Eiszeit im Herzen - Lucie Nixdorf - E-Book

Eiszeit im Herzen E-Book

Lucie Nixdorf

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Beschreibung

Anfang der Achtziger: Emma ist jung, hübsch, naiv und nach einigen Enttäuschungen immer noch auf der Suche nach der großen Liebe. Doch die kann ihr auch nicht der Musiker John geben, zu dem sie in eine WG auf dem Land zieht und prompt schwanger wird. Neben einem problematischen Liebesleben kämpft Emma nun auch noch mit den Tücken des alternativen Landlebens und erlebt eine wahre Schwerstgeburt. Sie verliert ihr Kind und flüchtet sich auf einen abenteurlichen Trip nach Südspanien. Liebe, Sehnsucht, Verzweiflung und immer wieder Hoffnung - hier öffnet sich der Mantel der Sprachlosigkeit zu einer besonderen Geschichte - ehrlich, offen und humorvoll erzählt.

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Inhaltsverzeichnis

Teil 1 – Liebe tut weh

John

Der Verdacht

Frohe Weihnachten

Ein Häuschen auf dem Land

Trautes Heim…

Begegnungen

Eine Schwerstgeburt

Grete

Dünnes Eis

Teil 2 – Engel schickt der Himmel

La Rabita

Sierra Nevada

Die spanische Rechtsordnung

Die französische Lebensart

Heimkehr mit Hindernissen

Der Irrtum

Epilog

Spuren im Sand

Teil 1

Liebe tut weh

John

Ich hatte zu meinem Freund John eigentlich kein gutes Verhältnis mehr. Dass wir überhaupt noch zusammen waren lag wohl daran, dass ich von ihm schwanger war und er sich ein kleines Mädchen gewünscht hatte – und vielleicht auch wegen der Liebe.

Wir wohnten damals Anfang der Achtziger in einer WG auf dem Land, in einem Dorf namens Miesbach. Nachdem ich meine Lehre als Tierarzthelferin beendet und keine Stelle gefunden hatte, war ich mit meiner treuen Mischlings-Hündin Muschel zu John in die WG gezogen, die ganz alternativ in einem Fachwerkhaus mit Scheune und Garten und einem immensen Besucheraufkommen ihrem idyllischen Dasein frönte. Er hatte mir dieses Angebot in einer glücklichen Stunde gemacht, als wir zusammen gekommen waren, nachdem wir uns schon fast ein Jahr kannten und ich die Hoffnung fast aufgegeben hatte.

Obwohl ich nach meiner Lehre ja eigentlich erst mal meine Freiheit genießen und rumreisen wollte, siedelte ich mit Muschel und meinen wenigen Habseligkeiten in die WG um. Das hatte zumindest den Vorteil, dass ich mein teures Appartement kündigen und John näher sein konnte. Ich bekam das kleine ehemalige Zimmer von Mick, der in die Räume zu seiner Frau Zilly und ihrem Kind zog. Angeblich machte es ihm nichts aus, er würde eh meistens bei ihnen schlafen, aber ich kam mir doch wie ein Eindringling vor. John hatte sein Zimmer unter mir direkt neben der Küche. Es war ziemlich groß und hätte auch für mich mit gereicht, aber das zarte Band der Liebe sollte wohl nicht direkt überstrapaziert werden.

Mick hatte nebst Katzen auch eine Mischlingshündin, die nicht sonderlich begeistert auf den Zuwachs reagierte. Aber immerhin zerfleischten sie sich nicht gegenseitig, sondern gingen sich nur aus dem Weg.

Als wir am ersten Abend nach meinem Einzug gemeinsam in der Küche beim Essen sitzen, ist John in aufgeräumter Stimmung und wendet alle Aufmerksamkeit mir zu. Glücklich suche ich immer wieder seinen Blick, um dann in seine grün-grauen Augen zu versinken. Mick wechselt amüsierte Blicke mit Zilly, während John es sich nicht nehmen lässt, meine Blicke zu erwidern. Alles in allem also ein gelungener Abend.

