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Packende Mörderjagd vor atemberaubender Naturkulisse. Mitten in einem Schneesturm verschwinden zwei junge Frauen in der Surselva spurlos. Kurz darauf werden sie leblos unterhalb des längsten Baumwipfelpfades der Welt – dem Senda dil Dragun – aufgefunden. Stürzten sich die beiden freiwillig in den Tod, oder wurde nachgeholfen? Die Spurensuche von Cumissari Matti Coray und seiner Kollegin Katja Kurtz gestaltet sich in der tief verschneiten Umgebung schwierig, und jeder Hinweis scheint in eine Sackgasse zu führen – bis die Ermittler Erschreckendes zutage fördern.
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Seitenzahl: 341
Regine Imholz, geboren 1958, arbeitete rund zwanzig Jahre lang bei der Flugsicherung Skyguide am Flughafen Zürich. Parallel dazu schrieb sie Reportagen für die »Zürichsee-Zeitung«, für die sie später als Journalistin/Redaktorin tätig war. Nach neun Jahren wagte sie den Sprung in die Selbstständigkeit und schrieb als freie Journalistin für diverse Magazine und Zeitungen. Seit drei Jahren hat sie sich als Autorin ausschließlich dem Schreiben von Krimis zugewandt. Sie lebt mit Mann und Hund am Walensee sowie in den Bündner Bergen, die für sie zu einer zweiten Heimat geworden sind.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2024 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: mauritius images/ClickAlps
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-209-3
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Für Katinka –sie ist die Hoffnung, die Zukunft,das Leben und die Liebe
Das war jetzt nicht so gelaufen wie geplant. Ganz und gar nicht. Frustriert ließ Cumissari Matti Coray den Blick über die im ganzen Wohnzimmer verteilten Kerzen schweifen. Abrupt stieß er den Stuhl zurück und pustete all die Flämmchen aus. Dann schnappte er sich sein bisher unangetastetes Weinglas und schenkte sich großzügig ein. Nach einem kräftigen Schluck starrte er verdrossen ins Cheminée, in dem die brennenden Buchenscheite knackten. Soeben hatte ihm seine Liebste mitgeteilt, dass sie vorläufig nicht nach Hause kommen könne, weil auf einem Bauernhof in Vals eine komplizierte Geburt bei einer Kuh anstand. Für Emilia hatte ihr Job als Tierärztin immer Vorrang gegenüber ihren eigenen Vergnügungen, und im Allgemeinen war das für Coray kein Problem. Auch er musste immer mal wieder alles stehen und liegen lassen, um an einen Tatort zu eilen. Aber heute war ein besonderer Tag: Sie waren am Morgen bei der Frauenärztin zur ersten Ultraschalluntersuchung gewesen. Und Coray, der in fast jeder Situation gelassene Fahnder der Kriminalpolizei Graubünden, war völlig von den Socken gewesen, als er zum ersten Mal den Herzschlag seines ungeborenen Kindes gehört und das kleine Wesen auf dem Bildschirm gesehen hatte. Er war dermaßen gerührt gewesen, dass er verstummt war, weil er seiner Stimme nicht mehr trauen konnte. Gebannt hatte er auf den Monitor gestarrt und gespürt, wie ein neues, unbekanntes Gefühl von ihm Besitz ergriff. Ein Gefühl, dem er hilflos ausgeliefert war.
Emilia hatte ihn lächelnd betrachtet und dabei fest seine Hand gehalten. Als Tierärztin hatte sie unzählige Schwangerschaften und Geburten begleitet. Für sie war das alles kein Wunder, sondern schlichte Biologie. Egal ob das nun eine Kuh, ein Pferd oder ein Mensch war. Sie freute sich zwar unbändig über ihre Schwangerschaft, machte jedoch keine große Sache daraus. Sie war erst in der zwölften Woche und lebte einfach so weiter wie bisher.
»Matti, sehe ich etwa plötzlich wie eine zerbrechliche Puppe aus?«, sagte sie, wenn er aus dem Haus stürzte, um ihr die Einkaufstasche abzunehmen, oder sie ängstlich musterte, wenn sie mit Juri herumtobte. Er fürchtete jedes Mal, dass der riesige schwarze Hund sie umwerfen und sie das Baby dabei verlieren könnte. Doch Emilia lachte ihn bloß aus und sagte ihm, er solle sich entspannen, sie spüre instinktiv, wann es zu viel werde.
»Merda!«, sagte er zu Juri gewandt. »Ich habe mir den Abend so schön vorgestellt.«
Das hatte der sonst eher nüchterne Coray tatsächlich. Und er hatte sich ganz schön ins Zeug gelegt. Im Dorf hatte er Käse, Brot und Bündnerfleisch besorgt, den Tisch vorbereitet und das Holz und die Kerzen angezündet. Weil Emilia derzeit keinen Alkohol trinken konnte, hatte er sich bei seiner Mutter sogar eine Wasserkaraffe mit silbernen Verzierungen ausgeborgt.
»Was ist denn in dich gefahren, bist du neuerdings unter die Romantiker gegangen?«, hatte seine Mamma gefragt und dabei belustigt ihre Stirn gekraust. Nun, das hatte er jetzt davon: Er saß allein am liebevoll gedeckten Tisch vor dem prasselnden Feuer und hatte miese Laune, während Emilia einmal mehr in einem Stall bei einer kalbenden Kuh ausharrte. Trotzig holte er eine seiner seltenen Zigaretten aus einer alten silbernen Schatulle und trat auf die schneebedeckte Terrasse hinaus. Wann, wenn nicht jetzt hatte er einen kleinen Trost verdient? Sinnend blickte er auf die kahlen, in der Dunkelheit nur zu ahnenden Äste der Büsche, an denen sich jetzt – Mitte Februar – noch lange keine Knospen zeigen würden. Juri nahm die Gelegenheit wahr und flitzte in den Garten hinaus, wo er sich begeistert im Schnee wälzte. Coray musste lachen, als er die Grunzlaute hörte, die Juri voller Wohlbehagen ausstieß. Er überlegte, ob er sich zusammen mit seinem Vierbeiner in den Schnee werfen sollte, als er im Wohnzimmer das Handy läuten hörte. In der Hoffnung, dass es Emilia war, die ihm mitteilen wollte, dass das Kalb da und sie auf dem Weg nach Hause war, sprintete er zum Tisch und schnappte sich das Telefon. Aber es war nicht Emilia, sondern seine Kollegin Katja Kurtz.
»Sag mir bloß nicht, dass jemand ermordet worden ist«, sagte er verdrossen.
