Eine andere Welt - Elias J. Connor - E-Book
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Elias J. Connor

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Beschreibung

Die scheinbar von ihrer Mutter verlassene Kitty und ihre Freundin Jojo sind zwei ganz normale Mädchen, die ein Internat in den Bergen der Rocky Mountains besuchen. Jedenfalls dachten sie das... bis sie eines Tages eine mysteriöse Botschaft aus einer seltsamen, fernen Welt erhalten, die in Gefahr ist. Kitty und Jojo sollen sich auf eine Reise begeben, die ihr Leben verändern wird. Begleite Kitty und Jojo auf ihrer märchenhaften aber auch düsteren und gefährlichen ersten Reise auf den Stern der Reiche, den man auch Naytnal nennt. Triff dort auf Zauberer, Feen, Kobolde und andere Monster und Wesen, und lerne die tiefe Bedeutung kennen, die Kitty und Jojo am Ende für den Stern der Reiche haben. Dies ist der erste Roman der Naytnal-Serie, der erste Band des Fantasy-Epos DIE NAYTNAL CHRONIKEN.

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Seitenzahl: 714

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Elias J. Connor

Eine andere Welt

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Kapitel 1 - Ein fremder Mann und ein fremdes Wesen

Kapitel 2 - Das Haus Lantyan

Kapitel 3 - Leonie und der geheimnisvolle Wissenschaftler

Kapitel 4 - Shaylan im Eisreich

Kapitel 5 - Ion

Kapitel 6 - Die Tajunas vom schwebenden Inselreich

Kapitel 7 - Die Wasserstadt Nyramar

Kapitel 8 - Der geheimnisvolle Schlüssel der Macht

Kapitel 9 - Kittys erster Endkampf

Kapitel 10 - Ro’nan in der Wandernden Steppe

Kapitel 11 - Rückkehr nach Yo’ria’san

Kapitel 12 - Eileen

Kapitel 13 - Das Geisterreich

Kapitel 14 - Jenseits des Feuerwalls

Kapitel 15 - Auf der Suche nach Thunderbirds Kind

Kapitel 16 - Kittys zweiter Endkampf

Kapitel 17 - Das Ende einer Reise

Impressum

Widmung

Für Jana.

Wie konnte ich dich finden, unter Millionen von Menschen?

Ich bin glücklich, dich zu kennen.

Für Nadja.

Du kennst die Welt von Naytnal. Schon seit langer Zeit.

Für Liam Elias.

Du bist angekommen in unserer Welt.

Eines Tages wird diese Geschichte vielleicht die erste sein, die du hören wirst.

Kapitel 1 - Ein fremder Mann und ein fremdes Wesen

Ein trockener Busch löste sich vom sandigen Boden und wurde vom Wind über die einsame, lange Straße gefegt. Der Mann sah ihm hinterher. Dann nippte er noch mal an seiner Wasserflasche und steckte sie anschließend wieder in seinen braunen Rucksack hinein, den er sich dann wieder um die Schulter hing. Am Horizont kamen einige Wolken auf, die wahrscheinlich auf ein typisches, kurzes Sommergewitter hindeuten könnten. Der Mann blieb kurz stehen und betrachtete sie. Dann atmete er tief ein, kratzte sich an seinem Bart und lief weiter. Ein schöner Tag zum Wandern, dachte er bei sich.

Wenig später hörte man ein Schild klappern. Ein altes Highway-Schild mit der Aufschrift „Welcome to Desert End – next stop 55 miles.“ Hier musste es also einen kleinen Ort in der Nähe geben, da könnte der Mann vielleicht übernachten, denn 55 Meilen bis zum nächsten Halt würde er sicher heute nicht mehr schaffen. Die untergehende Sonne ragte über den am Horizont liegenden Gipfeln des Monument Valley, und der Wind wurde stärker. Der Mann schaute sich nach Häusern um. Er sah keine, aber ein kleiner Feldweg ging von der Landstraße weg, wahrscheinlich führte der zu einer Herberge oder einem Motel. Genau das, was er jetzt bräuchte – ein einfaches, nettes Zimmer mit einem knarrenden, quietschenden Bett und einer Dusche. Vielleicht ein kleiner Fernseher im Raum, dass er sich die neuesten Nachrichten noch ansehen konnte, bevor er schlafen gehen würde.

Bevor der Mann den Feldweg inspizieren wollte, setzte er sich noch mal auf eine Bank am Straßenrand, um die ganzen Eindrücke des heutigen Tages noch mal Revue passieren zu lassen. Am Horizont konnte er einen Donner hören. Aha, das nahende Gewitter ist da hinten schon im vollen Gange, überlegte er. Er holte eine Landkarte aus der Tasche, und einen Filzstift ebenso. Dann zeichnete er auf der Karte den Weg ein, den er heute schaffte.

Man konnte nicht sagen, wie lange der Wanderer schon unterwegs war, aber so wie er aussah, bereits tagelang. Seine Klamotten waren verstaubt und dreckig. Sein Haar erschien fettig, und sein Stirnband, auf dem man die amerikanische Flagge erkennen konnte, war schweißgetränkt von der Hitze hier inmitten der Wüste Arizonas. Welcher Verrückte läuft zu Fuß durch die Wüste? Aber vielleicht war er ja auch mit einem Motorrad unterwegs und hatte eine Panne. Weil aber die Tankstellen, geschweige denn Ortschaften hier in der Gegend oft Hunderte von Meilen auseinander liegen, musste man schon einen mehrtägigen Marsch zum nächsten Kaff in Betracht ziehen, wenn man nicht endlose Tage warten wollte.

Wieder ein Donner, der sich diesmal viel näher anhörte. Das Gewitter schien offenbar mit großer Geschwindigkeit herzukommen. Eine Wolke müsste man sein, dachte der Mann bei sich. Der Himmel verdunkelte sich plötzlich abrupt, mehrere Blitze zuckten. Der Mann blieb trotzdem sitzen.

Wie gebannt sah er in den Himmel. Die Wolken begannen plötzlich zu zirkulieren. Sie drehten sich, und das immer schneller. Ein Tornado? An einem solchen Tag? Noch ein lauter Donner. In der Nähe wurde scheinbar eine Stromleitung getroffen; das Geräusch war unverkennbar. Die Wolken bildeten nun einen Wirbel, immens groß, immer näher kommend. Bäume wurden durch die Luft geschleudert, ein Auto flog durch die Luft.

Doch statt in Deckung zu gehen, blieb der Mann einfach wie angewurzelt sitzen und sah in den Himmel, wie versteinert, immer in dieselbe Richtung. Auf einmal flog etwas sehr Seltsames aus dem Wirbelsturm heraus. Es war groß, sehr groß. Es hatte Flügel und hatte einen eigenartigen, grünen Schimmer. Seine Flügel schlugen langsam, fast ruhig wie im Gleitflug. Der Wind konnte dem seltsamen Geschöpf anscheinend gar nichts anhaben. Es sah gefährlich aus. Und gruselig. Aber es war irgendwie auch eine phantastische Kreatur, bewundernswert und fast majestätisch. So landete es dann auch plötzlich. Es landete genau vor den Augen des Mannes.

Es bäumte sich vor ihm auf. Mit seinen riesigen Glubschaugen in seinem Kopf, der aussah wie der einer hässlichen Schlange, blickte es auf den Mann herab. Es ließ dann seine Flügel herabhängen und schnaubte eine Rauchwolke aus seinen beiden riesenhaften Nüstern. Das Wesen schien eine Art Drache zu sein, eine Mischung aus Dinosaurier und Echse. Seine Beine waren dünn, fast klein im Gegensatz zu seinem majestätischen Körper. Das seltsame Wesen senkte dann seinen Hals herab, bis es dem Mann genau in die Augen sah.

„Mach deinen Wunsch!“, sprach es mit tiefer, inbrünstig klingender Stimme

„Wer bist du? Was bist du?“, sagte der Mann mechanisch, aber dennoch nicht zitternd vor Angst. Er wirkte apathisch, so wie eine Marionette ohne Fäden.

„Mach deinen Wunsch!“, wiederholte das Wesen inbrünstig. Seine Stimme klang irgendwie verzerrt, blechern und hallend zugleich. Viel lauter als der Wind. Und fremd, eigenartig fremd. „Mach deinen Wunsch! Ich, Thunderbird, bin gekommen aus den Weiten des Alls, hierher, um dir die Weltherrschaft anzubieten. Ich bin allmächtig. Tausche deine Seele mit mir, und so wirst du grenzenlose Macht erhalten, die meinige grenzenlose Macht. Du wirst zum Kaiser, zum absoluten Herrscher deines Planeten. Mach deinen Wunsch!“

Der Mann stand nach wie vor da wie zu einer Salzsäule erstarrt. Er wirkte fast von seiner Handlungsfähigkeit beraubt, wie eine stillstehende Maschine ohne Öl. Kein Zweifel, das fremde Wesen Thunderbird muss den Mann so tief in Hypnose versetzt haben, wie noch niemand zuvor in Hypnose versetzt worden war, und die Kraft, die Macht, mit der Thunderbird dies tat, muss so immens gewesen sein wie es noch nie eine Macht gewesen ist, noch niemals auf der ganzen Welt. Der Mann hatte keinerlei Chance, als die Antwort zu geben, die er geben musste.

„Ich wünsche, meine Seele mit deiner zu tauschen“, sprach der Mann dann langsam.

„Nun gut“, machte Thunderbird. „So sei es!“

Dann reckte er seinen Hals in die Luft. Eine tiefrote Feuerfontäne schoss aus seinem großen Maul, und er zeigte seine Zähne, während er sie auspustete. Dann verschlang plötzlich der Wirbelsturm den Drachen mitsamt dem Mann, und kurz darauf verschwanden die Wolken, das ganze Unwetter, so schnell wie es entstanden ist.

Es herrschte nun eine mysteriöse Ruhe am Rande dieses langen, endlosen Highways.

