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Wenn eine gute Fee Jona Crawford fragen würde, was ihr sehnlichster Wunsch sei, wäre ihre Antwort: Alles soll so bleiben, wie es ist. Dabei ist Jonas Leben in keiner Weise besonders. Sie ist neununddreißig, alleinstehend, lebt in Bath in Südengland, wo sie aufgewachsen ist, und hat noch nie woanders gearbeitet als in dem Reisebüro von Keaton Fairchild, einem alten Freund ihres Vaters. Und das, ohne je selbst zu verreisen. Mit Anfang zwanzig wollte sie einmal alles hinter sich lassen, mit Baptiste, der so schön war, dass sie ihn stundenlang stumm anschauen konnte, und dem sie nach Paris folgte. Aber das ist eine andere Geschichte und leider keine sehr glückliche. Dass das Reisebüro vor dem Bankrott steht, weil die Menschen ihren Urlaub im Internet buchen, ist für Jona ein harter Schlag. Nie wieder wird sie für ihren Lieblingskunden Lord Fulton Pläne schmieden, in dessen tiefe, warme Stimme und romantische Erzählungen sie ganz vernarrt ist. Jona beschließt, über ihren Schatten zu springen und aufzubrechen. Dieses eine Mal will sie diejenige sein, die die Abenteuer erlebt – und Lord Fulton mit ihren Geschichten beeindruckt.
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Seitenzahl: 99
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Claire Scott
Eine Fahrkarte für zwei
Roman
Aus dem Englischen von Katharina Lange
Oktopus
Jona Crawford kam an einem windigen Aprilnachmittag im Jahr 1976 im Royal United Hospital in Bath zur Welt. Die Geburt war unkompliziert. Einmal bat Jona ihren Vater, ihr von diesem Tag zu erzählen.
»Es ging alles sehr schnell …«, sagte er, die Augen zusammengekniffen und den Mund halb geöffnet – dieses Gesicht machte er immer, wenn er nachdachte –, und dann, nach einer langen Pause, fuhr er fort: »Sehr schnell.«
»Das ist alles?«, fragte Jona.
»Oh, mein Mädchen«, sagte Frank und strich ihr übers Haar. »Das … das ist etwas Besonderes. Die meisten Babys lassen sich Zeit. Und du … du bist richtig rausgerutscht.«
Frank konnte sich kaum an den Tag der Geburt seines einzigen Kindes erinnern. Nicht weil es ihm an Freude oder Aufregung gemangelt hätte, sondern weil alles so schnell gegangen war.
Als Jona drei Jahre alt war, starb ihre Mutter. Jonas Vater Frank zog das Mädchen alleine auf. Er war kein praktisch denkender Mann, aber ein liebevoller, und er schenkte ihr eine fast sorglose Kindheit.
Neben dem Vater war die wohl wichtigste Person in Jonas Leben Keaton Fairchild – Onkel Keat, wie sie ihn nannte. Wichtiger als die tote Mutter, an die sie fast keine Erinnerungen hatte.
Keaton, ein langjähriger Freund ihres Vaters, war freundlich und großzügig und gab einem das Gefühl von Sicherheit. In seiner Gegenwart konnte nichts Schlimmes geschehen. Er war weitgereist und besaß ein Reisebüro in Bath.
Anders als Jona hatte Frank viele Erinnerungen an seine Frau – die Einzige, die Richtige –, doch er sprach nie über sie. Von ihr zu erzählen riss die nie verheilte Wunde in seinem Herzen auf. Wenn ihr Name laut ausgesprochen wurde, vermisste er sie so sehr, dass es kaum auszuhalten war.
Obwohl Jona gerne mehr über ihre Mutter erfahren hätte, verstand sie Frank. Sie hoffte, dass er eines Tages bereit wäre, von Kathleen zu erzählen.
Aber Frank erkrankte an Alzheimer. Und er vergaß, dass er eine Frau gehabt hatte, dass er eine Tochter hatte. Seine Nase war ständig gekräuselt, die Augen immer zusammengekniffen.
Wenn Jona ihn fragte: »Worüber denkst du nach?«, kräuselte er die Nase noch stärker, kniff die Augen fester zusammen und schwieg.
