Einatmen, Ausatmen (eBook) - Natasa Dragnic - E-Book

Einatmen, Ausatmen (eBook) E-Book

Natasa Dragnic

4,4

Beschreibung

Ein Krankenhaus in Hudson, New York. Giorgia liegt nach einem Autounfall im Koma. Unerwartet begegnen sich am Krankenbett der bekannten Jazz-Sängerin drei Männer: Ben, der Drummer ihrer Band und ihr Lebensgefährte, weicht nicht von Giorgias Seite. Überrascht wird er in der Klinik von Konrad, ihrem Ehemann, der sie nach acht Jahren zum ersten Mal wiedersieht. Nach dem Tod ihrer gemeinsamen Tochter hatte sich Giorgia von ihm getrennt. Als wäre das nicht genug, erscheint kurz darauf Césco, Bru?ckenbauer, Saxofonspieler und Giorgias virtueller Liebhaber. Nach langem Ringen hat er seine Frau verlassen und ist zu Giorgia geeilt. Sie wussten nicht voneinander, die drei Männer, doch notgedrungen nähern sie sich an. Zerrissen zwischen Eifersucht und Verstehen streiten und stu?tzen sie sich, offenbaren nach und nach ihre Lebens und Liebesgeschichte mit Giorgia. So gerät das Bangen um ihr Leben zugleich zur Auseinandersetzung mit sich selbst und der eigenen Vergangenheit.

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Natašać Dragnić

 

Einatmen

Ausatmen

 

Roman

 

 

 

ars vivendi

 

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage August 2017)

 

© 2017 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Dr. Felicitas Igel

Umschlaggestaltung: ars vivendi, unter Verwendungeinest

Fotos von © Tory Williams Photography

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-897-8

 

Für Claudio,

meinen »accomplice in jazz«

 

Inhalt

Entstehung & Dank

Die Autorin

 

Piano

Alone Together

»Ich bin ihr Ehemann«, sage ich und lüge und lüge doch nicht. Die Krankenschwester, die mich in der Intensivstation empfangen und ununterbrochen angelächelt hat, nickt mitfühlend und lässt mich allein. Ich bleibe an der Tür stehen.

Da ist sie. Da liegt sie. Ich wende den Blick kurz von ihr ab, muss sie aber immer wieder ansehen. Da ist sie. Giorgia. Eher tot als lebendig. Und dennoch sie, unverkennbar. Es zieht mich zu ihr, ich kann aber nicht. Ich habe Angst. Ich habe Angst vor Krankenhäusern, vor Kranken. Vor einer todkranken Giorgia. Obwohl es eigentlich keinen Unterschied für mich machen sollte, wir haben seit acht Jahren keinen Kontakt mehr. Zu atmen fällt mir plötzlich schwer. Ich habe mich nicht vorbereitet, ich wusste nicht, wie. Die Nachricht hat mich überrumpelt. Acht Jahre, und dann das. Man hat mir erklärt, ich stünde in ihrem Adressbuch als Notfallkontakt. Nach acht Jahren und nach allem, was war. Ich nahm den ersten Flieger, den ersten, der an die Ostküste flog, und den ersten seit fünfzehn Jahren. Ich landete in Boston, mietete einen Wagen und fuhr zu schnell auf der Autobahn, viel zu schnell. Ohne Navigationsgerät und mit einer Übelkeit in Bauch und Kopf, die ich bis dahin nicht kannte. Nackte Bäume und ein kalter Himmel rasten an mir vorbei. Meine Hände umklammerten starr das Lenkrad des fremden Wagens. Alles war neu, zu viel Neues für mich und in so kurzer Zeit. Ich nahm die Interstate 90, dann die Route 66, und am Ende der dreistündigen Fahrt nun dieses Zimmer und diese Giorgia. Ich habe nicht darum gebeten. Ich will nicht hier sein. Ich setze mich auf einen Stuhl neben der Tür. Näher ans Bett rücken kann ich nicht. Ich betrachte meine Hände. Den Ehering habe ich vor acht Jahren abgenommen.

In der Nacht vor dem Abflug hatte ich einen Traum. Ich bin noch mit Giorgia zusammen, wir sind noch ein Paar, ein richtiges, und wir gehen im Englischen Garten spazieren, etwas, das wir seit Jahren nicht gemacht haben, sie nimmt meine Hand, und ich verflechte meine Finger mit ihren. Ich wachte auf und vermisste sie. Ich habe sie nie vermisst, in all den Jahren nicht. Wahrscheinlich war das der einzige Weg für mich, mit ihrer Abwesenheit klarzukommen. Sehr wahrscheinlich. Sie zu vermissen, an sie zu denken, konnte ich mir nicht erlauben. Aber dann kam der Anruf, und ich buchte den Flug, als wäre es das Normalste auf der Welt – und ich träumte von ihr.

