8,99 €
Seien Sie doch mal einsam!
Einsam zu sein: gibt es das heutzutage überhaupt noch, wo sich doch jeder mit jedem in Windeseile verknüpfen und hemmungslos Informationen, Gefühlszustände, Ärgernisse und Lustigkeiten austauschen kann? Natürlich gibt es die Einsamkeit noch, und manch einen mag das Gefühl beschleichen, dass sie in Zeiten allgegenwärtiger Vernetzung eher größer als kleiner geworden ist. Aber ist das immer wirklich so schlimm? Wenn man sich ein wenig einsam fühlt? Bietet sie nicht manchmal sogar eine bitter notwendige Atempause? Max Dorner lädt uns ein auf eine ehrliche, amüsante und gleichzeitig schonungslose Expedition zu den schillernden Variationen der Einsamkeit in unserem Alltag. Und unternimmt die Ehrenrettung eines maßlos unterschätzten Lebensgefühls.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 263
Einsam zu sein: gibt es das heutzutage überhaupt noch, wo sich doch jeder mit jedem in Windeseile verknüpfen und hemmungslos Informationen, Gefühlszustände, Ärgernisse und Lustigkeiten austauschen kann? Natürlich gibt es die Einsamkeit noch, und manch einen mag das Gefühl beschleichen, dass sie in Zeiten allgegenwärtiger Vernetzung eher größer als kleiner geworden ist. Aber ist das immer wirklich so schlimm? Wenn man sich ein wenig einsam fühlt? Bietet sie nicht manchmal sogar eine bitter notwendige Atempause? Max Dorner lädt uns ein auf eine ehrliche, amüsante und gleichzeitig schonungslose Expedition zu den schillernden Variationen der Einsamkeit in unserem Alltag. Und unternimmt die Ehrenrettung eines maßlos unterschätzten Lebensgefühls.
MAXIMILIAN DORNER, geboren 1973 in München, studierte Dramaturgie an der Bayerischen Theaterakademie und ist seitdem als Autor, Regisseur und Literaturlektor tätig. 2006 wurde bei ihm eine unheilbare Nervenkrankheit diagnostiziert. Diese Erfahrung beschrieb er in dem sehr erfolgreichen Buch »Mein Dämon ist ein Stubenhocker«. Maximilian Dorner lebt in München.
Maximilian Dorner
Einsam,
na und?
Von der Entdeckung
eines Lebensgefühls
Inhalt
Eins. Annäherungen
Zwei. Schöne neue alte Welt der Einsamkeit
Drei. Welten der Einsamkeit
Vier. Die Einsamkeit der anderen
Fünf. Im Wandel des Lebens
Sechs. Vorfahren der Einsamkeit, mütterlicherseits
Sieben. Vorfahren, väterlicherseits
Acht. Die hässlichen Geschwister der Einsamkeit
Neun. Ihre ansehnlichen Geschwister
Zehn. Einsame Orte
Elf. Berufliche Einsamkeit
Zwölf. Einsamkeit und Macht
Dreizehn. Einsamkeit und Konsum
Vierzehn. Einsamkeit und Medien
Fünfzehn. Vom Umgang mit Einsamkeit
Sechzehn. Einsamkeit und Liebe
Siebzehn. Beziehungen und Einsamkeit
Achtzehn. Einsamkeit und Sex
Neunzehn. Einsamkeit der Helden
Zwanzig. Die der Gottnahen
Einundzwanzig. Kraft der Einsamkeit
Zweiundzwanzig. Einsamkeit und Kunst
Dreiundzwanzig. Einsam, na und?
Vierundzwanzig. Aufbruch
Dank und Widmung
Zitierte Literatur
Eins. Annäherungen
Unsichtbares. Vom erhöhten Rand der Piazza del Campo in Siena hat man den besten Blick auf das von der Septemberwärme ermattete Touristentreiben. Doch auf einmal ist es mit der Beschaulichkeit vorbei.
»I must be connected!«
Die Stimme klingt so flehentlich, dass ich mich umdrehe. Vor einem der Cafés steht ein vielleicht dreißigjähriger Mann. Er wedelt mit seinem Smartphone vor einer Kellnerin mit bodenlanger Schürze hin und her.
»Wifi, you understand? Wifi. Urgent!«, ruft er mit französischem Akzent.
Die Kellnerin schüttelt den Kopf, woraufhin der Mann mit der freien Hand auf einen Aufkleber neben der Eingangstür deutet, der freies WLAN verspricht.
»No internet«, sagt die Kellnerin bestimmt und lässt ihn stehen. Er braucht ein paar Sekunden, um sich zu fassen. Dann sieht er sich hilfesuchend um. Unsere Blicke begegnen sich kurz, bevor er Richtung Dom davonstürzt. Ob er da eine bessere Verbindung ins Netz findet?
Vor mir sitzt eine deutsche Familie auf dem rostroten Pflaster. Der Vater hat sich vor ein paar Minuten verabschiedet, um sich »die Beine zu vertreten«. Die Mutter steht auf und stellt sich vor ihre drei Kinder wie eine übermotivierte Reiseleiterin. Diese sind dem Alter nach aufgereiht: links außen die Tochter um die achtzehn, rechts der jüngste Sohn, vielleicht zwölf, und dazwischen ein Jugendlicher mit tief ins Gesicht gezogener Baseballkappe. Alle drei sind gleich schlecht gelaunt. Jeder Vorschlag der Mutter wird mit einem Kopfschütteln abgeschmettert. Also kein Dom, kein Rathausturm mit fantastischem Blick über die Stadt, nicht einmal Eis kann sie locken. Sichtlich sind sie an nichts anderem interessiert, als den Kulturausflug schnellstmöglich zu beenden.
