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Ein fesselnder Kriminalroman aus dem Bündnerland. Die spätsommerliche Alpenidylle in der Surselva findet ein jähes Ende, als ein bizarrer Mord die Bewohner der Region in Schrecken versetzt: Ein Raftguide wird auf einer Tour in einem Schlauchboot voller Touristen erschossen. Cumissari Matti Coray und seine Kollegin Katja Kurtz machen sich inmitten der wilden Rheinlandschaft auf die Suche nach Hinweisen. Kein leichtes Unterfangen, denn das Opfer hatte zahlreiche Liebschaften – und ebenso viele Feinde.
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Seitenzahl: 350
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Regine Imholz, geboren 1958, arbeitete rund zwanzig Jahre lang bei der Flugsicherung Skyguide. Parallel dazu schrieb sie Reportagen für die «Zürichsee-Zeitung», für die sie später als Journalistin tätig war. Seit einigen Jahren ist sie als freie Journalistin unterwegs. Sie lebt mit Mann und Hund am Walensee sowie in der bündnerischen Surselva, die für sie zu einer zweiten Heimat geworden ist.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2022 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: criskorah/stock.adobe.com
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-962-4
Originalausgabe
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Für Markus und Kalo – immer an meiner Seite
Für Juli – immer in meinem Herzen
Zerzaust, verschlafen und verkatert von einem Apéro, der völlig aus dem Ruder gelaufen war, hatte Matti Coray an diesem späten Montagmorgen im September nur einen Wunsch: einen Kaffee. Einen heissen, schwarzen und höllisch starken Kaffee. Mit zugekniffenen Augen schlurfte er zur Espressomaschine und nahm sie nach kurzem Tasten in Betrieb. Als das Mahlwerk einsetzte, zuckte er zusammen, es fühlte sich an, als ob jedes Haar seines dichten, dunklen Schopfs einzeln schmerzen würde. Besorgt schaute Juri ihn an, so als wollte er abschätzen, ob sein Herrchen für einen Spaziergang überhaupt in der Lage sein würde.
«Keine Angst, mein Freund, ich werde es überleben», murmelte Coray und schickte Juri in den Garten hinaus. Mit geschlossenen Augen schlürfte er den ersten Schluck des süttig heissen Gebräus und seufzte erleichtert auf – das Leben fühlte sich bereits wieder viel besser an.
Als er die Tasse wieder zum Mund führen wollte, läutete sein Handy. Ein Blick auf das Display zeigte ihm, dass seine Kollegin Katja Kurtz anrief. Resigniert stellte er die Tasse ab und griff zum Telefon.
«Guten Morgen, mein lieber Matti, bist du aufnahmebereit?», fragte sie, und Coray konnte ihr breites Grinsen durch die Leitung förmlich spüren.
«Kurtz, ich hoffe, du hast einen sehr guten Grund, mich an meinem freien Tag zu nerven.»
«Findest du einen Mord einen triftigen Grund, dich aus deiner Höhle zu holen?»
Einen Moment lang herrschte Stille in der Leitung. Coray fühlte sich auf einen Schlag hellwach.
«Mord, sagst du? Was ist passiert?»
«Auf dem Rhein ist ein Guide ermordet worden.»
Coray war zu verblüfft, um zu antworten. Er musste diese Informationen erst in seinem Hirn zusammensetzen.
«Wie, ein Guide auf dem Rhein?»
«Ein Bootsführer ist während einer Riverrafting-Tour erschossen worden. Im Boot drinnen, wohlgemerkt, während der Fahrt.»
«Wo bist du?»
«Bei der Staziun Valendas-Sagogn.»
«Okay, ich komme.»
Coray unterbrach die Verbindung und sprintete ins Bad.
Er schaffte es, in gut zehn Minuten zu duschen, die Zähne zu putzen und sich in seine Klamotten zu stürzen. Für eine Rasur reichte die Zeit nicht mehr, fand er und musste daran denken, dass seine Freundin Emilia ihm einmal erklärt hatte, dass sie ihn mit den dunklen Stoppeln im Gesicht fast noch attraktiver fand als frisch rasiert. Während er seinen Gürtel zu schliessen versuchte, rief er in den Garten: «Juri, es gibt Arbeit, los, komm!»
Er hatte noch nicht ausgeredet, als der grosse schwarze Kerl durch die Terrassentür ins Haus stürmte und über den Holzboden Richtung Haustür schlitterte. Ungeduldig sah er Coray an, der sich noch eine Flasche Wasser schnappte, das Handy in die Tasche seiner Chinos stopfte und zum Wagen spurtete. Er liess Juri ins Heck seines alten Rovers springen und fuhr los. Obwohl er am liebsten Gas gegeben hätte, rief er sich zur Vernunft und passte die Geschwindigkeit der Strecke an. Es war eine kurvenreiche Strasse von Brigels hinunter ins Tal. Natürlich wäre es einfacher, wenn er näher an seinem Arbeitsplatz in Chur wohnen würde, wie die meisten seiner Kollegen. Und wo er auch aufgewachsen war. Seine Eltern, ein pensionierter Lehrer und eine Journalistin, die zwar ebenfalls pensioniert, aber durch ihr Netzwerk noch immer über alles bestens informiert war, wohnten weiterhin dort. Sie hatten nie ganz verstanden, wie ihr Sohn das rege kulturelle Treiben in Chur mit einem beschaulichen Leben in diesem «Krähennest» eintauschen konnte. Vielleicht, weil seine Wurzeln dort waren. Seine Mutter war in einem Dorf in der Surselva aufgewachsen und hatte bereits als junges Mädchen kein anderes Ziel, als so schnell wie möglich daraus zu verschwinden. Trotzdem hatte sie mit ihrem Sohn immer Rätoromanisch geredet, weil sie Wert darauf legte, dass er diese Sprache ebenso selbstverständlich sprach wie Deutsch.
