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"Eine Portion Kurzgeschichten" ist ein Lesebuch für Erwachsene. In 15 Geschichten werden die Leser zum Nachdenken angeregt oder zum Schmunzeln gebracht. Manchmal beides. Rund die Hälfte der Texte enthält gruslige oder gespenstische Elemente. Wer also diese kleine Kurzgeschichtensammlung in die Hand nimmt, sei vorgewarnt. In diesem Band hat die Autorin Kurzgeschichten zusammengestellt, die in einem Zeitraum von zehn Jahren entstanden sind. Beim Anlegen dieser Sammlung ist ihr klar geworden, dass sie mit Vergnügen die Leser auf falsche Fährten lockt. Dies ist der Grund, wieso die grusligen Texte nicht als solche gekennzeichnet sind.
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Seitenzahl: 131
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Verena Kohler
Eine Portion Kurzgeschichten
Verena Kohler
Eine Portion
Kurzgeschichten
15 Geschichten
von gruslig bis gewöhnlich
Impressum
Texte: © 2024 Copyright by Verena Kohler
Umschlag:© 2024 Copyright by Verena Kohler
Verantwortlich
für den Inhalt:Verena Kohler
Schloßstraße 3
3363 Hausmening
Langsam ließ Emma den kleinen Handwagen die Fahrradtreppe hinunterrollen und schloss die grau gestrichene Holztüre auf, um ihn vorsichtig in den Fahrradkeller hineinzumanövrieren. Geschafft. Für heute war es geschafft. Emma fragte sich, wie lange sie das noch machen wollte. Es fiel ihr immer schwerer, in aller Herrgottsfrühe aufzustehen und sie hatte den Eindruck, dass es mit jedem Monat mehr Zeitungen wurden, die sie auf ihrer Tour in die Briefkästen verteilen musste. Und besonders im Winter war es beschwerlich, den Anhänger über vereiste Wege zu schieben. Jetzt war erst Mitte November, aber bald würde sie wieder vorsichtig über die verschneiten Hauszugänge gehen, wenn noch niemand einen Pfad frei geschaufelt hatte. Besorgt betrachtete sie die dicken Gichtknoten an ihren faltigen Händen und dachte daran, dass sie 72 Jahre alt war. Ein Alter, in dem sich manche gemütlich zurücklehnen konnten. Aber nicht Emma. Sie konnte das nicht. Ihre Rente war mager und das Leben kostete nicht wenig.
Nachdenklich betrat sie den Kellerkorridor. Es roch gut nach Weichspüler. Emma brauchte nie Weichspüler. Zu teuer. Nun stieg sie die Treppe hinauf ins Erdgeschoss. Nanu, da ragte etwas aus ihrem Briefkasten? Aber so früh war der Postbote doch gar nie da. Neugierig zog sie den Umschlag aus der Klappe und betrachtete ihn. Jemand hatte mit Bleistift etwas drauf geschrieben. Der ist aus Versehen bei mir gelandet. Gruß, A. Hintermann, stand auf dem weißen Kuvert. Das kann vorkommen und Emma dachte sich nichts weiter. Aber der Absender, der irritierte sie. Notariat Kleeb & Partner. Was hatte sie denn mit einem Notariat zu tun? Die alte Dame überlegte auf dem Weg in den zweiten. Stock hin und her, wieso sie einen Brief von einem Notar erhalten hatte. Sie kannte doch gar niemanden.
Endlich war sie in ihrer Wohnung angelangt. Sorgfältig verschloss sie die Türe. Den Umschlag legte sie auf die kleine Kommode, während sie ihren alten Mantel auszog und ordentlich auf den Bügel hängte. Emma fühlte sich nicht besonders wohl, wenn sie daran dachte, was wohl in dem Kuvert sein mochte. Notariat Kleeb & Partner, was wollten die nur von ihr? Sie beschloss, erst mal eine Tasse Instant-Kaffee zu machen und ihre drei Usambaraveilchen zu gießen. Emma hatte sie geschenkt bekommen, als Frau Huber von nebenan ins Spital gebracht worden war. Das war an einem heißen Sommertag gewesen und Emma war froh, dass Albert Hintermann Frau Hubers Katze genommen hatte. Sie konnte sich kein Katzenfutter leisten, wo sie doch selbst kaum etwas ass. Nein, es war schon gut so, dass sie die drei kleinen Blumentöpfe hatte, auch wenn die junge Katze bestimmt angenehme Abwechslung in ihr einsames Leben gebracht hätte.