Kapitel 2 - Das Haus Lantyan

Der Schnee fiel leise auf den Hof. Nebel machte sich im ganzen Tal breit. Er schien die Berge langsam zu verschlingen, die rings um das Tal gelegen waren. Und dunkel war es. Selbst gegen 17 Uhr schon. Der Hof war schon ganz weiß, und Eiszapfen hingen von den Dachrinnen des riesigen grauen Betonklotzes. Manche so groß wie mehrere Stockwerke.

Auf dem Hof war es sehr ruhig. Einige wenige Kinder schleppten Holzkisten umher. Sie schienen nicht recht zu wissen, wohin damit. Andere Kinder spielten Basketball. Wieder andere Kinder bemühten sich, den Schnee vom Hof zu schaufeln. Und immer wieder sah man geheimnisvolle, in schwarz-weiß gekleidete Frauen umherlaufen, und ab und an hörte man sie einen unverständlichen Satz schreien.

Hinter fast jedem Fenster des riesigen, nicht endend wollenden grauen Gebäudekomplexes schien Licht. Wahrscheinlich bereiteten sich die meisten Kinder jetzt auf das Abendessen vor. Hinter einem Fenster konnte man ein Mobile sich drehen sehen. Bei näherem Hinsehen erkannte man, dass eine Person es immer wieder anzuschubsen schien.

Lantyan – das Elite-Internat in den amerikanischen Rocky Mountains. Eines der bekanntesten Häuser ganz Amerikas. Nur ausgewählte Kinder, meist von reichen Familien, landeten hier, um eine, wie es heißt, ganz besondere Erziehung zu genießen. In Wahrheit aber ist der Alltag hier eher trist, und die Kinder müssen sehr viel mit anpacken und arbeiten, und sie haben kaum Freizeit für ihre eigenen Interessen. Auch die älteren Kinder, die bei Versammlungen immer wieder mehr Freizeit und weniger Arbeit forderten, kamen mit ihren Wünschen nie am harten Regime des Internats an. Die meisten Kinder fügten sich wohl oder übel ihrem Schicksal.

Auf dem Flur herrschte rege Hektik. Einige Kinder brüllten, schrieen, lachten, wurden daraufhin von den Erziehern ermahnt. Ein Mädchen mit einem roten Kleid, etwa 14 Jahre alt, rannte einen kleineren Jungen um, und beschwerte sich daraufhin bei ihm, was er hier zu suchen habe. Dann rannte es in ein Zimmer und knallte die Tür zu.

„Kitty?“, rief sie. „Kitty!“

Sie schaltete das Licht an, denn das Zimmer war stark abgedunkelt.

„Kitty, schläfst du?“, rief das Mädchen.

Ein anderes Mädchen mit schulterlangen, blonden Haaren, etwa 13 Jahre alt, saß am Fenster und schubste immer wieder ein Mobile aus Glasfragmenten an, welches davor hing und dabei

den von draußen reflektiertem Schein im Zimmer verbreitete und sanfte Lichtspiele an die Zimmerwand warf. Es schien in Gedanken versunken zu sein. Leise summte sie eine Melodie. Es schien immer die gleiche Melodie zu sein, immer in der gleichen Tonfolge.

„Hallo! Erde an Kitty. Gehirnsensoren einschalten“, witzelte das eine Mädchen, das gerade so hektisch die Tür öffnete. „Mensch, in einer halben Stunde gibt’s Essen, und du bist nicht mal angezogen.“

„Was?“ Kitty erschrak. Dann drehte sie sich um und schnürte den Gürtel ihres Bademantels, den sie trug, fest. „Oh... hey, Jojo.“

Jojo nahm sich die Bürste von Kittys Nachtschränkchen und kämmte sich ihre gewellten, braunen Haare. „Ich darf doch?“

„Ist deine Bürste schon wieder weg?“

„Spurlos. Du kennst das ja.“

„Wieso verschlampst du andauernd deine Sachen?“, beschwerte sich Kitty. Jojo schaute sie ratlos an und machte dann weiter. Kitty kam daraufhin vom Fensterbrett runter und ging zum Wandschrank. Sie öffnete ihn und suchte nach einer passenden Hose. Als sie dann meinte, keine zu finden, schloss sie den Schrank wieder.

„He, willst du im Bademantel zum Essen? Wir dürfen doch heute bei den Jungs sitzen...“, lachte Jojo.

„Du und die Jungs immer. Der blöde Fraß ödet mich sowieso langsam an“, erwiderte Kitty. Jojo schnappte sich dann eine kleine Parfümflasche und machte sich davon etwas an den Hals. Dann legte sie sich noch eine kleine Kette um.

„Sag mal, meinst du nicht, du übertreibst etwas?“, fragte Kitty kopfschüttelnd.

„Seh ich gut aus?“, fragte Jojo, ohne eine Antwort darauf zu erwarten. „Komm, mach hin. Wir müssen gleich.“

Kitty lachte kurz über Jojo, dann streifte sie ihren Bademantel ab und zog sich eine Jeans und einen dazu passenden Pullover an. Auf dem Pulli war das Bild eines riesigen Drachen, der Feuer speiend über eine Stadt flog.

„Was soll das denn?“, staunte Jojo leicht mürrisch.

„Ich zieh an, was ich will. Außerdem mag ich Drachen“, antwortete Kitty.

„Aber darin siehst du aus wie ein Kind.“

„Ich bin ja auch eins.“

„Baby, Baby, Baby...“, sang Jojo frotzelnd. Kitty haute ihr daraufhin eine auf den Kopf.

„Mensch, Kitty. Du bist 13. Benimm dich doch auch so“, konterte Jojo darauf.

Im Speisesaal war es jetzt ziemlich voll. Die Kinder, die für heute dazu bestimmt waren, teilten das Essen aus. Wie Wachmänner standen zahlreiche Erzieher und Erzieherinnen im ganzen Raum verteilt. Es geschah zwar nur einmal im Monat, aber es geschah immerhin, dass die Kinder mal in gemischten Gruppen zusammen Abendessen durften. Früher gab es hier auf Lantyan für Jungen und Mädchen immer getrennte Uhrzeiten zum Essen. Aber eine Gruppe der Kinder hat nach einer Versammlung kürzlich durchsetzen können, dass es nun einmal im Monat ein „gemischtes Abendessen“ gab. Heute war einer dieser Tage, auf den Jojo sich schon lange freute. Erwartungsvoll betrat sie den großen Speisesaal, hinter ihr lief Kitty staunend und schüchtern.

„Nicht drängeln!“, brüllte eine Frau laut, gekleidet in so was Ähnlichem wie einem Nonnenkostüm. „Jeder geht ruhig zu seinem Platz! Und geräuschlos!“, schrie ein älterer Mann im Anzug. Der Speisesaal war riesig groß. Zu seiner linken Seite sah man eine lange Theke, auf der das Essen stand – vielmehr, das was sie hier Essen nannten. Hinten war eine große Wand, mit Bildern von den Begründern des Internats. Die Decke des Speisesaals war hoch, mindestens zwölf bis fünfzehn Meter. Der Saal war ausgestattet mit mehreren großen Tischen für 10 bis 12 Leute, und vielen kleinen Tischen für Vierer- und Sechsergruppen. Zwischen den Tischen gab es ewig lange Gänge auf denen sich die Kinder drängelten, um einen guten Platz zu bekommen. Der Fußboden war frisch gebohnert. Er bestand aus grauen Fliesen, die manchmal verursachten, dass einige Kinder ausrutschten. Auf der rechten Seite waren große Fenster angebracht, vergittert wie in einem Gefängnis. Das Licht war grell. Mehrere schlichte Strahler leuchteten monoton die Tische an.

„Hier“, rief ein Mädchen und winkte einem anderen Mädchen. Ein kleiner Junge fiel hin, stand wieder auf und fiel erneut. Eine Erzieherin hob ihn grob auf und stumpte ihn vor sich her.

„Jordan“, hörte man ein Kind rufen.

„Larissa“, rief ein anderes. „Wo bist du?“

Jojo überblickte kurz die Lage. Dann entdeckte sie einen Tisch, an dem zwei Jungs saßen, die sie süß fand. Zwei Plätze waren dort noch frei.

“Komm, Kitty“, sagte sie hektisch und zog ihre Freundin am Arm. „Da drüben.“ Jojo zog so schnell, dass Kitty jemanden anrempelte. Jojo blieb stehen und drehte sich zu Kitty um. Kitty drehte sich zu der Person um, die sie gerade angerempelt hat.

„Mr. Templeton...“, sagte sie leise. Mr. Templeton war der Leiter des Internats. Er war stets schick gekleidet. Die älteren Kinder warnten die jüngeren immer davor, ihm zu nah zu kommen. Man sagt, dass er eine Allergie auf Kinder habe. In seiner großen Montur, schnieke erscheinend in seinem tiefblauen Anzug, baute er sich vor Kitty auf. Sein Gesicht war griesgrämig. Er hatte graue Haare und unwahrscheinlich dicke Augenbrauen, die aussahen wie aus Pferdehaar. Grimmig blickte er Kitty an. Er schien zu zittern, und sein Gesicht wurde Puterrot.

„Aus meinen Augen!“, brüllte er Kitty warnend an. Kitty trat einen Schritt zurück.

„Komm, Kitty. Die Plätze sind immer noch frei“, sagte ihre Freundin Jojo leise. Die beiden Mädchen stapften daraufhin zu den Jungs an den Tisch, wo bereits das Essen stand. Eine widerlich aussehende hellbraune Pampe, wohl irgendetwas mit Kartoffeln.

„Widerliche Pampe“, maulte Kitty, und musste sich dafür einen Stoß von Jojo in die Seite einfangen.

