Ein Zweikampf - Anton Tschechow - E-Book

Ein Zweikampf E-Book

Anton Tschechow

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Beschreibung

Der Sozialdarwinist Nikolai Wassiljewitsch fordert den faulen Beamten und ehemaligen Philosophiestudenten Iwan Andrejitsch Lajewskij zum Duell. Die Streitigkeit soll am frühen Morgen ausgetragen werden. In der Nacht findet Lajewskij keinen Schlaf und sinnt über sein vertanes Leben nach. Er hat eine verheiratete Frau mit falschen Versprechungen ihrem Mann abgejagt und auch ihr Leben ins Chaos gestürzt, von seinem Freund Dr. Samoilenko hat er sich Geld geliehen, das er nicht zurückzahlen kann. Und während all dieser Gedanken laufen die Duellvorbereitungen unerbittlich ab. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 188

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Anton Tschechow

Ein Zweikampf

Novelle

Anton Tschechow

Ein Zweikampf

Novelle

Überarbeitung und Korrekturen: Null Papier VerlagHerausgeber: Jürgen Schulze Übersetzer: Korfiz Holm Published by Null Papier Verlag, Deutschland Copyright © 2017 by Null Papier Verlag 1. Auflage, ISBN 978-3-954189-68-7

null-papier.de/448

Das hier veröffentlichte Werk ist eine kommentierte, überarbeitete und digitalisierte Fassung und unterliegt somit dem Urheberrecht. Verstöße werden juristisch verfolgt. Eine Veröffentlichung, Vervielfältigung oder sonstige Verwertung ohne Genehmigung des Verlages ist ausdrücklich untersagt.

Inhaltsverzeichnis

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

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I

Acht Uhr mor­gens war es, die Zeit, wo die Of­fi­zie­re, Be­am­ten und Som­mer­gäs­te nach der schwü­len, hei­ßen Nacht im Meer zu ba­den pfleg­ten. Nach dem Bade ging man in den Pa­vil­lon und trank Kaf­fee oder Tee. Iwan An­dre­jitsch La­jew­skij, ein blon­der, ha­ge­rer Mann von acht­und­zwan­zig Jah­ren, traf, als er, die Uni­form­müt­ze des Finanzres­sorts auf dem Kopf und Pan­tof­feln an den Fü­ßen, zum Ba­den kam, am Stran­de vie­le Be­kann­te und dar­un­ter sei­nen Freund, den Mi­li­tär­arzt Sa­moi­len­ko.

Dok­tor Sa­moi­len­ko war ein Mann von di­cker, auf­ge­dun­se­ner Ge­stalt, auf der ohne Hals ein großer, kurz ge­scho­re­ner Kopf saß. Er hat­te ein ro­tes Ge­sicht, eine ge­wal­ti­ge Nase, strup­pi­ge schwar­ze Brau­en und einen grau­en Ba­cken­bart. Sei­ne Stim­me war ein hei­se­rer Mi­li­tär­bass. So mach­te er bei der ers­ten Be­geg­nung einen un­an­ge­nehm rau­bei­ni­gen Ein­druck auf je­der­mann. Aber schon nach we­ni­gen Ta­gen fand man sein Ge­sicht un­ge­wöhn­lich gut­mü­tig, lie­bens­wür­dig und so­gar hübsch. Trotz sei­ner Plump­heit und sei­ner rau­en Art war er ein fried­lie­ben­der, un­end­lich gut­mü­ti­ger, wohl­wol­len­der und ver­bind­li­cher Mensch. Mit der gan­zen Stadt stand er auf du, al­len pump­te er Geld, ku­rier­te alle, stif­te­te Ver­lo­bun­gen und Ver­söh­nun­gen und ar­ran­gier­te Pick­nicks, bei de­nen er dann Ham­mel­fleisch am Spieß briet und aus Thun­fi­schen eine sehr wohl­schme­cken­de Sup­pe koch­te. Es war nur eine Stim­me, er war ein aus­ge­zeich­ne­ter Mensch. Nur zwei Schwä­chen hat­te er: ers­tens schäm­te er sich sei­ner Gut­mü­tig­keit und such­te sie durch grim­mi­ges Dr­ein­schau­en und künst­li­che Grob­heit zu mas­kie­ren und zwei­tens lieb­te er es, wenn die La­za­rett­ge­hil­fen und Sol­da­ten zu ihm Ex­zel­lenz sag­ten, ob­wohl er erst Staats­rat war.