»Was ist denn mit dir los, Matti, hast du schlecht gegessen?«
Statt einer Antwort schnaubte er ungehalten.
»Und nein, es ist niemand ermordet worden, es geht um eine Vermisstenanzeige«, sagte Kurtz ungerührt.
»Was haben wir damit zu tun?«
»Die Vermisste ist die Tochter von Oskar Candinas.«
Einen Moment lang herrschte Funkstille.
»Du meinst jetzt aber nicht …«
»Doch, genau das meine ich. Es geht um Fanny, die siebzehnjährige Tochter unseres Superbankers aus Flims.«
»Merda! Gut, ich komme. Bist du schon unterwegs?«
»Ja, ich bin auf dem Weg zu seiner Villa. Ich schicke dir die Koordinaten aufs Handy. Wir treffen uns dort.«
»Okay, ich brauche eine knappe halbe Stunde.«
Rasch überprüfte er, ob die Scheibe des Cheminées sicher geschlossen war, und griff nach einem letzten Blick in das Wohnzimmer und in die Küche nach seiner dick gefütterten Winterjacke. Juri hatte schnell kapiert, dass die Party zu zweit vorbei war, und schlitterte voller Tatendrang über das Parkett zur Haustür. Zusammen traten sie in die Winternacht hinaus, und Coray öffnete die Hintertür seines alten Jeeps. Lautlos sprang der Neufundländer-Labrador-Mischling ins Auto, direkt in seine warm ausgepolsterte Hundebox. Vorsichtig manövrierte Coray den Wagen aus dem Carport heraus auf die Quartiersstraße. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es nach zweiundzwanzig Uhr war. Es hatte wieder zu schneien begonnen, und die Sicht war miserabel. Er pustete in die Hände, die Luft war eiskalt, und es würde dauern, bis die Heizung den Innenraum aufgewärmt hatte. Angespannt fuhr er auf die Via Principala und steuerte von seinem Wohnort Brigels hinunter Richtung Tal.
Auf der Hauptstraße war die Fahrbahn frisch geräumt, und er seufzte erleichtert auf. Seit einem Erlebnis auf dem Flüela hasste er es, auf schneebedeckten Straßen zu fahren. Nur höchst ungern dachte er an den Schreckensmoment zurück, als er kurz nach der Passhöhe die Kontrolle auf der spiegelglatten Fahrbahn verloren hatte und hilflos miterleben musste, wie sein Auto über die Gegenfahrbahn geschlittert und den Abhang hinuntergerauscht war. Neben ihm war seine damalige Freundin gesessen und hinten drin der damals junge Juri mitgefahren. Nachdem das Auto über die Fahrbahn gerutscht war, hatte es sich einen Moment lang quer zum Abhang gestellt, so als überlegte es sich, wie es da wohl am besten runterkäme. Im Innenraum hatte entsetztes Schweigen geherrscht, und er war sich einen Atemzug lang sicher gewesen, dass das Auto sich überschlagen würde. Seine größte Sorge hatte dabei seinem Hund gegolten. Würde Juri so etwas lebend überstehen? Schließlich war er nicht wie die Menschen mit einem Gurt gesichert. Nach einem endlos scheinenden Augenblick hatte sich die Front mit einem Laut, der ganz nach einem Seufzen tönte, nach vorn bewegt, und sie waren wie auf Kufen den Hang hinuntergeschlittelt. Durch den vielen Neuschnee fühlte es sich an, als surften sie über ein Wolkenmeer. Die Polizei war gekommen, und ein Kranwagen hatte das Auto bergen müssen. Aber es war nichts passiert, niemand war verletzt worden, und der Wagen hatte nicht einen einzigen Kratzer abbekommen.
Das Erlebnis war für Coray immer noch ein bisschen unwirklich, und er hatte es erfolgreich verdrängt. Doch so wie jetzt, wenn sich die Straßenverhältnisse von einem Moment auf den anderen dramatisch verschlimmern konnten, dann schien ihm, als klopfe ihm ein Schutzengel auf die Schulter und hebe mahnend den Zeigfinger.
Seine Scheinwerfer konnten das Schneetreiben kaum durchdringen, und er atmete tief durch, als er Dardin und Danis durchquert und endlich auf der Oberalpstraße angekommen war. Während er konzentriert durch die tanzenden Flocken fuhr, forschte er in seinem Hirn nach Informationen über Oskar Candinas.
Es gab wohl niemanden im Bündnerland – vielleicht in der ganzen Schweiz –, dem der Name Oskar Candinas kein Begriff war. Er war in Vals aufgewachsen und als sehr junger Mann der Enge seines Heimatdorfes entflohen. Nichts hatte ihn damals halten können, schon gar nicht die Bemühungen seiner Eltern, die wollten, dass er den Betrieb übernahm, den sie mühsam und unter großen persönlichen Entbehrungen aufgebaut hatten. Doch der junge Candinas hegte andere Vorstellungen, als sich um das Transportgeschäft in diesem »Kuhkaff«, wie er es nannte, zu kümmern. Seine Zukunftsträume bewegten sich in anderen Sphären. Er wollte Geld verdienen – viel Geld. Und er wollte Macht besitzen, Macht über Vermögen, Macht über Menschen und Macht über sein eigenes Schicksal.
Kaum hatte er die Schule beendet, war er nach Zürich und später nach London gezogen und hatte das Bankwesen von der Pike auf erlernt. Sein Plan war aufgegangen, er war schnell erfolgreich geworden und hatte sein Leben auf den internationalen Bühnen der Finanzwelt genossen. Er hatte erst spät in seinen Vierzigern geheiratet, und seine junge Frau Lydia hatte eine Tochter zur Welt gebracht. Dann hatte ein Skandal den Höhenflug des erfolgsverwöhnten Bankers abrupt beendet. Die sechzehnjährige Tochter eines Geschäftsfreundes hatte ihn wegen sexueller Übergriffe angezeigt. Einen Prozess hatte Candinas zwar mit Hilfe von viel Geld verhindern können, aber sein Ruf war dahin. Fassungslos musste er erleben, wie Türen sich schlossen, »Freunde« ihn nicht mehr kannten und er zum Paria geworden war. Er musste einsehen, dass dieses Leben vorbei war. Da besann er sich auf seine alte Heimat.
Wahrscheinlich dachte Candinas, dass er sich in der Surselva noch immer von der gemeinen Masse abheben würde, überlegte Coray, während er sich seinen Weg durch das Schneegestöber suchte.