„Hi“, begrüßte Jojo mit einem fast übertriebenen Lächeln die beiden Jungs. Der eine war dunkelblond, groß, gut gebaut. Er sah ein bisschen aus wie der Schauspieler Brad Pitt und schien etwa 14 oder 15 Jahre alt zu sein. Der zweite Junge war dunkelhaarig, trug eine Brille und war eher klein, vielleicht etwa 11 oder 12 Jahre alt. Kitty wusste sofort, dass Jojo den großen gut aussehenden Jungen anbaggern würde. Die beiden Mädchen setzten sich an den Tisch und begannen zu essen.

„Ist der nicht süß?“, fragte Jojo ihre Freundin und sah dabei auf den dunkelblonden Jungen.

„Also... ich bin ja kein Experte, aber du solltest ihn vielleicht ansprechen“, flüsterte Kitty zurück.

„Hab ich doch schon“, entgegnete Jojo genervt.

„Hi“, machte Kitty sie ironisch nach. Auch die Jungs tuschelten. Wenn sich die Blicke von Jojo und dem Dunkelblonden trafen, bemühte Jojo sich, ihn stets anzulächeln, auf ihre nahezu überkünstliche Weise. Kitty schüttelte den Kopf und atmete tief aus, während sie beschloss, der Sache nun Nägel mit Köpfen zu machen.

„Sagt mal, wie heißt ihr eigentlich?“ fragte sie dann schließlich.

„Ich bin Jeremy“, sagte der Brad-Pitt-Verschnitt. Er lächelte Kitty an. „Und du?“

„Ich heiße Kitty Linnore“, antwortete Kitty ihm gelassen. „Das ist meine Freundin Jojo.“

„Hallo, Jojo“, sagte Jeremy. Jojo nickte kurz. Ihr stand plötzlich die Schamesröte im Gesicht, so dass sie glatt als Feuermelder durchgehen konnte. Sie brachte kein Wort heraus.

„Ich bin Jesse“, sagte der kleinere Junge schließlich. „In welcher Stufe seid ihr?“

„Sechste. Und ihr?“ Kitty hielt die Gabel hoch, die kurz ihr Haar berührte. Gekonnt wischte sie mit der Serviette die Gabel ab und aß dann weiter.

„Ich in der fünften. Jeremy in der achten.“

„Wow...“, entfuhr es Jojo.

„Funktioniert absolut super, nicht?“ witzelte Kitty ihrer Freundin zu.

„Halt die Klappe“, erwiderte Jojo angesäuert.

„Kitty Linnore... Wo hab ich den Namen denn schon mal gehört. Ich weiß, du kommst mir irgendwie bekannt vor.“ sagte Jeremy zu Kitty.

„Keine Kunst“, machte Jojo. „Ihre Mom ist Forscherin. Eine bekannte Astronomin.“

„Sie ist Anthropologin.“ sagte Kitty leise und senkte ihren Kopf.

„Etwa Leonie Linnore? Die bekannte Jägerin der Dinosaurier?“, fragte Jeremy. Kitty nickte.

„Mann, irre. Ich hab ihre ganzen Bücher gelesen. Ich finde es ganz klasse, was sie macht. Kaum zu glauben, ich sitze hier mit Leonie Linnores Tochter. Ich hatte ja gar keine Ahnung, dass du... sag mal, was machst du hier in Lantyan? Bist du nicht mit deiner Mom auf Reisen?“

„Wozu?“, machte Kitty mürrisch.

„Das ist voll der Wahnsinn. Ich hab ja gar nicht gewusst, dass Leonie Linnore eine Tochter hat. In ihren Büchern hat sie nie was davon geschrieben...“

„Sie hat eben viel zu tun!“, schrie Kitty. Ruckartig stand sie daraufhin auf und ließ ihre Gabel ins Essen fallen, so dass ein Teil der Pampe den Tisch versaute. Eilig rannte Kitty raus, noch bevor eine Erzieherin oder ein Erzieher heraneilen konnte.

„Was hat sie denn?“, fragte Jeremy.

„Nichts. Nimm’s nicht persönlich“, antwortete Jojo.

In ihrem Zimmer angekommen, schmiss Kitty sich gleich aufs Bett. Sie versteckte ihr Köpfchen in ihrem Kissen und heulte leise vor sich hin. Fast regungslos weinte sie. Wenig später öffnete sich die Zimmertüre.

„He, Kitty, alles okay?“, fragte Jojo. Sie schaltete das Licht ein, was Kitty wohl vergessen hatte. Jojo setzte sich zu Kitty aufs Bett. Der Windhauch ließ das Mobile sich drehen. Einige Glasfragmente des Mobiles reflektierten das Licht und warfen kleine Punkte an die Wand, die sich bewegten. Zärtlich legte Jojo Kitty die Hand auf die Schulter. Dann streifte sie durch ihre Haare und schob sie zur Seite, so dass sie vielleicht einen Blick auf ihr Gesicht werfen könnte. Kitty drehte sich dann um. Jojo sah ihre verweinten Augen.

„Tut mir leid, dass ich’s dir vermasselt hab, das mit den Jungs“ sagte Kitty leise.

„Nicht so schlimm“, beruhigte sie Jojo. „Was war denn mit dir los, plötzlich?“

„Weiß nicht“, hauchte Kitty. Sie setzte sich auf und zog sich ihren Pullover aus, den sie auf den Boden schmiss. Dann stand sie auf und entledigte sich ihrer Jeans. Kittys Haut war hell, glänzte aber matt-dunkel im Schein des schwachen Zimmerlichts. Nachdem sie sich dann ihr Nachthemd überzog, legte sie sich wieder in ihr Bett.

„Es war wegen deiner Mom, nicht?“, wollte Jojo wissen. Kitty antwortete nicht.

Jojo zog sich dann ihr Nachthemd an und legte ihre Klamotten anschließend in den Schrank.

Auch Kittys Klamotten, die noch auf der Erde lagen, räumte Jojo in den Schrank rein. Dann wollte sie sich gerade in ihr Bett legen, als Kitty sich zu ihr drehte.

„Kannst du heute bei mir schlafen?“, fragte Kitty.

„Klar“, antwortete Jojo. Dann legte sie sich zu Kitty ins Bett und nahm sie in den Arm. „Du musst nicht traurig sein.“

„Sie will gar nicht wissen, wer ich bin“, flüsterte Kitty.

„Warum sollte sie das nicht wollen?“, hakte Jojo nach.

„Sie war nie hier. Sie besucht mich nie“, heulte Kitty. „Warum nicht? Warum nicht?“

„Sie hat vielleicht zu viel zu tun...“, versuchte Jojo zu trösten.

„Sie will mich nicht“, sagte Kitty verzweifelt.

„Sie will dich ganz bestimmt, Kitty. Sie kommt dich bestimmt bald besuchen.“

„Aber ich weiß schon gar nicht mehr, wie sie aussieht. Alles was ich habe ist ein altes Foto.“

Kitty holte ein Foto aus ihrem Nachtschrank und gab es Jojo in die Hand. Darauf war ein Mann zu sehen, eine wunderschöne Frau, und ein kleines Mädchen von höchstens drei oder vier Jahren. Das Mädchen hatte nichts weiter an als eine Badehose, der Mann trug ein T-Shirt und die Frau ein dünnes, mehrfarbiges Strandkleid. Im Hintergrund sah man ein Meer.

„Das war kurz bevor ich hierher kam“, erzählte Kitty, während sie sich die Tränen aus den Augen wischte. „Kurz bevor mein Dad starb.“ Sie machte eine lange Pause. Jojo starrte auf das Bild.

„Ich weiß nicht mehr, wer mich hierher gebracht hat, Jojo“, sagte Kitty schließlich. „Ich kann mich einfach nicht erinnern. Manchmal denke ich, ich war schon immer hier.“

„Deine Mom ist sehr schön.“ sagte Jojo leise.

„Glaubst du, dass sie mich vergessen hat? Einfach vergessen?“

„Ach, Kitty. Deine Mom liebt dich. Da bin ich ganz sicher. Sie kommt bestimmt eines Tages, um dich zu holen. Sie hat dich bestimmt nicht vergessen. Sieh mal, ich habe nicht mal Eltern...“

„Aber du hast eine Tante, die dich oft besucht. Und da gehst du auch in den Ferien immer hin.“

„Ja, schon... aber da ist es öde. Und die ist auch so streng wie die Leute hier.“

Jojo legte das Foto dann zurück in Kittys Nachtschrank und knipste das Licht aus. Dann legte sie wieder den Arm um Kitty und schmiegte sich fest an sie.

„Ich bin froh, dass ich dich habe“, flüsterte Kitty, während sie sich zur Wand drehte.

„Schlaf jetzt. Morgen sieht’s bestimmt wieder besser aus“, sagte Jojo leise, während sie ihrer Freundin sanft über die langen Haare streichelte. Kitty beruhigte es sehr, die Nähe ihrer besten und einzigen Freundin zu spüren, gerade in diesem Moment, wo sie so traurig war. Jojo schlief bald darauf ein. Kitty konnte ihre gleichmäßigen Atemzüge an ihrem Hals spüren. Nachdenklich starrte sie an die Wand und hoffte, bald einzuschlafen.

Am nächsten Morgen wurde Kitty von einem lauten Donnern an die Türe geweckt. Vom Flur draußen konnte man bereits Kindergeschrei hören, und dazwischen immer wieder die mahnenden, lauten Stimmen der Erzieher und Erzieherinnen. Kitty streckte sich, während Jojo noch seelenruhig zu schlafen schien.

Wieder klopfte es lautstark an die Türe. „Aufstehen! Wenn ihr nicht in zehn Minuten draußen seid, gibt es eine Woche Zimmerarrest“, hörte Kitty eine tiefe Männerstimme rufen. Oh, nein, nicht schon wieder Templeton. Dieser Mann war unerträglich. Und er war bekannt dafür, dass er all seine Drohungen stets wahr machte. Wenn er Zimmerarrest ankündigte, hieß das auch Zimmerarrest und nichts anderes. Das war wie im Gefängnis. Kitty machte das schon einige Male durch, und immer war er es, der ihr Zimmerarrest erteilte.

