wieder weg. Als ich kurz darauf wieder zu ihr sehe, starrt sie wieder mein Gesicht an. Ich weiß, dass ich rot anlaufe, was meine Narben nur noch deutlicher hervortreten lässt.
»Es ist so schön, dich kennenzulernen, Hazel«, sagt Claire. Sie setzt dazu an, mir ihre Hand zu reichen, doch als sie sieht, dass ich meine weiter hinter dem Rücken verschränkt halte, lässt sie sie wieder sinken und lächelt nur. »Und dich auch, Peach. Meine Güte, Evie, sie ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten.«
»Ja, nicht wahr?«, sagt Mama und streicht über Peachs Locken.
Ich starre auf meine Füße, der Kies verschwimmt vor meinen Augen.
In meinem Kopf höre ich die Stimmen meiner Mütter: Meine Güte, Nadine, sie ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten.
Ja, nicht wahr?
»Mädels«, sagt Mama. »Das ist Claire, sie und ich waren beste Freundinnen. Bis wir wie alt waren? Zwölf, dreizehn?«
»Zwölf«, sagt Claire. »Und dann ist meine ganze Welt zusammengebrochen, weil meine Familie von Kalifornien nach Maine gezogen ist, weißt du noch?«
»Deine Welt ist zusammengebrochen?«, fragt Lemon. »Ich dachte, du liebst Maine.«
Claire lacht. »Tu ich auch, Liebling, aber wenn man zwölf ist, ist es eben die absolute Katastrophe, seine beste Freundin und erste Liebe zu verlieren.«
Lemon reißt die Augen auf. Ich auch, sogar Peach steht der Mund offen.
»Was?«, fragt Lemon, zischt das S dabei so laut, dass ich es sogar über den Wind hören kann.
»Oh mein Gott«, sagt Mama und hält sich mit einer Hand die Augen zu. Aber sie lächelt. »Claire.«
»Erzähl mir nicht, dass du das vergessen hast«, sagt Claire, die Fäuste spielerisch in die rundliche Hüfte gestemmt.
Mamas Blick wird plötzlich ganz weich, ihre Augen schimmern. »Natürlich nicht.«
Dann starren sie sich geschlagene zehn Sekunden lang an. Richtig intensiv. Zehn Sekunden klingen vielleicht nicht nach viel, aber die zehn Sekunden, in denen meine Mutter in die Augen einer Frau starrt, die definitiv nicht meine Mum ist, fühlen sich an wie eine Ewigkeit.
»Moment, Moment, Moment«, sagt Lemon superschnell. Sie hält dramatisch die Hände hoch. »Erste Liebe? So wie in … erster Kuss?«
»Mama!«, sagt Peach kichernd. Dann schwingt sie die Hüfte von einer Seite zu anderen und singt: »K-Ü-S-S-E-N!«
»Peach, hör auf damit«, sage ich und beobachte, wie Mama ein Lächeln unterdrückt.
»Also?«, fragt Lemon. Sie vibriert quasi vor Aufregung.
»Entschuldige bitte meine Tochter, Evie«, sagt Claire und streicht Lemon über den Kopf. »Sie hat vor Kurzem Liebe und Romantik für sich entdeckt.«
»Es ist lange her, dass ich an früher gedacht habe«, sagt Mama.
»Für mich auch«, sagt Claire.
»Erzählt uns, was passiert ist!«, ruft Lemon, sie hat allen Ernstes ihre verschränkten Hände unters Kinn gepresst. »Bitte, bitte.«
Das läuft hier völlig aus dem Ruder. Ich muss Mama irgendwie von dieser Familie wegbekommen. Meine Brust ist ganz eng und mein Magen tost wie das Meer.
»Mama, Peach und ich haben Hunger«, sage ich. Ich nehme Peach an der Hand und versuche sie Richtung Sea Rose Cottage zu ziehen. Sie stemmt die Fersen in den Sand, aber ich lasse nicht los.
Mama nickt, doch bevor sie sich höflich verabschieden kann, was sie mit Sicherheit gerade tun wollte, mischt sich Claire ein.
»Hey, Lemon und ich wollten gerade zum Abendessen in die Stadt gehen«, sagt sie, ihre braunen Augen huschen zwischen Mama und mir hin und her. »Wie wäre es, wenn wir alle zusammen gehen? Ich würde mich gern noch weiter unterhalten.«
»Ja«, sagt Lemon, sie zieht das A in die Länge, ihre Stimme klingt ganz atemlos. »Mom, wir müssen ihnen dein Restaurant zeigen.«
»Oh, Süße, da müssen wir heute doch nicht hingehen«, sagt Claire.
