Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Auch junge Menschen haben Träume und Wünsche. Und sie haben vor allem auch Ängste und Probleme. 'Einfach nur so leben' schildert die Lebenswirklichkeit einer Gruppe Jugendlicher, die sich zu einer Clique vereint haben, um zusammen stark zu sein. Volker W. Degener begibt sich auf die Spur der "Null-Bock-Generation" und liefert ein einfühlsames und realistisches Portrait einer Jugendclique in Westdeutschland.-
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 106
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Volker W Degener
SAGA Egmont
Einfach nur so leben
Copyright © 1978, 2018 Volker W. Degener und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
All rights reserved
ISBN: 9788726032352
1. Ebook-Auflage, 2018
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach
Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
Noch nicht richtig wach, fuhr Blacky sofort los. Er wird wohl nie ganz wach. Aber er fährt. Und wie. Wie er mir täglich in aller Frühe erzählte, hockte er ständig auf seiner Maschine, auf einer noch viel größeren als bisher, und sauste davon, in alle Winde. Er war nicht mehr zu halten.
Zu Anfang schmunzelte ich nur. Mitleidig lachte ich vor mich hin. Und in den ersten Tagen drehte ich mich mühsam herum, soweit mein bandagiertes Bein es zuließ, grinste in seine Richtung. Sein Bett stand hinter meinem Bett. Wenn dann eine der wirklich netten Krankenschwestern ins Zimmer kam und uns nach unserem Befinden fragte, war ich meistens sehr wütend auf Blacky, der dann nämlich regungslos auf den Kissen lag und kein Gespräch anfing, vielmehr völlig unbeteiligt tat.
Nach einer Woche versuchte ich, andeutungsweise auf Blackys wilde Fahrten hinzuweisen. Beim Krankenhauspersonal erreichte ich gar nichts. Ungläubige, durchdringende Blicke trafen mich, aber ich wünschte, ganz normal angesehen zu werden. Denn mein Kopf war in Ordnung. Der Arme sagt doch kein Wort, sagte man, er ist so schön ruhig.
Ein feiner, anständiger Kerl.
Nur so verkrampft liegt er da, sagte man.
Ich schwieg dazu. Zum Glück mußte Blackys Maschine hin und wieder zur Reparatur. Kein Wunder bei der Raserei. Blacky legte gewissenhaft fest, wann die Reparaturzeit einsetzte. Meistens war das nachmittags gegen fünf, wenn er etwas mehr Zeit als sonst hatte.
Dann war es ganz ruhig in unserem Zweibettzimmer. Ich bin ein zurückhaltender Mensch. Die Ruhe genoß ich. In den ersten Tagen meines Aufenthalts im Krankenhaus hatte ich mir von der Bücherschwester sogar einige abgegriffene Wälzer bringen lassen. Aber ich habe sie dann doch nicht gelesen.
Als Dachdecker arbeite ich in luftiger Höhe — bis ich mir bei meinem Sechseinhalbmetersturz Beine und Hüfte anknackte. Die kurze Ruhezeit während der Reparaturen mußte ich auskosten, immer in dem Bewußtsein, daß Blacky sich wieder auf sein Gefährt werfen und knatternd losziehen könnte, und sei es nur zu einer Probefahrt.
Komm her, steig auf, sagte Blacky schon mal, wenn wir allein im Zimmer waren, kannst mit mir eine Runde drehen, ich nehme dich mit.
Wie denn, fragte ich, wie soll ich das denn mit diesen Beinen fertigbringen?
Feigling, sagte er.
Dein Bett steht doch hinter meinem Bett, sagte ich, ich bin vorne, du bist hinten.
Sei nicht so kleinlich.
Nein, sagte ich, es geht nicht.
Halt dich gut fest an mir, dann geht’s.
Gib nicht so an, sagte ich.
Spielverderber.
Na gut, ich machte mit, aus Langeweile und Mitleid. Unsere Betten standen hintereinander an der Längsseite des Zimmers. Blacky lag also hinter mir. Aber in unserer Vorstellung saß er auf einer Donnerkiste und ich war sein Sozius. Beide Auspuffrohre lärmten mit unseren Stimmen. Ab ging’s über weite, tadellose Straßen. Blacky ist ein äußerst sicherer Fahrer.