»Eine Fra­ge, Alex­an­der Da­wi­do­witsch«, be­gann La­jew­skij, als sie bei­de bis an die Schul­tern im Was­ser wa­ren, »ge­setzt den Fall, du hät­test ein Weib ge­liebt und mit ihr zu­sam­men­ge­lebt mehr als zwei Jah­re, und dann, wie es geht, hört die Lie­be auf, und du fühlst, dass sie für dich eine Frem­de ge­wor­den ist. Was wür­dest du in die­sem Fall tun?«

»Sehr ein­fach: geh, mein En­gel, wo­hin dich der Wind trägt. Und Schluss.«

»Das ist leicht ge­sagt. Aber wenn sie nir­gends hin kann? Sie steht al­lein in der Welt, hat kei­nen Ver­wand­ten, kei­nen Pfen­nig, sie ver­steht auch nicht zu ar­bei­ten.«

»Ach was? Schmeiß ihr eine ein­ma­li­ge Zah­lung von fünf­hun­dert Ru­beln in den Ra­chen, oder fünf­und­zwan­zig im Mo­nat. Was wei­ter? Furcht­bar ein­fach.«

»Ge­setzt den Fall, du hät­test fünf­hun­dert oder fünf­und­zwan­zig im Mo­nat, aber das Weib, von dem ich rede, ist in­tel­li­gent und stolz. Könn­test du dich ent­schlie­ßen, ihr Geld an­zu­bie­ten? Und in wel­cher Form?«

Sa­moi­len­ko woll­te ant­wor­ten, aber in die­sem Au­gen­blick schlug eine große Wel­le ih­nen über die Köp­fe, brach sich am Ufer und floß plät­schernd zwi­schen den Stein­chen zu­rück. Die Freun­de ver­lie­ßen das Was­ser und be­gan­nen sich an­zu­zie­hen.

»Na­tür­lich ist es kein Ver­gnü­gen, mit ei­ner Frau zu le­ben, die man nicht liebt«, sag­te Sa­moi­len­ko und schüt­tel­te den Sand aus sei­nen Stie­feln; »aber, Wan­ja, man muss doch mensch­lich den­ken. Sieh mich an, ich wür­de es ihr über­haupt nicht zei­gen, dass ich sie nicht mehr lie­be, und mit ihr zu­sam­men­le­ben bis an mein se­li­ges Ende.«

Aber plötz­lich wur­de er ver­le­gen, ar­re­tier­te sei­ne Phan­ta­sie und sag­te:

»Mei­net­we­gen braucht’s über­haupt kei­ne Wei­ber zu ge­ben. Hol sie der Teu­fel!«

Sie wa­ren fer­tig und gin­gen in den Pa­vil­lon. Dort fühl­te sich Sa­moi­len­ko ganz wie zu Hau­se und hat­te so­gar sein ei­ge­nes Stamm­ge­schirr. Je­den Mor­gen brach­te man ihm auf ei­nem Ta­blett sei­ne Tas­se Kaf­fee, ein ho­hes, ge­schlif­fe­nes Glas mit Eis­was­ser und ein Gläs­chen Ko­gnak. Zu­erst trank er den Ko­gnak, dann den hei­ßen Kaf­fee und zum Schluss das Eis­was­ser. Und das schmeck­te ihm au­gen­schein­lich sehr gut. Als er ge­trun­ken hat­te, wur­den sei­ne Au­gen noch freund­li­cher, er strich sich mit bei­den Hän­den den Ba­cken­bart, blick­te aufs Meer hin­aus und sag­te:

»Die wun­der­vol­le Aus­sicht!«

La­jew­skij fühl­te sich matt und zer­schla­gen nach ei­ner lan­gen Nacht voll un­fro­her, nutz­lo­ser Ge­dan­ken, die ihm den Schlaf ge­raubt und die Schwü­le und Dun­kel­heit noch schwe­rer ge­macht hat­ten. Vom Bad und dem Kaf­fee wur­de ihm nicht bes­ser.

»Also wei­ter, Alex­an­der Da­wi­do­witsch«, sag­te er, »ich will es nicht ver­heim­li­chen und dir, mei­nem Freun­de, of­fen ge­ste­hen, die Ge­schich­te mit Na­de­sch­da Fjo­do­row­na ist faul, äu­ßerst faul! Ver­zeih’, dass ich dich in mei­ne Ge­heim­nis­se zie­he, aber ich muss mich aus­spre­chen.«

Sa­moi­len­ko wuss­te im vor­aus, wo­von die Rede sein wür­de, er senk­te den Blick und trom­mel­te mit den Fin­gern auf der Tisch­plat­te.

»Zwei Jah­re hab’ ich mit ihr ge­lebt. Ich lie­b’ sie nicht mehr«, fuhr La­jew­skij fort, »das heißt, rich­ti­ger, ich weiß jetzt, dass wir uns nie ge­liebt ha­ben. Die­se zwei Jah­re wa­ren – ein Be­trug.«

La­jew­skij hat­te die Ge­wohn­heit, beim Spre­chen auf­merk­sam sei­ne ro­si­gen Hand­flä­chen zu be­trach­ten, an sei­nen Nä­geln zu kau­en oder an sei­nen Man­schet­ten zu nes­teln. Auch jetzt tat er das.