»Lasst uns doch mal was gemeinsam machen«, bettelt sie. »Wenigstens im Urlaub.«
Synchrones Augenverdrehen, sonst keine Reaktion.
Schließlich steht die Tochter auf und verkündet: »Wir suchen Papa.«
Die beiden Jungs rappeln sich ebenfalls hoch und schlappen, vereint in stillem Protest, ihrer Schwester hinterher.
Die Mutter sieht ihnen nach. Das Lächeln zerfällt. Sie schluckt mehrfach, dann reißt sie sich zusammen. Man hört förmlich, wie sie sich das befiehlt. Ihre Enttäuschung ist schwer zu ertragen.
Aus einer der Gassen kommend steuert ein herrenloser Hund zielstrebig auf das Café ohne Internet zu. Er hat noch nicht einmal den ersten Tisch erreicht, da stürzt die Kellnerin heraus und vertreibt ihn, indem sie unwillig in die Hände klatscht. Der Hund läuft mit gesenktem Kopf weiter Richtung Palazzo Pubblico.
Sobald man nach ihr Ausschau hält, entdeckt man überall Einsamkeit. Bei Fremden sticht sie einem sofort ins Auge. Aber eigentlich handelt es sich dabei doch nur um Vermutungen und Unterstellungen. Was weiß ich schon von der Einsamkeit anderer?
Vielleicht habe ich auf der Piazza del Campo auch nur meine eigene wahrgenommen. Dabei könnte ich nicht einmal mit Sicherheit beantworten, ob ich gerade einsam bin oder mich nur einsam fühle – wenn überhaupt. Einsamkeit überfällt einen ebenso schnell, wie sie verschwindet. Wie jetzt, da die Freunde, mit denen ich nach Siena aufgebrochen bin, mit vollen Einkaufstüten um die Ecke biegen.
Vor meiner Abreise in die Toskana schwirrte eine Nachricht durch Facebook: Einsamkeit sei ungesünder als fünfzehn Zigaretten täglich, hieß es da. Einigen leuchtete das sofort ein. Eh klar, wurde kommentiert, der Mensch sei eben ein Herdentier. Sobald er isoliert werde, verwelke er wie eine Blume ohne Wasser. Der Nächste aber fand, dass man das nicht vergleichen könne. Und überhaupt, was habe Einsamkeit mit Nikotin zu tun? Der Dritte likte die Meldung, weil sie irgendwie witzig klingt, und hat sie eine Minute später garantiert vergessen.
Aufgebracht hatte die Nachricht die Wissenssendung eines Privatsenders, so googelte ich. Einen Beleg für die These lieferte sie nicht. Darum geht es auch nicht. Sie irgendwo aufgeschnappt zu haben, reicht als Beweis ihrer Gültigkeit. Irgendeine Studie wird das schon belegen, davon gibt es schließlich genug. Aber warum ausgerechnet fünfzehn Zigaretten?
Die Wahrheit entgleitet einem beim Herumsurfen und weicht einer Haltlosigkeit, die nur überwindbar ist, wenn man sie durch frische Nachrichten ersetzt. Das funktioniert störungsfrei bei allen Themen, die jeden angehen und zu denen deswegen auch jeder eine Meinung hat. Die dazu passenden Erkenntnisse müssen nur ausreichend pointiert sein und trotzdem diffus bleiben. Schon Andeutungen setzen die Kommunikation in Gang, wenn es um Geschlechtsunterschiede, das Glück, die Liebe oder das Abnehmen geht. Warum sollte Einsamkeit hier eine Ausnahme bilden? Nichts Genaues weiß man eh nicht – und bei Bedarf kann man ja im Netz weitersuchen …
Dabei fordert Einsamkeit vor allem eines: Zeit. – Sowohl, um sich auszubreiten, als auch, um sich ihrer bewusst zu werden. Hat sie einen jedoch erwischt, wuchert sie im Unbewussten weiter. Und selbst wenn man sich ihr stellt, wird man sie so schnell nicht los.
Deswegen schreibt sich ein Buch darüber nicht herunter wie ein Liebesroman, auf dessen Ende sogar der Autor gespannt ist. Alle drei Absätze hänge ich irgendwo fest. (Erst recht, wenn Freunde einen zum Oktoberfestbesuch überreden wollen.) Ein Gedanke widersetzt sich dem vorherigen. Ich drehe mich im Kreis und verheddere mich nur noch mehr. Die Widersprüche lösen sich nicht auf, sondern führen zu neuen. Das ist mühsam. Doch gerade deshalb bin ich wohl auf dem richtigen Weg. Das Leben ist voller unauflösbarer Widersprüche. Warum sollte es gerade mit der Einsamkeit anders sein?