Eine der Maschinen an ihrem Bett piepst. Ich erschrecke und schnelle hoch. Eine Schwester erscheint an der Tür, sieht mich an, es ist eine andere, aber auch sie lächelt mich an, und ich denke, das ist etwas typisch Amerikanisches, aber wie soll ich das wissen, ich habe keine Erfahrung, weder mit den amerikanischen noch mit Krankenschwestern im Allgemeinen. Sie drückt ein paar Tasten, sieht Giorgia an, berührt ihr Gesicht, streichelt über ihren ausgestreckten Arm. Ich staune. Ich stehe neben dem Stuhl an der Tür und wundere mich über diese Aufmerksamkeit, ja fast Zärtlichkeit. Ich bin neidisch, das gestehe ich mir ein. So viel Ehrlichkeit kann ich aufbringen. Ich beneide diese Person, der meine Ehefrau völlig unbekannt sein dürfte, um diese Fähigkeit. Sie geht an mir vorbei, nickt, überlässt mich mir selbst.

Das ist mein natürlicher Zustand. Allein zu sein, das will ich und kann ich und dann wieder nicht, und das macht einen großen Teil meines verkorksten Lebens aus. Ich bin sechzig Jahre alt. Ich kann mir diese Offenheit leisten, das muss ich sogar. Ich bin unbeschreiblich müde, und es liegt nicht nur am Jetlag. Ich setze mich wieder, lege die Hände auf die Knie. Ich stelle mir vor, wie es wäre, Giorgia zu berühren, ihre Wange, die so blass ist, und ihre Arme, ebenso blass, auch wenn sie nicht tot ist. Ich denke oft über den Tod nach. Seit drei Tagen aber kein einziges Mal. Ich bin erbärmlich. Ich bin ein erbärmlicher Philosoph. Ich habe etliche akademische Titel und kluge Theorien über die Welt und den Menschen entwickelt und aufgeschrieben, in Büchern dargelegt und an meine Studenten und Studenten anderer Professoren an anderen Universitäten verkauft, Vorträge für viel Geld gehalten und Artikel in sämtlichen wichtigen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht – und dennoch bin ich erbärmlich. Denn all diese vollkommen durchdachten und formulierten Ideen und Erklärungen haben nichts mit meinem Leben zu tun. Da haben meine ach so vorzüglichen Gedanken mich gänzlich im Stich gelassen. Ich halte mich dennoch weiterhin an sie, denn mit Gefühlen will ich so wenig wie nur irgend möglich zu tun haben. Auf Gefühle ist kein Verlass, das habe ich sehr früh sehr schmerzhaft lernen müssen. Also denke – oder stirb! Ich bin mir der Dramatik dieser Aussage, der Melodramatik sogar, sehr bewusst. Aber so bin ich: von der eigenen Mutter verwünscht, beim eigenen Vater verhasst. Gefühle bedeuten immer nur eine Falle, vor allem angeblich gute. Ich lächle bei der Erinnerung: Nicht einmal Giorgia konnte da etwas ändern, alle Bemühungen in all den Jahren vergeblich. Die Maschine neben Giorgias Bett pfeift einmal sehr leise, keine Schwester erscheint. Jede Ablenkung wäre mir willkommen.

Meine Hände halten sich an den Knien fest. Sie sind auch schon sechzig Jahre alt, man sieht es ihnen aber nicht an. Ich mag meine Hände, das ist mehr oder weniger alles, was ich an mir mag. Ich bewege leicht die Finger, umklammere meine Knie fester. Die Haut ist noch fleckenlos, wenn auch faltig. Ich kann mich nicht erinnern, wo mein Ehering geblieben ist. Ich weiß nicht mehr, wo ich ihn versteckt habe. Denn das habe ich, ich habe ihn versteckt, so gut habe ich das getan, dass ich ihn auch hätte verlieren können. Es würde keinen Unterschied machen. Und plötzlich ist mir klar, dass ich Giorgia nicht berühren, ihr nicht begegnen kann ohne diesen Ring. Ihren Ring, den sie mir auf den Finger gesteckt und dabei gelächelt hat, ein wenig erschrocken über die eigene Kühnheit vielleicht, ich erinnere mich – an so vieles erinnere ich mich nicht, ich vergesse leicht und gern, vor allem das Gute, das Gute macht mir Angst, es ist eine unbekannte, unberechenbare Größe – aber daran erinnere ich mich, an ihr Lächeln, ihre kalten Finger an meiner Hand, während sie mir den Ring ansteckt. Ihre Augen waren dunkel, dunkler als sonst, ihr Blick ängstlich, aber lächelnd. Sie wollte es so. Sie wollte heiraten und Kinder haben. Ich stimmte zu, nicht mehr und nicht weniger. Als sie wegging, sagte ich ihr, dass ich sie liebte und dass niemand sie je so lieben würde wie ich. Sie hat gestaunt, aber nicht gelacht.

Sie verließ mich trotzdem.

Die Zeit vergeht unmerklich. Vielleicht bin ich auch kurz eingenickt. Sie liegt immer noch da. Giorgia ist immer noch meine Frau, wenigstens sieht das Gesetz es so. Wir haben uns nie scheiden lassen. Darüber denke ich auch nicht nach, aus Prinzip. Die Leute stellen sich vor, dass man ständig grübelt und immer nur großartige, unverständliche, erstaunliche, bewunderungs- und anbetungswürdige Gedanken erzeugt, wenn man professioneller Philosoph ist und an der Uni Philosophie unterrichtet. Die Leute sind dumm und naiv und haben keine Ahnung. Ich mag Menschen nicht. Wenn ich morgens auf dem Klo sitze, denke ich nicht über Gott und die Welt nach, ich hoffe lediglich, kein Blut im Stuhlgang zu entdecken und keine Hämorrhoide zu bekommen. Danach ziehe ich meinen Anzug an, gehe in die Vorlesungen und bin der klügste Besserwisser der Welt.

Ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll. Der Ring ist nicht da, und ich habe auch keine Möglichkeit, ihn zu beschaffen, zumal ich nicht weiß, wo er ist. Der Ring ist nicht da, Giorgia aber schon. Sie wird auch so bald nirgendwo hingehen, sie wird mir kein zweites Mal weglaufen. So sieht es im Moment aus. Wobei von einem zweiten Mal nicht die Rede sein kann, wenn ich bedenke, wie oft wir uns getrennt oder es wenigstens versucht haben. Vergeblich, wir fanden immer wieder zueinander, ich weiß nicht, warum. Über die Pathologie, die uns zusammenhielt, wollte ich nie nachdenken. So viel über den Philosophen als Privatperson. Meine großartigen, wichtigtuerischen Gedanken habe ich exklusiv für mein Arbeitszimmer und die Philosophische Fakultät reserviert. Wenn ich den Schlips ablege …

 

Piano & Schlagzeug

Smile

Ben trat ein, ohne anzuklopfen, und ging geradewegs zum Krankenbett. Er seufzte einmal, es hörte sich an wie ein kraftvoller Schlag, und legte die Hand auf Giorgias zugedeckten Bauch. Konrad sprang von seinem Stuhl neben der Tür, die Blicke der zwei Männer trafen sich, beide überrascht.

»Wer sind Sie?«

»Und wer sind Sie, verdammt noch mal?«

Sie musterten sich eine Weile, dann trat Konrad näher, streckte die Hand aus.

»Konrad Stern.«

»Ben Jones.«

Sie schüttelten einander die Hand, jeder mit dem Händedruck des anderen zufrieden. Konrad betrachtete Bens Gesicht, es war gezeichnet von frischen Wunden, sein Blick wanderte zu dem Verband auf der Stirn über der rechten Augenbraue, zum rechten Arm in einer Schlinge.

»Sie hat es aber erwischt.«

Ben sah Konrad verständislos an, blickte zu Giorgia hinunter, zuckte dann mit den Schultern.

»Was haben Sie denn gemacht?« Konrad wunderte sich über die eigene Small-Talk-Bereitschaft.

Ben schenkte ihm einen irritierten Blick.

»Wer sind Sie, Mann?«

»Ich bin ihr Ehemann.«

»Wer?!«

»Ihr Ehemann.«

»Giorgias?«

Konrad nickte.

»Giorgia ist verheiratet?«, flüsterte Ben.

Konrad nickte lediglich, senkte den Kopf und nickte leicht weiter, so, als würde er nachdenken.

»Das glaube ich nicht.«

Ben ging demonstrativ zum Fenster, lehnte die Stirn an das kühle Glas, es tat gut, die Hitze in ihm machte ihn unsicher auf den Beinen. Konrad setzte sich wieder, ließ Ben aber nicht aus den Augen.

»Das wusste ich nicht«, sagte Ben schließlich, und man hätte denken können, eine ganze Welt wäre zusammengebrochen. »Sie hat mir nie was gesagt. So ein Scheiß.« Und dieses »mir« füllte Bände. Konrad spürte es. Er spürte, wie es in Bens Körper trommelte, ein Vibrieren ging von ihm aus.

»Und wer sind Sie?« Er musste es fragen, es interessierte ihn nicht wahrhaftig, denn er, Konrad, war der Ehemann, alle anderen waren unwichtig. Aber dieses Pulsieren, das aus dem Körper des anderen Mannes kam, ließ sich nicht ignorieren.

»Ich bin Ben, ihr Drummer, ihr …«

»Ihr Drummer … Also hat sie es auch hier geschafft.«

»Ja, wir sind zusammen, eine Band, sie ist einmalig, wir sind …«

»Es war immer ihr Wunsch.«

»Sie meinte, als wir uns kennengelernt haben, sie sagte … so ein Scheiß.«

»Was denn?«

»Sie wäre nichts ohne die Musik.«

Darauf konnte man nichts erwidern.

»Sie wäre die Musik, die Lieder, die sie singt. Oh Mann.«

Der Drummer und der Ehemann dachten nach, es gab keinen Gewinner und keinen Verlierer, und Giorgia, die halb tot, halb lebendig dalag, spürte ihre Gefühle hin und her rasen, sie spürte die Melodie, die zwischen ihnen entstand, allmählich, widerwillig, die zwei Ströme suchten sich, die Töne konnten sich noch nicht einigen, der eine zu hart, der andere zu sensibel, verletzlich sogar – aber sie freute sich dennoch ein wenig, war erleichtert, hoffte auf eine Melodie, eine, die sie kannte, erkennen könnte. Sie lächelte, als hätte sie einen Plan und als liefe alles danach. Als würde sie den Ton angeben. Dass keiner etwas davon merkte, merken konnte – denn immerhin war sie für die Außenwelt lediglich ein lebloser Körper, unerreichbar – störte sie nicht im Geringsten.