Ihr Blick fiel auf den Wäscheständer im fensterlosen Badezimmer und so machte sie sich daran, die beiden Blusen zu bügeln, die gut trocken waren, und hängte sie ordentlich in den Schrank. Sorgfältig faltete sie die Unterwäsche und die braunen Stützstrümpfe und dann war der Ständer leer. Der Kaffee fiel ihr ein. Die alte Dame setzte sich an den Tisch, trank das lauwarme Gebräu in kleinen Schlucken und rieb sich die schmerzenden Hände. Endlich gestand sie sich ein, dass sie bis zum Mittagessen nichts mehr zu tun hatte, außer sie würde das Gemüse für die Suppe schon rüsten. Aber sie merkte wohl, dass es nichts nutzte. Der Brief lag auf ihrer Kommode und ihre Adresse stand darauf. Und es half nichts, ihn nicht zu beachten. Emma holte ihn, atmete tief durch und nachdem sie ihn noch eine Weile angestarrt hatte, riss sie ihn langsam auf und begann zu lesen.
Zürich, 18. November 2013
Erbfall Mr. Jonathan Burger, geboren 8. Februar 1928 in Brütten ZH, verschieden 18. Juli 2013 in Lindstrom, Minnesota
Sehr geehrte Frau Burger
Wir wurden im August von der amerikanischen Anwaltskanzlei Crawling & Sons betreffend des Erbfalls Jonathan Burger kontaktiert. Ihr Vetter, Mr. Jonathan Burger, ist am 18. Juli in Lindstrom, Minnesota verstorben. Nachdem Mr. Burger in den USA keine erbberechtigten Personen hinterließ, gelangte Crawling & Sons mit der Bitte an uns, allfällige Verwandte in seinem Heimatland Schweiz ausfindig zu machen. Nach
Abzug der Erbschaftssteuer geht es um einen Betrag in der Höhe von rund CHF 68'000.
Wir bitten Sie höflich, uns in dieser Angelegenheit in unserer Kanzlei aufzusuchen, damit wir die Überweisung des Ihnen aus dem Nachlass des Mr. Jonathan Burger zustehenden
Betrages rasch abwickeln können. Wir gehen davon aus, dass eine schnelle Erledigung auch in Ihrem Interesse ist.Zwecks Terminvereinbarung erlauben wir uns, Sie am 20. November 2013 im Laufe des Tages telefonisch zu kontaktieren.
Freundliche GrüßeKleeb & Partneri.A. S. Gerber
Emma starrte lange auf das Schreiben. Dann legte sie es auf den Tisch. Ihre Hände zitterten und sie merkte, wie ihr Mund trocken wurde. So so, Jonathan war gestorben. Da drüben im fernen Amerika. Langsam sah sie sich in ihrer Stube um und betrachtete den dunkelgrünen, ausgetretenen Spannteppich. Die Vorhänge, die leblos vor den Fenstern hingen, seit sie vor 43 Jahren hier eingezogen war. Damals war hier noch alles neu gewesen. Jetzt war es verbraucht und altmodisch. Genau wie Emma und ihre Kleider. Sie sah an sich herunter. An dieser Hose hatte sie schon viermal einen neuen Knopf angenäht. Aber es war ihre beste Hose. Und der rosa Pulli, er war unter den Armen abgeschabt vor lauter Alter. Sie nahm wieder den Brief und las ihn. 68 Tausend Franken. 68 Tausend. So viel Geld. Die Rentnerin starrte auf ihre Hände und dachte sehr lange nach. Das Ticken der alten Stubenuhr wurde ihr bewusst. 'Die Uhr tickt', dachte Emma. 'Die Uhr tickt.“
Und dann stand sie auf, zog den aus der Mode gekommenen Mantel an und die festen Schuhe und verließ die Wohnung. 'Noch habe ich ja das Geld nicht. Aber es ist ein Notar. Ganz sicher bekomme ich das Geld bald.' Der Entschluss war gefasst. Sie würde jetzt in die Stadt fahren und schauen, was sie alles kaufen konnte, wenn der Geldsegen erst da war.