In längst vergangenen Tagen war Einsamkeit offensichtlicher und klarer abzugrenzen. Und aus heutiger Sicht romantischer. Heute ist sie kleinteilig und geht im Geplapper unter. Man muss sehr genau achtgeben, um sie überhaupt zu bemerken. Auch weil sie tabuisiert wird wie kein anderes Lebensgefühl. Aus diesem Grund fällt es den von ihr Betroffenen zunehmend schwer festzustellen, ob sie überhaupt einsam sind. Denn auch die Möglichkeiten, unter Menschen einsam zu sein, haben zugenommen. Problemlos kann man mehrere Tage in einer Stadt verbringen ohne eine einzige wirkliche Begegnung. Die Anzahl sozialer Kontakte ist kein Kriterium mehr. Einsamkeit beschreibt heute eher den Eindruck, nicht gehört zu werden. Keine Verbindung aufbauen zu können, zu anderen wie zu sich selbst. Die Einsamen gehen nicht in der Stille unter, sondern im Lärm, im Dauerrauschen.
Wenn bislang auf Einsamkeit geblickt wurde, dann meist von möglichst weit weg. Und von Beobachtern, die nie über ihre eigene sprechen. Im Gegenteil, Wissenschaftler meinen, sich mit persönlichen Erfahrungen zu disqualifizieren. Doch je distanzierter man sie betrachtet, desto verschwommener wird die Einsamkeit auch. Wer sie in ihren vielen Erscheinungsformen beschreiben möchte, muss auch bereit sein, etwas von sich preiszugeben.
Das Sozialverhalten der Wanderratte, das ein Soziologe zur Erklärung menschlicher Einsamkeit bemüht hat, bringe ich nicht mit meinen Erfahrungen zusammen. Das mag hochnäsig sein, doch der Gegenstand verleitet dazu. Wahrscheinlich sprechen wir einfach von verschiedenen Dingen. Wissenschaftler reflektieren über ein gesellschaftliches Phänomen, ich über ein Gefühl. Einsamkeit trifft den Einzelnen elementar. Wenn ich einsam bin, fühle ich mich eben nicht als Teil einer großen Gruppe anderer Einsamer und möchte denen auf keinen Fall zugerechnet werden. Im Gegenteil, die anderen stoßen mich ab. Ich bin eine vereinzelte Wanderratte. Einsamkeit beweist mir meine Einzigartigkeit: Es ist meine Einsamkeit. Ich muss mich mit ihr herumschlagen.
Sie taugt nicht als Forschungsgegenstand. In der Kunst hingegen wird sie in all ihren Facetten beschrieben, bebildert und besungen. In Abertausenden Romanen, Filmen und Songs. Deren Schöpfer haben keine Berührungsängste. Und doch ist sie hier meist nur Mittel zum Zweck, um die Gefühlslage einer Figur oder eine Atmosphäre zu beschreiben.
Ich höre lieber anderen zu, Passanten und Freunde sind meine Studienobjekte. Ein marktgängiger Experte wird man so nicht, aber das macht nichts.
Denn Einsamkeit ist fester Bestandteil jeder Existenz. Und alles, was zum Leben gehört, verdient einen zweiten Blick. Ohne Wertung, und ohne voreilige Schlüsse zu ziehen.
Wer Einsamkeit als eine manchmal leichte, manchmal schwere Krankheit begreift, vergleichbar exzessivem Nikotinkonsums, muss im Netz weiterklicken.
Eine Provokation. Das Sprechen über Einsamkeit gleicht vermintem Gelände. Darüber schlendert keiner gemütlich, vielmehr versuchen alle, es schweigend schnellstmöglich zu verlassen. Das Eingeständnis der eigenen Einsamkeit bringt kaum jemand über die Lippen. Wenn man sie anderen mitteilt, dann mit gepresster Stimme. Wie ein Hilferuf, nicht wie die Feststellung einer Tatsache. Dabei wird jeder zum Schauspieler.
Auch der Zuschauer ist ratlos, was soll man darauf anderes antworten als irgendeine billige Beschwichtigung? Entweder schweigt man also oder versucht, dem anderen dessen Einsamkeit einfach abzuerkennen. Als ob das Problem damit gelöst wäre, zu sagen: »Das stimmt doch gar nicht, du bist gar nicht einsam.« Wobei die von sich besonders Überzeugten noch eine Variation von »Du hast doch mich« hinzufügen.
Völlig ausgeschlossen ist, seinem Gegenüber, vielleicht sogar ungefragt, Einsamkeit zu unterstellen. Eine Aussage wie »Du bist einsam« ist strengstens verboten, nicht einmal »Du wirkst auf mich einsam« ist gestattet. Zulässig ist höchstens, dies als Frage zu formulieren: »Bist du einsam?« – Wobei dann sofort Elvis Presley im Kopf zu wimmern beginnt: Are you lonesome tonight?
Merkwürdigerweise fällt jede Hemmung, sobald es um Abwesende geht. Schon der Verdacht reicht aus. Die alte Frau im Haus gegenüber, die jeden Tag stundenlang am Fenster sitzt, die muss einsam sein. Anders lässt sich das gar nicht erklären. Ferndiagnosen sind an der Tagesordnung. Und diese gehen umso leichter von den Lippen, desto weniger sie auf ihre Wahrheit überprüft werden können. Es fällt hundertmal leichter, jemand anderen als einsam zu bezeichnen als sich selbst.