»Ich weiß ja ge­nau, dass du mir nicht hel­fen kannst«, sag­te er, »aber ich er­zäh­le es dir, weil für uns Un­glücks­vö­gel und über­flüs­si­ge Men­schen das Heil im Aus­spre­chen liegt. Ich muss al­les mit­tei­len, was ich tue, ich muss eine Er­klä­rung und Recht­fer­ti­gung mei­nes ab­ge­schmack­ten Le­bens fin­den in ir­gend­wel­chen Theo­ri­en oder in Ty­pen aus der Li­te­ra­tur. Vo­ri­ge Nacht habe ich mich so mit dem ewi­gen Ge­dan­ken ge­trös­tet: Wie recht hat doch Tol­stoi, wie er­bar­mungs­los recht! Und da­von wur­de mir leich­ter. Wahr­haf­tig, er ist ein großer Dich­ter.«

Sa­moi­len­ko hat­te Tol­stoi nie ge­le­sen und woll­te je­den Tag da­mit an­fan­gen. Er wur­de ver­wirrt und sag­te:

»Ja, an­de­re Dich­ter dich­ten aus ih­rer Phan­ta­sie, er aber di­rekt nach der Na­tur –«

»Ach Gott«, seufz­te La­jew­skij, »wie hat die Zi­vi­li­sa­ti­on uns aus­ge­mer­gelt! Ich hat­te mich ver­liebt in eine ver­hei­ra­te­te Frau, und sie sich in mich. An­fangs gab’s bei uns Küs­se und stil­le Aben­de und Schwü­re und Phi­lo­so­phie und Idea­le und ge­mein­sa­me In­ter­es­sen… Was für eine Lüge! Wir flo­hen in Wahr­heit vor ih­rem Mann, lo­gen uns aber vor, vor der Öde un­se­rer ge­bil­de­ten Welt zu flie­hen. Un­se­re Zu­kunft mal­ten wir uns so aus: Ich wür­de an­fangs im Kau­ka­sus, bis wir uns mit Land und Leu­ten be­kannt ge­macht hät­ten, die Be­am­ten­uni­form an­zie­hen und eine Zeit lang im Staats­dienst blei­ben, dann aber wür­den wir uns ein Stück Land neh­men und im Schwei­ße des An­ge­sichts schaf­fen, einen Wein­berg, ein Feld be­bau­en usw. Wä­rest du an mei­ner Stel­le, oder dein Zoo­lo­ge, die­ser Herrn von Ko­ren, ihr wür­det viel­leicht drei­ßig Jah­re mit Na­de­sch­da Fjo­do­row­na zu­sam­men­le­ben und eu­ren Er­ben einen rei­chen Wein­berg und tau­send Djess­ja­ti­nen1 Mais­land hin­ter­las­sen. Ich habe mich vom ers­ten Tage an ban­ke­rott ge­fühlt. In der Stadt un­er­träg­li­che Hit­ze und Lan­ge­wei­le, kein Mensch, und kommt man hin­aus, da lau­ern un­ter dem Strauch Skor­pio­ne oder Schlan­gen. Und wei­ter­hin Ber­ge und Ein­öde. Frem­de Men­schen, eine frem­de Na­tur, eine trau­ri­ge Kul­tur. Lie­ber Freund, es ist viel leich­ter mit Na­de­sch­da Fjo­do­row­na am Arm im Pelz den New­skij Pro­spekt ent­lang­zu­bum­meln und von war­men Län­dern zu plau­dern. Hier gilt es nicht den Kampf ums Le­ben, son­dern den Kampf um den Tod, und was bin ich denn für ein Kämp­fer? Ich trau­ri­ger Neu­r­asthe­ni­ker mit mei­nen ge­pfleg­ten Hän­den. Am ers­ten Tage hab’ ich’s ein­ge­se­hen, dass mei­ne schö­nen Ge­dan­ken von ei­nem ar­beit­sa­men Le­ben, von ei­nem Wein­berg den Teu­fel nichts taug­ten. Und was die Lie­be an­geht, so kann ich dir sa­gen, dass es eben­so un­in­ter­essant ist, mit ei­nem Frau­en­zim­mer zu le­ben, das Spencer ge­le­sen hat und dir zu­lie­be bis ans Ende der Welt mit­ge­lau­fen ist, als mit ir­gend­ei­ner x-be­lie­bi­gen Aku­li­na. Sie riecht ge­nau so nach dem Bü­ge­lei­sen, nach Pu­der und Me­di­ka­men­ten, sie trägt ge­nau so je­den Mor­gen ihre Pa­pil­lo­ten, und es ist ge­nau der­sel­be Selbst­be­trug …«