„Schnell, Jojo!“ Kitty stupste ihre Freundin an, die daraufhin gähnend die Augen öffnete. Keine zwei Sekunden darauf stand sie im Bett, während Kitty bereits dabei war, sich anzuziehen.

„Hatte Templeton etwa wieder Weckdienst heute?“, wollte Jojo wissen.

„Weckdienst! Der macht das doch gerne, uns so grob aus den Federn zu reißen.“

Jojo kramte hektisch in ihrem Schrank herum.

„Wo sind meine Schuhe? Ich kann meine Schuhe nicht finden, Kitty“, sagte sie.

„Unterm Bett.“ Hektisch kramte Kitty ihre Bürste heraus und kämmte sich die Haare. Noch fünf Minuten waren Zeit. Kitty rannte hektisch ins Bad, um sich zu waschen. Katzenwäsche musste in Anbetracht der dahin rinnenden Zeit reichen, duschen könnte sie später noch. Jojo kramte hektisch ihre Schuhe hervor und zog sie an. Dann rannte sie ins Bad und putzte sich die Zähne.

„Wie lange noch?“, fragte sie, den Mund noch voller Zahncreme. Kitty sah auf die Uhr. „Drei Minuten.“ Schnell schnürte Kitty ihren Gürtel zu, dann war sie mit Zähneputzen an der Reihe. Noch eine Minute. Warum musste Templeton die Kinder auch immer so spät wecken? Kein Wunder, dass sie oft nicht rechtzeitig zum Unterricht erschienen.

Exakt zehn Minuten nachdem sie geweckt wurden, standen Kitty und Jojo auf dem großen Flur des Mädchenschlafsaals. Templeton, in voller Montur am Ende des Flurs stehend, blickte auf seine Uhr, dann blickte er Kitty und Jojo an. „Na, ihr habt es gerade noch so geschafft. Da könnt ihr von Glück sagen“, murrte er. Dann ging er zum Treppenhaus. Zwei andere Mädchen rannten wie vom Blitz getroffen ebenfalls zum Treppenhaus, und auch Kitty und Jojo rannten dann los.

Natürlich hatten auf Lantyan Jungen und Mädchen nicht nur getrennte Schlafgeschosse, auch die Geschosse mit den Klassenräumen befanden sich für Jungen in einem anderen Bereich als für Mädchen. Die Jungen wurden im vierten und fünften Flur auf der rechten Seite unterrichtet, die Klassenräume der Mädchen befanden sich in den ersten beiden Stockwerken auf der linken Seite. Das Zimmer von Kitty und Jojo lag Gott sei Dank nicht allzu weit weg von ihrem Klassenraum im ersten Stockwerk.

Frühstück gab es auf Lantyan vor den ersten beiden Schulstunden nie. In der großen Pause hatten die Kinder Gelegenheit, sich an einem kleinen Laden im Erdgeschoss etwas zu essen zu holen – ein belegtes Brötchen oder eine Schale trockenes Müsli. Die ersten beiden Stunden waren daher immer die unangenehmsten Schulstunden des ganzen Tages. Vor allem in Kittys und Jojos Klasse, denn sie hatten bei Mrs. Greyhound Geschichte.

Mrs. Greyhound sah genauso aus wie sie hieß – groß, grauhaarig und dick wie einer der bekannten Greyhound-Busse. Sie trug stets ein viel zu enges Nonnenkostüm, was jeden Moment hinten aufzureißen drohte. Auf ihrer einem Greifvogel ähnelnden Nase saß eine dicke viereckige Brille. Wenn es einen Inbegriff für Hässlichkeit geben würde, so würde dies ohne weiteres Mrs. Greyhound sein. Ebenso mürrisch wie hässlich war sie außerdem. Sie war eine der strengsten Lehrerinnen auf Lantyan.

Kitty und Jojo konnten sich gerade noch hinsetzen, bevor Mrs. Greyhound schließlich das Klassenzimmer betrat.

„Ich gehe davon aus, dass ihr euch alle auf die heutige Unterrichtsstunde vorbereitet habt“, begann sie, noch bevor sie am Schreibtisch angekommen war. Die Schülerinnen kramten hektisch in ihrer Schultasche herum und holten dann ein Buch und ein Heft heraus.

„Ashford, Lynn?“, rief sie auf. Sie kündigte niemals an, die Anwesenheit zu überprüfen, da sie das ja generell jedes Mal machte. „Anwesend“, antwortete Lynn Ashford. Genauso üblich war es, dass die Kinder stets mit „anwesend“ zu antworten hatten. „Boyce, Benjamine?“ „Anwesend.“ „Benedict, Samantha?“ „Anwesend.“

„Ich hab nicht gelernt“, flüsterte Jojo Kitty zu.

„Hättest du mal besser getan.“ Kitty legte ihr Buch und ihr Heft auf den von Holzwürmern angefressenen Schultisch.

„Ich hatte eben keine Zeit.“ Jojo zog die Schultern hoch und versuchte, so unschuldig wie möglich zu wirken.

„Frey, Harriet?“ „Anwesend.“

„Glaubst du, sie lässt einen Test schreiben?“, fragte Jojo. Kitty raunte.

„Goose, Josephine?“, rief Mrs. Greyhound auf. Jojo starrte in die Luft. „Goose, Josephine?“, sagte Mrs. Greyhound noch lauter. Jojo atmete tief durch. „Anwesend“, antwortete sie missbilligend. Jojo mochte ihren vollen Namen nicht leiden, und schon einige Male riskierte sie Zimmerarrest, weil sie Mrs. Greyhound darauf aufmerksam machte, dass sie Jojo hieß und nicht Josephine.

„Holstein, Daniela?“ „Anwesend.“ Fast immer waren alle Mädchen anwesend, und wenn einmal nicht, hatte das betreffende Mädchen immer Zimmerarrest, oder es war krank und Mrs. Greyhound hatte aus der Krankenabteilung bereits die Nachricht darüber erhalten. Es war eigentlich sinnlos, die Anwesenheit jedes Mal zu überprüfen. Die Lehrer wussten immer, wo die Schüler waren.

„Geht’s dir denn heute wieder besser?“, fragte Jojo Kitty. Gerade dachte Jojo an den gestrigen Abend, an dem Kitty so wahnsinnig fertig war wegen ihrer Mom.

„Weiß nicht. Mir geht’s immer noch mies.“ Kitty streifte sich ihre langen, blonden Haare aus dem Gesicht und stieß einen Seufzer aus.

„Was hältst du davon, wenn wir heute Nachmittag mal etwas draußen spielen?“ Jojo wollte Kitty aufmuntern. Kitty lächelte und nickte. Wenigstens hatte sie Jojo noch. Ihre beste Freundin.

„Wir könnten vielleicht mit den Jungs Baseball spielen, wenn sie es uns erlauben.“

„Linnore, Kitty!“, rief Mrs. Greyhound laut. „Hier wird nicht geschwätzt.“

Mrs. Greyhound setzte ihre Liste bis zum Ende fort. „Nehmt nun ein leeres Blatt Papier zur Hand“, sagte sie anschließend. „Ihr werdet nun einen Aufsatz über die Ära Reagan schreiben. Dafür gebe ich euch eine Stunde Zeit. Anschließend werden die Aufsätze eingesammelt. Und los.“

„Ein unvorbereiteter Test...“, fluchte ein Mädchen leise. Mrs. Greyhound legte ihren Wecker auf den Tisch und drehte an ihm. Die Klasse begann zugleich los zu schreiben. Es war so still, dass man nur noch das Ticken der Uhr durch den mittelgroßen Klassenraum hallen hörte. Mrs. Greyhound brauchte nie viele Worte. Sie war in ihrer Unterrichtsmethode auch nie ein Freund vieler Worte. Meistens ließ sie die Klasse irgendwelche Schreibarbeiten verrichten, während sie in einem Buch las – allerdings ohne jemals auch nur eine Schülerin aus den Augen zu verlieren.

Kitty schrieb und schrieb immer weiter, so als würden ihr die Gedanken gerade so zufließen. Jojo ließ ihren Stift langsam über ihr leeres Blatt kreisen. Nach einigen Minuten stupste sie Kitty unter dem Tisch an. Kitty schaute kurz, dann wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu.

Kaum eine Minute später stupste Jojo ihre Freundin wieder am Knie an.

„Psst“, machte Kitty unhörbar leise.

„He...“, flüsterte Jojo. „Was hast du schon?“ Jojo vergewisserte sich, dass Mrs. Greyhound ihren Kopf tief in ihrem Buch vergraben hatte und hoffte, bei Kitty wenigstens die wichtigsten Jahreszahlen abspicken zu können. Denn natürlich hatte Jojo zum Lernen keine Zeit gehabt, weil sie sich viel zu sehr auf das gestrige Abendessen mit den Jungs freute.

„Sei ruhig!“, mahnte Kitty flüsternd. „Wenn die uns erwischt, sind wir dran.“ Kitty schrieb weiter, legte aber ihr Blatt so hin, dass Jojo einen kleinen Blick darauf werfen konnte. Offenbar nicht gut genug, denn schon kurze Zeit darauf stupste Jojo Kitty ein drittes Mal an. Kitty blickte ernst zu ihrer Freundin – und genau in diesem Moment schaute Mrs. Greyhound von ihrem Buch auf.

„Linnore!“, schnaubte sie. „Sofort wirst du deine Arbeit abgeben.“

„Aber...“ Kitty atmete hektisch.

„Sofort, sagte ich.“ Mrs. Greyhound war unerbittlich. „Und du hast einen Tag lang Zimmerarrest. Bis morgen früh.“

Widerwillig nahm Kitty ihr Blatt und legte es Mrs. Greyhound auf den Tisch.