»Es ist alles meine Schuld.«

 

I Talk To The Trees

Konrad kannte sich mit Schuldgefühlen sehr gut aus, er wusste, dass man sich in die anderer Menschen nicht einmischen sollte, also schwieg er. Ben wünschte sich, er hätte nichts gesagt. Als das Schweigen zu lang wurde, hatte er keine Wahl mehr – immerhin war er der Bandleader.

»Oh Mann, hätte ich mich nur durchgesetzt«, und dann nur noch ein Kopfschütteln.

Sie saßen sich gegenüber in der Cafeteria des Columbia Memorial Hospital in Hudson und starrten die Tischplatte an. Konrad fühlte sich verpflichtet zuzuhören, ein wenig neugierig war er aber auch. Alles so neu und unbekannt und unerklärlich, teilweise.

»Giorgia weiß, wie sie ihren Willen bekommt.«

»Ja, das tut sie, da haben Sie verdammt recht.«

»Aber sie war nicht immer so. Als …«

»Ich kenne sie nur entschlossen und kompromisslos.«

»Merkwürdig.«

»Aber auch sanft und zärtlich und vor allem fürsorglich. So ein Mist.«

»Das hört sich vertraut an.«

»Und dann doch … ich weiß nicht, Mann. ›Kalt‹ ist nicht das richtige Wort. ›Selbstzerstörerisch‹ vielleicht.«

Konrad sah Ben überrascht an, als könnte er es nicht glauben: Selbstzerstörung war doch sein Fachgebiet.

»Das Leben ist kompliziert.«

Ben wollte mit solchen Banalitäten nichts zu tun haben, er trommelte mit ausgestreckten Fingern auf dem Tisch. Nicht sofort wurde ihm klar, dass das Giorgias Lieblingsstück war, das er für sie komponiert hatte, damals, vor vielen Jahren, als sie – für ihn – noch nicht verheiratet war. Konrad, in sich zusammengesunken, ließ die Schultern hängen und versuchte, es zu ignorieren, das Trommeln und Bens Worte und seine eigenen Gedanken.

»Wir waren ein paar Tage in Montreal, wir hatten zwei Auftritte im House of Jazz. Mann, haben wir gegroovt! Als wir am letzten Abend fertig waren, als das Publikum sie endlich losließ, es ist immer das Gleiche, man lässt sie nicht gehen, man will immer noch einen Song und dann noch einen hören, und schließlich noch einen letzten, und sie lässt es zu, oh Mann, sie singt und singt und will nicht aufhören, vor Jahren ist sie einmal auf der Bühne in Ohnmacht gefallen, konnte nicht aufhören zu singen. Das war eine Scheiße, das können Sie mir glauben.«

Konrad fühlte plötzlich, er musste dagegenhalten: »Wir waren achtzehn Jahre zusammen. Dann ging sie weg.«

»Die Band wollte bleiben, wenigstens übernachten, und alle wollten fliegen, unseren Bus sollten die zwei Techniker nach New York bringen, keiner hatte Lust auf den verdammten Schnee auf den Straßen, aber sie wollte gleich los. Sie müsse weg, meinte sie, sie musste weg, sie wollte auf die Autobahn. Sie hat einen Wagen gemietet, einfach so. Ich konnte sie doch nicht allein fahren lassen, Mann, und sie ließ mich nicht fahren, ich fahre, hat sie gesagt, und schon saß sie hinter dem Steuer, und ich hatte keine Wahl, verdammt, ich setzte mich zu ihr ins Auto, und sie fuhr los, Mann, mitten in der Nacht, Scheißschneewolken dicht über uns. Sie fuhr los, und ich ließ es zu, und jetzt liegt sie hier, verdammt.«

»Ich verstehe, warum Sie glauben, es wäre Ihre Schuld. Das verstehe ich.« In Konrads Kopf: Giorgias lebloser Körper im Krankenhausbett, irgendwo in einem Zimmer über ihnen. ­Alles in Konrads Kopf schien surreal. Oberhalb des Nabels sah er sein Herz pochen. Die Haut zitterte und bewegte sich rhythmisch, aber dann auch wieder nicht. Als befänden sich in seiner Magengrube zwei schlagende Herzen.

»Ich hätte besser aufpassen müssen, nicht einnicken, verdammt noch mal, ich bin eingenickt, so ein Scheiß, aber ich war auch so erschöpft, alles was davor, vor Montreal passiert ist, mit der Band, mit uns, mit Giorgia und mir, alles war so überwältigend, in jeder Hinsicht, ich bin eingenickt, glaube ich, sonst hätte ich nicht zugelassen, dass sie es tut, verflucht, ich hätte sie wachhalten sollen, wenigstens das.«

»Giorgia fuhr nur, wenn sie unbedingt musste. Giorgia war autoscheu. So hat sie es genannt, ihr Gefühl. Sie fuhr nicht gerne. Sie fuhr so gut wie nie.«