Oskar Candinas war mit Frau und Tochter in eine Villa in Flims Waldhaus gezogen, hatte in Chur eine Privatbank eröffnet und sich Stück für Stück wieder einen Platz in der Finanzwelt erarbeitet. Allerdings war sein jetziges Leben bei Weitem nicht mehr so glamourös wie früher. Sein Radius beschränkte sich auf das Bündnerland, wo man eher geneigt war, ihm zu verzeihen. Er war trotz allem einer von ihnen. Und als er zurückgekommen war, hatte er – sozusagen als Eintrittsgeschenk – einen neuen Skilift für den Übungshang der Kinder finanziert.
»Schleimer«, murmelte Coray. Er freute sich schon auf die Reaktion von Kurtz, die kannte keine Gnade, wenn es um »gute Familien« ging. Wenn jemand erwähnte, der oder die komme aus einer »guten Familie«, fiel sie ihm hitzig ins Wort.
»Was bedeutet dieser Ausdruck?«, fragte sie jeweils. »Meinst du jetzt ›reiche Familie‹ oder was genau?«
Die Angesprochenen verstummten meist perplex und schauten Kurtz leicht verstört an. Die meisten wussten auch nicht so recht, was sie antworten sollten. Katja Kurtz konnte es nicht ausstehen, wenn Reichtum so viel Eindruck auf die Leute machte, dass sie nur noch den äußeren Glanz wahrnahmen und nicht den Menschen. Sie ließ sich weder von Geld noch von Macht blenden – und schon gar nicht einschüchtern. Genau das war einer der Gründe, warum sie eine so großartige Polizistin war. Während Coray über sehr viel Einfühlungsvermögen verfügte, verschonte seine achtundzwanzigjährige Kollegin niemanden mit ihrem erbarmungslosen Urteil. Sie mussten good cop, bad cop gar nicht spielen, ihre Rollen ergaben sich von selbst.
Coray hatte trotz Schneetreiben, aber dank seines Navigationsgerätes die angegebene Adresse erreicht. Er brauchte sich um eine Parkmöglichkeit keine Gedanken zu machen – der Vorplatz vor dem Anwesen bot Platz für einen ganzen Fuhrpark. Kurtz wartete bereits in einem Dienstwagen. Als sie ihn kommen sah, stieg sie aus und kam mit wippendem Rossschwanz zu seinem Auto. Statt ihn zu begrüßen, stapfte sie zielstrebig auf die Hecktür zu und öffnete sie. Noch bevor sie ein Wort sagen konnte, war Juri begeistert über sie hergefallen und mit einem Satz aus dem Jeep gesprungen. Lächelnd sah Coray zu, wie die beiden im Schnee miteinander rangen. Der Riesenhund brauchte nicht lange, um Kurtz umzuwerfen und mit vergnügtem Bellen in die Schneefontänen zu springen, mit denen sie ihn bewarf.
Wie zwei Goofen, dachte er kopfschüttelnd. Bei Juri vergaß Kurtz jegliche Zurückhaltung. Die zwei liebten sich bedingungslos, und in ihren Augen konnte Juri nichts falsch machen. Ihm verzieh sie alles, während sie den Menschen gegenüber kompromisslos urteilte. Voller Schnee auf Kleidung, Haar und selbst im Gesicht, schickte sie Juri wieder in seine Box, ging um das Auto herum, öffnete die Beifahrertür und setzte sich zu Coray.
»Wie schön, dass du dich an mich erinnerst«, sagte er gespielt beleidigt und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Natürlich, du bist doch der Typ, der Juri herumchauffiert«, antwortete sie, ohne mit der Wimper zu zucken.
Dann brachen sie beide in Lachen aus.
»Also, bevor wir jetzt da reingehen, was ist passiert?«, fragte er, als sie sich von ihrem Heiterkeitsausbruch erholt hatten.
»Ich weiß nicht mehr, als dass Fanny nicht wie abgesprochen nach Hause gekommen ist, die Eltern jetzt Panik schieben und darauf bestehen, dass sich die Polizei darum kümmert.«
»Ich bitte dich. Sie ist gerade mal seit ein paar Stunden zu spät dran, und wir von der Kriminalpolizei sollen bereits Nachforschungen anstellen? Die spinnen doch.«
»Die Anweisung kommt von ziemlich weit oben, du weißt, wie das läuft, wenn es um die Cervelat-Prominenz geht.«
Coray schnaubte in die Hände, die im stillstehenden Auto bereits wieder kalt wurden.
»Okay, dann lass uns reingehen und uns die Geschichte anhören.«
Sie stiegen aus dem Wagen und gingen auf das Haus zu. Wobei Haus nicht die richtige Bezeichnung war für das Anwesen, das heimelig beleuchtet vor ihnen lag.
Aber es war auch ganz anders, als Coray es erwartet hatte: Es war ein wunderschönes, altes, liebevoll renoviertes Gebäude. Ein Maissenhaus mit zwei angebauten kleineren Gebäuden. Eines beherbergte die Garage und das andere vielleicht ein Gästehaus, mutmaßte er. Das Ganze stand auf einem riesigen Grundstück, so wie es früher üblich und heutzutage für die meisten Leute nicht mehr bezahlbar war.
»Ist ja gar kein Klotzkasten«, sagte Kurtz und sprach damit seine Gedanken aus. »Passt gar nicht zu dem eitlen Typ und seiner aufgepimpten Tusse.«
Strafend sah er sie an und schüttelte den Kopf. »Das weißt du doch gar nicht. Du hast mal wieder Vorurteile, nur weil sie in der Bündner Schickeria verkehren.«
»Ich habe ein Recht auf meine Vorurteile.« Sie streckte trotzig ihr Kinn vor und stapfte auf die Haustür zu.
Er musste sich beeilen, sie einzuholen, bevor sie entschlossen die Klingel betätigte.
Keine drei Sekunden vergingen, und die Tür wurde so heftig aufgerissen, dass es durch den entstandenen Luftzug einen ganzen Schwall Schnee ins Hausinnere fegte. Im Türrahmen stand eine große, schlanke Frau in einer eleganten cremefarbenen Seidenbluse, schwarzen weit geschnittenen Hosen und schwarzen Samtballerinas mit einer Art Pompon aus Federn oder Fell. Coray bemerkte, wie seine Kollegin fasziniert auf das fluffige Accessoire starrte.
Lydia Candinas hielt sich nicht mit Begrüßungsworten auf. Sie packte Coray am Jackenärmel und zog ihn mit überraschend viel Kraft in den Flur. Dabei war es ihr egal, wie viel Schnee er an seinen Schuhen mit hineinbrachte.