»Mom. Komm schon, das ist ein besonderer Anlass.«
Claire schüttelt den Kopf. »Ich weiß nicht, Lem.«
»Moment mal«, sagt Mama. »Du hast ein Restaurant?«
Claires Wangen laufen rot an. »Ja. Nur ein kleiner Laden in der Stadt und ich …«
»Es ist nicht nur ein kleiner Laden«, sagt Lemon. »Es ist ein großer, wundervoller, fantastischer Laden, der immer voll ist, und deswegen müssen wir da jetzt hin.«
»Lemon …«, beginnt Claire, aber Mama fällt ihr ins Wort.
»Natürlich müssen wir da hin«, sagt sie. »Du hast dein eigenes Restaurant? Ich meine, natürlich hast du das. Du hast schon die ganze Zeit gekocht, als wir noch Kinder waren.« Dann lächelt Mama dieses kleine wissende Lächeln, das ich sonst nur an ihr gesehen habe, wenn sie und Mum über etwas gesprochen haben, das vor meiner Geburt passiert ist. Mein Magen zieht sich zusammen.
»Weißt du noch, als wir fast eure Küche abgebrannt haben?«, fährt Mama fort.
»Oh mein Gott«, sagt Claire und versteckt das Gesicht hinter ihren Händen. »Die Butterkaramellkekse.«
»Hey, wir waren Kinder. Wer kann denn ahnen, dass man den Ofen ausmachen muss, wenn man fertig ist? Aber diese Kekse …« – sie greift nach Lemons Arm – »Lemon, diese Kekse, ich sag es dir, die waren göttlich.«
Dann beschreibt Mama die Kekse bis ins kleinste Detail. Ich sehe ihr beim Reden zu, ihre Hände flattern, sie hat ein Lächeln im Gesicht und die Worte fließen und fließen und fließen aus ihrem Mund wie ein Fluss. Ich habe sie seit zwei Jahren nicht mehr so viel reden gehört. Nicht mehr, seit Mum gestorben ist.
»Und damals war sie erst sieben«, sagt Mama kopfschüttelnd. »Sie ist so talentiert.«
Claire schüttelt den Kopf, aber sie lächelt und hat den Blick noch immer nicht von Mama abgewandt.
»Butterkaramellkekse mit Schokostücken«, sagt Lemon. »Das sind meine absoluten Lieblingskekse.«
»Du machst sie immer noch?«, fragt Mama.
»Sie verkauft sie sogar mit hausgemachter Schlagsahne im Rosenmaid Café. So heißt ihr Restaurant.«
Lemon stemmt die Hände in die Hüften. »Noch ein Grund mehr hinzugehen. Außerdem, wo sonst bekommt man Roseneis?«
»Roseneis?«, fragt Mama.
»Roseneis«, sagt Lemon. »Nach dem Rezept von meiner Mom.« Dann beugt sie sich vor, um wieder auf einer Höhe mit meiner kleinen Schwester zu sein. »Und, Peach, meine fruchtige Freundin« – Peach kichert – »was hältst du denn von Meerjungfrauen?«
Peachs Augen werden groß. »Ich liebe Meerjungfrauen. Du siehst aus wie Ariel!«
Lemon lacht. »Tja, ich kann dir garantieren, dass ich nicht meine Stimme an eine Meereshexe verkauft habe, um Beine zu bekommen, aber …«
»Lemon«, sagt Claire.
»Was? Sie hören die Geschichte sowieso früher oder später«, sagt Lemon. »Dein Restaurant ist nach ihr benannt.«
»Nach wem ist es benannt?«, fragt Peach, ihr Mund steht staunend offen.
Claire schüttelt den Kopf und wirft Mama einen Blick zu. Es ist die Art Blick, von der Erwachsene denken, dass sie uns nicht auffällt – die Art Blick, die bedeutet: Ich erzähl’s dir später, mein Kind spinnt ein bisschen –, aber sie fällt uns auf.
Mir fällt alles auf.
Mama erwidert den Blick. Langsam wird die Sache ernst. Meine Gedanken wirbeln durcheinander auf der Suche nach einem Ausweg aus dieser Situation. Ich versuche Mamas Blick aufzufangen, lege so viel Verzweiflung wie nur möglich in meine Miene, aber sie sieht nicht mal in meine Richtung. Sie ist zu beschäftigt mit dem Blick.
»Was wäre, wenn ich dir erzähle«, fährt Lemon fort, »dass es Meerjungfrauen wirklich gibt und dass eine direkt hier im Meer vor Rose Harbor lebt. Genau. Da. Draußen.« Sie streckt den Arm aus und deutet den Horizont entlang, ihre Finger schweben zwischen Himmel und Meer.
»Ehrlich?«, flüstert Peach, ihr Mund steht offen.