Coray fühlte sich genau richtig in dem Dorf auf der Sonnenterrasse. Er war ein Mann der Berge, der die klare Luft und die prachtvolle Natur der Surselva ganz nahe bei sich spüren wollte – ja musste. Vor ein paar Jahren hatte er sich ein kleines Chalet gekauft, spartanisch eingerichtet, aber an prächtiger Hanglage mit Blick beinahe von Disentis bis Chur. Mit Emilia war dann nach und nach ein bisschen Komfort ins Haus gekommen. So verfügte das Chalet inzwischen über eine moderne Küche, eine Heizung mit Wärmepumpe und ein stylisches Badezimmer. Das sei das Mindeste, hatte Emilia moniert, sie werde sich bestimmt nicht ihren Allerwertesten in seinem Haus abfrieren und kochen wie ein Höhlenmensch. Als Tierärztin sei sie oft genug jeder Witterung ausgesetzt, wenn sie auf abgelegenen Höfen stundenlang im Stall oder auf Weiden ausharren müsse. Er hatte sich achselzuckend gefügt. Er war zwar bestens mit den bescheidenen Gegebenheiten klargekommen. Gekocht hatte er sowieso selten, weil er entweder in einer der Dorfbeizen zum Essen gegangen war oder sich mit einem Salsiz und Brot begnügt hatte. Und war es tatsächlich einmal kalt geworden im Haus, hatte er im alten Cheminée Feuer gemacht. Andererseits musste er sich eingestehen, dass er es behaglich fand, wenn Emilia in dem Häuschen rumfuhrwerkte. Sie wohnte zwar offiziell noch in ihrer kleinen Wohnung in Ilanz, verbrachte aber immer mehr Zeit bei ihm in Brigels.
Während er durch Dardin und Danis ins Tal hinunterfuhr, liess er sich das von Kurtz Gesagte durch den Kopf gehen. Ein Tourguide, der auf einem Boot auf dem Rhein erschossen worden war? Coray schüttelte ungläubig den Kopf. Was war denn das für eine verrückte Geschichte? Er kannte die abenteuerliche Fahrt durch die Ruinaulta, wie die Rheinschlucht auf Romanisch hiess, aus eigener Erfahrung, hatte er den Trip doch selbst schon mehrmals mitgemacht. Der wilde Ritt über die Wellen, vorbei an Inseln mit Sandstränden, wildromantisch überwachsenen Ufern und zwischen den bizarren Gesteinsformationen und den bis in den Himmel reichenden weissen Felswänden hindurch – das war ein Abenteuer, das ihn jedes Mal wieder durchrüttelte und zum Staunen brachte. Der «Swiss Grand Canyon» ist eine rund dreizehn Kilometer lange und monumentale Schlucht zwischen Ilanz und Reichenau, die nur zu Fuss, auf dem Velo, mit der Rhätischen Bahn oder eben auf dem Fluss durchquert werden kann.
Coray hatte das Tal erreicht und bog nach einer lang gezogenen Schleife auf die Oberalpstrasse ein. Kaum war er aufs Gaspedal getreten, musste er wieder abbremsen. «Merda!», fluchte er und hieb frustriert auf das Lenkrad ein. Keine zwei Wochen war es her, dass die Baustellen in Danis oben abgeschlossen waren, und schon wurde unten auf der Hauptstrasse gebuddelt. Juris Kopf tauchte im Rückspiegel auf, und ein alarmierter Blick traf Coray. Die Mischung aus Neufundländer und schwarzem Labrador reagierte auf jede Stimmung seines Besitzers, und ein solch lauter Gefühlsausbruch liess bei ihm alle Alarmglocken läuten. Er mochte es partout nicht, wenn Menschen – und schon gar nicht seine Menschen – herumschrien.
«Alles gut, Juri», sagte Coray und zwang sich zur Ruhe. Während er zweimal an einem Rotlicht halten musste, trommelte er bloss mit den Fingern auf das Lenkrad. Dann hatte er endlich freie Fahrt, passierte Ilanz und fuhr über den Glenner auf der anderen Seite aus dem Hauptort der Surselva hinaus. Als er das Flüsschen überquerte, warf er einen Blick nach rechts und sah die Sonne wie silbrige Sterne im Wasser funkeln, dort, wo es über einen kleinen Wasserfall hinunterfloss. Nach wenigen Minuten erreichte er Castrisch, vorbei am Brunnen aus dem Jahr 1905 und dem Lädeli, wo es – nebst vielem Krimskrams – Randensalat in allerliebst eingepackten Gläslis für einen Fünfliber zu kaufen gab. Auf der Strecke nach Valendas bemerkte er die wilden Felsen der Ruinaulta mit dem gewaltigen Flimserstein im Hintergrund. Kurz nach dem Dorfeingang von Valendas bog er scharf links ab. Auf der kurvenreichen, steilen Strasse fuhr er immer weiter hinunter bis zum Bahnhof.
Ein Grossaufgebot von Polizeiautos, Krankenwagen und Beamten war bereits vor Ort. Er entdeckte den wippenden Rossschwanz seiner Kollegin mitten im Pulk. Er liess Juri aus dem Auto springen, als Kurtz auf ihn zueilte. Ein Helikopter der Rega kreiste über der Brücke, welche hoch oben über den Rhein führte. Bereits hatten sich die ersten Gaffer in Wander- und Bikerkluft eingefunden, welche sich eifrig daranmachten, ihre Handys zu zücken.
«Sorgt bitte dafür, dass diese Spezies von der Brücke verschwindet», sagte er zu einem der Beamten aus Ilanz, die dabei waren, sich einen Überblick zu verschaffen. Er konnte diese sensationslüsternen Typen nicht ausstehen. Er hatte genug Situationen bei Unfällen erlebt, in denen solche Leute gefilmt hatten, statt Erste Hilfe zu leisten. Oder gar die Rettungsarbeiten durch Sanität und Feuerwehr behindert hatten.
Dann lief er mit Kurtz über die gut sechzig Meter lange Stahlbrücke. Juri hatte er bei der Betreiberin der Besenbeiz im Bahnhofsgebäude zurückgelassen. Obwohl der sechsjährige Hund sehr gut gehorchte, wollte Coray nicht, dass er dem Team der Spurensicherung in die Quere kam.
«Die Leiche liegt dort unten auf der kleinen Anlegestelle», rief Kurtz, um den Lärm der Helikopter-Rotoren zu übertönen, und zeigte auf eine Sandbank, die etwas oberhalb der Brücke war. «Von Planta ist bereits vor Ort.»
Isidor von Planta war der Rechtsmediziner, ein annähernd zwei Meter grosser Mann, der nicht nur für seinen etwas schrägen Humor, sondern auch für seinen immer mal wieder ausschweifenden Lebensstil bekannt war. Er war den Genüssen des Lebens sehr zugetan, und sein Geschmack in Sachen Kleidung war mehr als eigenwillig. Doch auch wenn er auf den ersten Blick etwas eitel und einschüchternd wirken konnte – sein Ruf als Pathologe war legendär. In seinem Fach machte niemand Isidor von Planta etwas vor.
Ein enger, steiler Pfad führte am Ende der Brücke links hinunter ans Wasser. Ha, das dürfte Isidor gar nicht gefallen haben, dachte Coray. Alle wussten, dass der Pathologe körperlicher Anstrengung, wenn möglich, aus dem Weg ging.