Als Jona einunddreißig Jahre alt war, beerdigte sie ihren Vater, neben dem Grab der Mutter.
Jona hatte sich mit der Hilfe einer Pflegerin, Mrs Barns, um Frank gekümmert.
Mrs Barns, eine resolute Frau mit rotgrauen Haaren, kam jeden Morgen um sieben Uhr und blieb bis sieben Uhr abends.
Jona verbrachte die Abende mit ihrem Vater Backgammon spielend. Frank versank völlig in dem Spiel. Die Regeln vergaß er nie. Sobald Mrs Barns die Dreizimmerwohnung der Crawfords verließ, holte Frank das Spiel aus dem Regal und baute es auf dem Esstisch auf.
»Backgammon, Miss«, sagte er zu Jona. Seine Gesichtszüge waren entspannt.
Manchmal versuchte Jona ein Gespräch zu beginnen, aber Frank unterbrach sie. »Miss, bitte konzentrieren Sie sich auf das Spiel.«
Nach vielen Partien stand Frank auf.
»Gute Nacht«, sagte er.
Jona folgte Frank in sein Schlafzimmer, half ihm in seinen Pyjama, was er anstandslos über sich ergehen ließ.
Er legte sich hin, Jona setzte sich auf den Stuhl neben Franks Bett und wartete, bis er einschlief.
»Ich liebe dich, Papa«, flüsterte sie und verließ leise das Zimmer. Die Tür ließ sie einen Spaltbreit geöffnet.
Es war keine einfache Situation, weder emotional noch finanziell. Aber Jona akzeptierte ihre Lage ohne Selbstmitleid. Nur manchmal war ihr Herz schwer, weil sie ihren Vater vermisste. Ein seltsames Gefühl, jemanden zu vermissen, der einem gegenübersitzt.
Als Jona sich nicht mehr um ihren Vater kümmern musste, sondern nur um die Gräber ihrer Eltern, zog sie in eine kleinere Wohnung.
1995 ahnte Jona noch nichts von der Krankheit ihres Vaters. Es war ihr letztes Schuljahr. Sie wählte Wirtschaft, Kunst und Englisch als ihre A-Levels, und sie lernte Baptiste Roux kennen. Er war zweiundzwanzig Jahre alt und studierte mit einem Stipendium an der Bath School of Art and Design.
Jona war zum ersten Mal verliebt. Sie konnte kaum fassen, dass Baptiste ihre Liebe erwiderte. Nie hatte sie einen schöneren jungen Mann gesehen als den Franzosen mit seinen schwarzen Haaren und stechend blauen Augen. Stundenlang konnte sie dasitzen und ihn anschauen, wenn er über seine Kunst sprach. Sie hörte aufmerksam zu, wenn er die Bedeutung seiner Arbeitsweise – er wälzte seinen in Farbe getauchten nackten Körper über riesige Leinwände – erläuterte. Nickte, gab ihm recht, bewunderte ihn.
Still saß sie in einer Ecke seines Studios, wenn er sich mit Farbe bespritzt, manchmal schreiend, manchmal singend, über Leinwände rollte. Er sagte, ihre Anwesenheit sei wichtig für seine Kunst. Sie war seine Muse. »Mon bijou«, mein Juwel, nannte er sie. »L’amour de ma vie« – Liebe meines Lebens. Es störte Jona nicht, dass er ihr niemals Fragen stellte und alles, was sie ihm erzählte, sofort zu vergessen schien.
Kurz bevor Jona ihre A-Levels beendete, ging Baptiste zurück nach Paris. Sobald Jona mit der Schule fertig wäre, würde sie zu ihm ziehen.
Jona rief Baptiste jeden Tag an, und wenn sie ihn nicht erreichte, wartete sie neben dem Telefon auf seinen Rückruf. Wenn er nicht zurückrief, weinte sie sich in den Schlaf. Leere löste die Verzweiflung ab, bis sie seine Stimme wieder hörte. Er nannte sie »L’amour de ma vie«. Versicherte ihr seine Liebe. Jonas Herz wurde leicht. Sie verzieh ihm, dass er nur ein paar Minuten Zeit hatte und sich nicht nach ihren A-Levels erkundigte.