Was ihm da vor Wochen passiert war, konnte ich allmählich mit geschickten Fragen aus ihm herausholen, obwohl der Fahrtwind eine Verständigung erschwerte. Blacky war erst siebzehn, demnach immerhin zweiunddreißig Jahre jünger als ich. Alles, was sich schnell und laut bewegte, hatte immer schon seine Aufmerksamkeit erregt. Die Erregung ließ ihn nun nicht mehr los.
Ich konnte mir sein Schicksal dann ganz gut zusammenreimen: Auf seinem flottgemachten Moped hatte er den Kopf tief übers Lenkrad gesenkt, weil es regnete, und an einer Kreuzung übersah er die Straßenbahn. Sein Sturzhelm bewahrte ihn vor dem Schlimmsten, nicht aber vor den Kopfverletzungen.
Niemand darf etwas erfahren, sagte Blacky, wir trainieren heimlich weiter für den neuen Geschwindigkeitsrekord. Verrate uns bloß nicht.
Ich sag’ doch nichts, sagte ich.
Kein Sterbenswort, sagte Blacky, auch nicht zu der Rennleitung.
Rennleitung?
Das sind die Leute in den weißen Kitteln, die morgens immer unsere Körper und Maschinen besichtigen, sagte Blacky sofort.
Schweigend gab ich ihm recht. Das war wohl mein entscheidender Fehler. Inzwischen ist es zu spät, um noch auf das Bremspedal zu treten. Hatte ich mich erst mal auf seine Sicht eingelassen, gab es keinen Rückblick mehr. Tagelang legten wir lange Strecken auf unseren Straßen zurück. Blacky war eigentlich gar nicht so verkehrt, der gute Junge.
Hast du denn keine Angst, fragte ich ihn.
Angst?
Ein bißchen wenigstens.
Nie, sagte Blacky ziemlich laut.
Du lebst verdammt gefährlich, sagte ich, das weißt du doch wohl.
Wir beide.
Natürlich.
Das Leben ist verdammt lebensgefährlich, sagte er, aber ich fürchte keinen Tod.
Nur noch selten störten uns die lautlosen Leute in den vornehmen Kitteln. Alles Theoretiker. Es war herrlich mit Blacky. Ihm fiel immer was Neues ein. Er kannte Wege, die ich noch nie befahren hatte. Unsere Reisen ließen uns angenehme Stunden zusammen erleben. Seine Begeisterung konnte ich nun verstehen. Ich fühlte mich durchaus nicht mehr krank. Meine kaputten Beine und die unstabilen Hüftknochen beunruhigten mich nicht mehr. Was bedeuteten schon unsere Körper.
Keine drei Wochen später begann das Personal, noch freundlicher auf Blacky einzureden. Man erwähnte sogar, daß er nun bald am großen Ziel sei. Mehrfach sprach man von einem Wunder. Blackys Eltern stimmten dem sofort zu. Unser Junge hat’s geschafft, sagte sein Vater.
Die Ärzte, sagte seine Mutter, die Ärzte haben ein richtiges Wunder vollbracht.
Was mit der Medizin allein nicht zu schaffen war, sagte dann Blackys Tante.
Wir werden ihn noch ganz gesund bekommen, sagte die Mutter mit Tränen in den zwinkernden Augen.
Er soll mal Mediziner werden, sagte der Vater, Sportarzt vielleicht, über den zweiten Bildungsweg.
Dann kann er an den Rennpisten arbeiten, sagte ich, da gibt es immer was zu tun.
Wie bitte, fragte die Mutter.
Wir sehen uns dort wieder, sagte ich, wenn ich den neuen Rekord aufstelle.
Sie sahen gar nicht mehr zu mir herüber. Und obwohl die Leute von der Rennleitung morgens mit ernsten Gesichtern als erstes vor meiner Lagerstatt standen, unterhielten sie sich immer intensiver mit Blacky. Allmählich hatte er zu reden begonnen, zu erzählen. Er hatte uns alle getäuscht.