Emma war viele Jahre nicht mehr in der Stadt gewesen. Wozu auch, sie hatte ja doch kein Geld. Aber jetzt würde sie bald welches haben. Sie war froh, dass ihr eine junge Frau half, das Trambillet zu lösen, da sie den neumodischen Ticketautomaten nicht verstand. Als sie endlich beim HB Zürich aussteigen konnte, musste sie sich zuerst orientieren, was nicht einfach war, da sie von Scharen zügig an ihr vorbeieilender Menschen herumgeschoben wurde. Aber endlich schaffte sie es, zu dem einschüchternd großen Warenhaus zu gelangen.
Zögerlich betrat sie das Einkaufsparadies und steuerte die erstbeste Abteilung an. Parfums. Eine Wolke aus nicht voneinander zu unterscheidenden Düften umschwebte sie. Ein fürchterliches Gemisch aus Zedernholz, Rosen, Zuckerwatte, Citronella und weiteren Duftnoten. Genüsslich sog Emma die überwältigende Luft ein. All diese schönen Flakons. Sie war begeistert. Normalerweise sah sie diese Schönheiten nur, wenn sie auf der Plakatwand neben der Tramhaltestelle zuhause beworben wurden.
Begierig darauf, endlich alles anfassen zu können, was sie sich die ganzen Jahre versagt hatte, begann Emma, durch das ganze Warenhaus zu streifen. Was es nicht alles gab. All die schönen Kleider. Blusen, die man nicht bügeln musste. Und so eine kleine chromstahlfarbige Kaffeemaschine, in die man buntglänzende Kapseln stecken konnte. Ja, so eine wollte Emma sich kaufen.
Als nächstes stand sie in der Schmuckabteilung. Du meine Güte, sie konnte sich ja jetzt Schmuck kaufen. Sie, die arme Frau, die Zeitungen austragen ging, weil die AHV nicht ausreichte. Vielleicht eine kleine goldene Halskette. Oder eine feine Damenuhr. Oh, da hatte es sogar Ohrringe mit kleinen Edelsteinen drauf und sie kosteten nur 12.80. 'Das ist aber günstig', dachte Emma. Diese konnte sie doch schon mal kaufen, bevor jemand anderes sie nahm. Bald würde ja das große Geld kommen. Aber dann fiel ihr ein, dass sie gar keine Löcher in den Ohrläppchen hatte. Gut, das war nicht so schlimm, sie würde schon etwas anderes finden.
Emma zog weiter, von Abteilung zu Abteilung und sog alle Eindrücke in sich auf. Sie nahm die vielen Menschen gar nicht richtig wahr, die geschäftig um sie herum hasteten. Bei den Lebensmitteln betrachtete sie Kaviar und teure Weine. Die Erinnerung an den verheißungsvollen Brief beseitigte den aufkommenden Schrecken rasch, der sie zusammenzucken ließ, als sie das Preisschild auf dem Kaviardöschen sah. Das machte nichts, sie würde das kaufen können. Und auch diesen grauen Mantel mit dem Pelzbesatz, der oben in der Damenabteilung hing.
Es war etwas zu warm im Kaufhaus und sie merkte, wie ihre Beine müde wurden. Seufzend setzte sich Emma vor der Parfümerie auf einen der Bänke in der Mall und schaute sich um. Aufmerksam betrachtete sie die Leute. Diese ganzen Taschen, die an ihr vorbei getragen wurden. Die Rolltreppen, die unermüdlich Kunden von oben nach unten schafften und umgekehrt. Die Hintergrundmusik und die Werbung, die auf alles herabrieselten. Emma wusste nicht, was mit ihr geschah und sie wurde immer nachdenklicher. Sie fühlte sich nicht mehr wohl. Auf einmal wurden die ganzen Stimmen und das ständige Ding-Dang-Dong aus den unzähligen Lautsprechern zu unerträglichem Lärm. Sie sah die Ohrringe, die ihr so gut gefallen hatten, die mit den kostbaren Edelsteinen, an den Ohren einer jungen Dame an sich vorbeieilen. Die Ohrringe waren viel zu groß, zu glitzernd und zu auffällig, fand Emma jetzt.