»Ohne Bü­ge­lei­sen kommt man in kei­ner Wirt­schaft aus«, sag­te Sa­moi­len­ko und wur­de rot, weil La­jew­skij so in­ti­me De­tails von ei­ner be­kann­ten Dame er­zähl­te, »du bist, merk’ ich, heu­te nicht bei Lau­ne, Wan­ja. Na­de­sch­da Fjo­do­row­na ist eine rei­zen­de und ge­bil­de­te Frau, du bist ein sehr be­gab­ter Mensch. Wa­rum soll­tet ihr nicht zu­sam­men­paf­fen? Es ist ja wahr, ihr seid nicht ver­hei­ra­tet«, sag­te Sa­moi­len­ko und sah sich nach den Nach­bar­ti­schen um, »aber das ist doch nicht eure Schuld, und au­ßer­dem – der Mensch soll kei­ne Vor­ur­tei­le ha­ben und sich auf das Ni­veau zeit­ge­mä­ßer Ide­en er­he­ben. Ich bin selbst für die Ehe ohne For­men, ja –. Aber, ich mei­ne, wenn man ein­mal zu­sam­men­lebt, so soll man auch bis ans Le­bens­en­de zu­sam­men­blei­ben.«

»Ohne Lie­be?«

»Das er­klä­re ich dir gleich«, sag­te Sa­moi­len­ko. »Vor acht Jah­ren hat­ten wir hier einen al­ten Agen­ten. Er war ein sehr klu­ger Mensch. Siehst du, der sag­te im­mer: im Fa­mi­li­en­le­ben ist die Haupt­sa­che – Ge­duld … Ver­stehst du, Wan­ja? Nicht die Lie­be, son­dern die Ge­duld. Die Lie­be kann nicht lan­ge dau­ern. Zwei Jah­re hast du in Lie­be ge­lebt, jetzt ist dein Fa­mi­li­en­le­ben au­gen­schein­lich in die Pha­se ge­tre­ten, wo du all dei­ne Ge­duld in An­wen­dung brin­gen musst, um das Gleich­ge­wicht zu er­hal­ten.«

»Du glaubst dei­nem al­ten Agen­ten, für mich aber ist sein Rat ein Blöd­sinn. Der Alte konn­te heu­cheln. Er ver­moch­te es, einen un­ge­lieb­ten Men­schen für ein In­stru­ment an­zu­se­hen, das ihm zur Übung sei­ner Ge­duld sehr gute Diens­te leis­ten konn­te. So tief bin ich noch nicht ge­sun­ken. Wenn ich mei­ne Ge­duld üben will, kau­fe ich mir einen Tur­n­ap­pa­rat oder ein stör­ri­sches Pferd, die Men­schen lass’ ich in Ruhe.«

Sa­moi­len­ko be­stell­te eine Fla­sche Weiß­wein mit Eis.

Nach dem ers­ten Glas frag­te La­jew­skij plötz­lich:

»Sag’ doch mal, was ist das, Ge­hirn­er­wei­chung?«

»Das, ja, wie soll ich dir’s gleich er­klä­ren – das ist so eine Krank­heit, wenn die Ge­hirn­mas­se sich er­weicht, gleich­sam flüs­sig wird.«

»Ist sie heil­bar?«

»Ja, wenn die Krank­heit noch nicht ein­ge­ris­sen ist. – Kal­te Du­schen, spa­ni­sche Flie­gen. Auch in­ner­li­che Mit­tel gib­t’s.«

»So, so … Also siehst du, so liegt die Sa­che. Ich kann nicht mit ihr le­ben. Es über­steigt mei­ne Kräf­te. Wenn ich mit dir zu­sam­men bin, siehst du, dann phi­lo­so­phie­re ich und bin hei­ter, zu Hau­se aber ver­lie­re ich ganz mei­nen Mut. Ich füh­le mich so hoch­gra­dig be­engt; wenn man mir z. B. sag­te, ich müss­te auch nur noch einen Mo­nat mit ihr zu­sam­men­le­ben, ich glau­be, ich wür­de mir eine Ku­gel vor den Kopf schie­ßen. Und aus­ein­an­der kön­nen wir auch wie­der nicht … Sie steht al­lein in der Welt, ver­steht nicht zu ar­bei­ten, Geld ha­ben wir bei­de keins. Wo­hin soll sie ge­hen? Zu wem? Kein Aus­weg … Nun sag’ mir mal, was ist da zu ma­chen?«

»M– ja«, brumm­te Sa­moi­len­ko, er wuss­te kei­ne Ant­wort, »liebt sie dich denn?«

»Ja, sie liebt mich ge­ra­de so weit, als sie in ih­ren Jah­ren und bei ih­rem Tem­pe­ra­ment einen Mann nö­tig hat. Von mir wür­de sie sich eben­so schwer tren­nen wie von ih­rem Pu­der und ih­ren Pa­pil­lo­ten. Ich bin ihr ein not­wen­di­ges Bou­doir­re­qui­sit.«

Sa­moi­len­ko wur­de ver­le­gen.