Da ich ja momentan arbeitslos bin, kann ich morgens genüsslich ausschlafen, während John auf die Arbeit gehen muss. Er ist seit einigen Wochen als Holzfäller beim Forstamt beschäftigt und muss somit schon früh aufstehen. Wenn er sich mit einem zärtlichen Kuss und den Worten: „Und sei schön lieb“ von mir verabschiedet, kuschele ich mich noch einmal in die Kissen und schlafe wieder ein. Ihm mache das nichts aus, meint John auf meine Nachfrage hin. Wenn er morgens dann am Waldrand über die Hügel ins Tal schaue, wo die dünnen Rauchfahnen der Häuser zusammen mit dem Nebel in das noch zarte Weiß-Blau des Himmels aufsteigen, dann wäre das richtig schön. Ich bin beeindruckt von seiner romantischen Ader, die bisher noch nicht so zu Tage gekommen war.

Auch Mick macht sich früh auf den Weg zur Arbeit, Zilly kann so lange schlafen wie ihr Baby sie lässt. Dafür machen wir dann brav die Hausarbeit und erwarten unsere „Männer“ meistens mit einem reichhaltigen Abendessen nach alter Hausfrauentradition. Vorher war schon meistens eine von uns mit Milchkanne und Flaschenkorb beim Bauern gewesen, Milch und Bier holen. Der Bauer hat nebenbei auch praktischerweise einen kleinen Getränkevertrieb.

Und dann spielt John schon mal auf seiner Gitarre, nur für mich, außerhalb seiner üblichen Proben, die er sonst mit Freunden in einer Amateurband regelmäßig abhält.

„My Lady d’Arbanville - why do you sleep so still?“

Verzückt lausche ich den alten Klängen von Bob Dylan, die John neu interpretiert. Endlich habe ich wohl mein zu Hause und den richtigen Mann gefunden.

Die Umstellung aufs alternative Landleben ist nicht ganz einfach, bringt mir aber auch einige nützliche Fertigkeiten ein wie: Einen Ofen mit selbstgefertigtem Brennholz beheizen, einen vollwertigen Salat aus dem biologischen Garten anrichten oder einen rostigen Kotflügel mittels einer Flex wieder zum Leuchten bringen sowie dessen mehr. Ich traue mich nicht mehr, zum Frühstück die dekadente Nusscreme auf mein Brot zu streichen, sondern nehme mir ein Vorbild an deftigem Käsebrot mit Knoblauch und Tomaten. Der alte Holzfußboden in der großen Küche wird von Zilly und mir nach alter Hausfrauenkunst gebohnert und im Herbst machen wir mit ein paar befreundeten, gleichgesinnten Frauen gemeinsam Rotkohl und Marmelade ein.

Unser Besucheraufkommen ist immens, und jeder bekommt einen Platz beim Essen am großen Küchentisch. Ich als unbekannter Neuzugang werde nicht weiter beachtet und komme eigentlich auch nur selten zu Word. Die einheimische Musik- und Motorradszene trifft sich bei uns zur gemeinsamen Session oder zu Ausflugsfahrten. Ich sitze dann hinter John auf seiner Goldwing, angetan mit seiner alten Motorradlederjacke, einem Ersatzhelm und jede Menge Stolz, nun doch dazuzugehören.

Freitag ist unser Ausgehabend, und dafür wird schon gegen Nachmittag der Badeofen angeheizt. Es ist verpönt, mehr als ein Mal die Woche zu baden, da es so viel Holz braucht, den Kessel anzuheizen. Also wird alles in einem Rutsch erledigt. Man spricht sich ab, wer in welcher Reihenfolge, und muss nur noch zu gegebener Zeit das Badewasser erneuern und Holz nachlegen. Zilly badet meistens als erste, da sie ihre schönen langen Haare immer nur über dem Ofen trocknet, was für die Haarstruktur viel besser wäre als mit dem Fön aber dementsprechend länger dauert. Wenn man allerdings Pech hat, und als Letzter dran ist, muss man sich tierisch beeilen, um die gemeinsame Abfahrt in Mick’s altem VW Bus zu unserer heimeligen Stammdisco De Tutt nicht zu verpassen.