Nach ein paar Minuten kamen sie auf der kleinen Sandbank an. Die Szenerie, die sich ihnen bot, war dramatisch: Ein Mann in Neoprenanzug und Schwimmweste lag leblos auf dem Boden. Blut war in einem feinen Rinnsal von seiner Stirn über das Gesicht geflossen und hatte eine groteske Spur hinterlassen. Von Planta hatte sich tief über die Leiche gebeugt, und eine Frau von der Spurensicherung in weissem Schutzanzug machte Fotos. Rund ein Dutzend schockierte Menschen, ebenfalls in Riverrafting-Bekleidung, bildete schweigend einen Kreis um den Toten. Einige trugen noch ihre farbigen Helme, andere hatten diese abgenommen und in den Sand fallen lassen. Coray beobachtete einen jungen Mann, der den Helm mit leerem Blick pausenlos in seinen Händen drehte. Zwei Schlauchboote lagen verlassen auf der Halbinsel, Paddel verstreut im Sand.
Coray wandte sich mit betont freundlicher Stimme an die Leute. «Bitte verlassen Sie jetzt alle diesen Platz, er muss von der Spurensicherung abgesucht werden. Gehen Sie nach oben und warten Sie auf der anderen Seite der Brücke. Als Erstes werden die Kollegen Sie zu Ihren Personalien befragen. Wir sind bald bei Ihnen. Keiner verlässt den Ort, bevor wir mit ihm geredet haben.»
Die Gruppe ging noch immer verstört von der Sandbank. Langsam stiegen sie den Weg zur Brücke nach oben. Coray sah ihnen einen Moment lang nach, dann wandte er sich zusammen mit seiner Kollegin von Planta zu, der sich gerade mühsam aufrichtete.
«Ich weiss nicht, was ich davon halten soll», sagte er und zeigte auf den toten Mann. «Der Schuss muss aus grosser Entfernung abgegeben worden sein. Aber die Kugel ist präzise unter dem Helm direkt zwischen den Augen eingedrungen.» Er deutete auf ein kleines rundes Loch auf der Stirn des Opfers.
«Könnte es der Schuss eines Jägers gewesen sein, der versehentlich statt eines Hirsches einen Menschen erwischt hat?», fragte Kurtz. «Es wäre ja nicht das erste Mal, dass so was passiert.»
Coray nahm den aggressiven Unterton in ihrer Stimme wahr. Er wusste, dass sie sich immer auf die Seite der Tiere stellte, wenn sie das Gefühl hatte, es geschähe ihnen Unbill. Sah sie jemanden einen Hund misshandeln, ging sie ohne Warnung auf denjenigen los. Einmal hatte sie vor einer Gärtnerei einen Mann gepackt, der seinen Hund brutal in den Kofferraum zurückgeworfen hatte, weil dieser nicht auf sein Kommando gewartet hatte. Es war ein heisser Tag gewesen, und der Hund hatte nur noch eines gewollt: aus der Hitze raus an die Luft. Kurtz hatte dem Hundebesitzer dermassen die Leviten gelesen, dass der aufgeplusterte Typ ganz schnell ziemlich kleinlaut geworden war. «Pass bloss auf», hatte sie dem Mann gesagt, «ich behalte dich im Auge.» Dann war sie bebend vor Wut davongestiefelt.
«He, wollten wir nicht noch einen Rosmarin für deinen Balkon besorgen?», hatte Coray ihr nachgerufen, doch da war sie bereits ins Auto gestiegen und hatte den Motor aufheulen lassen. Er hatte sich gerade noch auf den Beifahrersitz schwingen können, bevor sie mit quietschenden Reifen losgefahren war. Es war nicht die einzige Szene dieser Art, die er mit ihr erlebt hatte.
«Es stimmt zwar, dass die Jagdsaison begonnen hat», sagte Coray seufzend, «aber glaube mir, so etwas ist völlig ausgeschlossen – das passiert keinem Jäger.»
«Dann muss es wohl ein Scharfschütze gewesen sein», sagte Kurtz. «Einem Mann in einem Schlauchboot auf dem Wasser mitten zwischen die Augen zu schiessen, das erfordert unglaubliches Können.»
Bei dem Wort «Scharfschütze» hatten sich Corays Nackenhaare aufgestellt, und er fühlte eine eisige Hand nach seinem Herzen greifen. Bei einem spektakulären Mordfall, den sie im Frühsommer, also vor rund drei Monaten, gelöst hatten, war ein Berufskiller involviert gewesen. Der Auftraggeber, ein Immobilienhai, der am Bündner Baukartell-Skandal beteiligt gewesen war und seine Frau hatte töten lassen, war psychisch völlig von der Rolle gewesen. Kurz vor seinem Tod hatte er Coray wissen lassen, dass er den Killer auch auf ihn und seine Kollegin angesetzt habe. Dass er irgendwann zuschlagen und Coray keinen einzigen ruhigen Tag mehr haben werde. Er hatte niemandem von der Drohung erzählt, hatte sie als irres Geschwätz eines Psychopathen abgetan. Aber vergessen konnte er sie nicht. Der Killer war nie gefasst worden, und ab und zu glaubte Coray, einen Schatten wahrzunehmen, einen Luftzug zu fühlen oder einen kalten Blick auf sich gerichtet zu spüren. Er hatte die Empfindungen stets als Einbildung heruntergespielt, sie abgeschüttelt und verdrängt. Aber irgendwo in seiner Seele hockte da diese Angst, diese Ungewissheit, und die spülte es immer mal wieder hoch. So wie gerade eben.
«Was hast du?», fragte Kurtz und schaute ihn prüfend an. Sie war berüchtigt für ihre Schnoddrigkeit, ihre Furchtlosigkeit und ihren Mut. Aber Coray kannte auch ihre andere Seite: ihre gut getarnte Verletzlichkeit und ihre Sensibilität. Ausserdem konnte sie in ihm lesen wie in einem Buch – was er nicht immer so toll fand.
«Nichts», wehrte er unwirsch ab, «ist wohl der Kater.»
Kurtz enthielt sich jedes weiteren Kommentars und wandte sich wieder von Planta zu. «Also, was kannst du uns denn schon sagen?» Sie liess ihren Blick über den Toten gleiten.
«Na, über den Todeszeitpunkt müssen wir ja in diesem Fall nicht spekulieren», sagte der Rechtsmediziner trocken. Er hob den Kopf des jungen Mannes leicht an. «Die Kugel ist zwar hinten am Kopf wieder ausgetreten, die Austrittswunde scheint aber klein, ich sehe nicht viel ausgetretenes Blut. Aber genau muss ich mir das auf dem Tisch anschauen.»
«Warum ist der Mann eigentlich nicht über Bord gegangen, als er von vorne am Kopf getroffen wurde?»