»Hören Sie, meine Tochter ist seit Stunden verschwunden. Sie müssen sofort etwas unternehmen, einen Suchtrupp losschicken, Helikopter einsetzen, Suchhunde …«
»Bitte, Frau Candinas, jetzt beruhigen Sie sich erst einmal«, sagte Coray und betrat zusammen mit Kurtz das Wohnzimmer. Den Mittelpunkt des mit rustikalen Holzdielen ausgelegten Raums nahm ein aus schwarzem Stein gemauertes Cheminée ein, in dem vergnügt die Flammen tanzten. Darum herum gruppiert war eine sandfarbene weiche Polstergruppe mit unzähligen kuschligen grauen Kissen. Auf dem hellen modernen Clubtisch stapelten sich Kochbücher, Zeitschriften und Zeitungen. All das zusammen ergab ein gemütliches, einladendes Ambiente. Aus einem der tiefen Polster erhob sich eine Gestalt und trat auf sie zu.
»Guten Abend, ich bin Oskar Candinas«, sagte der große grauhaarige Mann und schüttelte ihnen beiden die Hand.
Der Herr des Hauses war viel legerer gekleidet als seine Frau. Er trug ausgebleichte Jeans und einen braunen Kaschmirpullover. An den Füßen hatte er Pantoffeln, die ihre beste Zeit schon länger hinter sich hatten. Die Haare waren kurz rasiert, und er trug eine unauffällige Brille mit dunklem Gestell. Sein Händedruck war fest und der Blick aus den auffällig hellblauen Augen sympathisch.
Coray stellte sich und seine Kollegin vor. Dabei bemerkte er, wie zappelig Lydia Candinas war. Noch bevor er den Satz zu Ende sprechen konnte, fiel sie ihm ins Wort. Sie wiederholte ihre Forderungen und redete sich dabei richtig in Rage. Coray kam nicht umhin, ihre Schönheit zu bewundern. Unter dem dichten schwarzen Pony sprühten zornige Funken aus den smaragdgrünen, perfekt geschminkten Augen.
»So, jetzt ist gut, Frau Candinas. Jetzt setzen wir uns alle mal hin, und Sie erzählen alles schön der Reihe nach«, schnitt ihr Kurtz so bestimmt das Wort ab, dass sie tatsächlich abrupt verstummte und die karminrot bemalten Lippen wütend aufeinanderpresste.
Kurtz wandte sich Oskar Candinas zu, der seine Frau am Handgelenk gepackt und sie genötigt hatte, sich zu setzen.
»Also, warum sind Sie dermaßen in Sorge, nur weil Ihre Tochter noch nicht zu Hause ist? Fanny ist ein Teenager, da kommt das doch sicher öfter mal vor, dass sie die Zeit vergisst, oder etwa nicht?«
Lydia Candinas holte Luft, doch ihr Mann bedeutete ihr mit einer resoluten Handbewegung, dass sie schweigen solle. Ein wütender Blick traf ihn, doch er beachtete seine Frau nicht weiter.
»Das ist es ja«, antwortete er schließlich. »Fanny mag zwar ein wildes Mädchen sein, aber sie ist immer pünktlich. Immer. Und heute hatten wir abgemacht, dass sie um sieben Uhr zu Hause ist, denn heute ist unser Fondueabend. Einmal im Monat machen wir das, und Fanny ist verrückt nach Fondue. Es ist auch so eine Art Familienrat. Wenn wir etwas Wichtiges zu besprechen haben, tun wir das bei dieser Gelegenheit. Sie würde diesen Abend niemals verpassen. Keiner von uns würde das.«
»Ist es noch nie vorgekommen, dass Ihre Tochter zu spät von einer Party oder vom Sport oder aus der Schule kam?«, hakte Coray nach.
»Doch, natürlich kann sie sich mal verspäten, aber dann sagt sie uns Bescheid. Ausnahmslos«, bekräftigte Candinas. »Wir lassen ihr sehr große Freiheiten, aber in dieser Frage sind wir strikt. Es ist ein simpler Deal: Sie hält sich an diese eine Abmachung, dafür lassen wir sie an der langen Leine.«
Du meine Güte, dachte Coray, das tönt ja wie in der Hundeschule. Aber es stimmte, auch Juri hatte all seine Freiheiten nur, weil er gelernt hatte zu gehorchen und Coray sich blind auf seinen Vierbeiner verlassen konnte.
»Was hat Fanny denn heute gemacht?«, fragte Kurtz und wandte sich Lydia Candinas zu.
»Sie ist zur Schule gegangen, hatte anschließend Kletterunterricht und sollte dann nach Hause kommen.«
»Wo geht sie in die Schule?«
»Sie besucht das Privatgymnasium Plaun in Chur. Ich habe ihr immer wieder angeboten, sie im Auto mitzunehmen, das würde ihr viel Zeit sparen. Aber das will sie nicht. Sie macht lieber den Umweg mit dem Postauto nach Ilanz und von dort mit dem Zug nach Chur.«
Candinas schüttelte verständnislos den Kopf und fügte an, dass seine Tochter diesen Weg nur auf sich nehme, um im Zug mit ihren Freundinnen tratschen zu können.
»Ach, ich bitte dich, Oskar, das ist doch ganz normal in diesem Alter«, sagte Lydia Candinas.
»Und heute war das auch so? Fanny ist zur gleichen Zeit wie sonst aus dem Haus? Und sie war nicht irgendwie aufgeregt oder anders als sonst?«, bohrte Kurtz nach.
»Nein, sie hat gefrühstückt wie immer und in der üblichen Geheimsprache von Teenagern mit ihrer besten Freundin telefoniert, als sie aus dem Haus eilte«, antwortete Lydia Candinas.
»Sie hatte ihr bestimmt unglaublich Wichtiges mitzuteilen, schließlich haben sie sich seit gestern Abend nicht mehr gesehen.« Das kam unüberhörbar ironisch aus Oskar Candinas’ Mund.
»Beste Freundin?«, horchte Coray auf. »Wer ist das?«
»Sie heißt Flora und geht mit Fanny in dieselbe Klasse. Die beiden sind seit Jahren unzertrennlich«, sagte Lydia Candinas. »Ich habe auch sie sicher schon ein Dutzend Mal angerufen, aber sie geht weder ran noch ruft sie zurück. Und das passt überhaupt nicht zusammen. Manchmal ist sie bei unseren Fondueabenden dabei. Heute war sie ebenfalls eingeladen, und ich weiß, dass sie sich darauf gefreut hat. Es war abgemacht, dass sie hier bei uns übernachten würde.«
Hilflos brach sie ab und zerknüllte einen bunten Seidenschal zwischen ihren bebenden Händen.