Einmal war mir an einem schnöden Mittwoch nach Baden zumute, was ich auch tat und mir einen Rüffel von Mick einbrachte, der immer gern den Chef hervorkehrt. So fahre ich dann manchmal zu Bekannten duschen, zumal als der Herbst kommt und die andere alternative Bademethode im Weiher zu kalt wird. John und ich haben dort ein lauschiges Plätzchen gefunden, von hohem Schilf umgeben, wo ich mich mit Muschel manchmal hin verkrümele, wenn mir das Hausfrauendasein zu viel wird. Dort kann ich mich ungestört nackig in der Sonne aalen, das kühle Wasser genießen und auf John warten, der nach seiner Arbeit auch gerne dort noch ein Bad nimmt.

Mein Lieblingskleid ist zurzeit ein altmodisches Blümchenkleid vom Flohmarkt, dazu trage ich braune Haut, blaue Augen und helle mit Margariten geflochtene Zöpfe. John sieht mit seinen braunen kurzen Haaren im rosa Overall ein bisschen wie James Dean aus – eigentlich sind wir ja ein schönes Paar!

John baut uns ein großes Bett aus selbstgerichteten Baumstämmen aus seinem Wald und stellt es in meinem Zimmer auf, wo es dann fast die Hälfte von einnimmt. Trotzdem nutzen wir es nicht viel, da es bei uns im Bett einfach nicht so recht klappt. Prüde Erziehung und erste schlechte Erfahrungen hatten bei mir Sex zu einem unbefriedigenden Ereignis werden lassen und somit werte ich einen Orgasmus durch Beischlaf als ausgesprochenen Glücksfall. Doch wenigstens zärtlich soll es sein, mit viel Nähe und Berührung.

John hat auch ein Problem: Er ist in null Komma nix fertig, obwohl er das wahrlich nicht will. Und da ihm dann jede weitere Aktivität da unten sehr schmerzhaft ist, dreht er sich danach immer sofort rum und flüchtet sich in den Schlaf, währenddessen ich daliege und nicht weiß wohin mit Lust und Frust. Nichtsdestotrotz versuchen wir es trotzdem öfters, aber leider ohne praktische Erweiterung und deshalb weiterhin erfolglos, so dass meine Enttäuschung allmählich wächst und seine wahrscheinlich auch. Leider will er nicht mit mir darüber reden, er meinte nur einmal:

„Ich bin schon bei vielen Ärzten gewesen, aber keiner weiß, was das ist. Und jetzt habe ich keinen Bock mehr! Du kannst ja gehen, wenn dir das nicht passt – ich habe dir von Anfang an gesagt, dass ich keine feste Beziehung haben will.“

Na prima, warum hatte er dann dabei ausgesehen wie ein unverstandener Junge auf der Suche nach der großen Liebe? Und wieso hatte er nach unserem „ersten Mal“ von einem kleinen Mädchen gesprochen, das er gerne von mir haben würde? Was soll das alles hier, wenn er nur eine lockere Bekanntschaft sucht?

Es ist Herbst geworden. Eines schönen Samstag Morgens wachen wir nach einem gemeinsamen Abend noch mal zusammen in meinem Bett auf, die Sonne scheint zum Fenster herein und kitzelt die Lust in uns wach. Wir fangen an, uns zärtlich zu streicheln, voller Hingabe räkele ich mich in den durchs Fenster hereinfallenden Sonnenstrahlen.

Ich denke schon: Vielleicht klappt es diesmal, da klopft es energisch an unsere Tür.

„Jooohn, ihr müsst aufstehen!“

Das ist Mick, der seinen weißblonden Igelkopf mit einem verschmitzten Lächeln zur Tür hereinstreckt.

„Um zehn ist Holzmachen angesagt, ihr könnt ja heut’ Abend weitermachen.“

Na prima, was will der? Als John doch tatsächlich aufsteht und nach seinen Sachen sucht, hätte ich Mick gerne auf den Mond geschossen, aber dafür ist es schon zu spät.