»Du bist heu­te schlecht auf­ge­legt, Wan­ja«, sag­te er, »du hast of­fen­bar nicht gut ge­schla­fen.«

»Ja, ich habe schlecht ge­schla­fen. Ich füh­le mich über­haupt nicht wohl. Ich habe so eine Lee­re im Kopf, der Herz­schlag stockt, und da­bei füh­le ich mich so schwach. Ich muss ent­flie­hen.«

»Wo­hin denn?«

»Da­hin, nach dem Nor­den. Zu den Tan­nen, zu den Pil­zen, zu den Men­schen, zu den Ide­en. Mein hal­b­es Le­ben gäbe ich dar­um, könn­te ich jetzt ir­gend­wo im Gou­ver­ne­ment Mos­kau oder Tula sein und in ei­nem Bach ba­den, weißt du, dass man ganz durch­käl­tet wird, und dann spa­zie­ren bum­meln ein paar Stun­den, wenn auch mit dem mi­ni­mals­ten Stu­dent­lein, und schwat­zen, schwat­zen. – Und wie es da nach Heu duf­tet! Weißt du noch? Und abends, wenn man im Gar­ten auf und ab­ge­ht und aus dem Hau­se das Kla­vier er­tönt und in der Fer­ne die Ei­sen­bahn vor­bei­ras­selt –«

La­jew­skij lach­te vor Ver­gnü­gen, und die Trä­nen tra­ten ihm in die Au­gen. Um sie zu ver­ber­gen, reck­te er sich, ohne auf­zu­ste­hen, nach Zünd­höl­zern zum Ne­ben­tisch hin­über.

»Acht­zehn Jah­re sin­d’s jetzt, dass ich nicht mehr in Russ­land war«, sag­te Sa­moi­len­ko, »ich weiß gar nicht mehr, wie es dort aus­sieht. Ich glau­be, es gibt auch kein herr­li­che­res Land als den Kau­ka­sus auf der gan­zen Welt.«

»We­rescht­scha­gin hat ein Bild ge­malt: da quä­len sich die zum Tode Ver­ur­teil­ten auf dem Grun­de ei­nes tie­fen Schach­tes. Wie solch ein Schacht kommt mir dein herr­li­cher Kau­ka­sus vor. Wenn ich die Wahl hät­te und könn­te ent­we­der Schorn­stein­fe­ger in Pe­ters­burg oder Fürst auf dem Kau­ka­sus wer­den, ich wür­de lie­ber Schorn­stein­fe­ger sein, als hier un­ter ei­ner Pla­ta­ne lie­gen und ir­gend­ei­ne idio­ti­sche, dre­cki­ge Lesghi­nie­rin anglot­zen. Und die Tscher­kes­sin­nen, was für ein Schund ist das bei Licht be­se­hen.«

»Sag’ das nicht.«

La­jew­skij ver­sank in Ge­dan­ken. Sa­moi­len­ko mus­ter­te sei­ne ge­beug­te Ge­stalt, die ins Lee­re star­ren­den Au­gen, das blas­se, schwei­ßi­ge Ge­sicht, die ein­ge­fal­le­nen Schlä­fen, die ab­ge­kau­ten Nä­gel und den Pan­tof­fel, der von der Fer­se hin­un­ter­hing und einen man­gel­haft ge­stopf­ten Strumpf se­hen ließ, und fühl­te Mit­leid mit ihm. Und wahr­schein­lich, weil er ihm wie ein hilflo­ses Kind vor­kam, frag­te er:

»Lebt dei­ne Mut­ter noch?«

»Ja, aber wir sind ganz aus­ein­an­der. Sie konn­te mir die­se Ver­bin­dung nicht ver­zei­hen.«

Sa­moi­len­ko hat­te sei­nen Freund gern. Er sah in ihm einen gu­ten Kerl, eine stu­den­ti­sche See­le, einen zwang­lo­sen Men­schen, mit dem man gut ein Glas Wein trin­ken, einen Scherz ma­chen und nach Her­zens­lust schwat­zen konn­te. Was er an ihm ver­stand, ge­fiel ihm durch­aus nicht. La­jew­skij trank viel und au­ßer der Zeit, spiel­te Kar­ten, küm­mer­te sich nicht um sei­ne Ar­beit, leb­te über sei­ne Mit­tel, ge­brauch­te häu­fig im Ge­spräch un­pas­sen­de Aus­drücke und zank­te sich in Ge­gen­wart drit­ter mit Na­de­sch­da Fjo­do­row­na – das al­les ge­fiel Sa­moi­len­ko durch­aus nicht. An­de­rer­seits hat­te La­jew­skij Phi­lo­so­phie stu­diert, war auf zwei dick­lei­bi­ge Zeit­schrif­ten abon­niert, re­de­te oft so klug, dass nur we­ni­ge es ver­stan­den, und leb­te mit ei­ner in­tel­li­gen­ten Frau zu­sam­men – das al­les ver­stand Sa­moi­len­ko nicht, und es ge­fiel ihm. Da­für stell­te er La­jew­skij über sich und emp­fand Hochach­tung vor ihm.