«Mein lieber Matti», erwiderte von Planta mit leichter Überheblichkeit in der Stimme, «du guckst dir zu viele Krimis an.»
Normalerweise nahm ihm Coray diesen Tonfall nicht übel, aber heute war er einfach mieser Stimmung.
«Dann klär uns auf», erwiderte er knapp.
Von Planta bekam gar nicht mit, wie genervt Coray heute war, er fühlte sich nicht zuständig für die Gefühle seiner Mitmenschen. Seine ganze Energie galt den Toten, für die sah er sich verantwortlich, ihnen wollte er mit seinen Fähigkeiten dienen und die Rätsel um ihren Tod lösen, soweit es in seiner Macht stand.
«In den Filmen fliegt ein in dieser Weise getroffener Mensch meist in sehr dramatischen Bildern nach hinten, stürzt dann über eine Felswand, aus einem Fenster oder eben ins Wasser. In Wirklichkeit ist es jedoch ganz unspektakulär: Das Opfer sackt einfach zusammen.»
«So weit klar», antwortete Kurtz, «und dass er aus weiter Distanz getroffen wurde, ist auch klar. Es kann ihn ja kaum jemand aus dem Boot erschossen haben. Aber wie weit war der Schütze entfernt?»
«Um diese Frage zu beantworten, müssen wir die Ballistik hinzuziehen. Und das wird dauern. Ich kann euch erst morgen früh mehr sagen. Kommt doch gleich um acht in die Rechtsmedizin.»
Coray musste erst mal leer schlucken. Bei dem derzeitigen eher fragilen Zustand seines Magens mochte er gar nicht daran denken, bei einer Obduktion dabei zu sein.
«Okay», sagte er dann leichthin, «wir werden da sein.»
«Gut, dann lassen wir den Rega-Heli landen, Tatortspuren sind ja weiter keine zu sichern.»
Coray und Kurtz stiegen hoch zur Brücke, auf der es die Ilanzer Kollegen geschafft hatten, die filmenden Gaffer zu vertreiben. Die versuchten jetzt, vom Ufer aus etwas mitzubekommen, mussten jedoch erkennen, dass von dort aus nicht viel zu sehen war. Einer der Beamten trat Coray und Kurtz entgegen.
«Wir haben die Personalien der Leute aus den zwei Booten bereits aufgenommen», sagte er. «Sie kommen aus der halben Schweiz.»
«Danke, Gion, dann wollen wir mal schauen, was sie zu erzählen haben.»
Langsam gingen sie auf die Gruppe zu.
Was für ein Kontrast, dachte Coray beim Anblick der Menschen in ihrer bunten Bekleidung, mit den Helmen, die ihren Trägern ein bisschen das Aussehen von riesigen Käfern verliehen. Ein unbeschwertes Bild, wären da nicht die vom Schock gezeichneten Gesichter gewesen.
Coray liess seinen Blick über die Gruppe schweifen. Der junge Mann, der ihm bereits unten auf der Sandbank aufgefallen war, sass nun auf dem Boden, eine Frau hatte ihren Arm um ihn gelegt und sprach beruhigend auf ihn ein. Ein sportlicher Mann, der durch seine Art, wie er mit der Gruppe redete und sich kümmerte, eine natürliche Kompetenz ausstrahlte, kniete sich ebenfalls neben den apathischen Jungen. Als die beiden Polizisten zu ihnen traten, erhob sich der athletische Typ sofort und wandte sich ihnen zu.
«Er ist im Boot direkt neben dem Getöteten gesessen», erklärte er mit Blick auf den Jungen. «Kein Wunder, ist ihm der Schreck in die Glieder gefahren.»
«Und Sie sind?», fragte Kurtz und zückte ihr knallrotes Notizbüchlein, das sie jederzeit bei sich trug.
«Oh, entschuldigen Sie. Mein Name ist Martin Meissen, ich bin der Tourguide des zweiten Bootes.»
«Dann war der Getötete ein Kollege von Ihnen?»
Als der Mann das Wort «Getöte» vernahm, zuckte er zusammen. «Brendan war mehr als ein Kollege, er war mein Freund. Ich kann nicht fassen, was da passiert ist. Warum erschiesst jemand einen Guide auf einem Boot? Ich glaube das alles nicht, es kann einfach nicht wahr sein!» Verzweifelt schaute er gen Himmel und schloss die Augen, aus denen die Tränen zu fliessen begannen. Kopfschüttelnd barg er sein Gesicht in den Händen und schluchzte laut auf.
Etwas ratlos sah Coray seine Kollegin an. Er hasste solche Gespräche, sie gingen ihm viel zu nahe. Kurtz legte den Arm um Meissen und führte ihn ein Stück weg von den anderen Leuten. Coray folgte ihnen. Kurtz liess Meissen Zeit, sich zu fassen. Langsam hörte das Schluchzen auf, er wischte sich noch einmal die Tränen vom Gesicht und wandte sich den beiden Polizisten zu.
«Ich bin nicht nur ein Guide, ich bin der Inhaber und Geschäftsführer unserer Firma. Seit bald fünfzehn Jahren mache ich den Job.»
«Wie heisst denn Ihre Firma?», fragte Coray.
«Rheinrider.»
«Und wo sind Sie stationiert?»
«In Schluein. Wir haben eine Holzhütte direkt am Rhein. Da sind unsere Boote untergebracht, auch unser Büro.»
«Starten Sie Ihre Touren direkt von dort aus?»
«Ja, der Platz ist ideal gelegen. Wir haben vor fünfzehn Jahren lange gesucht. Es war gar nicht so einfach. Wir waren ja nicht die Ersten, die solche Touren anbieten. Früher war in dem Gebäude eine Schreinerei untergebracht. Dann hat der Besitzer keinen Nachfolger gefunden und uns die Bude vermietet.»
Coray war die Firma bekannt, aber er war noch nie mit ihnen unterwegs gewesen. Er hatte einen Kumpel bei der Konkurrenz und ging immer mit ihm auf die wilde Tour durch die Ruinaulta.
«Erzählen Sie mir von Ihrem Freund Brendan. Wie heisst er mit Nachnamen?», fragte Kurtz.
«Brendan Miller.»
«Ist er Amerikaner?»
«Nein, Kanadier. Er kommt aus einem kleinen Ort in British Columbia. Die Adresse seiner Eltern weiss ich nicht auswendig, aber ich habe sie in meinem Büro.»
«Wie haben Sie sich kennengelernt?»