Tatsächlich bekam er an einem Samstag seine Lederkluft ausgehändigt, es fehlte nur der Helm. Seine Eltern hatten ihm einen neuen versprochen. Ein rassiges Modell. Blacky putzte lange an seiner Lederjacke herum, spuckte drauf, wischte wie verrückt über die Kratzer, bis das Ding wieder glänzte. Er sah toll aus. Die schwarze Ledermontur mit den roten Streifen stand ihm prima.
Richtiggehend wütend wurde ich, als ich merkte, daß er wirklich mit allen Ehren entlassen wurde. Er war am Ziel. Er sah neue Aufgaben vor sich. Blacky ließ mich hier einfach zurück. Der zuständige Rennarzt verfügte mich in die geschlossene Abteilung des Trainingszentrums. Verfluchter Kerl, der Blacky. Ließ mich ganz allein losfahren mit der schweren Maschine.
Unser Trainingsprogramm für den neuen Rekord hatten wir noch gar nicht ganz abgeschlossen. Vielleicht wollte er ohne mich weitermachen. Hinter meinem Rücken sozusagen. Er sah in mir, weil ich so gut fuhr, einen gefährlichen Konkurrenten. Zum Schluß hatte er mir nicht einmal mehr die Hand geschüttelt, als er hinausging auf die Piste. Feiner Sportsmann. Aber immerhin war ein Funke dieser Begeisterung von ihm zu mir übergesprungen. Und die meisten Routen kannte ich inzwischen genau, sogar besser als er. Wir werden schon sehen.
Was ist los mit dir?
Ich weiß es auch nicht.
Setz dich erst mal.
Laßt mich in Ruhe.
Das Personal hat sich um ihn versammelt. Ein enger Halbkreis neugieriger Gesichter dringt auf ihn ein. Jacobs meint, keine Luft mehr zu bekommen. Luftmangel macht ihm seit einigen Wochen zu schaffen.
Bleibt, wo ihr seid!
Er sieht so komisch aus.
Holt einen Arzt.
Nein, es ist nichts, sagt Jacobs.
Was hat er gesagt?
Nichts, das hat er schon oft gesagt.
Sie mögen ihn, den alten Eigenbrötler, der oben im fünften Stock ein dunkles Zimmer mit schrägen Wänden bewohnt. Bevor er Portier im Savoy Hotel wurde, fuhr er siebenunddreißig Jahre zur See. Das wissen sie, und eine Menge seiner kuriosen Geschichten kennen sie auch. Hans Jacobs erzählte gern von seinen Fahrten. In den tristen Morgenstunden war er der einzige, der im Hotel noch etwas erzählte. Das Wacheschieben steckte ihm in den Knochen.
Seht euch seine Hände an.
Der reißt sich ja das Hemd kaputt.
Wann kommt denn endlich ein Arzt?
Um diese Zeit?
Bitte, keinen Auflauf, denkt an die Gäste.
Der Chef wird wieder explodieren.
Er sieht so aus, als wollte er uns was Wichtiges sagen. Laßt mich hier vor dem Spiegel, sagt Jacobs.
Uber die meisten seiner Fahrten hatte er ihnen berichtet, exakte Schilderungen geliefert, nichts ausgelassen, nichts hinzugefügt. Er legte gleich los, wenn man ihn fragte. Bis auf diese eine Geschichte, von der er nicht wußte, ob er sie erzählen sollte, obwohl er immer wieder danach gefragt wurde, wenn die Leute seinen rechten Arm sahen. Jetzt wird er ihnen alles erklären. Dann werden sie ihn nicht mehr so neugierig anstarren.
Seine großen Hände zittern wieder stark. Sein Kopf schaukelt ein wenig, Jacobs hat Mühe, sich auf dem Stuhl zu halten. Mit einer Hand kratzt er sich vorsichtig unter dem geöffneten Hemd. Es schmerzt.
Das Dröhnen in seinen Ohren wird ständig stärker. Nie konnte er sich daran gewöhnen, obwohl er es schon lange an sich selbst miterlebt. Stimmen sind unüberhörbar geworden. Das Geräusch in seinem Kopf wird von Erlebnisfetzen überlagert. Seine eigenen vier Wände sind ihm fremd. Alles drängt durcheinander. Das muß geordnet werden. Das gelingt ihm vielleicht, wenn er zu erzählen anfängt. Er ist sich nicht sicher, ob irgend jemand etwas versteht.