Das Sprechen über Einsamkeit schafft Tatsachen. Ganz automatisch rückt es denjenigen, der mit ihr in Verbindung gebracht wird, ein Stück weiter weg. Allein schon, dass ich die alte Frau für einsam halte, macht sie mir noch fremder.
Dabei hätte das Bekenntnis zu ihr etwas ungemein Befreiendes. Wie ein Hilferuf, der Rettung erst ermöglicht.
Matthias arbeitet seit fünfundzwanzig Jahren mit unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen. Schon lange hat er akzeptiert, dass er von den meisten nie die ganze Wahrheit über die Gründe und den Verlauf ihrer Flucht erfahren wird. Zunächst aus Angst davor, dass jede Abweichung der von Schleppern eingeimpften Geschichte ihnen schaden könnte. Das Schweigen hält jedoch an, wenn keine Abschiebung mehr droht, dann aus Scham, Matthias nie die Wahrheit gesagt zu haben. Diese erzählen die Jungs niemandem, nicht einmal untereinander. Schlaflosigkeit und Alpträume sind die Folgen.
»Dann ist bestimmt auch die eigene Einsamkeit ein Tabu«, vermute ich. Doch das Gegenteil ist der Fall.
»Dass sie einsam sind, bekennen alle ganz ohne Hemmungen. Es ist eines der wenigen Dinge, die sie überhaupt sagen können, um zu zeigen, wie es in ihnen ausschaut. Über das, was ihnen geschehen ist, können sie nicht sprechen – wohl aber über diese Einsamkeit. Sie ist wie ein Ventil, um etwas loszuwerden. Und das, ohne sich zu verraten. In diesem Sinn ist die Einsamkeit geradezu ein Geschenk.«
Auf Expedition. In der Sicherheit der eigenen vier Wände lässt sich zwar etwas über die eigene Einsamkeit herausfinden, aber wenig über die anderer. Deswegen habe ich mich immer wieder auf Reisen begeben, ob aus Flucht vor dem Thema oder auf der Suche nach ihren Erscheinungsformen – wer weiß das schon? Abenteuer ins unermessliche Reich der Einsamkeit.
Anfang März 2014 flog ich nach Barcelona, ohne Begleitung. Es waren harte Tage. Ganz bewusst wollte ich mich dem Alleinsein mit seinen Gefährdungen aussetzen. Deswegen traf ich niemanden, fuhr stattdessen den ganzen Tag planlos in der Stadt herum und erlebte alle Höhenflüge und Niedergeschlagenheiten, die mit der Einsamkeit verbunden sind. In meiner Not blieb nur das Notizbuch, an das ich mich klammerte wie ein Alkoholiker an seine Flasche.
Die zweite Reise ging nach Konstanz an den Bodensee. Sie verlief schon viel weniger einsam. Eine Schulfreundin lebt dort seit einem Jahr, freilich war sie die erste Zeit gar nicht da. In ihrer Wohnung, so der Plan, würde ich jeden Tag zwei Manuskriptseiten schreiben. Das hielt ich genau drei Tage durch. Dann kam die übliche, von Selbstzweifeln angefüllte Zeit des ziellosen Herumsurfens und Chattens. Digitale statt analoge Einsamkeit also. Bis die Unzufriedenheit mit mir selbst groß genug war und ich wirklich mit der Arbeit begann. In dieser Zeit wurde mir klar, wie viel Einsamkeit mit Langeweile zu tun hat.
Danach fuhr ich nach Hamburg, Stockholm und Berlin, aber nie mehr fühlte ich mich so verlassen wie zu Beginn, und das aus ganz unterschiedlichen Gründen … Die letzte Reise führte schließlich, in einem verregneten September, in die Toskana, zusammen mit gut zwei Dutzend Bekannten. Als Einziger unfähig, die paar Meter bis zum Swimmingpool zu kommen, eine Woche beschränkt auf das Zimmer und die Terrasse davor. Das hätte mich in eine andere Einsamkeit als die des Alleinseins stoßen können, doch nun kam es anders …
Ein Buch über die Entdeckung eines Lebensgefühls kann nicht fertig werden. Es muss jeden Tag um- und weitergeschrieben werden, genauso beim Lesen. Die Einsamkeiten verändern dauernd ihre Gestalt, nehmen zu und ab, ihre Konturen lösen sich auf und verdichten sich wieder.
Sie lässt sich nicht sauber abgrenzen. Mal ist sie akuter Gefühlszustand, mal eine andauernde Lebenssituation und manchmal von beidem etwas.
All das macht es schwierig, sie zu fassen. Aber überall, wo Schwierigkeiten sind, ergibt sich auch etwas Neues. Beim Rütteln an Türen gehen manche in Räume auf, die man sonst nie betreten hätte.
Und wozu all dies?
Irgendwann möchte ich sagen können, ohne dass es klingt wie auswendig gelernt: Einsam, na und?
Zwei. Schöne neue alte Welt der Einsamkeit
Digitale Einsamkeit. Es war einmal, zu Beginn des Internet-Zeitalters, da gab es diese quietschenden und röchelnden Modems. Man musste dafür sogar das Telefon ausstöpseln, um eine Verbindung zur Welt gegen eine andere einzutauschen. Aber das Anschließen allein reichte nicht aus, um drin zu sein im Weltnetz. Das erforderte zudem Geduld und an manchen Tagen auch Glück. Und selbst wenn man verbunden war, konnte dieser dünne Faden jederzeit reißen. Eigentlich war es normal, immer wieder rauszufliegen. Einmal das Kabel berührt, und schon war man offline. Oder das Modem hatte einen schlechten Tag. Oder der Mitbewohner wollte unbedingt telefonieren … Die Minuten des Verbundenseins waren kostbar.