»Bald bin ich bei dir«, sagte sie.
»O ja«, sagte er.
»Ich zähle die Tage«, sagte sie.
»O ja. Ich auch«, sagte er.
»Vierunddreißig«, sagte sie.
»Vierunddreißig?«
»Vierunddreißig Tage, dann bin ich in Paris.«
»O ja, ja«, sagte er.
Jona legte ihre Prüfungen jeweils mit einem B ab.
Sie kaufte zwei große Koffer, schwarz und aus Nylon. Mit Rädern. Den Vorschlag ihres Vaters, erst mal mit wenig Gepäck nach Paris zu gehen und zu sehen, wie es mit Baptiste laufe und ob ihr die Stadt überhaupt gefalle, ignorierte Jona. Auch seine Bedenken, dass sie kaum französisch spreche und niemanden außer Baptiste in Paris kenne, tat sie ab.
Sorgenvoll beobachtete Frank seine Tochter, die vierzehn Paar Schuhe in einen der riesigen Koffer legte, und als sie auch ihre Schlittschuhe einpackte, sagte er: »Jona, es ist Sommer.«
»Aber ich bleib dort für immer.« Und sie sagte ihrem Vater, dass Baptiste der Einzige, der Richtige war.
Er wollte ihr antworten, dass sie noch so jung sei, vielleicht zu jung, um eine solche Entscheidung zu treffen. Aber er schwieg, denn auch er war nicht älter als Jona gewesen, als er Kathleen kennengelernt hatte. Die Einzige, die Richtige.
Jonas Koffer waren gepackt. Das Ticket für den Eurostar London—Paris gekauft. Fünfhundert Pfund hatte Frank in französische Franc gewechselt und seiner Tochter in einem Umschlag überreicht. Am Tag vor ihrer Abreise rief sie Baptiste an.
»Wie lange bleibst du?«, fragte er.
»Für immer«, antwortete Jona etwas verwirrt.
Er versprach, sie am Bahnhof abzuholen. Jona wollte ihm sagen, dass sie aufgeregt war vor ihrer Fahrt durch den Eurotunnel. Den längsten Unterwasserkanal der Welt. Fünfundsiebzig Meter unterhalb des Meeresspiegels. Aber Baptiste musste los, hatte keine Zeit, ihr zuzuhören.
Sie schlief kaum in dieser Nacht. Sie glaubte, ihr Herz müsste vor Freude zerspringen, denn morgen würde sie Baptiste endlich wiedersehen.
Am nächsten Morgen, draußen war es noch dunkel, packten Vater und Tochter die zwei Koffer in Franks Volvo240. Sie waren so schwer, dass beide anpacken mussten, um sie in den Kofferraum zu hieven.
»Jona, wie willst du die Reise denn schaffen? Du kannst dich mit diesen Monstern ja gar nicht fortbewegen«, sagte Frank.
»Ich muss mich ja nicht fortbewegen. Du hilfst mir beim Einsteigen, und Baptiste holt mich ab.«
Jona saß in einem Großraumabteil. Ein Vierersitz. Die Koffer hatte sie am Eingang des Wagens abgestellt. Ein Mann hinter ihr hatte wütend geschnaubt, weil Jonas Gepäck keinen Platz für seinen Koffer gelassen hatte.
Jona gegenüber saß eine unscheinbare Frau mittleren Alters. Sie lächelte Jona an, Jona lächelte zurück.
»Guten Tag«, sagte Jona.
»Wenn wir’s überleben«, sagte die Frau. In ihren Augen flackerte Panik. »Was sucht der Mensch unter dem Meer? Dort lebt er nicht«, sagte sie dramatisch.
Jona nickte. »Ich hab auch ein bisschen Bammel, aber es geht ja ganz schnell.«
Die Frau sah Jona an, lachte einmal laut auf. Und dann murmelte sie unverständliche Worte. Gebete oder Flüche oder beides. Jona nahm ein Buch aus ihrer Tasche. Einen Paris-Reiseführer, den ihr Keaton Fairchild geschenkt hatte.
Sie überflog die Seiten. Wozu brauchte sie einen Reiseführer? Sie hatte Baptiste, er würde ihr die Stadt – ihre neue Heimat – zeigen.