Bis jetzt war Coray davon ausgegangen, dass sie eine verwöhnte Göre suchten, die nicht wirklich vermisst wurde, sondern einfach beschlossen hatte, noch irgendwo mit Freunden hinzugehen, oder was Teenager sonst so zu tun pflegten. Nun kamen ihm ernsthafte Zweifel an dieser Version. Das alles war nicht so, wie er es erwartet hatte. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn, und er schaute unauffällig zu seiner Kollegin hinüber. Sie hatte ihre Stirn in Falten gelegt und schien angestrengt nachzudenken.
Katja geht es auch so, registrierte er, sie spürt die Bedrohung ebenfalls. Ein schneller Blick aus ihren Augen bestätigte ihm, dass auch sie sich ernsthafte Sorgen zu machen begann.
»Sie sagten etwas von Klettern«, fuhr Kurtz fort, ohne sich gegenüber dem Paar ihr Unbehagen anmerken zu lassen. »Meinten Sie damit, dass Fanny in einen Kurs geht?«
»Sie ist verrückt, was das Klettern angeht«, antwortete Candinas kopfschüttelnd. »Mit Flo – so nennen wir Flora – hat sie gar waghalsige Touren gemacht. Selbstredend ohne Begleitung. Wir haben erst jeweils im Nachhinein davon erfahren, wenn sie uns strahlend ihre Selfies von einer Bergspitze gezeigt haben. Und nein, es war nie gefährlich, da wären auch Kinder raufgekommen, haben sie uns jedes Mal grinsend versichert. Da haben wir uns gedacht, wenn sie schon in die Berge wollen, dann wenigstens mit den bestmöglichen Voraussetzungen. Wir haben beide in einen Weiterbildungskurs für Technik und Sicherheit geschickt.«
»Sie meinen, im Kletterzentrum ›Gian e Giachen‹ in Chur?«, fragte Kurtz.
Coray wusste, dass sie selbst dort zum Bouldern ging. Denn auch für Kurtz konnte es nicht hoch genug, weit genug und vor allem nicht schnell genug gehen. Manchmal standen ihm die Haare zu Berge, wenn sie ihn auf ihrer rasanten Maschine mit einer lässigen Handbewegung überholte und sich so steil in die nächste Kurve legte, dass er erwartete, sie jeden Moment zerschmettert vor sich auf der Fahrbahn liegen zu sehen. Er sagte ihr immer wieder, dass sie ihren Schutzengel irgendwann überstrapazieren werde. Und wusste schon im Voraus, dass sie seine Bedenken mit einem Lachen abtun würde. Nein, seine Kollegin war keine, die sich Sorgen machte. Einen Moment lang dachte er an die Nacht vor ein paar Monaten zurück. Da hätte er sie beinahe verloren. Und es wäre seine Schuld gewesen. Ihr Leben hatte nicht an einem Faden, aber an einem Seil gehangen. Damals hatte er sie retten können. Doch er machte sich nichts vor: Katja Kurtz würde auch weiterhin auf der Überholspur des Lebens unterwegs sein. Und es gab nichts, was er dagegen tun konnte.
»Ja, genau«, unterbrach Candinas seinen geistigen Abstecher in die Vergangenheit. »Aber die wissen nichts, da haben wir bereits angerufen. Die Mädchen waren dort und haben das Zentrum um sechs Uhr verlassen.«
»Und bei diesem Schneesturm sind sie sicher nicht noch irgendwohin gegangen«, ergänzte Lydia Candinas. »Man sieht ja kaum die Hand vor den Augen.«
Da war sich Coray nun nicht so sicher. So wie er Fanny aus den Erklärungen ihrer Eltern einschätzte, war so ein kleiner Blizzard genau nach ihrem Geschmack.
»Wie würden Sie Fannys Freundin Flora denn beschreiben?«, fragte er.
»Oh, Flo ist viel vernünftiger«, beteuerte Lydia Candinas. »Sie überlegt, bevor sie redet, und denkt, bevor sie handelt. Ganz anders als unsere Tochter, die einfach alles ausprobieren muss. Darum sind wir ja auch so froh, dass die beiden immer zusammen unterwegs sind. Dann passt wenigstens Flo auf Fanny auf.«
Mit einem kurzen Blick verständigten sich Coray und Kurtz untereinander. Sie mussten der Geschichte nachgehen. Da stimmte tatsächlich etwas nicht. Nachdem sie sich alle relevanten Telefonnummern hatten geben lassen, versicherten sie den besorgten Eltern, dass sie die Suche nach ihrer Tochter sofort in die Wege leiten würden.
Als sie in die Dunkelheit hinaustraten, hatte es aufgehört zu schneien. Sterne blinkten ungerührt von den Nöten der Menschen zwischen Wolkenfetzen hervor, und das kalte Licht des Mondes überzog den Schnee mit einem matten Schimmer. Es war merklich wärmer geworden.
Eigentlich ist es eine wunderschöne Nacht in den Bergen, dachte Coray. Und doch spürte er einen dunklen Schatten über seine Seele kriechen. Eine kalte Hand, die nach ihm griff. Er erschauerte und schickte die finsteren Vorahnungen entschieden zum Teufel.
»Das gefällt mir nicht.«
Der Blick, mit dem Kurtz ihn ansah, verstärkte seine Beklommenheit.
»Wir lassen Fannys Handy orten. Und auch das ihrer Freundin.«
»Okay. Fahren wir auf den Posten nach Chur und organisieren dort alles. Aber vorher lassen wir noch schnell Juri raus.«
Auch wenn unterdessen Mitternacht vorbei war – für einen Spaziergang war der sechsjährige Hund immer zu haben. Als Coray die Tür öffnete, sprang er in einem eleganten Bogen hinaus und schnüffelte interessiert einer unsichtbaren Spur nach. Nachdem er sein Geschäft erledigt hatte, kehrte er um und beeilte sich, zurück in seine warme Höhle zu kommen.
Wie immer, wenn es pressierte, schwang sich Kurtz entschlossen hinter das Steuer. In solchen Momenten konnte sie die besonnene Fahrweise ihres Kollegen nicht ertragen, dann wollte sie Gas geben.
»Okay«, sagte Coray, »das heißt dann wohl, dass dein Wagen hierbleibt. Ich sag Willi Bescheid, der kann ihn morgen früh nach Chur mitnehmen.«
Willi war ein Kollege, der in Flims wohnte und normalerweise mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fuhr.