Heute suggerieren Technik und Internetanbieter, dass man rund um die Uhr online sein kann und sich über das Wie keine Gedanken mehr zu machen braucht. Doch deswegen ist man noch nicht zwangsläufig mit irgendwem oder irgendwas verbunden. Oder anders gesagt, eine Flatrate in alle Netze ist kein Garant gegen Einsamkeit. Sie ist inzwischen mehr eine Schwierigkeit in der Bedienung der Software als der Hardware. Das kann sich allerdings von einer Sekunde auf die andere ändern: Wenn eines der Geräte kaputt ist, sind die alten Zeiten sofort wieder da.
Dennoch hält sich hartnäckig die etwas altmodisch verstaubte Vorstellung, Einsamkeit wäre ein etwas prekäreres Alleinsein. Wie ein Bild von Caspar David Friedrich, nur schlimmer und ohne Sonnenuntergang. Aber das entspricht schon lange nicht mehr der Realität im Online-Zeitalter. Alle sind ununterbrochen erreichbar, angeschlossen an soziale Netze und so weiter. Und dennoch ist das Thema Einsamkeit so virulent wie nie zuvor. Paradoxerweise wurde es mit dem kollektiven Anschluss sogar ein Problem für alle und nicht mehr nur für die, die notgedrungen oder selbstgewählt einsam waren. Die Menschen sind vor der Einsamkeit davongelaufen, indem sie sich vernetzten, und glaubten, damit würde sie verschwinden. Doch nun hat uns die digitale Einsamkeit eingeholt. Was also tun?
Wenn einem nichts mehr einfällt, surft man durch die sozialen Netzwerke. Kann man aus Facebookprofilen die Einsamkeit ihrer Eigentümer herauslesen? Das gestaltet sich gar nicht so einfach. Jemand hat beispielsweise nur vierzehn »Freunde«. Das kann zum einen bedeuten, dass er wirklich nur vierzehn Bekannte hat, also analog gerade so an der Einsamkeit vorbeischrabbt. Wahrscheinlicher aber ist, dass er oder sie »nur zum Kucken« da ist. Oder dass der Profilinhaber nichts von sich preisgeben möchte, vor allem nicht der Datenkrake oder dem Überwachungsregime. Und mir erst recht nicht.
Bei Usern wie mir, mit mehr als fünfhundert »Freunden«, liegt der Verdacht schon viel näher, dass sie digital einsam sind. Denn diese Unmenge an Beziehungen kann man nicht ernsthaft pflegen. Warum tut man das also, wenn man nicht gerade etwas unter die Leute bringen möchte, Bücher beispielsweise? Kompensiert der Profilbesitzer seine Einsamkeit mit der Anzahl an Freunden? Ist das nur Ausdruck eines narzisstisch überbordenden Mitteilungsdranges oder ganz ordinärer Exhibitionismus? Alles scheint möglich. Aus Facebookprofilen irgendetwas ablesen zu wollen, ist Kaffeesatzleserei. Es wird immer nur das herauskommen, was einem passt.
Man erahnt aber, dass die sehr aktiven Facebooker besonders viel Aufmerksamkeit brauchen. Diese ist die digitale Währung der Einsamkeit. Wer seiner Empfindung nach nicht genug gelikt wird, ist anfälliger für sie. Objektive Kriterien für die digitale Einsamkeit gibt es nicht. Das Problem ist nicht mehr, mit genug Menschen verbunden zu sein, sondern von diesen auch angemessen wahrgenommen zu werden.
Die digitale Einsamkeit verfügt über eine leicht zu unterschätzende Macht. Alle bestärkenden Begegnungen eines Tages, die Plauderei im Café, die freundliche Verkäuferin im Supermarkt, die beruflichen Telefonate, alles verblasst anlässlich der lapidaren Ansage des E-Mail-Programms (vor ein paar Jahren noch der des Anrufbeantworters): keine neuen Nachrichten.
Wo mag das noch hinführen mit der Digitalisierung der Einsamkeit, außer dazu, dass alles noch diffuser wird, undurchschaubar, flirrender? Auf jeden Fall zu mehr Kommunikation um der Kommunikation willen – ein weiteres Symptom für gesteigerte Einsamkeit. Die Hardware gibt die Marschrichtung zu noch umfassenderer Vernetzung vor. Spätestens, wenn jeder Mensch (Einschränkung: jeder reiche Mensch in den Industriestaaten) einen Chip eingepflanzt bekommen hat, der ihn rund um die Uhr und die Welt online sein lässt, wenn also das Internet endgültig eine gleichwertige zweite Wirklichkeit geworden ist, wird Einsamkeit im Einzelnen verschwunden sein. Dann ist nicht mehr die Verbindungsqualität zur Welt entscheidend, sondern nur noch die zu sich selbst. Das ist die neue Sollbruchstelle. Genau hier wird sich die Einsamkeit festkrallen. Die epidemisch auftretenden Sinnkrisen werden von außen noch schwerer behandelbar sein. Und letztlich heißt das, dass man noch mehr Geld mit dem Versprechen wird machen können, den Einzelnen wieder in Kontakt mit dem Eigentlichen zu bringen – was auch immer das dann ist … Die Einsamkeit wird ein noch größeres Geschäftsfeld als heute. Was sich mit Partnerbörsen, Foren zu jedem, aber auch wirklich jedem Thema andeutet, wird zu einer Kakophonie anwachsen. Mit Dauergebrabbel versucht man das Schweigen mit sich zu füllen.