«Er kam vor ein paar Jahren in die Schweiz zum Base-Jumpen. Er war im Berner Oberland unterwegs. Dabei traf er zwei Girls, die unbedingt eine Riverrafting-Tour durch die Ruinaulta machen wollten. So landeten sie bei uns. Brendan war total begeistert von dem Sport, richtig angefressen. Die Girls zogen weiter, er ist geblieben. Ich habe sein Talent erkannt und ihm angeboten, ihn zum Guide auszubilden. Er war überglücklich. Seither war er bei mir angestellt. Am Anfang hat er sogar bei uns gewohnt, aber dann wollte er doch seine eigene Bude.»
Ein wehmütiges Lächeln zog über Meissens Gesicht. Die beiden Ermittler schwiegen.
«Wissen Sie», fuhr Meissen fort, «ich lebe mit meiner Familie in Versam. Meine Frau Helen und ich haben zwei Mädchen im Teenageralter. Die waren hin und weg, als da ein attraktiver junger Mann zu uns ins Haus zog. Sie haben ihn angehimmelt, dass es mir fast peinlich war. Doch Brendan ist souverän mit der Situation umgegangen. Er hat sie einfach so behandelt, als wäre er der grosse Bruder.»
«Brendan war also ein Frauenschwarm?», fragte Coray nach.
«Ja, aber es ist nicht so, dass er einfach nur gut aussah. Es war viel mehr. Brendan hatte diesen jungenhaften Charme, dieses glückliche Naturell, er strahlte den ganzen Tag vor Lebensfreude und Energie. Natürlich hat das die Frauen angezogen, auch unsere Gäste waren sehr angetan von ihm. Ich denke, das war auch der Grund, warum er eine eigene Wohnung gesucht hat, er wollte niemanden in Verlegenheit bringen.»
Kurtz war den Ausführungen mit gerunzelter Stirn gefolgt.
«Könnte es sein, dass Ihr Sonnyboy auf zu vielen Hochzeiten getanzt hat?», fragte sie.
Dieser wand sich ein bisschen. «Nun, es ist so», begann er dann und suchte sichtlich nach den richtigen Worten. «Brendan lag das Flirten einfach im Blut. Er konnte gar nicht anders, er hat mit jedem weiblichen Wesen – egal, welchen Alters – geschäkert und rumgealbert, aber das war immer nur ein Spiel.»
«Wussten die Frauen das auch?», fragte Kurtz mit einem unüberhörbar sarkastischen Unterton in der Stimme und verzog spöttisch den Mund.
Coray, der die Verachtung seiner Kollegin für seichte Typen kannte, sah sich genötigt, einzugreifen.
«Könnten Sie sich vorstellen, dass es wegen Ihrem Freund zu einem Eifersuchtsdrama gekommen ist?»
«Nein, das kann ich nicht.» Meissen schob sich ärgerlich eine seiner fast schulterlangen hellbraunen Locken aus dem Gesicht. «Brendan hatte keine feste Beziehung, und er machte auch nie einen Hehl daraus, dass es so genau richtig sei für ihn. Ich habe nie gesehen, dass er einer Frau Versprechungen gemacht hätte oder so.»
«Haben Sie denn über seine Eroberungen geredet?»
«Nein, wir haben über Boote, Riverrafting, gefährliche Stellen auf dem Rhein, Marketing, Schwimmwesten, neue Helme und über das Wetter geredet. Aber nicht über Frauen.»
Er schaute Coray und Kurtz mit erbostem Blick an und machte Anstalten, davonzustapfen.
«Moment, Herr Meissen», sagte Kurtz, «wir sind noch nicht fertig.»
«Was ist denn noch? Ich muss mich um meine Gäste kümmern. Die müssen zurück nach Schluein kommen. Ich muss die Boote abtransportieren lassen, und ich muss meine Leute über die Tragödie aufklären. Es jagen sich bestimmt schon die wildesten Gerüchte.»
Coray hatte eine Idee. Er schaute auf die Uhr, es war bereits bald vierzehn Uhr.
«Hören Sie, wir kommen so um sechzehn Uhr zu Ihnen in Ihr Büro nach Schluein. Dann machen wir weiter. Ist das okay?»
«Ja, ist gut.»
Meissen ging zurück zu seinen Kunden, die von den Polizisten aus Ilanz vernommen wurden.
«Du hast doch einen Plan», sagte Kurtz und schaute Coray prüfend in die Augen.
«Ja, hab ich. Komm mit, ich erklär ihn dir im Beizli.»
Als sie zum kleinen Lokal marschierten, trat einer der Beamten zu ihnen. Man habe nun von allen Sportlern aus den zwei Schlauchbooten die Personalien aufgenommen und überprüft. Alle kämen von ausserhalb, und es weise im Moment nichts darauf hin, dass eine der Personen in den Mord verwickelt sein könnte. Ob man die Leute gehen lassen könne. Die seien alle ziemlich durch den Wind.
Coray sah sich die Truppe an. Eine ältere Frau schlotterte trotz der spätsommerlichen Hitze in ihrem Neoprenanzug vor sich hin. Andere schienen langsam aus ihrer Schockstarre aufzutauen und ihre Umwelt wieder wahrzunehmen.
«Ist gut. Wenn alle Personalien aufgenommen sind, können sie gehen.»
Als sie das Lokal erreichten, hielt Coray Ausschau nach seinem Vierbeiner, der von der Wirtin auf einem Holzpodest oberhalb der Bestuhlung postiert worden war. Sie kannte die Begeisterung von Juri für alles Essbare und sein Talent, sich bei den Gästen mit flehendem Blick einen Happen zu ergaunern. Als Juri sein Herrchen kommen sah, eilte er ihm mit grossen Sprüngen entgegen.
Er sieht aus wie ein Panther, dachte Coray nicht zum ersten Mal und konnte sich eines stolzen Lächelns nicht enthalten.
«Du schaust aus wie ein Papa, dessen Filius zum ersten Mal alleine auf dem Velo fährt», frotzelte Kurtz prompt und grinste Coray ins Gesicht.
Dieser fühlte sich ertappt und verbarg seine Verlegenheit dadurch, dass er Juri ausgiebig knuddelte. Dann fiel Juri über Kurtz her, die unter seinen stürmischen Liebesbekundungen beinahe zu Boden ging. Eine Weile rauften die beiden miteinander, und Kurtz schrie in gespieltem Schmerz auf. Verdutzt schaute der Hund Kurtz ins Gesicht, registrierte jedoch schnell, dass das zum Spiel gehörte, und sprang an ihr hoch.
«Weisst du was, ich gehe schnell mit Juri baden, der hatte ja noch keinen richtigen Auslauf heute», rief sie Coray zu. «Bestell mir schon mal einen Teller Bruschetta, ich bin in fünf Minuten zurück.»