»Das wird ihm gefallen, mit dem Dienstwagen zu fahren. Wahrscheinlich wird er mit Sirene und Blaulicht durch die Gegend brettern.« Verwegen trat sie aufs Gaspedal und schlitterte spielerisch über den Platz.
»Beherrsch dich. Ich will nicht jung sterben, nur weil du ein Geschwindigkeitsjunkie bist.«
»Nun ja, erstens bist du mit deinen über vierzig Jahren auch nicht mehr der Jüngste und zweitens: Hast du dir auch nur ein Mal ein Haar gekrümmt als mein Beifahrer?«
Boshaft grinste sie zu ihm hinüber. Sie wusste genau, dass sie ihn mit seinem Alter foppen konnte.
»Frechdachs, fahr los.«
Der Straßendienst hatte ganze Arbeit geleistet. Trotz der nächtlichen Stunde war die Fahrbahn frisch vom Schnee geräumt, und das Salzen sowie die Temperatur knapp über null hatten verhindert, dass sie gefrieren konnte. Trotzdem fuhr Kurtz in für ihre Verhältnisse gemäßigtem Tempo. Coray seufzte erleichtert auf. Auf dem Weg nach Chur hinunter griff er in seine Tasche, um die Kollegen, die Nachtdienst schoben, zu informieren. In diesem Moment läutete sein Handy.
»Das ist sicher Emilia«, sagte er und warf einen Blick auf das Display. Aber es war nicht seine Lebensgefährtin. Es war seine Chefin. Überrascht schaute er zu seiner Kollegin. Wenn Major Annabelle Cathomas um diese Zeit anrief, war das kein gutes Omen. Mit leiser Befürchtung nahm er den Anruf entgegen. Wortlos hörte er zu, seine Augen weiteten sich ungläubig. Schließlich ließ er das Handy sinken.
»Was ist los? Ist Fanny aufgetaucht?«
»Sie haben zwei tote junge Frauen gefunden. Direkt unterhalb des Baumwipfelpfads. Du musst umkehren, wir fahren sofort hin.«
Schweigend raste Kurtz die Strecke Richtung Flims wieder hinauf. Für den Weg von Tamins benötigten sie keine Viertelstunde, aber für Coray fühlte es sich an wie eine halbe Ewigkeit. Mit verknoteten Magennerven hielt er sich krampfhaft am Türgriff fest und starrte gebannt auf die Straße vor ihnen. Jetzt bloß kein Hindernis auf der Straße, betete er stumm. Kein Hirsch, kein Wolf, kein Auto und schon gar kein Mensch. Er wusste, dass seine Kollegin eine sichere Fahrerin war, aber wenn sie jetzt abrupt bremsen müsste – nicht auszudenken.
»Atmen, Matti, atmen. Keine Angst, ich habe alles im Griff.«
»Na, dann ist ja gut. Warum nur glaube ich dir das nicht?« Die letzten Worte hatte er vor sich hin gemurmelt. Als sie das Portal des Tunnels Crap da Flem erreicht hatten, jagte sie den Wagen in halsbrecherischem Tempo über die knapp drei Kilometer trockene Fahrbahn im Inneren. Coray schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, war das Tunnelende direkt vor ihm, und Kurtz drosselte die Geschwindigkeit. Nicht lange und der Kreisel mit der Tankstelle, wo er sich schon so manches Sandwich geholt hatte, kam in Sicht. Vorsichtig steuerte Kurtz den Wagen an der ersten Ausfahrt auf die Via Murschetg Richtung Rocksresort. Die moderne, luxuriöse Überbauung aus grauen Steinquadern hatte Coray in ihrer Schlichtheit schon immer gefallen. Doch heute hatte er keinen Blick für die Bauten. Vor dem »Laaxerhof« bremsten sie, wobei sich Kurtz aus Rücksicht auf Juri beherrschen konnte und einen einigermaßen sanften Stopp hinlegte.
»Du bleibst hier, Juri«, sagte Coray in den hinteren Teil des Wagens. Der Hund hob nur müde die Lider. Er wusste aus Erfahrung, wenn bei seinen Menschen eine solche Angespanntheit herrschte, war seine Anwesenheit nicht gefragt. Er rollte sich zusammen und schloss mit einem vernehmlichen Seufzer die Augen. Coray und Kurtz ließen das Auto stehen und spurteten los Richtung Baumwipfelpfad, der direkt hinter dem Resort lag. Inmitten der Wohnblöcke war ein Platz, der von teuren Geschäften gesäumt war. Er sollte wohl so was wie einen Dorfplatz imitieren. Doch um diese Zeit war kein Mensch unterwegs, nur in einzelnen Wohnungen brannte noch Licht.
Im Laufschritt begingen sie die Holzbrücke, die über einen kleinen, fast vollständig von Schnee überdeckten Bach führte. Vor ihnen erhob sich der siebenunddreißig Meter hohe Turm Murschetg. Durch ihn hinauf gelangte man auf den Baumwipfelpfad. Eine kühne Konstruktion, die sich wie ein riesiger Zapfenzieher in den Nachthimmel schraubte. In diesem Schneetreiben sah der Aufstieg zum »Senda dil Dragun« – also zum »Weg des Drachens« – ein bisschen aus wie der Übergang in eine andere Welt. Mit seinen 1,56 Kilometern gilt er als der längste Baumwipfelpfad der Welt. Coray kannte den Pfad, der mit zahlreichen Attraktionen aufwartet. Es ist nicht einfach ein »Spaßpfad« für Kinder – der Weg hoch über den Bäumen ist gespickt mit Informationen. So werden zum Beispiel der Flimser Bergsturz vor rund neuntausendfünfhundert Jahren und seine Folgen ausführlich beschrieben. Auch erfährt der Besucher nicht nur die Namen und Höhen der umliegenden Berggipfel, sondern unter anderem, dass Berlin siebenhundert Kilometer entfernt liegt. Der Höhepunkt ist jedoch die dreiundsiebzig Meter lange, spiralförmige Rutschbahn, die einen wahrhaft rasanten Abgang vom Turm ermöglicht.
Vor dem Eingang, der nachts gesichert war, war ein Ranger, der offensichtlich in aller Eile aus dem Bett geholt worden war. Sein Haar stand wirr vom Kopf ab, und er trug weder Handschuhe noch Winterstiefel. Schlotternd stand er in seinen Sneakers vor ihnen und öffnete eilfertig die elektronische Barriere, nachdem er einen flüchtigen Blick auf ihre Polizeiausweise geworfen hatte.