„Ja, ich komm’ schon.“

Gehorsam zieht John sich seine Sachen an und stapft hinter Mick die Treppe runter, ohne sich noch mal nach mir umzudrehen.

Also das war’s mal wieder. Wer weiß, wann es noch einmal so eine gute Gelegenheit geben würde, ich bin sehr enttäuscht. Aber mir bleibt nichts anderes übrig, als auch aufzustehen, schließlich ist ja „Holzmachen angesagt“.

Das Holzmachen entpuppt sich dann sogar zu einer größeren Aktion. Wir fahren mit einigen Leuten, die im übrigen schon alle beim gemeinsamen Frühstück in der Küche sitzen, als ich herunterkomme, auf einem geliehenen Trecker mit Anhänger durch die herbstliche Landschaft bis zu einem Waldstück, welches wir zum Holzeinschlag nutzen dürfen.

Schweigend sitze ich hinten auf dem Anhänger zwischen den munter schwätzenden Frauen, während die Männer sich natürlich lieber vorne auf dem Trecker zusammenquetschen. Sie alle kennen sich schon länger und haben sich viel zu erzählen, ich komme mir dabei vollkommen überflüssig vor.

Bis zum Nachmittag haben wir das Holz zusammen: John und Peter fällen und entasten die Bäume mit der Motorsäge, die anderen schleppen sie aus dem Wald hin zum Trecker, wo sie dann aufgeladen werden. Eine schöne Plackerei, bei der ich ständig an eine deftige Brotzeit mit einem schäumenden Bier denken muss. Doch leider gibt es keine Rast und schon gar keine Brotzeit, da wir noch vor dem Dunkelwerden wieder zu Hause sein wollen.

Und so gibt es auch keine Gelegenheit mehr, mit John alleine ein Wort zu wechseln. Er ist mit der Motorsäge beschäftigt und ich mit Äste schleppen und während der Rückfahrt sitzt John wieder mit den Männern vorne auf dem Trecker und ich bei den Frauen hinten. Am Abend läuft zwischen mir und John natürlich auch nichts mehr, dafür sind wir viel zu kaputt und haben uns wieder viel zu weit voneinander entfernt.

Doch der Herbst mit seinen längeren Abenden schafft Zeit für die Liebe. Wir machen es uns bei John vor dem Fernseher gemütlich, gehen früh zu Bett und schlafen Arm in Arm ein. Dann bin ich glücklich, wenn ich bei ihm sein darf und wir uns gut verstehen. Nur noch selten weiten wir unsere Zärtlichkeiten auf Sex aus, und wenn doch passiert das Gleiche wie immer. Irgendwie bin ich dann doch auf die Tour schwanger geworden, die natürliche Verhütungsmethode mit „vorher Rausziehen“ hat wohl nicht immer ganz funktioniert trotz der wenigen Male. Aber vielleicht war ich ja auch nur zu oft bei der Herstellung von alternativer Babykost zugegen gewesen und es hatte abgefärbt.

Wie auch immer, ich bin auf jeden Fall total überrascht und weiß nicht, ob ich mich freuen oder weinen soll, als ich die Praxis meines Frauenarztes verlasse. Nachdem ich einmal meine Tage mit sehr schlimmen schmerzhaften Blutungen bekommen hatte und die nächsten ausgeblieben waren, habe ich ihn jetzt endlich konsultiert.

Johns Reaktion wage ich mir gar nicht auszumalen. Er kommt in der Mittagspause extra nach Hause, um das Ergebnis meiner Untersuchung zu erfahren. Wir sind in der Küche, John steht abwartend am Fenster und schaut hinaus. Ich nehme allen Mut zusammen:

„Also John, äh… ich bin schwanger!“

Ungerührt schaut er weiter aus dem Fenster. Nicht dass ich wirklich mit einem Gefühlsausbruch seinerseits gerechnet hätte, aber diese Reaktion kommt mir schon etwas dürftig vor.