»Paris?«, fragte die Frau gegenüber.
Jona blickte auf.
»Ja. Ich … mein Freund … ich ziehe zu ihm nach Paris.«
Es klingt fast wie ein Märchen, dachte Jona. Mein Freund, Paris. Jetzt war der Zug im Tunnel unter dem Meer. Jonas Herz schlug schneller. Was würde passieren, wenn der Tunnel zusammenbrach? Würden sie ertrinken? Oder unter Schutt begraben werden?
»Paris«, sagte die Frau, und dann setzte das Murmeln wieder ein, wurde panischer. Jona schloss die Augen und wünschte sich, jemand anderes würde ihr gegenübersitzen. Ein netter alter Herr, der ihr eine Geschichte aus seinen Jugendzeiten erzählte. Oder jemand, dem sie von Baptiste erzählen könnte.
Fünfunddreißig Minuten dauerte die Fahrt unter dem Meer. Der Tunnel stürzte nicht ein.
Paris Nord. Der Schaffner half ihr beim Aussteigen. Ob sie Steine eingepackt habe, fragte er halb amüsiert, halb genervt.
Sie hatte Baptiste Gleis, Uhrzeit und ihre Wagennummer genannt und hatte erwartet, dass er da stehen würde, genau da, wo sie ausgestiegen war. Mit einem Strauß Blumen vielleicht. Ja. So hatte sie es sich vorgestellt. Aber er stand nicht da.
Leute rempelten Jona an. Sie rollte die Koffer etwas zur Seite. Blickte nach rechts, nach links, suchte Baptiste.
Siebzehn unendlich lange Minuten wartete sie. Und dann tauchte er auf. Ohne Blumen. Und auch die Worte, die er in ihren Tagträumen gesagt hatte, kamen nicht über seine Lippen. Er umarmte sie, ein kurzer Kuss, dem es an Wärme und Leidenschaft fehlte. »Jona«, sagte er, »Was hast du denn da alles mitgeschleppt?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Meine Sachen«, sagte sie.
Er war mit dem Fahrrad gekommen. Er hatte kein Auto. Er brachte Jona zum Taxistand. Nannte dem Fahrer eine Adresse. »Wir treffen uns vor der Türe«, sagte er zu Jona.
Der Taxifahrer sagte etwas auf Französisch zu ihr.
»Je ne parle pas bien«, sagte sie, »Mon ami Parisien.«
Der Taxifahrer betrachte sie im Rückspiegel und ließ einen Wortschwall los. Jona verstand kein Wort, nicht ein einziges. Sie lächelte verlegen. »Pas comprendre«, sagte sie.
Das Taxi hielt in einer engen Straße vor einem Mehrfamilienhaus aus rötlichem Stein. Die Fassade war größtenteils mit Efeu bewachsen. Baptiste war noch nicht da. Jona gab dem Fahrer einen Hundert-Franc-Schein. »Pour vous.«
»Merci«, sagte er, steckte das Geld ein und holte die Koffer aus dem Kofferraum.
Bevor Jona ihn fragen konnte, ob er sich sicher sei, dass das die richtige Adresse war, fuhr er schon davon.
Wieder wartete sie, und die Minuten fühlten sich wie Stunden an.
Dann sah sie Baptiste auf seinem Fahrrad, und eine unbändige Freude erfasste sie. Vielleicht waren die Blumen in seiner Wohnung, und jetzt kam das richtige Wiedersehen. Sie schleppten die Koffer in den dritten Stock. Seine Wohnung war nicht groß. Ein Wohnzimmer mit Küche, ein winziges Schlafzimmer, ein kleines Bad. Keine Blumen. Wie Eindringlinge wirkten die zwei Koffer. Er machte Kaffee, und Jona setzte sich auf das blassgrüne Sofa.
»Ich kann gar nicht glauben, dass ich hier bin«, sagte sie.
»Ja«, sagte er.
Er reichte ihr eine Tasse Kaffee, schwarz. Er hatte vergessen, dass sie ihren Kaffee mit viel Milch und Zucker trank.
»Ich muss gleich noch mal los«, sagte er, »du kannst duschen oder dich ausruhen oder dir Paris angucken.«
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