»Guten Abend«, sagte er und sah die beiden mit weit aufgerissenen Augen an. Coray wusste, dass er darauf brannte, sie zu fragen, was denn passiert sei. Doch der junge Mann schaffte es, sich diese Frage zu verkneifen.
Coray und Kurtz grüßten zurück, dann schauten sie sich die Konstruktion des Eingangs an. Direkt hinter der elektronischen Barriere sicherte ein Tor aus Maschendrahtzaun, das jetzt allerdings offen stand, den Eingang.
»Mit etwas Wagemut und sportlichem Geschick dürfte es ein Leichtes sein, dieses Tor zu überwinden«, mutmaßte er.
»Da kommt sogar ein fitter Senior rüber«, pflichtete sie ihm bei, und einen Moment lang befürchtete er, sie würde sich auf der Stelle auf das Geländer hochschwingen.
Sie wandten sich wieder dem Ranger zu.
»Ist es schon vorgekommen, dass sich Leute hier unbefugt Zutritt verschafften?«, fragte Kurtz.
»Ja, das passiert tatsächlich ab und zu«, antwortete der Ranger, der sich als Jürgen Möller vorgestellt hatte. »Feiernde Jugendliche steigen auf die schmale Holzbrüstung auf der Seite, halten sich am Zaun fest und umgehen so das Tor. Aber eigentlich passiert das meist im Sommer.«
Kurtz betrachtete wieder das Eingangstor.
»Der Schnee auf der Brüstung ist unberührt, da ist niemand darübergegangen«, sagte sie.
»Ja, sehe ich auch so. Gehen wir rauf«, sagte Coray. »Bevor wir zu den Leichen gehen, will ich mir von oben einen Überblick verschaffen.«
»Kommen Sie, ich bringe Sie rauf«, sagte Möller und ging voraus zum Lift, der sie mühelos auf den Turm hinaufbringen würde.
»Danke, ich gehe zu Fuß«, erwiderte Coray und ging an Möller vorbei zur Treppe. Dieser schaute ihm verwundert hinterher. Coray pflegte ein klaustrophobisches Verhältnis zu engen Räumen im Allgemeinen und Aufzügen im Besonderen. Lieber kämpfte er sich über die verschneiten Stufen der Wendeltreppe hinauf. Entschlossen machte er sich an den Aufstieg und hörte noch, wie Kurtz Möller anwies, den Eingang zu sichern, niemand Unbefugten durchzulassen, schon gar nicht die Presse.
Coray hielt sich am eisigen Stahlgeländer fest und stapfte Stufe um Stufe die Holztreppe hinauf. Ein kalter Wind war aufgekommen und blies ihm gnadenlos ins Gesicht. Nicht lange und er hörte seine Kollegin hinter sich. Im Gegensatz zu ihm, der auf den letzten Höhenmetern ordentlich keuchen musste, schien sie mühelos die Treppe hinaufzutanzen.
»Sag jetzt bloß nichts betreffend mein Alter«, knurrte er und überwand den letzten Absatz.
»Würde ich nie wagen.«
Auch ohne sie anzuschauen, wusste Coray, dass sie breit grinste.
Als sie auf der Plattform ankamen, sahen sie sich einer gespenstischen Szenerie gegenüber. Uniformierte Polizisten mit Taschenlampen leuchteten in die Tiefe. Hier, an der höchsten Stelle des Pfades, ging es rund dreißig Meter senkrecht hinunter. Zwei Körper lagen halb von Schnee zugeweht neben einer Tannengruppe, ein paar Meter unterhalb eines Spazierweges. Auf dem Weg war eine Frau mit drei Hunden, die sich bemühte, die aufgeregten Tiere an der Leine zu beruhigen. Zwei Polizisten standen bei ihr. Gefrorener Atem stieg als weiße Wolke über ihnen auf. Es war wieder merklich kälter geworden.
»Hallo, Gion«, begrüßte Coray einen der Beamten auf der Plattform. »Kannst du mich kurz briefen?«
»Hallo, Matti. Ja, viel gibt es nicht zu erzählen: Die Frau war mit den Hunden auf ihrem Nachtspaziergang. Sie ist Hundesitterin und geht oft zu dieser Zeit noch mit ihnen raus, weil da niemand mehr unterwegs ist und sie die Tiere frei laufen lassen kann. Einer der Hunde ist plötzlich vom Weg abgehauen. Sie ist ihm hinterher, weil sie Angst hatte, dass er ein Wild jagen könnte. Doch er ist nach Kurzem stehen geblieben und hat gebellt wie verrückt. Als sie bei ihm ankam, stand er vor der Leiche, die da weiter oben liegt.«
Er zeigte auf den Körper, der nur wenige Meter unterhalb des Weges lag.
»Sie hat versucht, den Hund an die Leine zu nehmen, doch er ist immer wieder um die Tote herumgesprungen. Plötzlich ist er wieder los und zu der zweiten Leiche etwas weiter unten gelaufen. Als die Frau realisiert hat, was da im Schnee liegt, hat sie sofort zum Handy gegriffen und die Polizei gerufen.«
Coray und Kurtz sahen sich an. Sie dachten das Gleiche.
»Das wird ein Alptraum für die Spurensicherung«, sagte sie mit Blick auf das Chaos unter ihnen.
Er nickte. »Und hier oben sieht es nicht besser aus.«
Auch auf der Plattform waren sämtliche Spuren zertrampelt. Die Schuhabdrücke konnten nicht mehr voneinander unterschieden werden. Wenigstens hatten sich die Beamten bemüht, die schmale Brüstung nicht zu berühren.
»Das ist ein Nebeneingang«, fuhr Gion weiter und zeigte auf einen kurzen Pfad, der ebenfalls an einer Pforte endete. »Er ist als Zugang für Rettungsfahrzeuge gedacht, wenn ein Notfall auf dem Pfad eintrifft. Und so wie es aussieht, sind dort Leute auf die Brüstung geklettert, haben das Tor umgangen und sind so auf den Baumwipfelpfad gelangt.«
Coray und Kurtz hörten den Erklärungen von Gion zu.
»Es könnte alles sein«, sagte Coray, »ein Unfall, Suizid oder aber Mord.«
»So eine verdammte Scheiße«, fluchte Kurtz. »Ich nehme jetzt mal an, es sind die vermissten jungen Frauen, die da unten liegen. Stell dir mal diese Tragödie vor.«
Coray wollte noch nicht so weit denken. Er ratterte in Gedanken die Checkliste runter, die abgehakt werden musste.