Die beiden verschwanden über die Böschung rennend Richtung Rhein hinunter. Coray schaute ihnen etwas wehmütig nach. Er wäre auch gerne so hemmungslos ausgelassen mit seinem Vierbeiner herumgefegt, aber er konnte nicht so aus sich heraus. Er wäre sich dabei ein bisschen lächerlich vorgekommen. Aber nein, gehemmt war er nicht – oder wirkte er etwa so auf sein Umfeld? Er kam nicht dazu, seine Gedanken weiterzuverfolgen. Ein paar Journalisten traten auf ihn zu. Unter ihnen ein eifriger junger Bursche, der ihm von Weitem sein Handy hinhielt. Coray seufzte, es war ja klar, dass diese Geschichte schnell ihren Weg in die Redaktionen gefunden hatte.
«Stimmt es, dass auf dem Rhein ein Schlauchboot torpediert worden ist?», fragte der junge Reporter mit sich überschlagender Stimme.
Coray war einiges gewohnt in Sachen Journalisten, aber diesmal war er doch einigermassen fassungslos. Ein Schlauchboot torpediert? Ja, womit denn, mit einer Haifischharpune? Bei dem Gedanken, dass aus den Fluten des Vorderrheins silbrige, dreieckige Flossen auftauchten, auf welche Jäger mit riesigen Harpunen Jagd machten, musste er kurz schlucken und sich sammeln, um nicht in lautes Gelächter auszubrechen.
«Es ist in einem der Boote zu einem aussergewöhnlichen Todesfall gekommen», antwortete er, als er sicher war, seine Stimme unter Kontrolle zu haben. «Was genau passiert ist, wissen wir noch nicht.»
«Was meinen Sie mit aussergewöhnlichem Todesfall? Ich habe gehört, dass jemand erschossen worden ist», sagte eine ältere Journalistin und schaute ihn ernst an.
Coray wusste, es waren zu viele Leute involviert, er musste ein paar Informationen preisgeben, bevor die Spekulationen ins Kraut schossen. «Das ist richtig. Es ist ein Mann beim Riverrafting in einem Schlauchboot tödlich getroffen worden. Mehr kann ich Ihnen wirklich noch nicht sagen. Sobald wir mit unseren Untersuchungen weiter sind, werden wir Sie informieren. Danke.»
Coray drehte der Meute den Rücken zu und ging Richtung Fluss, er wollte schauen, wo Kurtz und Juri blieben.
Es war ein vergnügter Anblick, der sich ihm bot, als er über die Böschung trat: Seine Kollegin warf einen dicken Holzprügel ins Wasser, und Juri hechtete bei jedem Wurf begeistert hinterher. Er warf sich geradezu in die Fluten, holte den Knebel jedes Mal mit nicht nachlassender Energie zurück und liess ihn Kurtz vor die Füsse fallen. Sie stand mit aufgekrempelten Hosenbeinen an einer seichten Stelle im Sand und war von Juris ungestümem Spiel bereits von oben bis unten nass gespritzt. Coray sah dem Schauspiel eine Weile zu, bevor er sich zu den beiden gesellte. Auf diesen Moment hatte Juri gewartet. Mit vor Wonne glänzenden Augen raste er auf ihn zu, bremste direkt vor ihm ab und schüttelte sich ausgiebig. Coray machte mit und rannte seinem Vierbeiner drohend hinterher. Es war ein altes Spiel, das sie da zusammen spielten, und eines, das ihnen nie verleidete.
«Ich bin sicher, ich habe Juri eben grinsen sehen», rief Kurtz ihm zu, stieg strahlend aus dem Fluss und suchte nach ihren blauen Sneakers, die sie achtlos ins Gras geschmissen hatte. Ein paar Strähnen ihres dunklen Haares hatten sich aus dem Rossschwanz gelöst und fielen ihr über das Gesicht.
Sie sieht toll aus, dachte er und beglückwünschte insgeheim den Mann, der das Herz dieser Frau erobern würde. Er hätte sie gerne gefragt, ob es diesen Typen bereits gebe, aber er traute sich nicht. Sie waren zwar ein starkes Team, konnten sich blind aufeinander verlassen, aber auf dem Terrain der Emotionen fühlte er sich unsicher. Ganz im Gegensatz zu ihr – sie zog ihn ständig auf, spekulierte über sein Gefühlsleben, und er hegte den Verdacht, dass sie sich ab und zu über ihn lustig machte. Aber auf eine gute Weise, so wie gute Kumpels eben miteinander umgingen. Auch wenn er selbst keinerlei romantische Gefühle für seine Kollegin hegte, wunder nahm es ihn schon, ob sie in einer Beziehung lebte. Er überlegte sich ernsthaft, sie demnächst danach zu fragen.
«Was schaust du mich so andächtig an?», fragte sie und streifte flink den zweiten Schuh über. «Bist du zu lange in der Sonne gestanden?»
Coray musste schmunzeln, da war sie wieder, diese Schnoddrigkeit, die zu ihr gehörte wie ihr aufbrausendes Wesen – und ihre liebenswerte Seite, die sie gerne bedeckt hielt.
Zusammen erklommen sie die Böschung und gingen zurück zum Bahnhofsbeizli.
«Hast du Lust auf eine Tour auf dem Rhein?», fragte Coray.
«Meinst du Riverrafting?»
«Ja, ich möchte die Route abfahren, die die Gruppe gemacht hat. Vom Land aus können wir das Ganze nicht richtig beurteilen.»
«Gute Idee. Wir nehmen den Geschäftsführer als Guide mit, der kann uns sagen, was wo passiert ist.»
«Genau so habe ich mir das vorgestellt. Komm.»
Beim Restaurant angekommen, fragte Coray die Betreiberin, ob sie noch ein bisschen länger auf Juri aufpassen könne.
«Kein Problem. Aber habt ihr nicht langsam Hunger? Ihr seid seit Stunden hier und habt das Mittagessen verpasst.»
«Weisst du was, wir nehmen jetzt ein Sandwich mit und kommen nach der Arbeit zum Abendessen zu dir. Was hältst du davon?»
«Ihr wisst ja, dass ich eigentlich um sechs Uhr den Laden dichtmache», sagte sie mit einem Augenzwinkern. «Aber für euch mache ich gerne eine Ausnahme. Dafür versorgt ihr mich mit den neuesten Ermittlungsergebnissen.»
Kurtz lachte laut und sagte: «Du bist so ein raffiniertes Weib, du weisst, dass wir das nicht dürfen – nicht mal bei dir.»
«Schon gut, haut ab. Ich halte hier mit Juri die Stellung.» Damit drückte sie ihr zwei dicke Sandwiches in die Hände und zog mit dem Hund davon.