Keine Ahnung, ob das alles wirklich so eintreten wird. Letztlich dienen alle Spekulationen doch nur dazu, die Gegenwart besser zu verstehen, indem man bereits sichtbare Entwicklungen hochrechnet.
Die Reaktion bei allen dazu Befragten ist einhellig: Obwohl niemand gerne einsam ist, lehnen alle ein dauerndes Vernetztsein vehement ab. Ich habe keinen getroffen, ob alt oder jung, der sich mit vollem Herzen auf die Datenbrille freut. Und noch ein Widerspruch: Jeder lehnt sie für sich ab, obwohl alle gleichermaßen überzeugt sind, dass sie nicht nur kommen, sondern sich auch durchsetzen wird. »Aber ich mach da nicht mit.« Das wird deshalb so lautstark kundgetan, um zu übertönen, dass sich Verweigerung nicht durchhalten lassen wird. Die heute über Vierzigjährigen haben nur zu gut in Erinnerung, wie sie sich vor nicht allzu langer Zeit gegen das erste Handy und nur wenige Jahre später gegen das erste Smartphone gesperrt haben, um wenig später ganz selbstverständlich eines aus der Tasche zu ziehen …
Ein wesentlicher Anteil der Skepsis gegenüber neuen Technologien ist der Furcht vor der Einsamkeit geschuldet. Nämlich der Sorge, abgehängt zu werden, nicht mehr mitzukommen. Das Versprechen nach mehr Vernetzung wird als Bedrohung wahrgenommen. Was ist, wenn ich diese neuen Geräte nicht mehr bedienen kann? Und das, obwohl deren Bedienung angeblich immer einfacher wird. Die Anzahl der Knöpfe hat sich zwar drastisch reduziert, dennoch wäre vielen lieber, es würde nicht jedes halbe Jahr eine neue Smartphone-Generation zur Welt kommen.
Die Geschwindigkeit, mit der sich die Dinge entwickeln, erzeugt gerade bei manchen älteren Menschen eine Trotzhaltung. Sie fragen: Warum soll ich mich damit noch auseinandersetzen, mit einem neuen Computer, mit einem neuen Handy? Selbst die neue Kaffeemaschine bietet fünf Zubereitungsmöglichkeiten, wo man doch eigentlich nur eine Tasse Kaffee trinken möchte. Lieber bin ich nicht erreichbar. Lieber verstehe ich die Welt der Jungen nicht mehr. Lieber bleibe ich alleine. Dann lieber Tee statt Kaffee.
Der Kult um Kommunikationsgeräte speist sich aus dem schmerzhaft verdrängten Wissen, dass ein Handy nicht weniger einsam macht. Man konsumiert nur dagegen an. Dabei besteht der Verdacht, dass ein Großteil der Weltwirtschaft ohne diese Angst zusammenbrechen würde.
Das digitale Leben ist auf die Vermeidung von Störungen ausgerichtet. Denn jede einzelne zwingt einen, sich mit der unmittelbaren Gegenwart und damit auch den Menschen in dieser Gegenwart auseinanderzusetzen. Und sei es nur mit der Frauenstimme im Callcenter der Störungsstelle.
Lernt man heute jemand im Zug kennen, ist das eher die Ausnahme als die Regel. Und geschieht meist dann, wenn der auf offener Strecke stehen bleibt. Erst dann stöpselt man sich aus. Hilfsmittel, die eigene Anwesenheit auf ein Mindestmaß zu beschränken, gibt es ja genug. Wir sind alle nicht mehr gewöhnt, zu 100% irgendwo zu sein. Die digitale Aufmerksamkeit verteilt sich auf verschiedene Welten. Was einen auch vor Einsamkeit schützt, falls mal eine ausfällt. Blöd ist nur, wenn alle digitalen gleichzeitig schlappmachen. Dann fällt der Verbindungsaufbau ins Hier und Jetzt schwer.
Angeblich macht die nachwachsende Generation kaum mehr einen Unterschied zwischen analogen und digitalen Begegnungen. Treffen werden zunehmend überflüssig, solange man in jeder Lebenslage miteinander verbunden ist. Ich habe dafür vollstes Verständnis. Der Griff zum Handy ist weniger umständlich und zeitraubend, als den Bus zu erwischen. Der nach elf eh nicht mehr fährt … Da reicht es völlig, per WhatsApp miteinander verbunden zu sein.
Auch ich habe mit meiner Schulfreundin lieber stundenlang telefoniert, statt sie zu treffen. Doch meine Übergangsgeneration weiß nicht recht, ob sie noch analog oder schon digital einsam ist oder beides zusammen.