Immerhin meint er dann großzügig:

„Das kriegen wir schon hin, Emma, mach' dir mal keine Sorgen.“

Ungläubig horche ich auf. Das klingt ja besser als ich gedacht hatte.

„Ja, meinst du? Freust du dich denn?“

Ich bin noch nicht so überzeugt.

„Ja schon – aber nächstes Jahr hatte ich vor, nach London zu fahren, du weißt ja, dass ich schon die ganze Zeit mal zu den Anfängen des Punks wollte. Das ist für mich unheimlich wichtig, und ich bleibe ja auch höchstens ein Jahr, dann komm’ ich wieder und bin nur noch für euch da.“

Na super – erst will er ein Kind und dann muss er nach London wegen der Punk Musik! Und nur ein Jahr, das ist ja gar nichts, vor allem wenn es in die Geburts- und Baby-Zeit fällt. Was braucht frau da überhaupt einen Mann?

Er schaut auf seine Uhr und meint, dass er jetzt aber los müsse, und ich bringe nur noch ein „Ja, wenn du meinst“ heraus und schon ist er weg.

Diesen großen Moment in meinem Leben habe ich mir irgendwie anders vorgestellt, im Fernsehen war das immer anders, irgendwas läuft hier verkehrt. Soll ich das Kind unter diesen Umständen überhaupt bekommen?

Ziemlich deprimiert und verunsichert mache ich mich auf den Weg zu einer Freundin in einer anderen WG, um Rat einzuholen. Dort begieße ich meinen Kummer erst mal mit einem Wodka Lemon (wer weiß, wann ich den nächsten bekommen würde) und vielen Tränen, doch eine Lösung kommt trotzdem nicht in Sicht. Leise hege ich die Hoffnung, dass John nach der Arbeit hier auftauchen würde, um mich nach Hause zu holen. Das wäre ja mal ein Liebesbeweis. Und tatsächlich kommt er am Abend mit seiner Goldwing vorbei, ist jedoch ziemlich zugeknöpft und will auch direkt wieder fahren. Ich erwähne meinen Wodka-Konsum lieber nicht, setze mich folgsam in meinen Käfer und fahre vorsichtig hinter ihm her nach Miesbach.

Hoffnungsfroh denke ich bei mir: Jetzt wird bestimmt alles gut. Daheim sagt er, dass er immer bei mir bleiben wird. Und wir werden eine kleine glückliche Familie, und das mit dem Sex kriegen wir auch schon noch hin.

Zu Hause angekommen fängt John wieder mit dem Thema an:

„Emma, ich will doch nur ein Mal nach London, und ich kann ja eher fahren, schon nächstes Frühjahr, dann bleibe ich nur ein halbes Jahr und bin im Herbst wieder zurück, wenn das Kind da ist.“

„Toll, ganz toll! Während du irgendwo in London bist, kriege ich mein Kind – allein, und du kommst dann irgendwann wieder und sagst: Hei, hier bin ich. Und derweil mache ich hier alles alleine, oder wie?“

„Das ist nicht nur dein Kind, es ist auch mein Kind, und da habe ich auch ein Recht drauf!“

„Wenn du die ganze Zeit weg bist und dich nicht um uns kümmerst, dann hast du kein Recht darauf, dann ist es mein Kind. Und wovon sollen wir überhaupt leben, jetzt finde ich erst recht keine Stelle mehr und der Mutterschutz geht nur ein halbes Jahr und was ist danach?“

„Ich werde dir schon Geld geben, ich zahle Unterhalt für mein Kind. Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen.“

„John, wenn du mich die Schwangerschaft über bis nach der Geburt alleine lässt, dann brauchst du gar nicht mehr wieder zu kommen, dann mache ich das nämlich alles alleine, auch mit dem Geld, und dann ist es alleine mein Kind!“

Unversöhnlich starren wir uns an. Wir sind in meinem Zimmer, aber unser Streit ist bestimmt bis in die Küche zu hören. Was Zilly und Mick wohl denken?