Die Menschen schoben sich an ihrer Bank vorbei. Ein alter Mann fiel ihr auf, der versuchte, gegen den Strom zu gehen. Mitleidig sah sie ihn an. Bestimmt war er arm. Seine Bundfaltenhosen wirkten alt, genau wie seine klobigen Schuhe. Ein beiges Hemd lugte unter einem braunen, gestrickten Pullunder hervor und die Jacke, ebenfalls beige, hatte einen kleinen Fleck am Saum, direkt neben dem Reißverschluss. 'Er ist furchtbar altmodisch angezogen, dieser Senior. Er passt überhaupt nicht in diese Welt. Er wäre besser daheim geblieben.' dachte Emma und rümpfte leicht die Nase.
Jemand trat ihr auf den Fuß. Emma sah hoch und erkannte eine Frau in einem schicken Kostüm. Eleganter Kurzhaarschnitt, gezupfte Augenbrauen und French-Style-Nägel. Was French-Style war, wusste Emma, seit sie vor einer halben Stunde eine Unterhaltung zweier junger Mädchen mitangehört hatte. Die noble Dame warf ihr einen gehässigen Blick zu und sie fühlte sich genötigt, sich zu entschuldigen, obschon die andere ihr auf den Fuß getreten war. Die Frau verzog nur überheblich die geschminkten Lippen und betrachtete sie angewidert von oben bis unten, bevor sie weiter hastete. Betroffen sah Emma an sich herunter. Und nun schämte sie sich zutiefst dafür, dass sie vorhin so herablassend über den alten Mann geurteilt hatte. Denn ihre Kleider waren genauso altmodisch und sie passte genau so wenig hier hin. Und das ganze Kaufhaus war ein furchtbarer Albtraum für jemanden wie sie, der gewohnt war, sein Geld zusammen zu halten, so gut es eben ging. 50 Gramm Fischeier für 352 Franken! Und wer war überhaupt dieser Cousin Jonathan? Emma wurde schlecht.
Hastig stand sie auf und verließ, so schnell sie konnte, diesen ganzen turbulenten Irrsinn. Nur weg hier. Weg aus dieser Stadt und weg von diesen hochnäsigen Menschen. Ihr fiel gar nicht auf, dass sie kein Ticket löste, bevor sie in ein Tram stieg, das nach Hause führte. Nur nach Hause, so schnell es ging. Emma hatte Glück, kein Kontrolleur kam. Je näher sie ihrer Haltestelle kam, desto weniger Leute waren im Tram. Sie war froh, dass es zusehends ruhiger wurde.
Endlich stieg sie die Treppe hinauf und betrat ihre Wohnung. Ihre ganzen altmodischen Sachen, denen man die Spuren der Zeit ansah, hießen sie willkommen. Emma hatte sich schon lange nicht mehr so zuhause gefühlt, wie in diesem Moment. Sie würde nun Wasser kochen und wie immer Pulverkaffee machen.
Das Telefon schrillte so unverhofft, dass sie zusammenzuckte. 'Herrjeh, wer ist das jetzt?', dachte sie und ging dran.
„Burger?“
„Notariat Kleeb & Partner, Peter Kleeb, Grüezi Frau Burger.“
„Grüezi Herr Kleeb.“ sagte Emma langsam.
„Frau Burger, Sie haben von uns ein Schreiben erhalten, betreffend Nachlass.“, fuhr Herr Kleeb weiter.
„Ja. Ich habe es heute erst aufgemacht, es war im falschen Briefkasten. Wissen Sie, Herr Kleeb …“, sagte Emma langsam und wurde von ihrem unsichtbaren Gesprächspartner unterbrochen.