»Das weiß ich, Mann! Das wusste ich. Sie wollte immer fliegen, wenn es möglich war zu fliegen, ist sie geflogen, in all diesen Jahren, sie liebte es zu fliegen, sie meinte, sie ist dem Himmel so nahe, dem Mond, ohne Scheiß, sie kann ihn berühren; einmal fragte sie die Stewardess, ob man nicht das Fenster öffnen könnte, sie will die Wolken berühren, das hat sie gesagt und gelacht und ihren Gin getrunken, und die Stewardess lächelte unsicher, wusste nicht, was sie sagen sollte, ob es ein Witz war oder nicht, ob sie den Piloten informieren sollte, ob die Frau, die die Wolken streicheln wollte, gefährlich war oder nicht, womöglich eine Terroristin, man konnte nie sicher sein nach den Türmen, so ein Scheiß. Aber Giorgia hat gelacht, so wie sie immer lacht, Mann, wenn man sie nicht versteht, wenn sie begreift, dass man sie nicht verstanden hat, sie hat gelacht und gesagt, dass alles in Ordnung wäre und sie sich keine Sorgen machen müsste, die Stewardess, und sie hat die Augen geschlossen und an ihrem Gin genippt. Und dann hat sie ein wenig geweint und wollte mir nicht sagen, warum, und ich dachte, das wäre der Alkohol. Und die Müdigkeit. Verdammt.«

»Giorgia liebte den offenen Himmel über sich.«

»Und den Mond und die Sterne, und sie ist nicht tot, Mann. Hören Sie auf, von ihr in der Vergangenheit zu reden, verdammt noch mal.«

»Nein, natürlich nicht. Es ist nur, ich habe sie so lange nicht gesehen. Wir hatten so lange keinen Kontakt mehr. Es war ein wenig, als wäre sie … Ja. Ein wenig schon.«

Konrad hatte die Grenze der Erschöpfung schon überschritten, und jetzt spielte nichts mehr eine Rolle, und nur wenig war noch wichtig. Ben hatte Schmerzen. Ben hatte Wunden, einige waren sichtbar, einige nicht. Zu reden war unmöglich, zu schweigen unvorstellbar.

»Ihr Kopf hing aus dem Seitenfenster, lehnte an dem verfluchten Baumstamm, der sich uns in den Weg gestellt hatte. Sie ist nicht mehr zu sich gekommen, seitdem schläft sie. Scheiße, Mann.«

»Sie ist gegen einen Baum gefahren?«

Ben nickte. Alles war gesagt.

»Sie hasste es zu fahren.«

»Ich weiß.«

»Sie hätten sie nicht fahren lassen dürfen.«

»Das habe ich doch schon gesagt, Mann.«

»Sie hasste Autofahren und liebte den Himmel.«

»Ich weiß.«

Worte wie kurze, harte Schläge.

»Und Sie sprechen wieder in der Vergangenheit, verdammt noch mal.«

»Entschuldigung.«

 