Die Alten sagen zu den Jungen: Könnt ihr nicht mal, während ihr im Bad seid, allein sein? Müsst ihr das Handy selbst unter die Dusche mitnehmen? Und die Jungen antworten: Habt ihr es immer noch nicht begriffen, wir sind immer ein bisschen allein, auch mit Flatrate. Außerdem duscht ihr auch manchmal zusammen.
Die Einsamkeit verschwindet ins Ich und wird damit weniger sichtbar. Das bedeutet aber auch, dass sie schwieriger von außen beherrschbar wird. Für den Einsamen wird es zunehmend unmöglich, sie überhaupt als Quelle des eigenen Unglücks festzumachen. Sie wird mehr und mehr zu einem Problem des Menschen mit sich selbst, nicht des Menschen mit anderen. Und es führt dazu, dass wir Älteren die Einsamkeit der Jungen nicht verstehen und diese unsere fast schon biedermeierlich finden. Dereinst werden sie sagen: Ihr konntet wenigstens etwas tun dagegen. Ihr konntet rausgehen und Freunde treffen und hoffen, dass die euch von eurer Einsamkeit befreien. Aber uns nimmt sie niemand ab, auch nicht unsere Freunde, die ja immer da sind, sie sind wie Satelliten auf einer anderen Umlaufbahn. Immer sichtbar und gleichzeitig immer weg. Und wir wissen nicht einmal, um welchen Planeten wir kreisen.
Die digitale Einsamkeit ist nicht messbar mit der Anzahl sozialer Kontakte wie die in früheren Tagen. Im Gegenteil, besonders gefährdet sind Menschen mit extrem vielen sozialen Kontakten. Gerade weil über Einsamkeit nicht gesprochen wird. Es gibt keinen wirksamen Schutz vor ihr: weder Geld noch eine Beziehung, weder Kinder noch ein Job. Selbst Ablenkung funktioniert nur bis zu einem gewissen Grad.
Jede Generation hat aber ihre eigene Einsamkeit. Nicht einmal über dieses elementare Lebensgefühl existiert ein Konsens. Sosehr ich das persönlich auch bedaure: Die Kinder von heute werden ihre eigenen Bücher über Einsamkeit schreiben und lesen müssen. – Falls diese dann noch das geeignete Medium sind.
Analoge Einsamkeit. Natürlich existieren neben den digitalen Verwerfungen die alten Einsamkeiten weiter: die alten Witwen hinter den Gardinen ihrer Fenster, die vernachlässigten Kinder, die Alkoholiker am Tresen. Ihnen ist noch nie leichtgefallen, neue Bindungen aufzubauen. Mit der Unverbindlichkeit von Facebook können sie nichts anfangen. Deswegen macht es ihnen nichts, auf dem Land zu wohnen oder in einer anonymen Mietskaserne am Rand der Stadt. Sie gehen selten aus, bleiben am Rand. Oftmals haben sie es sich in ihrer Einsamkeit gemütlich eingerichtet.
Lange Zeit wären sie nicht darauf gekommen, sich einsam zu fühlen. Der Übergang war fließend. Vielleicht sind sie es, seit ihnen der Partner abhanden gekommen ist. Durch eine Scheidung oder eine Krankheit. Die Phase des Übergangs, während der Trennung, während der Zeit der Pflege, war die intensivste der Beziehung, auch wenn sie schmerzhaft war. Seitdem ist alles grau. Sie haben fast alles auf diese Partnerschaft gesetzt. Die wenigen Freunde sind weggezogen oder haben keine Zeit. Und wenn man sich trifft, hat man bald nichts mehr zu reden.
Die analog Einsamen verreisen kaum, einerseits, weil sie es sich nicht leisten können (ja, Einsamkeit hat auch mit Geld zu tun!), andererseits weil sie nicht wissen, wohin. Sie haben Angst, dass die Einsamkeit in der Fremde schon auf sie wartet. Also bleiben sie lieber zu Hause. Das Unbekannte ist für sie keine Verlockung, sondern eine zusätzliche Bedrohung. Deswegen fallen ihnen viele Gründe ein, warum sie nicht wegfahren können. Die Welt ist ihnen suspekt geworden. Sie haben viel gehört über Betrug und Kriminalität. Das Fernsehen bestärkt sie, dass man niemandem trauen sollte. Sie merken nicht, dass ihnen das auch deswegen gesagt wird, damit sie das nächste Mal wieder einschalten.
Einsame vom alten Schlag hatten immer schon Schwierigkeiten, sich mitzuteilen. Sie leiden darunter, dass sie niemand zum Reden haben, und wissen nicht, wie sie das ändern sollten. Finden sie jemanden, klammern sie sich an diesen Menschen wie Ertrinkende. Und werden sie irgendwann abgeschüttelt, fühlen sie sich in ihrer Skepsis bestätigt.
Die analoge Einsamkeit kommt in den Medien kaum noch vor, weil sie nicht so telegen ist wie die digitale. Sie erinnert an einen leicht muffigen Heimatfilm. Oft ist sie einfach nur öde und wenig abwechslungsreich. Die digitale entspricht mehr dem Zeitgeist, sie ist glossentauglich für Frauen- wie für Männermagazine. Irgendwie cooler auf der Oberfläche, digital eben. Aber sie fühlt sich für den von ihr Betroffenen ähnlich an, mehr noch: Sie verschwimmen ineinander.