»Was ist mit Krankenwagen und Spurensicherung?«
»Sind unterwegs, auch Isidor sollte jeden Moment kommen.«
Mit Isidor meinte der Polizist Isidor von Planta, den Chef der Rechtsmedizin in Chur. Ein erfahrener, manchmal etwas eitel und überheblich auftretender Mann, der jedoch ein scharfsinniger und präzise arbeitender Mediziner war. Niemand konnte sich an einen Fall erinnern, wo sich Isidor von Planta geirrt hätte. Oder etwas übersehen hätte. Er genoss weit über die Landesgrenze hinaus einen phänomenalen Ruf und wurde immer wieder als Redner an Kongresse im Ausland eingeladen.
»Gut, danke, Gion. Schaust du bitte, dass hier niemand an der Brüstung Spuren zerstören kann. Wir gehen runter.«
Gion nickte ihm zu und drehte sich wieder zu seinen Kollegen um, die frierend auf weitere Anweisungen warteten. Coray und Kurtz gingen die kurze Strecke zur Treppe zurück und begannen schweigend mit dem Abstieg. Unten hielt Möller tapfer die Stellung. Um sich ein bisschen Wärme zu verschaffen, joggte er auf der Stelle, blieb jedoch abrupt stehen, als er die beiden sah.
»Es ist niemand gekommen«, informierte er sie.
»Okay, halten Sie es noch ein bisschen aus hier? Es kommt gleich einer der örtlichen Polizisten runter und löst Sie ab. Sie müssten sich allerdings noch für Fragen zur Verfügung halten.«
»Jaja, kein Problem. Ich bleibe hier.«
Als sie nach dem Überqueren der kleinen Holzbrücke wieder auf den »Dorfplatz« hinaustraten, kurvte Frau Major Annabelle Cathomas auf sie zu und stoppte kurz vor ihnen den Dienstwagen. Irritiert fragte sich Coray, wie sie es geschafft hatte, die Barriere zu umgehen. Der ganze Platz war autofrei. Anderseits wusste er, dass es für seine Chefin so etwas wie Hindernisse nicht gab. Das waren höchstens kleine Herausforderungen für sie. Aber dass sie mitten in der Nacht zu einem Tatort kam, hatte Seltenheitswert. Die Situation musste selbst für die Leiterin der Kripo etwas Außerordentliches sein. Schwungvoll stieg sie aus dem Wagen. Perfekt geschminkt, mit blitzenden Diamanten an den Ohrläppchen, hohen, warmen Stiefeln, einer sicher saumäßig teuren Jacke und Lederhandschuhen stand sie vor ihnen und schaute ihnen mit einem Blick aus ihren Gletscheraugen entgegen. Sie wurde nicht grundlos die Eisprinzessin genannt. Ihr Auftritt verunsicherte viele – bevor sie überhaupt etwas sagte. Trotzdem genoss sie bei ihren Untergebenen großes Ansehen und Rückhalt. Denn sie wussten alle, dass Cathomas entschlossen hinter ihnen stand, wenn es nötig war. Fast wäre Coray strammgestanden. Irgendwie überkam ihn immer dieses Verlangen, wenn er der Frau Major begegnete. Sie war auch die einzige Person, der gegenüber sich Katja Kurtz so etwas wie respektvoll verhielt. Und das wollte etwas heißen. Kurtz war berüchtigt für ihre direkte Art. Egal wer oder was sich ihr in die Quere stellte, sie ging es stets so an, als sei ihr das Gefühl von Furcht oder Unsicherheit völlig unbekannt. Sie verachtete Feigheit zutiefst und fand selbst Diplomatie überbewertet.
»Also, Coray, was ist hier passiert?«
Wie üblich hielt sich Cathomas nicht mit Begrüßungen auf. Weder bei Begegnungen noch am Telefon. Unterdessen war ihm diese Art so vertraut, dass er sich sehr gewundert hätte, wenn sie ihn plötzlich mit Handschlag begrüßt hätte. Auch er kam direkt zur Sache.
»Zwei junge Frauen sind tot unter dem Baumwipfelpfad aufgefunden worden. So wie es aussieht, sind sie vom Pfad, gleich nach dem Turm Murschetg, gestürzt. Sie sind wohl beim Nebeneingang auf die Brüstung gestiegen, um das Tor zu umgehen. Was dort oben geschehen ist, wissen wir noch nicht. Es könnte sich um einen Unfall, um Suizid oder auch um Mord handeln.«
»Steht es fest, dass es sich um Fanny und Flora handelt?«
»Eine eindeutige Identifikation steht noch aus. Wir wollten eben hinauf auf den Spazierweg, um von dort zum Fundort der Leichen zu gelangen.«
»Gut, kommen Sie, steigen Sie ein, wir fahren gemeinsam zum Waldweg hoch.«
Sie hielt inne und sah Coray scharf an.
»Sie haben nicht etwa Ihren Hund im Auto, bei dieser Kälte.«
Cathomas pflegte ein etwas seltsames Verhältnis zu Juri. Stets tat sie so, als ob sie Hunde nicht leiden könnte, aber alle wussten, dass sie ihn heimlich zu sich ins Büro holte, wenn sein Besitzer ihn allein lassen musste. Und dort fütterte sie ihn mit Leckereien, die sie in einer Schublade in ihrem Schreibtisch hortete. Durch die Tür hörte man sie dann mit gurrender Stimme zu Juri sprechen. Wahrscheinlich hockte sie dabei auf dem Boden und knuddelte ihn. Die Chefin war eine schwer zu fassende Persönlichkeit.
»Doch, er ist im Auto, aber es geht ihm bestens«, antwortete Kurtz an seiner Stelle.
»Wie kann es ihm gut gehen? Der friert doch.«
»Nein, Frau Major, er ist in seiner warm ausgekleideten Box und pennt.«
Damit stieg Kurtz kurzerhand auf den Beifahrersitz, und Coray beeilte sich, hinten im Wagen einzusteigen.
»Na gut, wenn Sie meinen.«
Etwas zögernd stieg Cathomas hinter das Steuer. Die Fahrt dauerte nur ein paar Minuten. Auf dem Spazierweg angekommen, gab es kein Durchkommen mehr. Hier war natürlich noch keine Schneeräumungsequipe am Werk gewesen. Sie mussten zu Fuß weiter. Als sie die Türen öffneten, trafen eben die Leute von der Spurensicherung ein. Und auch der Rechtsmediziner reihte sich in die Fahrzeugkolonne auf dem Sträßchen ein.