„Das ist nicht fair, Mrs. Greyhound. Kitty war es nicht. Ich habe...“, versuchte ihr Jojo schnell zur Hilfe zu eilen, aber die Lehrerin schien es besser zu wissen.

„Und du schweigst, Josephine. Sonst wirst du heute zum Arbeiten verdonnert.“

Was das hieß, wussten alle. Die Kinder wurden für den ganzen Nachmittag, bis in den späten Abend herein, zu diversen Tätigkeiten wie Kisten schleppen oder Keller aufräumen verdonnert, meist als Strafe für belanglose Missetaten. Wenn sie Glück hatten, brauchten sie nur Akten im Schulbüro zu sortieren, das war dann weniger anstrengend.

So war das hier seit Anbeginn der Existenz vom Internat Lantyan. Seit über 100 Jahren, und es hatte sich bis heute – kurz vor Weihnachten 2011 – nicht geändert.

Jojo schaute Kitty hilflos an, als sie an ihr vorbei ging. Kitty sah sie an und ging dann wortlos aus dem Raum. Klar, vielleicht war sie sauer auf Jojo, aber nie würde sie ihre Freundin verpetzen. Und sie wusste, dass Jojo ihr helfen wollte, es aber nicht konnte.

Es war schon lange dunkel, als Jojo ins Zimmer kam. Kitty saß wieder auf der Fensterbank und spielte mit dem Mobile. Dabei summte sie wieder die gleiche Melodie, die sie auch gestern Abend summte.

„He, Jojo.“ Als Kitty Jojo sah, hüpfte sie, sichtlich erleichtert von der Fensterbank herunter. „Wo warst du so lange?“

„Strafdienst“, sagte Jojo knapp. „Ich hab das Büro aufräumen müssen. Den ganzen Tag.“

„Tut mir leid.“

„Ist doch nicht deine Schuld. Die Greyhound ist aber auch zu blöd.“ Jojo setzte sich neben Kitty aufs Bett und legte einen Arm um sie. „Und wie war dein Tag so?“

„Ungeheuer spannend.“ Kitty lachte. „Rumhängen, lernen, mit dem Mobile spielen... ach, ich bin froh, dass du endlich da bist.“

Kitty und Jojo spielten noch eine Partie Karten. Als sie fertig waren und Kitty die Karten in die Nachttisch-Schublade legen wollte, fiel ihr wieder das Foto ihrer Mom in die Augen. Traurig blickte sie es an.

„Glaubst du, dass Wünsche sich manchmal erfüllen?“, fragte sie dann Jojo leise.

„Ja, bestimmt.“ Jojo bemerkte Kittys traurige Stimmung und wollte ihr um jeden Preis die Laune wieder verbessern.

„Ich möchte sie so gerne bei mir haben.“

Kitty stellte das Foto wieder auf den Nachttisch und legte sich dann ins Bett.

„Du hast jedenfalls mich, solange deine Mom noch nicht herkommt.“ Jojo streifte die Bettdecke von Kitty runter. „Komm, rutsch ein Stück, dann schlaf‘ ich wieder bei dir.“ Jojo schlüpfte dann zu Kitty ins Bett.

„Ich muss immer an sie denken. Ich wüsste zu gerne, was sie gerade tut.“

„Vielleicht ist sie gerade mit Ausgrabungen beschäftigt. Oder sie schreibt ein neues Buch...“ Im selben Moment als sie das sagte, hätte sich Jojo dafür verfluchen können. In keinem ihrer Bücher hatte Leonie Linnore ihre Tochter Kitty erwähnt, und Kitty hatte sie alle gelesen.

„Warum schreibt sie nie etwas über mich?“ Aus Kittys Augen flossen einige Tränen, aber Kitty versuchte es zu unterdrücken. Sanft nahm Jojo ihre Freundin in den Arm. Sie rätselte darüber, was sie tun könnte, damit es Kitty besser ging. Aber momentan fiel ihr nichts ein. Und sie wurde auch total von der Müdigkeit übermannt, die Jojo bald darauf in einen sanften Schlaf fielen ließen.

Kitty hielt Jojos Hand fest. Sie dachte nach. Sie dachte an die Ferien. Sie stellte sich vor, ihre Mom käme und würde sie über Weihnachten vielleicht in eine Großstadt oder einen bekannten Skiort mitnehmen. Kitty versank in ihren Träumen. Sie konnte sich immer wundervolle Geschichten ausmalen, aber umso trauriger wurde sie anschließend, wenn sie realisierte, dass dies nur Träume waren. Leise summte sie wieder diese Melodie, die sie immer summte. Die, die sie in ganz frühen Jahren von ihrer Mom gelernt hatte. Kitty versuchte ihre Augen zu schließen. Aber irgendwie war sie noch nicht müde genug.

Plötzlich sah Kitty an der Wand einen seltsamen Lichtschein. Sie drehte sich zum Fenster. Die Rollläden waren unten. Zunächst dachte sie, das Mobile hätte ein Licht von draußen an die Zimmerwand reflektiert, aber wie soll das gehen? Die Rollläden waren doch unten. Und im Zimmer müsste es doch eigentlich stockdunkel sein. Der matte, schwache Lichtschein an der Wand bewegte sich langsam. Kitty verfolgte ihn. Der Lichtschein bewegte sich in Richtung der Zimmertür, dort blieb er dann stehen. Kitty sah noch mal auf das Mobile. Es hing still da, und kein Licht beleuchtete es. Wieder sah Kitty auf die Tür. Sie konnte den Blick nicht mehr von dem Lichtschein abwenden. Er war merkwürdig weiß, fast bläulich, ein bisschen wie ein Eisblock, von einer schwachen Taschenlampe beleuchtet.

Ein merkwürdiges Flüstern hallte dann wie aus der Ferne gesprochen durch den Raum. Kitty erschrak. Und schon verstummte das Flüstern wieder. Kitty hielt den Atem an. Plötzlich flüsterte wieder eine Stimme. Diesmal etwas lauter. Kitty versuchte, etwas zu verstehen. Vielleicht kam die Stimme vom Flur, aber es klang, als sei sie irgendwie gleichzeitig hier im Zimmer. Sie setzte sich langsam auf, und während sie atemlos versuchte, genau auf die Stimme zu hören, wandte sie ihren Blick nicht von dem seltsamen bläulich-weißen Licht an der Türe ab.

„Kitty...“, flüsterte die Stimme ganz langsam und schwach. Kitty schreckte auf. Langsam stieg sie über die neben ihr liegende Jojo drüber und krabbelte vorsichtig aus dem Bett.

„Kitty“, flüsterte es erneut durch den Raum. Die Stimme hatte so was wie ein Echo, ein starkes Echo, als käme sie aus einer riesigen Halle, aber Kitty war sich jetzt sicher, dass die Stimme hier im Zimmer ihren Ursprung hatte. Wie angewurzelt stand sie mitten im Raum, den Blick immer noch strikt der Türe zugewandt.

„Komm, Kitty“, flüsterte die Stimme. „Komm!“

Kitty legte ihr Köpfchen leicht zur Seite. Sie atmete so leise, dass sie sich selbst nicht mehr atmen hörte.

„Komm zu uns, Kitty Linnore“, hörte Kitty die Stimme leise sagen. Wie die Stimme einer Frau klang sie, dennoch tief und dunkel. Und Kitty fühlte auf unerklärliche Weise irgendetwas Vertrautes in ihr, gleichzeitig aber doch so fremd, dass sie sich keinen Deut rühren konnte.

„Wer ruft mich da?“, hauchte Kitty schließlich ganz leise.

„Wir“, antwortete die Flüsterstimme.

„Seid ihr... seid ihr das Licht?“

„Du meine Güte“, flüsterte die Stimme. Sie schien heller zu werden. Kindlich heller. Jetzt klang sie plötzlich wie ein kleines Mädchen. Das Licht fing an, sich wieder zu bewegen, und es bewegte sich auf Kitty zu. Kitty konnte sich immer noch nicht rühren. Das Licht wurde ebenfalls heller; es schien sich zu bündeln. Es wurde plötzlich zu etwas, das wie eine kleine bläulich schimmernde Kugel aussah. Diese Kugel maß etwa zwanzig Zentimeter im Durchmesser, und sie wanderte genau vor Kittys Augen. Etwa einen Meter vor Kitty blieb das Licht dann stehen.

„Das hat aber gedauert, bis du drauf gekommen bist“, sagte ein kleines, in der Kugel schwebendes Wesen dann zu ihr. „Bist du immer so langsam?“

„Was?“, hauchte Kitty verdutzt. „Wer... bist du? Was bist du?“

„He, keine Beleidigungen bitte, ja? Glaubst du, du siehst für mich hübsch aus?“

„Entschuldigung“, flüsterte Kitty. Sie musste lachen. Das Wesen sah witzig aus. Es hatte kleine Flügel, wie die eines Schmetterlings. Es hatte lange Haare, bläulich schimmernd. Seine Augen waren fast größer als sein Kopf. Würde es menschlich wirken, hatte es wahrscheinlich am ehesten Ähnlichkeit mit einem Mädchen. Aber es trug keine Klamotten oder Ähnliches. Seine Haut schimmerte genauso bläulich wie seine Haare, und es tänzelte die ganze Zeit nervös in der Kugel herum und fuchtelte dabei mit seinen Armen.

„Ich bin so ungefähr das, was ihr eine Elfe nennen würdet.“

„Eine Elfe?“, Kitty schaute ungläubig.

„Ich bin hergeschickt worden, um dich zu holen. Wir brauchen deine Hilfe.“

„Meine Hilfe?“, wiederholte Kitty leise.

„He, rede ich hier mit einem Papagei oder was?“

In diesem Moment drehte sich Jojo um und murmelte etwas Unverständliches.

„Hör zu, ich kann jetzt hier nicht weitermachen. Keine Zeit mehr. Komm in den Keller von Lantyan, jetzt gleich. Alles Weitere erfährst du dort“, sagte das Wesen. Und verschwand.