Einsam bleibt einsam. Analoge und digitale Einsamkeit sollte man nicht gegeneinander ausspielen, die eine nicht mit der anderen kleinreden. Nur an der Oberfläche sehen sie anders aus. Beide sind verschiedene Ausprägungen des gleichen Gefühlszustandes, nur anders zusammengesetzt.
Genauso gut könnte man sie die innere und die äußere Einsamkeit nennen. Die digitale ist die innere Einsamkeit. Man klopft bei sich an, und niemand macht einem auf. Bei der äußeren, der analogen Einsamkeit, klopft man bei anderen, doch niemand macht auf.
Der Blick von der digitalen auf die analoge und umgekehrt ist von gegenseitiger Herablassung geprägt. Die Analogen sagen: Was wollt ihr denn, ihr habt doch alles, seid ununterbrochen vernetzt, habt Freunde in der ganzen Welt. Einen Partner, Kinder – und jetzt wollt ihr auch noch einsam sein! Und die Digitalen sagen: Diese analoge Form der Einsamkeit ist mir zu selbstmitleidig. Sollen sie sich halt ein Handy mit Flatrate holen. Meine Freunde sind auch nicht vom Himmel gefallen. Da steckt einiges an Zeit, Energie und Aufmerksamkeit drin. Und trotzdem bin ich einsam, aber auf eine sozial verträgliche Weise.
Hinter dem gegenseitigen Misstrauen stecken oft auch soziale Unterschiede: Für die einen hat Einsamkeit durchaus etwas mit Geld zu tun, die anderen sehen keinen Zusammenhang, weil sie sich alle Jahre wieder ein neues iPhone leisten können.
Einsamkeit verbirgt sich, ganz im Gegensatz zum Alleinsein, das man sofort wahrnimmt. Die innere Einsamkeit findet dort statt, wo Menschen unter Menschen sind. Die äußere Einsamkeit kommt aus dem Alleinsein, weil man sich zurückgezogen hat oder keinen Zugang zu anderen findet. Oder weil äußere Umstände einen abschneiden. Sei es in einem Krankenzimmer oder auf einem verlassenen Dorf.
Alle tausend Gesichter der Einsamkeit, digitale als auch analoge, äußere und innere, treten in unterschiedlichen zeitlichen Ausdehnungen auf. Es gibt eine vorübergehende. Sie hält eine begrenzte, überschaubare Zeitspanne an, manchmal nur einen grausam langen Moment. Oft überfällt sie auf Feiern die Gastgeber oder mitgebrachte Gäste. Auf einmal sieht man die anderen reden, essen, trinken, posten, chatten und denkt sich: Was mache ich hier? Ich gehöre hier nicht her. Ich kenne niemanden, niemand will mich kennenlernen, und ich will niemanden kennenlernen. Manchmal gelingt es einem dennoch, in ein Gespräch abzutauchen. Doch an anderen Tagen ist nichts mehr zu retten. Selbstverständlich kann man sich noch eine halbe Stunde abquälen, um aus Höflichkeit mit dem schrulligen Onkel der Braut ein paar Takte zu sprechen oder zum zweitausendsten Mal Berlin und München miteinander zu vergleichen, aber innerlich hat man sich schon verabschiedet.
Die dauerhafte Einsamkeit ist ein Gefühl, das unter der Oberfläche präsent ist und immer wieder aufblitzt. Sie kann Monate, ja Jahre, oder nach dem Tod des Partners, ein ganzes restliches Leben bestehen.
Einsame Menschen sind einsam, so banal ist das, egal, ob sie mit oder ohne Internet-Anschluss leben. Den alten Einsamen gibt das Internet die Möglichkeit, sich in Foren oder Kommentaren wenigstens artikulieren zu können. Jemandem ihre Einsamkeit zu gestehen, sich zu ihr zu bekennen. Die globale Vernetzung hat auch die Einsamkeit ein Stück weit kommunizierbarer gemacht. Aber man muss in dem ständigen Gebrabbel schon sehr genau hinhören, um sie nicht als leeres Geschwätz abzutun.
Drei. Welten der Einsamkeit
Das Zeitalter der Einsamkeit haben aufgeregte Soziologen ausgerufen. Und das nun schon seit über hundert Jahren. Eigentlich, seit es Großstädte gibt. Die Metropole mit ihrer Anonymität! Die um sich greifende Oberflächlichkeit; der schwindende Zusammenhalt; der Verfall der Familie; die Entfremdung des Menschen von allem: von der Natur, von der Arbeit, von sich. Und nun auch noch das Internet mit all seinen Unverbindlichkeiten! … All dies muss zwangsläufig zu mehr Einsamkeit führen. Diese Behauptung lässt sich weder bestätigen noch widerlegen, entspricht aber einem diffusen Unbehagen an unserer Gegenwart.
Dabei wäre die Zunahme der Einsamkeit allein nicht das eigentliche Problem, wenn nicht noch etwas anderes dazugekommen wäre. »Nicht die Einsamkeit ist die Malaise unserer Zeit, sondern die mangelnde Einsamkeitsfähigkeit«, so der Philosoph Odo Marquard. Das zeige sich vor allem darin, dass die Angst vor der Einsamkeit das Fühlen und Handeln vieler Menschen bestimme.