Den nächsten Tag bleibe ich im Bett. Ich fühle mich krank, unfähig eine Entscheidung zu treffen und schäme mich vor den anderen. Ich bin anscheinend weder für ein normales Eheglück noch Mutterglück geeignet und weiß nicht mehr, ob ich das Kind überhaupt kriegen soll. Zilly meint, dass es ganz allein meine Entscheidung wäre, und Mick versteht nicht, was das alles soll, denn schließlich würde John ja auch das Kind haben wollen.

Gegen Abend kommt John dann zu mir aufs Zimmer, um sich wieder zu versöhnen. Ich bin inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass frau sowieso auf sich selbst gestellt ist und ich das Kind wenn nötig auch alleine bekommen und großziehen würde.

John lenkt ein:

„Es ist doch noch gar nicht raus, Emma, ob ich wirklich nach London gehe, vielleicht bleibe ich ja auch hier.“

Und dann kündigen meine Eltern ihren Besuch an, sie würden nur mal kurz vorbeischauen, wenn Papa Feierabend hat. Es ist das erste Mal, dass sie mich hier besuchen, obwohl es nur eine Stunde Fahrt pro Strecke ist. Aber wir haben ja auch nicht das beste Verhältnis zueinander, nachdem ich schon mit siebzehn zu meinem ersten Freund gezogen war, der sich dann leider als absoluter Fehlgriff erwiesen hatte.

Das war vor ungefähr vier Jahren gewesen, und nun sitze ich heute arm und arbeitslos in irgend so einem Kaff, bin auf die Gunst von ein paar fast fremden WG Genossen angewiesen und bekomme ein Kind von einem Waldarbeiter, der demnächst seinen Job an den Nagel hängen will, um sich in London der Musik zu widmen. Und es würde kein Kind der Lust sein, denn bei unserem dürftigen Liebesleben war ich noch nicht ein Mal zum Zug gekommen.

Am Tag des Besuches macht sich ein banges Gefühl bei mir breit, irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass meine Eltern Gefallen an unserer Lebensweise finden würden. Außerdem hatte ich meiner Mutter bisher noch nie was recht machen können. Mein Vater würde wie immer freundlich fürsorglich sein, während meine Mutter nur schwer ihre Missbilligung würde verbergen können.

Also putze ich erst mal gründlich: die Küche, den Flur, das Badezimmer und mein Zimmer. John will bei dem Besuch sogar anwesend sein und unterstützt mich, indem er die Öfen versorgt und mir Zuspruch erteilt wie:

„Die sind auch irgendwann mal wieder weg!“ und „Was stellst du dich so an?“

Nur selten hat sich bisher ein Elternteil der WG-Bewohner hierhin verirrt, um genau zu sein ist es jetzt das erste Mal in den fünf Monaten seit meinem Einzug. Aber umgekehrt läuft da auch nicht viel, von John weiß ich, dass sein letzter Besuch bei den Eltern schon Monate her ist, obwohl sie ganz in der Nähe wohnen, und Mick hat seine Eltern noch nicht ein Mal erwähnt. Selbst Zilly‘s Eltern haben das Baby bisher kaum zu Gesicht bekommen. Warum das so ist – auch darüber wird nicht gesprochen. Ihre Familie sind halt ihre Freunde, und ich suche noch danach.

Als meine Eltern kommen, ist es schon dunkel und die Sauberkeit kann nicht mehr blitzen. Es hat geregnet, der Boden vor dem Haus ist aufgeweicht. Die Hunde stürmen raus und begrüßen die Ankömmlinge aufgeregt, dabei ihre schmutzigen Spuren auf dem geputzten Boden und der guten Anzughose meines Vaters hinterlassend.

Mit einem: „Ist doch gut, Muschel! Jetzt ist aber Schluss. Hallo, mein Schatz!“ kommt mein Vater herein, meine Mutter hinterher, einen besorgten Blick auf die Schmutzränder an ihren Schuhen und auf Vaters Hose werfend.