„Warte. Ich kann doch hier nicht einfach weg“, sagte Kitty. Aber das Wesen hatte sich bereits wieder verflüchtigt und sich anscheinend ganz einfach in Luft aufgelöst.

„Kitty, was machst du da?“ Jojos Stimme klang sehr verschlafen. Langsam reckte sie sich und rieb ihre Augen. Dann setzte sie sich auf und blickte auf die neben ihr stehende Kitty, die beide Arme in Richtung Wand reckte.

„Hast du das eben gesehen?“, fragte Kitty, immer noch ungläubig auf die Tür schauend.

„Was? Kitty, komm wieder ins Bett und schlaf weiter.“

„Aber Jojo, da war so eine Elfe, und die hat gesagt...“

„Du hast bestimmt geträumt“, unterbrach sie Jojo, während sie aufstand und Kitty am Ärmel zog.

„Ich hab nicht geträumt. Ich hab noch nicht mal geschlafen, Jojo. Die Elfe meinte, ich muss in den Keller gehen. Um jemandem zu helfen, weißt du...“

„In den Keller?“ Jojo gab es auf. Sie ließ die Arme auf ihre Schenkel schlagen und machte sich dann daran, sich wieder ins Bett zu legen. „Dann viel Spaß“, sagte sie verschlafen. Kitty öffnete daraufhin die Zimmertür und betrat, so wie sie war, bekleidet nur in ihrem Nachthemd den Flur.

„Oh, Mann, Kitty“, fluchte Jojo, und machte sich auf, hinter ihr herzustapfen. „Bleib doch jetzt da.“

Kitty war indes schon an der Treppe angelangt. Auf dem matt beleuchteten Flur war es sehr ruhig. Es war mindestens schon zwei oder drei Uhr nachts, und alle, selbst die Erzieher, schliefen schon. Nur vereinzelte Nachtwachen saßen in den unteren Etagen.

„Kitty“, rief Jojo, so leise sie konnte, gerade laut genug, dass Kitty sie hörte. Schließlich holte sie Kitty auf der Treppe ein. „Kann man dich nicht eine Sekunde lang alleine lassen?“

„Leise“, flüsterte Kitty. „Die sind gleich mit ihrer Runde fertig, dann können wir runter.“

„Woher weißt du überhaupt, welcher Keller? Weißt du, wie groß das da alles ist?“

Kitty und Jojo mussten vom dritten Stockwerk in den Keller runter laufen. Die Wächter machten jede volle Stunde mal ihre Runde, und die würde gleich vorbei sein. Als Kitty sich sicher war, schlichen die beiden Mädchen dann auf Zehenspitzen durch das große, kalte Treppenhaus. Sie kamen dann an einen endlosen Gang im Kellergeschoss an, den sie entlang liefen.

„Worauf lass ich mich da bloß ein?“, fluchte Jojo leise.

„Hier lang“, meinte Kitty. „Ich glaube, ich weiß welcher Raum es ist.“ Sie lief zu einer großen Stahltüre, die sich nur schwer öffnen ließ. Jojo lief hinter ihr her.

„Hallo?“, rief Kitty dann.

„Spinnst du? Wenn die uns hören...“, erschrak sich Jojo. Kitty schloss dann die Türe.

„Das muss hier sein. Ich spür das irgendwie“, sagte sie.

„Ich dachte, alle Türen seien nachts abgeschlossen.“ meinte Jojo.

„Siehst du? Diese aber nicht. Deshalb muss es hier sein.“

„Und jetzt?“ Jojo setzte sich auf eine Holzkiste. Kitty setzte sich daneben. Jojo schaute sich um. Nur die Sicherheitslichter brannten, und es war nicht sonderlich hell hier unten. Und es roch merkwürdig, nach schimmeligem Obst oder so ähnlich.

„Bist du sicher, dass du das nicht bloß geträumt hast?“

„Ja... irgendwie schon.“

„Und wenn doch?“

„Jojo, wenn ich’s dir doch sage. Da war diese Elfe, und sie hatte Flügel. Sie schwebte in so einer Glaskugel oder so was. Und sie meinte, sie müsse mich holen, und alles Weitere würde ich hier erfahren.“

„Elfen gibt’s doch gar nicht.“

„Warum nicht? Weißt du’s?“

„Kitty“, sagte Jojo ruhig. „Komm, lass uns wieder hochgehen.“ Jojo nahm ihre Freundin am Arm. Jetzt begann auch Kitty, langsam an ihrer Wahrnehmung zu zweifeln.

„Aber... ich habe es doch gesehen...“ Still folgte sie ihrer Freundin Jojo, aber als Jojo die Türe öffnen wollte, war sie plötzlich verschlossen.

„Was ist?“, fragte Kitty.

„Scheiße. Die haben uns eingeschlossen.“

„Und jetzt?“

„Keine Ahnung.“ Jojo versuchte noch einige Male, die Türe zu öffnen, aber es klappte nicht. Wortlos setzte sie sich wieder auf die Holzkiste. Kitty setzte sich daneben.

„Ich will wieder hoch“, meinte Kitty dann schließlich resigniert. „Wenn das gestimmt hätte, wären sie sicher schon hier.“

„Denk ich auch“, stimmte Jojo ihr zu.

Mehrere Stunden vergingen. Die Mädchen versuchten immer wieder die Tür zu öffnen, was nicht funktionierte. Voller Erschöpfung schliefen sie schließlich auf der Holzkiste ein.

Als Kitty wieder aufwachte und dann wieder versuchte, die Türe zu öffnen, ging sie plötzlich wieder auf.

„Jojo“, sagte sie leise.

Jojo gähnte und streckte sich.

„Jojo, komm. Die Tür ist wieder offen.“ Kitty öffnete die große Türe. Der Boden war eiskalt. Hier war alles eiskalt. Die Mädchen konnten ihren Augen nicht trauen. Jemand musste in der Zwischenzeit Schnee auf den Boden des Kellergangs geschaufelt haben, und die Wände mit Eis verkleidet haben. Der ganze Gang war völlig aus Eis. Das matte Licht spiegelte sich bläulich im Eis wieder.

„Hat sich da einer ‘nen Scherz erlaubt?“, rief Jojo. Keine Antwort kam.

„Hallo?“, rief Kitty. Aber auch ihr antwortete keiner.

„Komisch...“, sagte sie zu Jojo gewandt, während sie die Wand abtastete. „Es muss doch eigentlich schon morgens sein, dann ist doch sonst hier mehr los.“ Kitty bohrte mit dem Finger ein kleines Loch in die Wand. Dann kratzte sie etwas davon ab.

„Jojo, das ist echtes Eis“ sagte sie dann.

„Wie, echtes Eis?“ Jojo machte das gleiche wie Kitty, bohrte ebenfalls ein Loch in die Wand und kratzte etwas von dem Eis aus.

„Wenn ich’s nicht besser wüsste, würde ich sagen... das ist ein riesengroßes Iglu oder so was.“

Jojo blickte sich um. Hier sah alles anders aus. Gerade erst entdeckte sie, es gab hier nicht mehr nur den einen großen Gang, hier waren jetzt mehrere Gänge. Sie waren nicht, wie der eine Gang vorher, gerade, sondern gebogen. Und es gab keine Kanten. Und hier waren jetzt drei weitere Treppenhäuser, beleuchtet mit Fackeln, die vorher auch nicht da waren. Die Treppen waren merkwürdig gewunden, schräg irgendwie, und ebenfalls ganz ohne Kanten. Es sah ganz seltsam aus, irgendwie als würden die Treppen sich bewegen. Und was noch merkwürdiger war, es waren alles Wendeltreppen. Vorher gab es hier keine einzige Wendeltreppe im ganzen Haus.

„Hier ist’s kalt“, maulte Jojo. „Ich friere.“

„Komm, gehen wir mal im Erdgeschoss gucken“, beschloss Kitty dann schließlich. Langsam lief sie die ganz linke Wendeltreppe hinauf, da wo sie das ursprüngliche Treppenhaus vermutete. Jojo stapfte etwas unentschlossen hinter ihr her.

„Wenn sich da einer einen Scherz erlaubt hat, war er aber total gut“, murmelte sie.

„Und so schnell“, bestätigte Kitty. „Wer kann in so kurzer Zeit den ganzen Keller so umbauen?“

„Ob da vielleicht diese Jungs dahinter stecken? Jeremy und Jesse?“

„Glaub ich eigentlich nicht...“, sagte Kitty.

Die Mädchen erreichten dann, zitternd vor Kälte, das Erdgeschoss. Hier sollte eigentlich eine große Halle mit grauen Betonwänden sein, und am Ende der Halle ein breiter Gang, der zum Speisesaal führte. Und eine große mechanische Uhr. Die Uhr war da, aber... sie schien verkehrt herum zu hängen, denn sie lief eigenartiger Weise Rückwärts.

„He, Kitty, jemand hat die Uhr falsch rum aufgehängt“, meinte Jojo.

„Jemand hat hier total umgebaut“, sagte Kitty langsam mit weit aufgerissenem Mund. Wo war der Gang, der zum Speiseraum führte? Hier war jetzt ein großer, völlig runder Saal, und anstelle des Gangs gab es wieder eine Wendeltreppe, ausschließlich nach oben, und viel größer als die von eben. Und erst jetzt nahm Jojo es als Erste wahr.

„Kitty... hier ist ja auch alles aus Eis“, stellte sie fest.

„Wow...“, machte Kitty. Wie eben unten, kratzte sie wieder ein Loch in die Wand, um festzustellen, ob es auch tatsächlich echtes Eis ist. Langsam drehte sie sich zur Türe um, die diesen Raum mit dem Treppenhaus zum Keller verband. Jedoch... die Türe war weg. Plötzlich verschwunden, einfach nicht mehr da.