Vocals

But Not For Me

… rotes mein rotes Kleid brauche ich mein rotes Kleid will ich und Schuhe meine roten Schuhe will ich und meine Lieder will ich hören meine Musik um mich herum hier oben im Nebel ich singe oh Gott wie ich singe ich singe um mein Leben singe ich und kann mich nicht entscheiden ich will es ich will es nicht ein Leben ist ein Leben ist ein Leben ohne Musik ist es kein Leben jetzt jetzt in diesem Augenblick genau in diesem Augenblick entscheidet sich alles das Leben tänzelt mal links mal rechts mal nach oben mal nach unten mal springt es rein mal springt es zur Seite mal will es mal will es nicht und ich kann nichts sagen nichts denken nichts singen vor allem kann ich nicht singen vor allem will ich mein rotes Kleid und meine roten Schuhe und das Mikrofon gebt mir ein Mikrofon lasst mich singen lasst mich in Ruhe hier in den Wolken die Sterne der Mond so nah so greifbar so kalt kalt so unvorstellbar kalt das hätte ich nicht gedacht das ist nicht für mich dieser Mond und dieses Licht und müde bin ich auch dunkel dunkel ist es ich dachte in den Wolken im Himmel ich dachte da ist alles außer Schuld diese unerträgliche Schuld diese lebenslange Schuld die das Leben selbst bedeutet aber nicht im Himmel da sollte es keine geben keine Schuld in den Wolken da finde ich es wieder das Leben so habe ich mir das vorgestellt das Leben in den Wolken wie ich sie liebe die Wolken aber es kommt mir vor es kommt mir vor als wäre ich in einem falschen Leben wieder ein falsches Leben kein rotes Kleid keine roten Schuhe das ist nicht mein Leben jetzt muss alles überdacht werden noch einmal und noch einmal und die Musik ich höre sie diese Melodie diese Melodie klebt an mir dieses Lied auf meiner Haut die Worte ich kenne alle Worte ich habe sie alle gesungen und wo bin ich jetzt wo bin ich jetzt bitte schön ich habe gedacht ich habe gedacht ich werde mich entscheiden können und ich werde hierbleiben hier mit meinen Liebsten ohne Schuld nur die Wolken und der Himmel und der Mond das habe ich mir gedacht und das Leben wird mich wiederhaben wollen mich so wie ich bin aber es ist nicht für mich nichts ist für mich nicht einmal in den Wolken wie kann man sich so irren wie viel Nacktheit ist zumutbar nackt und ohne Leben ohne die Röte des Atems keine Bühne gebt mir eine Bühne eine Bühne ohne den Vorhang und ich will nicht hören dass es vorbei ist ich will nicht dass für mich alles vorbei ist dass es nicht für mich ist das was da ist nicht für mich wo ich es sehe wo es an mir klebt auf der Haut kleben bleibt wo ich es berühren kann seht ihr seht ihr wie ich es anfasse ich die ich nicht mehr bin vielleicht vielleicht auch nicht und doch und doch schlägt mein Herz noch ich höre es ist das das Leben wenn das kein Leben ist was ist es dann was ist dann das Leben und wenn das Leben nicht im Himmel ist wenn das Leben nicht über den Wolken schwebt da oben wo man nicht mehr mit den Augen sehen kann wo die Augen zu nichts nutze sind wo man die Arme ausstreckt die Arme ausstreckt und das Nichts berührt berühren kann wenn man es schafft wenn man Glück hat wenn es für einen gedacht ist bestimmt ist wenn etwas auf einen wartet und wenn nicht wenn niemand auf mich wartet und wenn ich die Arme ausstrecke und die Finger auch und wenn die Fingerspitzen in den Wolken verschwinden einfach verschwinden den Mond berühren und nicht mehr zurückkommen denn man kann nicht man kann die Stimme nicht berühren nicht umarmen nicht streicheln die Stimme ich will diese Stimme jene meine Stimme wieder in mich aufnehmen verschlingen und wenn sie nicht für mich da ist wenn die Liebe in den Wolken über dem Himmel zwischen den Sternen und dem Mond und der Kälte und Dunkelheit wenn die Liebe nicht möglich ist wenn es sie dort nirgendwo gibt wenn sie mich betrogen hat mich schon wieder betrogen hat zum wiederholten Mal unendliche Male im Stich gelassen verleugnet ausgelacht ausgelacht und verraten hat und wenn ich mir alles nur gewünscht und alles umsonst alles umsonst war das Leben und das Singen und der Baum der Baum der so schön war so groß und ach so großartig der so gelächelt hat der mich erkannt hat der wusste wer ich bin und wonach ich suche der alles schon bereithielt aber nicht für mich oh Gott nicht für mich und ich habe gesungen gesungen habe ich und wie ich gesungen habe und es war vergeblich alles vergeblich das Singen und der Schnee und die eisglatte Straße und der Baum des Todes wenn die Schuld immer siegt dann ist alles umsonst diese Schuld will mich überleben und ein Baum ist nicht ein Baum ist das Leben ist der Tod ein Baum kann alles sein das Leben und der Tod aber der Baum mein Baum ein Leben voller Bäume und alle bedeuten den Tod so ein Leben …

 

Schlagzeug

Strange Fruit

Dum di dambum bum, und mein Kopf schlägt gegen die Fensterscheibe, aber nicht stark genug, einmal Snare, heftig, dann Kick Drum, lang tief, noch einmal und endlich ein fortwährendes Crescendo. Buuuuuuuuuuuum. Und schließlich alles von vorne. So ein Scheiß. Das geht mir nicht aus dem Sinn, das vergesse ich nicht. Ihr Anblick. Ihr Kopf verschwunden.

Wo war ich?! Ich bin der Leader der Band, der Navigator, ich soll die Richtung vorgeben, den Kurs bestimmen, die Leichtigkeit anschlagen. Und verheiratet! Was soll das denn! Wie verheiratet?! Seit wann? Und ich weiß es nicht. Dum di dambum bum. Ich weiß es nicht. Was weiß ich noch alles nicht? All die Breaks, die unzähligen Breaks, wo ich gedacht habe, ich schaffe ihr Raum, ich schaffe ihr den Raum zum Leben, zum Lieben. Es ist alles bestens, hat sie gesagt, glaub mir, es ist alles bestens. Und dann fliegt mein Kopf herum, und ihrer verschwindet, und was nun? Alles bestens, aber klar doch! Was macht der überhaupt hier? Wer hat ihm Bescheid gesagt? Und verheiratet! Aber jeder kann das behaupten, einen Ring hat er nicht. Weder er noch sie. Also. Dum di dambum bum. Das ist sicher, nur darauf ist Verlass. Sechs Jahre, das ist nicht wenig, sechs Jahre, und die ganze Zeit ist sie verheiratet, und ich weiß es nicht, alles bestens. Sicher. Ich sehe, wie alles bestens ist. Dum di dambum bum.