„Hallo, schön dass ihr gekommen seid, möchtet ihr einen Kaffee oder etwas anderes? Muschel, jetzt hör doch mal auf, mach Platz!“

Ich öffne die Küchentür, wo John sich vom Tisch erhebt, um meine Eltern zu begrüßen. Wir trinken einen Kaffee zusammen, essen möchten sie nichts. Jeder ist angestrengt bemüht, kein falsches Wort zu sagen, wobei John und mein Vater die Unterhaltung noch am meisten bestreiten. Hinterher meint John, dass meine Eltern ja gar nicht so schlimm wären.

Ziemlich bald kommt auch Mick nach Hause und Zilly mit dem Baby herunter, sie wollen mit dem Kochen anfangen. Meine Eltern verabschieden sich.

„Wenn du was brauchst, melde dich. Du weißt, dass du dich jederzeit auf mich verlassen kannst“, versichert mir mein Vater noch einmal und meine Mutter gibt noch schnell ein paar gute Ratschläge:

„Hier im Flur müsst ihr noch ein Gitter hinmachen, oben an der Treppe, sonst ist das zu gefährlich für das Kind. Und zieh dich warm genug an, Emma, wenn es jetzt so kalt wird!“

„Ja Mama, mach’ ich.“

Ich drücke sie kurz und klopfe meinem Vater kameradschaftlich auf die Schulter.

„Und kommt gut heim, ich ruf’ mal an.“

Der Verdacht

Ich lasse mir von Zilly die Haare ganz kurz schneiden lassen und ziehe jetzt auch schon mal einen Minirock an, so nach dem Motto: Letzte Gelegenheit vor dem „Zelt-Look“. Ich gehe viel aus und suche anderweitig nach Bestätigung, dabei spürend, dass dies von meinen Mitbewohnern sowie von John als nicht besonders schwangergerecht angesehen wird. Aber schließlich ist es ja meine Zeit, die abläuft, bevor nichts wieder so ist, wie es mal war.

Auf diese Weise lerne ich den „Geier“ kennen. Er ist ein totaler Chaot, mit blondgefärbten Haaren in buntgemusterter, knallenger Hose und blauer Lederjacke, aber gutaussehend und nett. Vor allem macht er einen so unalternativen Eindruck, und was noch besser ist: Er kümmert sich um mich, wenn wir uns mal zufällig irgendwo treffen und gibt mir das Gefühl, dass er mich so mag, wie ich bin.

Eines Samstag nachmittags im Spätherbst liegen John und ich bei mir im Holzbett und haben noch einmal versucht, Liebe zu machen. Es läuft ab wie jedes Mal.

„John, willst du nicht vielleicht doch mal was dran machen?“ versuche ich ein Gespräch.

„Oder lass uns doch wenigstens noch etwas weitermachen – streicheln und küssen zum Beispiel… John?“

„He,… was is’n los?”

John ist schon wieder halb am Schlafen.

„Ich kann so nicht weitermachen, ich halte das nicht mehr aus! Wir müssen etwas ändern!“

„Mensch Emma, wenn dir das nicht passt, kannst du ja gehen, das habe ich dir schon mal gesagt!“

Ohne ein weiteres Wort stehe ich auf und ziehe mich an. Draußen ist es kalt und wolkenverhangen. Wie viel lieber wäre ich im Bett geblieben, an den Vater meines Kindes gekuschelt, wir hätten uns Geschichten erzählen können, bei Kerzenlicht begleitet von dem Knacken und Singen des Holzes im Ofen. Es hätte so romantisch sein können!

Anstatt dessen presse ich ein: „Ich fahre zum Geier in die WG“ heraus und warte auf ein „Emma, bleib doch hier!“, was aber natürlich nicht kommt.

So tuckere ich mit Muschel im Schlepptau in meinem Käfer über die einsame Landstraße, es sieht nach erstem Schneefall aus und ich frage mich, ob das wirklich so eine gute Idee gewesen ist, jetzt noch mal wegzufahren. Geier wohnt zurzeit bei Leuten, die eine Diskothek in einem entfernten Dorf gepachtet haben und ich weiß noch nicht einmal, ob er überhaupt zu Hause ist. Aber jetzt noch mal umkehren, das wäre zu blöd.