»Noch eine Klei­nig­keit«, sag­te La­jew­skij kopf­schüt­telnd, »es bleibt aber un­ter uns. Ich ver­heim­li­che es noch vor Na­de­sch­da Fjo­do­row­na, ver­plap­pe­re dich nicht ihr ge­gen­über. Vor­ges­tern hab’ ich einen Brief be­kom­men: ihr Mann ist an Ge­hirn­er­wei­chung ge­stor­ben.«

»Gott hab ihn se­lig!«, stieß Sa­moi­len­ko her­vor, »warum ver­heim­lichst du ihr das denn?«

»Ihr die­sen Brief zei­gen, das hie­ße ein­fach: sei so freund­lich und komm in die Kir­che zur Trau­ung. Aber zu­erst muss Klar­heit in un­se­re Be­zie­hun­gen kom­men. Wenn sie sich über­zeugt hat, dass ein wei­te­res Zu­sam­men­le­ben zwi­schen uns un­mög­lich ist, dann zeig’ ich ihr den Brief. Dann hat es kei­ne Ge­fahr mehr.«

»Ich will dir was sa­gen, Wan­ja«, sag­te Sa­moi­len­ko, und sein Ge­sicht be­kam plötz­lich einen be­trüb­ten und bit­ten­den Aus­druck, als woll­te er eine sehr große Bit­te tun und fürch­te­te ein Nein: »Hei­ra­te sie, lie­ber Freund.«

»Wa­rum?«

»Er­fül­le dei­ne Pf­licht ge­gen die­se rei­zen­de Frau. Ihr Mann ist ge­stor­ben, und auf die­se Wei­se hat dir ja die Vor­se­hung selbst ge­zeigt, was du tun sollst.«

»Merk­wür­di­ger Kauz, ka­pierst du denn nicht, dass das un­mög­lich ist? Hei­ra­ten ohne Lie­be ist eben­so schlecht und men­schenun­wür­dig wie das Abend­mahl neh­men ohne Glau­ben.«

»Aber es ist dei­ne Pf­licht.«

»Wa­rum ist es mei­ne Pf­licht?«, frag­te La­jew­skij är­ger­lich.

»Du hast sie ih­rem Mann ent­führt und die Verant­wor­tung für sie über­nom­men.«

»Ver­stehst du denn nicht? Ich spre­che doch rus­sisch: ich lie­b’ sie nicht.«

»Wenn du sie nicht liebst, so ach­te sie, ver­eh­re sie –«

»Ach­te sie, ver­eh­re sie«, äff­te La­jew­skij nach, »ist sie denn eine Hei­li­ge? Ein schlech­ter Psy­cho­lo­ge und Phy­sio­lo­ge bist du, wenn du glaubst, man könn­te mit ei­nem Frau­en­zim­mer nur auf der Ba­sis von Ach­tung und Ver­eh­rung zu­sam­men­le­ben. Den Wei­bern kommt es vor al­lem auf das Bett an.«

»Wan­ja, Wan­ja –« sag­te der Dok­tor ver­le­gen.

»Du bist ein al­tes Kind und ein Theo­re­ti­ker, ich aber bin ein jun­ger Greis und ein Prak­ti­ker. Wir wer­den uns nie ver­ste­hen. Hö­ren wir lie­ber auf. – Mu­sta­pha«, rief La­jew­skij den Kell­ner, »zah­len!«

»Nein, nein«, sag­te der Dok­tor er­schro­cken und er­griff La­jew­ski­js Hand, »ich be­zah­le das, ich hab’s be­stellt. – Schreib es auf mei­ne Rech­nung«, schrie er Mu­sta­pha zu.

Die Freun­de stan­den auf und gin­gen. Am An­fang des Bou­le­vards blie­ben sie ste­hen und drück­ten sich zum Ab­schied die Hand.

»Sehr ver­wöhnt bist du, mein Lie­ber«, seufz­te Sa­moi­len­ko, »da schickt dir der Him­mel eine jun­ge, schö­ne, ge­bil­de­te Frau, und du willst sie los sein. Und ich – wenn mir der lie­be Gott nur eine buck­li­ge alte Schach­tel be­scher­te, wie zu­frie­den wäre ich, wenn sie nur gut­mü­tig und freund­lich wäre. Ich wür­de mit ihr auf mei­nem Wein­berg le­ben und –«

Sa­moi­len­ko wur­de ver­le­gen und sag­te:

»Und da könn­te mir die alte Hexe Tee ko­chen.«

Als er sich von La­jew­skij ver­ab­schie­det hat­te, schlen­der­te er den Bou­le­vard hin­un­ter. Er ge­fiel sich au­ßer­or­dent­lich, und ihm schi­en, je­der­mann be­trach­te ihn mit Ver­gnü­gen, wenn er so da­her­kam, ge­wich­tig, ma­je­stä­tisch, mit stren­gem Ge­sichts­aus­druck, in sei­nem schnee­wei­ßen Waf­fen­rock und mit den vor­züg­lich blank­ge­wichs­ten Stie­feln, die Brust mit dem Wla­di­mi­ror­den dar­auf mäch­tig vor­ge­wölbt. Ohne den Kopf zu wen­den, blick­te er nach bei­den Sei­ten und fand, dass der Bou­le­vard vor­züg­lich an­ge­legt wäre, dass die jun­gen Zy­pres­sen, Eu­ka­lyp­tus und die häss­li­chen, küm­mer­li­chen Pal­men sehr schön wä­ren und mit der Zeit ein­mal pracht­voll Schat­ten ge­ben wür­den, und dass die Tscher­kes­sen ein ehr­li­ches und gast­freund­li­ches Volk wä­ren. Merk­wür­dig, dach­te er, dass der Kau­ka­sus La­jew­skij nicht ge­fällt, höchst merk­wür­dig. Jetzt be­geg­ne­ten ihm fünf Sol­da­ten mit Ge­weh­ren und mach­ten ihre Ehren­be­zeu­gung. Dann ging auf dem rech­ten Trot­toir die Frau ei­nes Be­am­ten vor­über mit ih­rem Sohn, der Gym­na­si­ast war.

»’n Mor­gen, Mar­ja Kon­stan­ti­now­na«, rief Sa­moi­len­ko ihr lie­bens­wür­dig lä­chelnd zu, »kom­men Sie vom Ba­den? Ha, ha, ha – Emp­feh­lung an Ni­ko­dim Alex­an­dro­witsch.«

Er ging wei­ter und lä­chel­te noch im­mer lie­bens­wür­dig. Da er­blick­te er aber den Ober­la­za­rett­ge­hil­fen By­lin, der ihm ent­ge­gen­kam; plötz­lich zog er die Stirn in Fal­ten, hielt ihn an und frag­te:

»Kei­ne Kran­ken im La­za­rett?«

»Nein, Ex­zel­lenz!«

»Was?«

»Nie­mand, Ex­zel­lenz.«

»Gut. Marsch.«

Ma­je­stä­tisch schau­keln­den Gan­ges schritt er auf die Sel­ters­was­ser­bu­de zu, hin­ter de­ren La­den­tisch eine di­cke alte Jü­din saß, die sich für eine Ge­or­gie­rin aus­gab, und sag­te laut, als gel­te es ein Re­gi­ment zu kom­man­die­ren:

»Bit­te schön, ein So­da­was­ser.«

1 Djess­ja­ti­ne ≈ 1,1 ha  <<<

II

Dass La­jew­skij Na­de­sch­da Fjo­do­row­na nicht lieb­te, äu­ßer­te sich vor­nehm­lich dar­in, dass er al­les, was sie sag­te und tat, für eine Lüge oder et­was Ähn­li­ches hielt. Und al­les, was er ge­gen die Wei­ber und die Lie­be las, schi­en ihm, als könn­te es nicht tref­fen­der in be­zug auf ihn, Na­de­sch­da Fjo­do­row­na und ih­ren Mann ge­sagt sein. Als er nach Hau­se kam, saß sie schon an­ge­zo­gen und fri­siert am Fens­ter und trank mit sor­gen­vol­lem Ge­sicht Kaf­fee und blät­ter­te in ei­ner dick­lei­bi­gen Zeit­schrift. Er dach­te: das Kaf­fee­trin­ken ist doch wirk­lich kein so wich­ti­ges Er­eig­nis, dass man des­halb ein sor­gen­vol­les Ge­sicht zu ma­chen braucht. Und die Zeit, die sie auf ihre mo­der­ne Fri­sur ver­wandt hat, ist auch fort­ge­wor­fen. Hier war nie­mand, dem man ge­fal­len konn­te. Auch in der Zeit­schrift er­blick­te er eine Lüge. Er dach­te: sie putzt und fri­siert sich, um hübsch, und liest, um klug zu er­schei­nen.

»Was meinst du, soll ich heu­te ba­den ge­hen?«, frag­te sie.

»Ach was? Geh’ oder geh’ nicht. Des­we­gen wird wohl kein Erd­be­ben ent­ste­hen, glaub ich.«

»Nein, ich fra­ge, weil sich der Dok­tor viel­leicht dar­über är­gern könn­te.«

»Na, dann frag’ den Dok­tor. Ich bin doch kein Dok­tor.«

Dies­mal miss­fiel La­jew­skij an Na­de­sch­da Fjo­do­row­na ganz be­son­ders ihr wei­ßer, of­fe­ner Hals; er er­in­ner­te sich, dass Anna Ka­re­ni­na, als in ihr die Lie­be zu ih­rem Mann er­losch, sich zu­erst von sei­nen Ohren an­ge­wi­dert fühl­te, und sag­te sich: »Wie rich­tig! Wie rich­tig!«