Coray hatte Martin Meissen angerufen und ihn gefragt, ob er mit ihnen zusammen die Tour vom Morgen nachfahren würde. Es sei der einzige Weg, herauszufinden, was genau passiert war.
Nach kurzem Nachdenken sagte Meissen: «Okay, ich habe hier fast alles organisiert. Zum Glück habe ich ein solch gutes Team. Wenn ihr wie besprochen um vier Uhr hier seid, können wir los. Das Wetter bleibt ja bis auf Weiteres gut.»
«Bestens, bis gleich.»
«Es klappt», wandte sich Coray an seine Kollegin. «Wir müssen nicht pressieren, er ist erst um vier Uhr bereit.»
«Gut, wenn es nicht eilt, kannst du ja fahren», sagte sie mit einem Augenzwinkern und liess ihn damit wieder mal wissen, was sie von seinen Fahrkünsten hielt.
Für Kurtz fuhr er meist zu bedächtig. Bei ihr musste es immer schnell gehen, bei allem, was sie tat. Egal, ob sie zu Fuss ging, auf ihrer Triumph Tiger 800 über den Asphalt fegte oder mit Kollegen joggte – sie konnte gar nicht anders.
«Wenn du meinst, dass du mein Tempo tatsächlich erträgst, dann lass deine Maschine stehen und schwing dich rein.»
Einige Minuten später befanden sie sich im Auto, und Coray manövrierte seinen staubigen Land Rover vorsichtig über das Bahngleis und dann über die Brücke Richtung Sagogn. So hoch über dem Fluss kribbelte es in seinem Bauch, er hatte das Gefühl, die Brücke wäre nicht breit genug für das Auto, oder sie stürzte unvermittelt unter ihnen zusammen. Es war jedoch keine unangenehme Angst, eher so ein feines Gruseln.
«Fühlt sich ein bisschen an wie auf einer Chilbi-Bahn», sagte Kurtz auf dem Beifahrersitz. Sie spürte es also auch, stellte Coray befriedigt fest. Sogar sie hatte ein klein wenig Schiss.
Als sie die Brücke überquert hatten, sah es auf einen Schlag aus, als wären sie mitten in Kanada gelandet. Nur dichter grüner Wald und Felsen. Über ihnen der blaue Himmel. Weit und breit kein Anzeichen von Zivilisation. Nicht einmal Wanderer oder Biker kreuzten ihren Weg. Vor gut zwei Jahren war Coray für ein paar Wochen durch das riesige Land gereist und hatte es genossen, frei wie ein Vagabund durch die Natur zu wandern und zu fahren. Dass er überhaupt gegangen war, hatte er seinen Eltern zu verdanken. Denn niemals hätte er Juri in ein Tierheim gegeben. Doch seine Mutter hatte kurzerhand ihre Koffer gepackt und war mit seinem Vater von ihrer Stadtwohnung nach Brigels gezogen.
«Dein Vater und ich wollen mal sehen, was du an deinem ‹Krähennest› so toll findest», hatte seine Mutter lakonisch verkündet. «Vielleicht verstehen wir danach besser, weshalb du dein Berglerleben bevorzugst.»
Und so hatte Juri sein gewohntes Leben weiterführen können – einfach mit anderen Betreuern. Coray hatte den Verdacht, dass er seinen Hund mehr vermisst hatte als dieser ihn, auch wenn er bei seiner Rückkehr aus dem Häuschen gewesen war und ihn bei der Begrüssung buchstäblich umgeworfen hatte. Bei seinen Eltern hatte er das Gefühl gehabt, dass sie dem Bergdorf nicht schnell genug den Rücken kehren konnten, obwohl sie eigentlich einen ganz entspannten Eindruck gemacht hatten. Vor allem sein Vater hatte die langen Wanderungen und die ruhigen Abende auf der Terrasse genossen.
«Weisst du, ich habe gar nicht mehr gewusst, wie unglaublich schön der Sternenhimmel ist», hatte er ihm augenzwinkernd anvertraut. Nein, seine Mutter war keine Romantikerin, sondern ein Stadtmensch durch und durch. Sie brauchte das pulsierende Leben um sich herum, und am Abend ging sie lieber aus oder empfing Gäste in ihrer grossen Wohnung, statt die Sterne zu betrachten. Coray hatte sich ab und zu gefragt, was sie in ihrer Kindheit in dem kleinen Ort in der Surselva wohl erlebt haben mochte, dass sie so gar nichts mehr vom Landleben hielt. Aber seine Mutter hatte alle diesbezüglichen Fragen abgeblockt, und irgendwann hatte Coray es aufgegeben, sie danach zu fragen.
«Es würde mich nicht wundern, wenn eine Bärin vor uns auftauchen würde», sagte Kurtz und holte Coray in die Gegenwart zurück. «Weisst du, so mit ein, zwei Babys im Schlepptau und stinksauer darüber, dass wir ihr den Staub in den Pelz pusten.»
Bei der Vorstellung musste Coray laut auflachen, er hatte eben darüber sinniert, dass sie bestimmt von mindestens einem Wolf beobachtet wurden. Bei dem Wort Baby verspürte er einen kleinen Stich. Vor ein paar Monaten hatten er und Emilia beschlossen, eine Familie zu gründen. Sie wollten sich damit zwar Zeit lassen, hatten sie sich versichert, doch wartete er eigentlich nur darauf, dass Emilia eines Abends freudestrahlend über ihn herfallen und ihm die grossartige Neuigkeit erzählen würde.
Die enge Strasse führte immer weiter hinauf, rechts fiel das Gelände steil ab in eine wilde Schlucht. Wieder spürte er dieses Kribbeln im Bauch, und er schob sämtliche Gedanken an Babys beiseite, konzentrierte sich aufs Fahren. Endlich waren sie auf der Kreuzung im Wald angekommen, wo sie links Richtung Sagogn abbiegen konnten. Auf der Via Vilada ging die angestrengte Fahrt durch den Wald weiter, bis sie aufatmend das Ortsschild von Sagogn erblickten.
«Hast es gar nicht so schlecht gemacht», sagte Kurtz. «Es besteht durchaus Hoffnung für dich.»
Er schaute sie mit einem vernichtenden Blick von der Seite an. «Pass bloss auf, was du sagst, sonst gehst du den Rest des Weges zu Fuss.»
«Ha, ha.» Sie verdrehte ungläubig die Augen. Die restlichen Kilometer brachten sie in einträchtigem Schweigen hinter sich. Als sie Schluein und das Industriegebiet hinter sich gelassen hatten, führte ein steiler Weg hinunter zu der Schreinerei.