Ich sehe sie noch vor mir stehen, groß, die Haare hochgesteckt, die Nacht in den Augen. Sie lächelte schwach, ich dachte, es tut ihr weh zu lächeln. Sie quälte sich durch das Gespräch, ich wollte sie nicht, ich wollte diese Dunkelheit nicht, ich wollte sie schon verabschieden, einfach wegschicken, das ist nichts für uns, wir brauchen Frische und Leichtigkeit, ich wollte joie de vivre, ich hatte eine genaue Vorstellung, und sie war zu alt, sie war nicht das, was ich wollte. Ich würde gerne was vorsingen, sagte sie mit einer tiefen Stimme, plötzlich tiefer als zuvor, die ließ mich aufhorchen. Und sie sang. Und ich wusste, sie muss meine sein, ich wollte sie, gleich da, auf der kleinen Bühne im Iridium. Dum di dambum bum, so wollte ich sie, während sie sang, wollte jeden Millimeter ihrer Haut spüren, meine Fingerkuppen juckten. Ich blieb atemlos, und sie sang, und ich hörte es, ich hörte alles. Die Finsternis des Blickes floss in ihre Stimme hinein, der Blues, da war dieser Blues, ich schloss die Augen und sah sie schwarz vor mir schweben, ihre Töne so tief, sanft, ein wenig kratzig, aber leicht wie Seide. Meine Zunge streichelte sie sanft, überall. Und sie sang.

Und sie blieb bei uns, und es dauerte noch Monate, bevor sie mir erlaubte, in sie einzudringen, Monate. Gott, können Monate lang sein. Aber sie sang, und die Jungs waren nie besser, seitdem spielen wir wie die Götter, wie die jungen Löwen, alle Türen stehen uns offen. Dum di dambum bum. Jetzt nicht mehr, jetzt ist alles im Keller verschlossen. Verheiratet. Wie kann sie verheiratet sein?! Sie sieht nicht so aus. Und der Typ auch nicht. Und er ist alt. Er ist doch zu alt für sie. Was wollte sie mit so einem? Was macht er hier? Wo war er die ganze Zeit, die ganzen acht Jahre, seitdem sie hier ist? Ich hätte besser aufpassen müssen. Von Anfang an. Ich habe sie gesehen, diese Schwärze in ihr, gleich habe ich sie gesehen, die Schwärze, auch in der Stimme, die sie so einmalig macht, war sie, die Leute flippen aus, wenn sie anfängt zu singen, diesen ersten Ton, wenn sie diesen ersten Ton singt, Mann! Da ist niemand sicher vor dem Abgrund, da ist ein Abgrund in ihr, ich habe es gleich gesehen. Aufpassen, ich hätte aufpassen sollen, was bin ich für ein mieser Swinger, nicht einmal den Ton kann ich mehr treffen, den vollkommenen, den Am-richtigen-Ort-zur-richtigen-Zeit-Ton, noch nie habe ich den Swing verpasst, noch nie!

Ein Körper und eine Seele und ein Beat, das waren wir, meine Jungs und ich. Und sie, gleich von Anfang an. Wo bleibt der Typ? Dass er jetzt plötzlich da ist, alle diese Rechte hat, er darf mit den Ärzten reden, darf erfahren, was da los ist, was mit Giorgia los ist, was eigentlich mich etwas angeht, nur mich, das pisst mich so an. All die Zeit. Und wo ist sein Ring?! Ein Schwindler, bestimmt. Das kann doch jeder sagen, ich könnte es auch behaupten, ich kann es. Warum nicht? Wer hat sie all die Jahre hier geliebt? Wer wohl? Ihr den Rücken gestärkt. Sie aufgefangen. Kein Mensch, ich kenne keinen Menschen, der so fallen kann, so tief und so schnell, so einen bodenlos tiefen Ton muss meine Bass Drum noch finden, noch ist sie nicht so weit. Dum di dambum bum. Ja, das kann sie schon, das haben wir jetzt gelernt, das wird der neue Standard. Ich muss noch ein wenig daran arbeiten, aber das wird nicht schwierig sein, ich habe nichts anderes im Kopf, ihr Kopf, wie er plötzlich nicht da ist, wie sie wie gebrochen dasitzt, alles falsch, alles verdreht, einfach falsch, Mann – und ich? Nichts. Hocke da, dum di dambum bum – als wäre nichts.

 

There’s No You

Montreal Montreal Montreal, tam darim timdamda, wie das durch meinen Schädel rast, wie ich sie umarme vor dem Auftritt, sie lächelt, sie küsst mich, Mann, sie küsst so gut, so endgültig, nichts sollte es mehr geben nach so einem Kuss, ich halte sie fest, ich halte sie fest, wann immer sie es zulässt.

Montreal. Tolle Vorstellung. Wir swingen und grooven, das tun wir immer, ich sehe Paul an, er zwinkert mir zu, das tut er immer, er ist lustig, unser Paul, wir kennen uns seit Ewigkeiten, sind zusammen auf das Berklee College gegangen, haben uns bei mir getroffen und gespielt, stundenlang, bis wir umgefallen sind, das waren Zeiten, nur wir beide, kein Bass, kein Piano, wir waren die Größten, wir dachten, wir wären Trane und Elvin, Jones war schon richtig, wie wir darüber gelacht haben, Ben Jones, der muss doch wenigstens so gut sein wie Elvin Jones. Das und noch viel anderes war vor Montreal. Erst ist John dazugekommen, und dann Giorgia.