„Sind wir nicht gerade von da gekommen?“, fragte sie, mit dem Finger auf die Wand zeigend, wo gerade die Türe noch war. Jojo drehte sich um, und jetzt klappte auch ihr der Unterkiefer runter. Einige Minuten standen die beiden Mädchen stumm und staunend im Raum.

Kitty war die Erste, die sich dann wieder fing. „Was denkst du, probieren wir die Treppe hier aus?“, fragte sie.

„Weiß nicht...“, hauchte Jojo etwas ängstlich. Kitty nahm Jojo dann an die Hand, und zusammen stiegen sie die große Wendeltreppe hinauf. Eine Türe gab es hier nicht. Die Stufen waren leicht rutschig, aber es ging noch. Überall an den Wänden waren Fackeln angebracht, die merkwürdigerweise einen grünlich-bläulichen Schimmer hatten.

„Wir müssten jetzt im ersten Stock rauskommen. Bei den Klassenräumen“, stellte Kitty fest. Die Treppe schien endlos, wand sich schräg, rund und ohne Kanten nach oben. Langsam tapsten die Mädchen Schritt für Schritt die breiten Stufen hinauf.

„Wenn hier die Klassenräume sind, müssen doch auch die Schülerinnen schon da sein“, überlegte Jojo.

„Ich höre niemanden“, bestätigte Kitty Jojos Aussage. Die Mädchen liefen weiter. Bis sie eine Türe entdeckten. Die Türe war weiß. Weiß und durchsichtig, aber man konnte nicht erkennen, was hinter ihr war. Neben der Türe verlief die Wendeltreppe weiter.

„Warte“, mahnte Kitty Jojo, die schon die Türe öffnen wollte.

„Was ist?“ Jojo ließ den Türgriff wieder los.

„Nur so eine Vorahnung“, stammelte Kitty. „Vorhin war das Treppenhaus doch einfach weg. Als wir vom Keller hochkamen, nicht?“

„Mhm...“, machte Jojo.

„Wenn wir da jetzt rausgehen, kommen wir ja vielleicht auch nicht mehr in dieses Treppenhaus hierher zurück“, schloss Kitty ihre Vermutung. „Vielleicht sollten wir weitergehen, bis zum dritten Stock. Dann kommen wir vielleicht wieder in unser Zimmer. Und dann ist vielleicht alles wieder wie vorher."

Kitty und Jojo, sich noch immer an den Händen haltend, liefen über die nicht endend wollende Wendeltreppe weiter. Sie ließen eine weitere Türe hinter sich, die theoretisch zu den Mädchen-Klassenräumen der Oberstufe führen würde. Schließlich kamen sie an eine weitere Türe, eisgläsern, durchsichtig und doch undurchschaubar, mit Eisverzierungen verkleidet. Diese müsste, rein rechnerisch, zum dritten Stockwerk führen, in dem sich die Mädchenschlafräume befanden, demzufolge auch Kittys und Jojos Zimmer. Langsam öffnete Kitty die große Eis verkleidete Türe... und Jojo und Kitty traten plötzlich ins Freie.

Es herrschte hier eine Dämmerung, mattblau leuchtend. Kitty und Jojo sahen in den Himmel. Sterne, Abertausende Sterne funkelten in einer klaren Nacht. Kein einziges Wölkchen war zu sehen. Über Kittys und Jojos Köpfen huschten hin und wieder blau-grün scheinende Polarlichter vorbei, bildeten Fontänen, riesige Hunderte von Meilen hohe Wände, die weiter zu ragen schienen als der Mond weg war. Klirrende Kälte ließ den Atem von Kitty und Jojo sichtbar machen. Sie atmeten schnell, und bei beiden raste das Herz. Keiner von ihnen wusste, wo sie gelandet waren, geschweige denn, wie sie hier hergekommen sind. Kitty blickte zum Horizont. Eine Eiswüste, im Mondschein hell leuchtend, lag zu ihren Füßen. Am Horizont erblickte sie einige große Eisberge. Die Eiswüste sah frisch geschliffen aus, so als habe sie kein Mensch zuvor betreten. Lediglich ein kleiner, enger Weg, der sich bis zum Horizont dahinschlängelte, deutete darauf hin, dass schon mal jemand hier gewesen sein muss. Nun sah auch Jojo in Richtung Horizont und erblickte nun ebenfalls das weiße, das ganze Land bedeckende unberührte Eis.

Jojo drehte sich um und versuchte, die Türe wieder zu öffnen, die hinter ihr in eine Art Rieseniglu führte, aus dem sie und Kitty gerade herausgekommen sind. Die riesige Türe ließ sich nicht mehr öffnen, wie von Zauberhand musste jemand sie verschlossen haben.

„Wir kommen hier nicht mehr rein“, stammelte sie zu Kitty.

„Wo sind wir hier?“, rätselte Kitty indessen, sich immer wieder umblickend.

„Wären wir doch besser vorhin durch die eine Tür gegangen.“

„Das ist definitiv nicht mehr Colorado“, stellte Kitty dann fest.

„Und was jetzt?“, fragte Jojo.

„Weiß auch nicht...“, sagte Kitty zitternd. Sie fröstelte sehr, mit nichts an außer ihrem Nachthemd. Auch Jojo ging es nicht besser. Sie schlang ihre Arme um sich selbst und rieb sich immer wieder, unter der Hoffnung, dass es ihr dadurch wärmer werden würde.

„Vielleicht gehen wir mal um die Eishütte rum, da ist vielleicht einer, der uns wieder reinlassen kann“, überlegte Kitty. Langsam stapfte sie los. Ihre Füße hinterließen im Schnee schwache Spuren. Jojo tapste ihr hinterher, ihren Blick nicht von dem Rieseniglu abgewandt. Plötzlich blieb Kitty stehen und entdeckte am Himmel ein besonders schönes Polarlicht, welches gerade über ihnen schwebte.

„Guck mal, Jojo. Ist das schön...“, entfuhr es ihr. Jojo staunte ebenfalls, stupste dann aber ihre Freundin an, um weiterzulaufen.

Einmal um das Iglu herumgelaufen, entdeckten die Mädchen immer noch niemanden. Aber als sie wieder zum Eingang kamen, saß dort eine merkwürdige Gestalt herum und glotzte die beiden Mädchen an. Das Wesen sah irgendwie aus wie ein hässlicher Teddybär. Es war etwa einen Meter hoch, hatte zwei dünne lange Arme und zwei kurze Stummelbeinchen, an denen zwei riesige Füße waren, die etwa so aussahen wie Entenfüße. Es schien nicht direkt einen Kopf zu haben. Erst beim zweiten Hinsehen konnte man feststellen, dass das Wesen die Form einer dicken Wollkugel hatte, mit zwei Augen, einer schwarzen Stupsnase und einem kleinen Mund in der oberen Hälfte, die aber fast vollständig behaart war. Wortlos schmiss das Wesen zwei dicke fellähnliche Mäntel zu Kitty und Jojo.

„Anziehen, das!“, murmelte es, mit einer seltsam hohen, aber kratzigen Stimme, untypisch für seine Form. Die frierenden Mädchen, trotz ihrer Verwunderung, ließen sich das nicht zweimal sagen und zogen sich gleich die Mäntel über. Dann gab das Wesen ihnen noch jeweils ein Paar Stiefel, die die Mädchen ebenfalls sofort anzogen.

„Wer bist du?“, fragte Kitty, die sich als Erste wieder fing.

„Ein pelziges Wesen ich bin“, machte das Wesen. „Pelziges Wesen.“

Jojo sah das Wesen fragend an. „Kannst du die Tür wieder aufmachen?“

„Kann, mach aber nicht“, sagte das Wesen. „Nicht geht, das.“ Es hopste irgendwie komisch und witzig auf und ab.

„Wieso nicht?“, fragte Jojo.

„Das ist Jojo, ich bin Kitty“, erklärte Kitty und gab dem Wesen dann die Hand. „Hast du auch einen Namen?“

„Ich pelziges Wesen. Das mein Name ist“, sagte es. „Deinen Namen schon ich kenne.“

„Ja, ehrlich? Woher denn?“

„Geschickt worden ich bin. Gekommen ich, dich abzuholen.“

„Abholen? Wohin denn?“ Kitty sah verwundert aus. Das Wesen hopste herum und schüttelte die Arme dabei.

„Warum können wir da nicht wieder rein?“, erkundigte sich Jojo schließlich. Sie setzte sich neben Kitty und das Wesen in den Schnee. Das Wesen schaute sie mit einem Grinsen an, schüttelte sich dann.

„Du Jojo bist, nicht?“, fragte das Wesen zu Jojo gewandt.

„Ja“, sagte Jojo mit einem verständnislosen Blick.

„Du nicht mitkommen hättest sollen“, meinte das Wesen, während es sich schüttelte.

„Na, toll“, murmelte Jojo leise. „Hör zu, ich würde ja gerne wieder da rein gehen.“ Jojo zeigte mürrisch auf die Türe, sah dann Kitty an. Kitty schien irgendwie fasziniert zu sein.

„Ich schon sagte, nicht geht das. Du jetzt mitkommen dürfen, auch wenn nicht war geplant das so“, erläuterte das pelzige Wesen.

„Und wo sollen wir denn jetzt hin?“, fragte Kitty.

„Kitty Linnore, kleines Mädchen von großem grauen Haus heißt Lantyan, soll kommen zu Herrscherin über Eisreich. Shaylan warten schon lange auf Kitty Linnore.“

Ungläubig blickte Kitty dem Wesen in die Augen. „Shaylan? Herrscherin... über das Eisreich?“

„Kitty, ich will wieder nach Hause...“, sagte Jojo zu Kitty gewandt.

„Du nicht nach Hause kannst“, sagte das Wesen zu Jojo. „Du noch nicht glaubst du hier bist. Du aber hier. Jetzt, wir machen Mission zu erfüllen.“

„Was?“, fragte Jojo.