„Frau Burger, es tut mir unendlich leid. Bei uns ist ein riesiger Fehler passiert. Wissen Sie, der Mann hieß gar nicht Burger. Sein Name war Berger. Jemand von uns hat das am Telefon nicht richtig verstanden, als wir von Crawling & Sons angerufen worden sind. So wurde der Name falsch notiert und niemand hat den Fehler bemerkt, bis meine Assistentin vorhin die Unterlagen nochmals gelesen hat, die wir aus Amerika bekommen haben. Es tut mir wirklich sehr leid, Frau Burger. So ein furchtbarer Fauxpas darf natürlich gar nicht vorkommen. Ich weiß überhaupt nicht, wie ich mich bei Ihnen entschuldigen kann!“
Emma hatte ganz still zugehört und jetzt sagte sie freundlich: „Das macht gar nichts, Herr Kleeb. Auf Wiederhören.“ Und legte den Hörer einfach auf. Nun bemerkte sie endlich, dass das Wasser in der Küche längst kochte. Schnell ging sie in die Küche. Das Wasser war schon fast komplett verdampft. Sie leerte es aus und kratzte mit Stahlwolle den Kalk aus der Pfanne. Dann setzte sie neues Wasser auf und sah in die Stube hinaus. Ihr Blick glitt über die alten Möbel und den grünen Teppich, dessen Farbe in der Nähe des Fensters vom Sonnenlicht abgeschossen war. Die glitzernden, viel zu großen Ohrringe fielen ihr ein. Emma schüttelte den Kopf und begann lauthals zu lachen, bis ihr die Tränen kamen.
„Einer zuhause?“, rief Nathalie, während sie der Wohnungstüre mit einem Hüftschlenker einen Schubs gab, so dass diese unbeabsichtigt heftig zuschlug. Genervt von den letzten paar Tagen entledigte sie sich der Schuhe und der Jacke und warf dabei einen Blick auf Garderobehaken und Schuhgestell. „Keiner da, auch gut. Besser sogar.“, murmelte sie. 'Müsste man nicht eigentlich ein schlechtes Gewissen haben, wenn man froh ist, dass die Familie nicht da ist?', fragte sie sich insgeheim. Aber dann seufzte sie bloß tief und schleppte Aktenkoffer und Einkaufstasche in die Küche, wo sie alles mehr oder weniger auf den Tisch fallen ließ. „Fertig. Wochenende. Die können mich jetzt alle mal!“, schnaubte die 35-jährige Anwältin zornig. Mechanisch räumte sie die Einkäufe ein und startete die Geschirrspülmaschine, was sie am Morgen in der Eile vergessen hatte. Ebenso mechanisch entlockte sie der Kaffeemaschine einen Espresso und auf genau dieselbe ferngesteuerte Weise entnahm sie dem Aktenkoffer einen Stapel Papiere und begann diese durchzublättern.
Wortfetzen schwirrten durch ihren Kopf. Anhörung … Wieso vertreten Sie diesen Mandanten? Warum … öffentliches Interesse … niederträchtig … großer sozialer Schaden … Chancen … „Ruhe da oben!“, brüllte Nathalie außer sich und sah sich erschrocken um. Aber ihre Familie war ja nicht da. Trotzdem … So ging das nicht weiter. 'Am Montag sage ich Louis, dass er ein ausgemachtes Arschloch ist, weil unsere Kanzlei diesen Auftrag angenommen hat. Und dass ausgerechnet ich diesen schmierigen Treuhänder verteidigen muss. So ein Saukerl. Nimmt 243 Rentner aufs Übelste aus und jeder weiß, dass es weitaus mehr gewesen sein müssen. Aber Tote reden nicht mehr so viel und ich, genau ich, muss diesen Drecksack verteidigen. Ich könnte kotzen.'
Kollege Yannick hatte sich mit einem eleganten Hinweis auf sein bevorstehendes Burnout gedrückt und so kam Inhaber Louis mit dem Fall zu ihr. „Du schaffst das schon, Mädchen. Wenn eine das schafft, dann du. Und du weißt ja, dass unsere Kanzlei alle Angelegenheiten zu gewinnen pflegt, nicht wahr, das weißt du doch, Nathalie?“