Auf einem staubigen Parkplatz hielt Coray an. Sie stiegen aus und schauten sich auf dem Gelände um. Meissen hatte das alte Gebäude für die «Rheinrider» geschickt umgebaut, jetzt bot es Platz für Schlauchboote, Kajaks, Ausrüstungen und ein Büroabteil. In diesem war Meissen wild gestikulierend am Telefonieren. Mit einer Handbewegung bedeutete er ihnen, sich ruhig umzusehen.
In dem riesigen Raum gab es neben all den farbigen Booten auch eine Garderobe mit Kästchen für die persönlichen Sachen der Guides. Schnell hatte Coray jenes mit dem Namen Brendan ausfindig gemacht. Es war nicht abgeschlossen. Er tauschte einen Blick mit Kurtz, welche dünne Nylonhandschuhe aus ihrer Tasche fischte und sie sich überzog. Dann öffnete sie die Tür des blauen Spinds.
An der Innentür prangten mindestens ein Dutzend Fotos von lachenden Gesichtern. Zum Teil waren sie wegen Platzmangel halb übereinandergeklebt. Sie zeigten junge Frauen, die strahlend, neckisch, flirtend oder mit niedlichem Schmollmund in die Kamera schauten. Blondinen, Brünette, Schwarz- und eine Rothaarige. Lange Haare, kurze Haare, lockige Haare, blaue Augen, grüne Augen, braune Augen – alles war vertreten.
Kurtz verzog keine Miene, nahm wortlos ihr Handy und lichtete die Galerie der Schönheiten ab. Coray war hinzugetreten und blickte in den Spind. Zerknüllte T-Shirts, Trainerhosen und Hoodies lagen wild durcheinander. Eine Dose mit einem Energydrink und ein halb gegessener Schoko-Nuss-Riegel thronten auf dem Kleiderstapel. Das war alles. Kurtz griff nach oben und brachte einen Schlüsselbund und ein Handy von der Ablage zum Vorschein. Das Handy war gesperrt.
«War ja klar», murmelte sie und liess beides in einen Plastikbeutel gleiten. «Wir müssen das Teil unseren Technikern überlassen.» Nach dem Wühlen in den Klamotten, das nichts Weiteres zutage förderte, schloss sie die Tür. «Ich bringe das Handy auf dem Heimweg im Polizeigebäude vorbei. Nick schafft das mit links.» Nick war der IT-Spezialist des Teams, der es als persönliche Herausforderung empfand, das Innenleben jedes elektronischen Geräts, das ihm in die Finger kam, zu entschlüsseln.
Die beiden wandten sich dem Geschäftsführer zu, der eben aus seinem Büro trat. Er sah sichtlich mitgenommen aus.
«Das ist – oder besser war – das Privathandy von Brendan», sagte er mit Blick auf das Gerät im Plastiksack. «Auf der Tour haben alle Guides ein spezielles, wasserfestes dabei. Das ist ausschliesslich für geschäftliche Telefonate gedacht.»
«Wie viele Guides beschäftigen Sie?», fragte Coray.
«Sechs, vier Männer und zwei Frauen.»
«Sind die heute alle unterwegs?»
«Nein, nur vier, aber die anderen sind sofort gekommen und helfen nun, das Chaos in den Griff zu kriegen. Die Kunden mussten betreut und der Transport der beiden gestrandeten Boote organisiert werden. Niemand kann glauben, was heute passiert ist. Es ist der totale Schock für uns alle. Wir funktionieren einfach weiter.»
«Wie war denn die Stimmung in Ihrem Team, gab es keine Eifersüchteleien? Brendan war offensichtlich sehr beliebt bei Ihren weiblichen Kundinnen», sagte Kurtz mit Blick auf dessen Spind.
«Nein, das habe ich Ihnen doch schon erklärt», sagte Meissen seufzend. «Bei Brendan war nie etwas Berechnendes dabei. Er war auch keiner, der die Frauen verarschte – er hat sie einfach alle gemocht und sie ihn. Vielleicht hat sich die eine oder andere tatsächlich in ihn verknallt, aber die wussten doch, wie er war. Er hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er sich nicht binden wollte. Und die Leute im Team mochten ihn auch alle. Er war halt ein bisschen wie ein Welpe, der nur spielen will.»
Coray blickte ihn zweifelnd an, sagte jedoch nichts mehr zu dem Thema, fragte weiter: «Hatte er Feinde ausserhalb des Teams, eifersüchtige Männer oder Kunden, die aus irgendeinem Grund nicht mit ihm zufrieden waren?»
Meissen schüttelte entschieden den Kopf, doch Coray glaubte, ein winziges Zögern wahrgenommen zu haben. Ob er doch etwas zu verbergen hatte? Coray überlegte einen Moment, beschloss dann aber, die Befragung für heute zu beenden. Sie mussten etwas anderes erledigen.
«Wir müssen uns seine Wohnung anschauen. Sie kennen bestimmt seine Adresse.»
«Ja klar. Er hatte eine Zwei-Zimmer-Wohnung in Ilanz.» Meissen nannte ihnen eine Adresse, die in der Altstadt, ganz in der Nähe der reformierten Kirche, lag. Kurtz notierte sie. Es hatte sich so eingebürgert, dass sie für alles, was schriftlich festgehalten werden musste, den Lead übernahm, auch wenn sie manchmal scherzhaft zu ihm sagte, sie sei nicht seine Sekretärin.
«Es gibt also nichts, was Sie uns zu Brendan noch sagen können?», hakte Coray dann doch noch nach. Wieder glaubte er, einen Sekundenbruchteil lang ein Zaudern bei Meissen zu bemerken.
«Nein, mir fällt nichts ein», sagte dieser und schüttelte erneut den Kopf.
«Gut, dann machen wir jetzt die Tour», sagte Coray. «Wir versuchen, genau dieselbe Route wie heute Morgen nachzufahren. Kriegen Sie das hin?»
«Ich denke schon, die Wasserverhältnisse sind ja in etwa die gleichen wie am Morgen.»
Meissen erklärte ihnen, dass im Spätsommer, nach vier heissen, trockenen Monaten, der Wasserstand des Vorderrheins tief sei, was zwar für den Guide anspruchsvoller war, da er überall Felsen ausweichen musste, wodurch aber das Boot anderseits langsamer unterwegs war. Dann suchte er für die beiden Neoprenanzüge, Helme und Schwimmwesten.
«Haben Sie Erfahrung mit Riverraften?», fragte er und drückte ihnen je ein Paddel in die Hände. Beide bejahten, sie hatten sowohl die Halbtagestour als auch die Tagestour von Ilanz bis nach Reichenau mehrmals gemacht.
«Dann wissen Sie ja, worauf es ankommt. Sie paddeln genau nach meinen Anweisungen.»