Wir haben uns alle ein wenig in sie verliebt, man musste sich in sie verlieben, wenn sie den Mund öffnete, ach du Scheiße, was da rauskam an Klang. Eine Zaubertüte, das war sie. Sie sang mich zu Boden, yes sir, sie haute mich um. Ich wollte da rein, unbedingt, in diese Stimme, ich musste in diese Töne hineinspringen, mich von ihnen treiben lassen, das kann keiner verstehen, der sie nicht singen hörte. Wie eine offene Wunde. Tam darim timdamda, die ganze Nacht diese Stimme in diesem Montreal, das nicht wichtig sein sollte, nein, gar nicht, lediglich ein Trommelwirbel, ein einfaches tam darim timdamda. Bevor es in die Vorweihnachtszeit geht, in dieses zeitliche Irrenhaus. Der erste Dezember. Gescherzt haben wir, John hatte einen Adventskalender, ließ niemanden die Türchen aufmachen, ­versteckte das Ding, aber Paul hat’s gefunden und die Schokolade verputzt, oh Mann, da gab’s Stress. Giorgia lachte, tadelte sie wie kleine Kinder, lachte Tränen. Oder sie weinte tatsächlich, ich könnte es jetzt nicht sagen, damals glaubte ich, sie würde lachen. Tam darim timdamda, den ganzen Tag lang und am Abend dann haben wir gegroovt, außerirdisch haben wir gespielt, wir sahen uns ständig an, Giorgia strahlte, ihr Lächeln wie Kaminfeuer. Mein Gott, war das riesig. Dann spielten wir For You My Love, ich ging völlig ab, meine Djembe platzte fast, die Leute schrien, Giorgia scattete mit, sie machte diese kleinen Bewegungen, ihr Körper löste sich in der Musik auf, sie löste sich auf. Ich liebte es und befürchtete immer gleichzeitig, sie wird verschwinden, die Angst davor hat mich nie verlassen. Ich beschwor sie zu bleiben, ich trommelte um sie herum, meine Knöchel, meine Handkanten, alles tat weh, ich schlug und streichelte um mein Leben, um Giorgias Liebe.

Mann, wie ich sie liebe. Ich brauche frische Luft, ich muss raus, ich muss tam darim timdamda, ja, das muss ich. Die Zeit zurückdrehen, das muss ich. Atmen und alles ungeschehen machen, zurück nach Montreal, auf die Kickdrum schlagen, buuuuuum buuum buuuuuuuuum, und sie singen lassen, sie immer weitersingen lassen, meine Giorgia, sie nie ins Auto steigen lassen, nie ans Steuer setzen lassen, nie. Wer ist hier der Leader? Wer! Fliegen, das hätten wir tun sollen, wie Paul und John, fliegen, das liebte sie, dem Himmel, den Wolken so nah, könnten Sie das Fenster aufmachen, bitte, für mich, nur einen Augenblick, einen kurzen Augenblick, ja, das hätte sie gefragt, unschuldig gelächelt. Ich hätte ihre Hand gehalten. Ich hätte ihre Fingerkuppen geküsst. Tam darim timdamda, um ihr Leben getrommelt. Heute ist der erste Dezember, hat sie gesagt. Sie hat meine Hand genommen, meine Wange gestreichelt, sie hat mich geküsst.

Wir hätten dableiben sollen, Montreal war gut zu uns, für uns. An dem Nachmittag vor dem Konzert, Mann, haben wir da gevögelt. Sie biss mich in die Schulter, ich ließ es zu, ich lachte, danach, ich werde nicht spielen können, ich kann den Arm nicht bewegen, sieh mal, und ich tat so, als würde ich den Arm heben wollen und nicht können, und Giorgia lachte. Giorgia setzte sich auf mich, und wir vögelten noch einmal, sie war außer sich. Sie lachte Tränen. Oder sie weinte tatsächlich, das weiß ich nicht mehr, jetzt weiß ich es nicht mehr. Jetzt weiß ich gar nichts mehr. Aber in Montreal, da wusste ich noch alles, bildete es mir ein.

Ein Betrug, das Leben ist ein Betrug, Mann. Jedem Song traue ich mehr als dem Leben, jetzt ist alles, ja, einfach beschissen. Wir hätten in dem Hotelzimmer bleiben können, wir könnten immer noch da sein. Ihr Kopf unverletzt auf meiner Schulter, sie unversehrt unter mir, ich in ihr. Ihr Kopf in Sicherheit. Leute, lasst mich die Zeit zurückdrehen. Sie zog das rote Kleid an. Ihre roten Schuhe. Und wir vögelten wieder, ich zog sie nicht einmal aus, ich habe mein Gesicht in die rote Seide vergraben, in ihre Brüste, ihren Geruch eingeatmet. Sie roch nach Sex und ihrem Lieblingsparfüm. Sie roch nach mir und nach sich selbst. Ich drang in sie ein, als gäbe es kein Morgen, als hätte ich gewusst, dass es kein Morgen geben würde. Ihr rotes Kleid. Sie stand auf, kraftlos folgte ich ihr mit dem Blick, sie zog das Kleid aus, ich kann so nicht auftreten, sie lachte, alles zerknittert, sie lachte. Nackt, in ihren roten Stilettos stand sie vor mir, vor dem Spiegel und lachte. Dann zog sie das Kleid wieder an. Wollen wir?, fragte sie. Ich liebe dich, sagte ich. Ich dich auch. Und dann hat sie gesungen, und ich habe gespielt, und die Jungs haben sich um die Schokolade gestritten, in der Pause, und es war gigantisch. Montreal war gigantisch.