„Keine Wahl ihr habt, nein, nein, nein...“, sagte das Wesen und hüpfte dabei grinsend auf und ab. „Mitgehen jetzt. Ich euch bringe zu Shaylan, Eiskönigin und Herrscherin über Eisreich, große weite Eiswelt. Euch bringe in Shaylans Eisschloss. Großes hohes Eisschloss. Shaylan dort wartet. Weil Hilfe sie braucht.“

„Ist ja gut, krieg dich wieder ein“, sagte Kitty. Sie musste lachen. Zu verrückt sah das kleine Wesen aus, und je mehr sie es beobachtete, desto mehr schien sie es zu mögen.

Das pelzige Wesen tapste dann mit schnellen, kurzen Schritten los, wegen seiner kurzen Beine aber immer noch langsam genug, damit Kitty und Jojo ihm folgen konnten. Kitty und Jojo setzten sich dann auch in Bewegung und stapften dem Wesen langsam hinterher.

„Wo ist denn das Eisschloss?“, fragte Jojo.

„Nicht weit. Nur ein Tag und Nacht wir laufen, Schloss gleich hinter Nebelwald.“

„Nebelwald?“, wiederholte Kitty.

„Ja. Nebelwald. Wald voll Nebel. Nichts man sieht da drin. Schön schaurig.“

„Schön schaurig? Geil, ich steh‘ auf Gruselsachen“, meinte Jojo. Man merkte nicht genau, ob sie es ironisch meinte, aber Jojo steht ja bekanntlich auf Science Fiction. Vielleicht hatte sie wirklich keine Angst. Kitty ließ sich ihre auf jeden Fall nicht anmerken.

„Sag mal, bist du das einzige Wesen deiner Art?“, fragte Kitty das pelzige Wesen dann schließlich.

„Ich nicht bin das Einzige. Gibt sieben- oder achttausend von uns. Jetzt ruhig sein.“

„Und warum redest du so komisch?“ Jojo konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Ich gesagt, ruhig sein. Ich schlafen will.“

„Was? Schlafen?“

„Wir beim Laufen immer schlafen“, erklärte das pelzige Wesen.

„Schlafen? Wir kommen gleich in den Nebelwald, und du willst beim Laufen schlafen?“, empörte sich Kitty.

„Du Vertrauen haben musst zu mir.“

Kitty ließ ihre Arme auf die Schenkel fallen und atmete tief durch. Sie gab es auf, auf das pelzige Wesen einzureden. Offenbar schien sie vieles noch nicht zu verstehen. Aber dieses seltsame Wesen würde schon wissen, was es tut. Ratlos nahm Kitty Jojo an die Hand, dann tapste sie langsam hinter dem pelzigen Wesen her.

Sie liefen weiter, durch die sternklare Nacht. Und das Wesen schlief, während es einen Fuß vor den anderen setzte.

Kapitel 3 - Leonie und der geheimnisvolle Wissenschaftler

Das Gerät, das die junge Frau von vielleicht 40 Jahren schleppte, war sehr schwer. Sie hetzte sich ganz schön ab, und das in dieser brennenden Hitze. Hier waren es mindestens 39 Grad im Schatten, und das war eigentlich noch recht kühl für 11 Uhr vormittags in dieser einsamen, verlassenen Gegend Nahe der Stadt Alice Springs.

Hier im Outback, in der Mitte des riesigen Kontinents Australien, war es immer Sommer. Es war jetzt Ende Dezember, und da es auf der anderen Seite der Erde Winter ist, wenn es hier Sommer ist, war es sogar dickster Sommer, und wie schon gesagt, brannte die Sonne heiß. Der rot leuchtende Wüstensand strahlte die Hitze sogar auch von unten in die Gesichter der Leute, die hier am Rumhantieren waren. Fast alle trugen weiße Kopftücher, die die Hitze etwas abdämmen sollten. Aber sie schwitzten dennoch alle wie ein Gewitterregen.

Leonie stampfte beschwerlich einen kleinen Abhang hinab, der von einem oben stehenden großen Bagger Stunden zuvor ausgehoben wurde. In der Mitte des Lochs angekommen, setzte sie das Gerät ab und schnaufte laut aus. Sie rückte dann ihr weißes T-Shirt zurecht und stopfte es wieder in ihre lange, weiße Hose. Dann sah sie das Gerät an. Sie schien zu überlegen.

Dieses silbern aussehende Gerät war viereckig, etwa einen Fuß hoch und stand auf vier großen Stahlfüßen. Aus der Mitte führte ein schwarzes, langes Kabel heraus, an dessen Ende etwas Ähnliches wie ein dicker Draht herauslugte. Auf einer der vier Seiten der Maschine war ein Monitor angebracht, unter dem einige Knöpfe befestigt waren. Es sah in jeder Weise kompliziert aus.

Leonie steckte das schwarze Kabel in die trockene Erde rein und schaltete das Gerät dann an. Auf dem Monitor sah man noch nichts, irgendetwas schien offenbar nicht zu funktionieren. Wutentbrannt haute Leonie gegen das Gerät.

„Mrs. Linnore, machen Sie doch Pause“, sagte eine Frau, die gerade zu Leonie den Abhang hinunterstapfte. „Sie arbeiten jetzt seit gestern Abend ununterbrochen hier rum. Sie sollten sich etwas ausruhen.“

„Danke, Mayzee“, antwortete Leonie der Frau. Sie setzte sich auf eine Kiste in der Nähe der Maschine und setzte ihr Kopftuch ab. Dann streifte sie sich durch ihre nass geschwitzten, mittelblonden Haare und streifte einige davon aus ihrem Gesicht heraus, bevor sie ihr Kopftuch wieder aufsetzte. „Ich kann aber keine seismologischen Aktivitäten nachweisen, wenn ich Pause mache. Und die sind nun mal wichtig, um meine Theorie zu untermauern.“

„Ihre Theorie in Ehren, Mrs. Linnore...“, begann Mayzee. „Aber wir suchen nun schon zwei geschlagene Wochen nach seismologischer Aktivität, und das, obwohl vor hundert Jahren das letzte Mal etwas angezeigt wurde.“

„Bringen Sie bitte das Gerät wieder in Gang“, sagte Leonie, die sich derweil wieder an den Knöpfen zu schaffen machte. „Wissen Sie, eben weil hier vor hundert Jahren das letzte Mal etwas gemessen wurde, suchen wir nach Aktivitäten. Der Meteorit, der damals hier einschlug, muss lebende Organismen an Bord gehabt haben.“

„Ich kenne die Geschichte“, betonte Mayzee, die sich dann widerwillig an der Batterie zu schaffen machte.

Leonie Linnore, eine bekannte Wissenschaftlerin auf ihrem Fachgebiet der Erforschung frühzeitlichen Lebens, war hier im australischen Outback mit ihrem etwa 20 Mann großen Forschungsteam unterwegs. In der Nähe von Alice Springs richteten sie vor knapp zwei Wochen eine Ausgrabungsstelle ein, weil Leonie hier die Entdeckung des Jahrtausends vermutete, nämlich ein wahrhaft großes Arsenal an Dinosaurierskeletten, die rein rechnerisch hier gar nicht zu finden sein dürften. Vor einigen Jahren war sie mit ihrem Team schon einmal hier und erforschte seltsame Felsmalereien und seltsame Muster, die man nur vom Helikopter aus erkennen konnte. Während der Arbeit in den letzten Jahren schloss sie darauf, dass es hier Wesen gab, echsenähnliche Dinosaurier, dessen Leben aus abgestürzten Meteoriten entstand. In den Meteoriten vermutete sie Organismen, die sich schließlich zu dem entwickelt haben sollen, was wir heute landläufig als Dinosaurier bezeichnen. Aber nicht nur das, sondern Leonie glaubt, Beweise dafür zu finden, dass eine außerirdische Intelligenz die Meteoriten mit der vollen Absicht auf die Erde geschleudert hat, um hier das Leben dieser Art zu entwickeln. Da man hier regelmäßige, zeitlich genau abgestimmte Meteoriteneinschläge nachweisen konnte, versuchte Leonie, ihre Theorie mit den seismischen Messungen zu untermauern. Zeitgleich grub ein Trupp nach etwaigen Skeletten von Dinosauriern, jedoch wurde bislang nicht ein Skelett gefunden, nicht mal Bruchstücke. Klar, dass das Team mittlerweile ziemlich demotiviert war und keine rechte Lust mehr hatte, nach etwas weiterzusuchen, was wahrscheinlich gar nicht da war.

Mayzee brachte das Gerät dann wieder in Gang, nachdem sie die Batterie auswechselte. Leonie maß dann auf dem Monitor die seismische Aktivität in diesem Umfeld, jedoch fand sie nichts Nennenswertes außer den üblichen Werten, die vom Wetter und den arbeitenden Leuten verursacht wurden. Resigniert wollte Leonie gerade das Gerät wieder ausschalten, als ein plötzlicher Windhauch sie traf. In der gleichen Zeit sah sie einen kurzen, aber unüblich hohen Wert auf der Skala ihres Geräts.

„Schnell, Mayzee, sehen Sie sich das an!“, rief sie. Mayzee eilte herbei und sah auf den Monitor.

„Was war denn?“

„Eben gab es einen Ausschlag. Haben Sie oben was Unübliches bemerkt?“, erkundigte sich Leonie.

„Nein, eigentlich nicht. Aber die Computer haben es aufgezeichnet. Wenn sie wollen, werte ich das gleich aus.“

„Ja, bitte“, sagte Leonie euphorisch. Jedoch brachte Mayzees Auswertung nicht viel mehr außer das, was Leonie schon auf ihrem Monitor gesehen hat. Schließlich ordnete man den Ausschlag einem Gewitter südlich des Ayers Rock zu, das so heftig sein musste, dass die Nachwirkungen der Blitzeinschläge noch bis hierher messbar gewesen sein mussten.