Er fühl­te sich schwach und leer im Kopf und ging in sein Ka­bi­nett. Dort leg­te er sich auf den Di­wan und deck­te das Ta­schen­tuch übers Ge­sicht, um sich vor den Flie­gen zu schüt­zen. Wel­ke schlei­chen­de Ge­dan­ken, die sich im­mer um das­sel­be dreh­ten, zo­gen durch sein Ge­hirn, wie ein lan­ger Wa­gen­zug an ei­nem reg­ne­ri­schen Herb­sta­bend, und er ver­fiel in einen schläf­ri­gen, ge­drück­ten Zu­stand. Er dünk­te sich schul­dig Na­de­sch­da Fjo­do­row­na und ih­rem Mann ge­gen­über, als trü­ge er die Schuld an sei­nem Tode. Er dünk­te sich schul­dig sei­nem ei­ge­nen Le­ben ge­gen­über, das er ver­pfuscht hat­te, schul­dig ge­gen­über der er­ha­be­nen Welt von Ide­en, Wis­sen­schaf­ten und Ar­beit. Und die­se wun­der­ba­re Welt schi­en ihm mög­lich und wirk­lich be­ste­hend, nicht hier am Stran­de, wo hung­ri­ge Tür­ken und fau­le Tscher­kes­sen her­um­strolch­ten, son­dern dort, im Nor­den, wo es eine Oper gab und ein Schau­spiel und Zei­tun­gen und alle Früch­te geis­ti­ger Ar­beit. Ehr­lich, klug, edel und rein kann man nur dort, aber nicht hier sein. Er warf sich vor, dass er kei­ne Idea­le habe, kei­ne lei­ten­de Idee im Le­ben, ob­wohl er nur eine recht vage Vor­stel­lung da­von hat­te, was das be­deu­te­te. Vor zwei Jah­ren, als er sich in Na­de­sch­da Fjo­do­row­na ver­lieb­te, glaub­te er, dass es ge­nü­ge, mit ihr nach dem Kau­ka­sus zu fah­ren, um sich von der Bana­li­tät und Lee­re des Le­bens zu ret­ten; eben­so fest glaub­te er jetzt dar­an, dass es ge­nü­ge, Na­de­sch­da Fjo­do­row­na zu ver­las­sen und nach Pe­ters­burg zu ge­hen, um al­les zu er­rei­chen, was er brauch­te.

»Ent­flie­hen«, flüs­ter­te er, setz­te sich auf und kau­te an sei­nen Nä­geln, »ent­flie­hen!«

Er mal­te sich aus, wie er den Damp­fer be­stei­gen wür­de und dort früh­stücken, kal­tes Bier trin­ken und sich auf Deck mit den Da­men un­ter­hal­ten. Dann wür­de er sich in Se­was­to­pol in den Zug set­zen und los­fah­ren. Sei mir ge­grüßt, Frei­heit! Eine Sta­ti­on nach der an­de­ren taucht auf, die Luft wird im­mer käl­ter und rau­er. Bir­ken und Tan­nen. Da ist schon Kursk, Mos­kau –. In den Bahn­hofs­re­stau­rants gibt es Kohl­sup­pe, Ham­mel­fleisch mit Buch­wei­zen, Stör, Bier, kurz­um, nicht mehr dies ver­damm­te Asi­en, son­dern Russ­land, das wirk­li­che Russ­land. Die Mit­rei­sen­den spre­chen von Ge­schäf­ten, von neu­en Sän­gern, von den fran­ko­rus­si­schen Sym­pa­thi­en. Über­all spürt man ein kul­ti­vier­tes, in­tel­li­gen­tes Le­ben – Schnel­ler, schnel­ler! End­lich, der New­skij Pro­spekt, die große Mors­ka­ja­stra­ße, und da ist auch die Kow­no­gas­se, wo er einst als Stu­dent ge­wohnt hat. Der lie­be graue Him­mel, der kal­te Re­gen, die nas­sen Drosch­ken­kut­scher –

»Iwan An­dre­jitsch«, rief je­mand aus dem Ne­ben­zim­mer, »sind Sie zu Hau­se?«

»Ja­wohl«, ant­wor­te­te La­jew­sky, »was ist denn los?«

»Ich brin­ge ei­ni­ge Pa­pie­re.«

La­jew­sky er­hob sich trä­ge, ihn schwin­del­te, er gähn­te und ging mit schlür­fen­den Pan­tof­feln ins Ne­ben­zim­mer. Drau­ßen am of­fe­nen Fens­ter stand ein jun­ger Kol­le­ge von ihm und brei­te­te ei­ni­ge amt­li­che Schrift­stücke aufs Fens­ter­brett.

»So­fort, mein Lie­ber«, sag­te La­jew­skij sanft und such­te das Tin­ten­fass. Dann ging er zum Fens­ter, un­ter­schrieb die Pa­pie­re, ohne sie an­zu­se­hen, und sag­te:

»Eine scheuß­li­che Hit­ze!«

»Ja. – Kom­men Sie heu­te aufs Bu­reau?«