»Ehrlich«, sagt Lemon.
»Eine bekannte Legende hier in der Gegend«, sagt Claire zu Mama. »Wir haben eine Meerjungfrau im Hafen, wusstest du das nicht?«
Mama lacht.
»Die ganze Stadt ist ein bisschen besessen«, sagt Claire, seufzt dann tief und ihr Blick wird traurig. »Lemon … na ja, sie glaubt daran.«
»Weil es eine wunderschöne, zauberhafte Geschichte ist«, sagt Lemon.
»Süße, können wir das jetzt bitte nicht anfangen?«, sagt Claire, die Warnung klar in ihrer Stimme. Lemon wendet den Blick ab, sieht aufs Meer hinaus. Der Wind weht ihr die Haare ins Gesicht, verbirgt ihre Miene.
»Es ist eine nette Legende«, sagt Claire und legt Lemon eine Hand auf die Schulter. »Aber es ist eine Legende. Allerdings sehr gut fürs Geschäft, das gebe ich zu.«
»Also ich bin jetzt neugierig«, sagt Mama.
»Ich auch!«, ruft Peach.
Ich warte darauf, dass Lemon aufgeregt quietscht oder so, aber sie schaut nur weiter übers Wasser, die Kamera ans Auge gepresst. Sie drückt auf den Auslöser und sofort kommt ein kleines rechteckiges Foto aus dem Apparat geschossen. Sie wedelt damit kurz durch die Luft und steckt es dann in ihre Tasche. Einen Moment lang frage ich mich, was auf dem Foto zu sehen ist, ob da wirklich eine Meerjungfrau unter dem grauen Ozean schwimmt, aber dann fängt Peach an auf und ab zu hüpfen, nach Roseneis und Butterkaramellkeksen zu verlangen, und bevor ich noch etwas zu Mama sagen kann, steigt sie schon mit Claire die Stufen zu unserer Veranda hinauf, Arm in Arm und ohne sich noch mal zu mir umzudrehen.
Das Ortszentrum von Rose Harbor ist nur einen guten Kilometer von unserem Cottage entfernt, am anderen Ende eines steinigen Strands. Es könnte ein wirklich schöner Spaziergang sein, Peach zwischen Mama und mir, wir halten uns an den Händen, während wir die salzige Meeresluft einatmen und ein paar Wildrosen pflücken, die hier und da zwischen den Dünen und Felsen blühen. Meerrosen nennen die Touristen diese Blumen, ein hübscher Name, das muss selbst ich zugeben. Erklärt zumindest den Namen unseres Cottages. In unserem Garten in Kalifornien hatten wir auch Wildrosen, aber die waren hellrosa, die hier sind leuchtend pink.
Also ja, es könnte ein wunderschöner, ruhiger Abend sein und mein Herz könnte schön entspannt und gleichmäßig schlagen.
Stattdessen geht Mama ein paar Schritte vor mir, redet mit Claire, lacht immer wieder und hat sich noch immer bei ihr untergehakt, als wären sie Teenager auf dem Weg in die Schule.
Stattdessen hält Peach Lemons Hand, während Lemon ununterbrochen redet.
Stattdessen fühlt sich mein Herz an wie ein wildes Tier, das in meinem Brustkorb gefangen ist. Es kann jede Sekunde ausbrechen.
»… Rosenmaid Café ist so toll«, sagt Lemon gerade. »Mom hat da so viel Arbeit reingesteckt und man kann jede Menge über die Rosenmaid lernen und das Roseneis ist echt was ganz Besonderes. Es wird aus echten Rosenblüten gemacht, deswegen schmeckt es ein bisschen wie Parfüm, aber ich mag es trotzdem.«
»Oh.« Ich überlege angestrengt, was ich noch sagen könnte, aber in meinem Kopf ist nur dieses Rauschen und mein Mund ist so trocken, dass ich Angst habe, an meiner Zunge zu ersticken. Ich habe wirklich keine Übung mehr darin, mit Leuten in meinem Alter zu reden. Oder mit irgendwem, mal abgesehen von Peach und Mama und hin und wieder einer Angestellten in einem Laden. Und selbst dann beschränke ich mich auf Bitte und Danke. Meine Narben sind sehr auffällig und sie werden niemals wieder verschwinden. Manchmal, wenn jemand richtig mutig ist, werde ich sogar danach gefragt, wie ich diese Narben bekommen habe, und das ist etwas, über das ich niemals reden will.
Ich sehe auf meine Füße, während wir weitergehen. Der Ozean ist viel zu nah. Wir sind auf trockenem Sand, gut dreißig Meter vom Wasser entfernt, aber es gäbe doch sicher auch eine normale Straße oder einen Gehweg, der in die Stadt führt. Es hat noch nicht geregnet und das Wasser ist immer noch wütend. Oder traurig.