In Shimizu hatte es einen jungen Japaner mit außergewöhnlicher Begabung gegeben, einen äußerst sensiblen Künstler der farbigen Nadelstiche, wie man sagte. Er schuf Tätowierungen ohne jeden Makel, herrliche Kompositionen. Seine Originalität war stadtbekannt, wie man sagte, vor allem in Seemannskreisen rühmte man ihn, auf offener See war er in aller Munde, jeder im Hafen wußte etwas über ihn zu berichten. Hans Jacobs fand ihn ohne Schwierigkeiten, als sein Schiff dem warmen Kuroshio-Strom folgte und im Hafen Shimizu anlegte.
Er schwankt auf seinem Stuhl, man hält ihn, der immer wieder an den Knöpfen seines Hemdes zerrt, behutsam an den Armen fest.
Zunächst trieben Jacobs nur Neugier und Langeweile zu dem großen Meister. Die Ornamente, Anker und Frauen, die albernen Sprüche, wogenden Brüste, die interessierten ihn nicht besonders. Als er in der bescheidenen Hütte des jungen Mannes stand, wunderte er sich, daß er ohne Zögern den Arbeitsraum betreten hatte.
Der Tätowierer arbeitete nur wenige Stunden am Tag, konzentriert, verbissen, langsam. Dann verschwand er für den Rest des Tages, was zu Spekulationen Anlaß gab. Das hatte man Hans Jacobs vorher erzählt. Er wußte Bescheid.
Damit wollte er seine Geschichte beginnen:
Der Tätowierer richtete seine dunklen Augen ernst und abweisend auf den Fremden.
Sie kommen wegen einer Tätowierung, fragte der Japaner. Vielleicht, ich will mich nur umsehen.
Bitte sehr.
Danke.
Nehmen Sie sich Zeit.
Jacobs sieht in den Garderobenspiegel. Mühsam dreht er sich seinem Spiegelbild zu. Er ist erschreckt. Seine Gesichtshaut wird immer blasser. Was ihn dort aus demSpiegel anglotzt, kann nichts mit ihm gemeinsam haben. Er ließ sich Zeit. Er betrachtete alle Muster gründlich. Er suchte lange nach dem richtigen Muster. Er wählte zögernd, wollte sich noch nicht festlegen. Der Tätowierer beobachtete ihn unauffällig. Das haben die Japaner so an sich, hatte man Jacobs erzählt. Immer mehr Muster kramte der junge Mann aus einem staubigen Stoß Vorlagen hervor. Scheinbar teilnahmslos legte er sie auf den Tisch unter dem Fenster. Sein Asketengesicht bekam erst Glanz, als Jacobs endlich ein Ornament ausgesucht hatte, das der Japaner ihm zum Schluß vorlegte. Die schmalen Hände des Fachmanns wurden unruhig, als sie die von kostbarem Papier umgebene Vorlage hervorzogen.
Wie lange werde ich das noch aushalten, fragt sich Jacobs. Sein Spiegelbild verzerrt sich zur Unkenntlichkeit. Er möchte Fragen beantworten. Aber niemand stellt Fragen. Es muß doch weitergehen mit der Geschichte.
Wie lange wird es dauern, fragte Jacobs.
Vier Tage, mein Herr.
Vier Tage, das geht nicht, in zwei Tagen geht mein Schiff. Dann kann ich es nicht machen, mein Herr.
Enttäuschung peinigte das Gesicht des Japaners. Aber Hans Jacobs hatte sich in den Kopf gesetzt, Shimizu nicht ohne Tätowierung zu verlassen. Seine Starrköpfigkeit konnte er sich selbst nicht erklären. Und die anderen auf dem Schiff würden ihn für verrückt halten.
Na schön, ich werde abheuern.
Sie werden es nicht bereuen, mein Herr.
Schon gut, sagte Jacobs.
Er packte seine Habseligkeiten in einen Seesack und ein mit Arabesken verziertes grünes Tuch und brachte alles mit zu dem Tätowierer.