Vielleicht beides.
Ich werfe einen Blick zu Peach, aber Lemon hält ihre Hand noch immer fest – und dann wandern meine Augen gleich wieder zurück zum Wasser, als würden sie magnetisch angezogen. Weit draußen hinter den großen Felsen flirrt etwas in den Wellen, ein Fisch, der nach dem Himmel greift.
»Wie kann denn etwas wie Parfüm schmecken?«, fragt Peach.
Ich setze zu einer Antwort an, aber Lemon ist schon dabei, bevor ich auch nur ein Wort rausbringe. Sie gibt Peach exakt dieselbe Antwort, die ich ihr auch gegeben hätte – dass Nase und Mund verbunden sind und so, und dass uns deswegen Gerüche an Geschmäcker erinnern können und umgekehrt – aber trotzdem. Ich spüre ihren Blick auf mir, sogar während sie mit meiner Schwester redet, ihre Augen huschen immer wieder von meiner Sicherheitstasche zu meinem Gesicht, das ich hinter meinen Haaren zu verbergen versuche, aber mit dem ganzen Wind ist das gar nicht so einfach. Schweiß sammelt sich unter meinen Armen und auf meiner Oberlippe – und das, obwohl es ziemlich kühl hier draußen ist. Ich glaube, ich fange sogar an zu stinken.
Vor uns reden und lachen Mama und Claire immer weiter, lachen und reden.
»Toll, oder?«, fragt Lemon. Sie läuft jetzt direkt neben mir, ihre Schulter streift meine.
»Was?«
»Die beiden.« Sie deutet auf unsere Mütter und richtet dann ihre Kamera auf sie, dreht ein wenig am großen Objektiv und macht dann ein Foto. Das Ding piept und zirpt und spuckt dann noch ein rechteckiges Stück Papier aus, ganz dunkel bis auf einen schmalen weißen Rand. Sie hält es mir vors Gesicht, als sich von der Mitte aus langsam Farbe ausbreitet, Gestalten nehmen Form an, werden zu Menschen. Ich nehme das Bild und sehe zu, wie unsere Mütter auf dem Papier zum Leben erwachen. Sie haben uns natürlich die Rücken zugedreht, aber Lemon hat sie genau im richtigen Moment erwischt, sie haben die Gesichter einander zugewandt, sodass man beide im Profil sieht. Das Leuchten der Abenddämmerung überzieht sie mit einem Hauch Violett und Silber.
Es ist ein hübsches Bild und es bringt meinen Magen dazu, sich noch mehr zu verknoten.
»Jetzt werden wir uns immer an diesen Abend erinnern, genau so, wie er war«, sagt Lemon, nimmt mir das Foto wieder ab und steckt es in die Tasche. »Es ist fast so was wie ein Wunder, dass ihr hierhergezogen seid, findest du nicht? An den Strand, direkt neben uns? Das ist bestimmt Schicksal.«
»Ähm …«
»Meinst du, sie mögen sich immer noch? Sie müssen uns unbedingt die ganze Geschichte erzählen, findest du nicht?«
»Die ganze Geschichte von … was?« Ich schlucke hart, wünsche mir, ich hätte nicht gefragt, hoffe, dass sie mir nicht antwortet. Nur dass sie es natürlich trotzdem tut.
»Wie sie sich kennengelernt haben. Wie sie sich geküsst haben.« Sie zieht das Foto wieder aus ihrer Hosentasche und wedelt damit durch die Luft. »Ich meine, schau dir doch …« Sie bleibt abrupt stehen und zieht an meinem Arm. »Warte mal. Oh mein Gott.«
»Was?« Dieses Mädchen macht mich echt ganz schwindelig. Ich befreie mich aus ihrem Griff, aber das scheint ihr nicht mal aufzufallen.
Lemon lehnt sich zu mir und flüstert: »Sie ist doch nicht verheiratet, oder?«
»Was?«
»Verheiratet. Ich meine, heute war zwar niemand bei euch, aber ich habe gar nicht dran gedacht … Hast du einen Dad? Oder vielleicht eine zweite Mom? Meine Mom ist bisexuell, sie mag also Männer und Frauen, oder eigentlich jeden.«
Sie hat die Augen so weit aufgerissen, dass ich mir Sorgen machen würde, dass sie ihr gleich aus dem Kopf fallen, aber ich bin zu sehr damit beschäftigt, heftig zu schlucken und zu versuchen zu atmen. Mum war auch bisexuell, ich weiß also, was das bedeutet, und Mama hat mir schon früh erklärt, dass sie die Bezeichnung lesbisch