Elsies Lebenslust - Patricia Highsmith - E-Book

Elsies Lebenslust E-Book

Patricia Highsmith

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Beschreibung

Die aufregend hübsche Elsie Tyler taucht in Greenwich Village auf und bringt zwei Männer durcheinander. Ralph, ein exzentrischer Atheist mit einem Hund namens God, spioniert ihr nach. Der Illustrator Jack, der mit seiner Frau Natalia eine freie, moderne Ehe führt, begegnet Elsie zufällig. Natalia nimmt Elsie auf und verfällt ihr ebenso wie Jack. Die Ehe bleibt bestehen, aber ein Mord geschieht
"

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Patricia Highsmith

Elsies Lebenslust

Roman

Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren

Mit einem Nachwort von Paul Ingendaay

Herausgegeben von Paul Ingendaay und Anna von Planta

Diogenes

Elsies Lebenslust

Für Kingsley

1

Die junge Frau überquerte rasch die Straße und sprang mit einem Satz auf den Bürgersteig. Sie trug neue, makellos weiße Turnschuhe, eine schwarze Cordhose und ein weißes T-Shirt mit einem stilisierten roten Apfel auf der Brust. Sie wich den anderen Passanten aus, machte einen kleinen Schlenker und verschwand in einem Geschäft, in dessen Schaufenster verschiedene lavendelfarbene Dinge sowie Perlen und knallrosafarbene Tücher ausgestellt waren. Sekunden später war sie wieder draußen und ging weiter. Sie schien drauf und dran, die Straße abermals zu überqueren, tat es jedoch nicht. Wie ein Schmetterling umsegelte sie im Halbkreis ein dahinschlenderndes Grüppchen und blieb vor einem anderen Geschäft stehen, dessen Waren bis auf den Bürgersteig quollen. Nein, auch hier nichts.

Die weißen Turnschuhe huschten weiter, das kurze, blonde Haar wippte. Die junge Frau bewegte sich auf einen roten Farbfleck zu, zögerte, trat ein. Auf dem Bürgersteig der West Fourth Street strömten Kauflustige in beide Richtungen. Es war kurz vor sechs an einem sonnigen Nachmittag Ende August, und die Luft war kühl. Die blonde Frau trat aus dem Geschäft, in der Hand eine beige Plastiktüte. Mit der anderen schob sie ein kleines Portemonnaie in die Gesäßtasche ihrer Cordhose. Das Lächeln auf ihren ungeschminkten Lippen war jetzt breiter – es war ein fröhliches Lächeln mit einer Andeutung von Übermut.

Die Fersen zusammengedrückt und ungeduldig auf den Zehenspitzen wippend, hielt sie inne, um einen Wagen vorbeizulassen. Ein junger Schwarzer ging vor ihr vorbei und machte eine Geste, als wollte er sie in den Busen kneifen. Sie fuhr zurück und verzog die Oberlippe, so daß ein spitzer Eckzahn zu sehen war. Und schon lief sie weiter, den Mund leicht geöffnet, um besser atmen zu können, und ihre Augen suchten nach Lücken im Strom der Passanten.

Ein Stück voraus, hinter dicken Frauen und Jungen in Bluejeans, entdeckte sie einen Mann mit einem leicht schwankenden Gang und einem Hund, den er an der Leine führte. Die junge Frau blieb abrupt stehen und wechselte bei der nächsten Gelegenheit die Straßenseite.

 

God hebt das Bein, und die Welt ist in Ordnung, dachte Ralph Linderman, als er sich der Ecke Grove und Bleecker Street näherte. Es war ein wunderschöner Sommertag, die tiefstehende Sonne fiel von Westen noch immer in bestimmte Straßen des verwinkelten Greenwich Village, und die Grove Street erschien Ralph hübscher als sonst. Die Grove Street war, wie die Barrow und die Commerce Street, ordentlich und aufgeräumt, und das gefiel Ralph. Die Menschen hier polierten ihre Türklopfer und fegten ihre Eingangsstufen. Die Morton Street dagegen, nur drei Straßen weiter südlich gelegen, war ein einziges Durcheinander: Dort lagen Papierfetzen im Rinnstein, und die Mülltonnen standen, für jedermann sichtbar, mitten auf dem Bürgersteig. Ralph war sich bewußt, daß er an Dingen und Menschen gewöhnlich schneller die häßliche Seite wahrnahm, doch das war in seinen Augen lediglich realistisch, ja sogar klug, denn bestimmten Menschen mit Mißtrauen zu begegnen, bevor sie einem etwas tun konnten, bewahrte einen vor so manchem Mißgeschick. New York war größtenteils eine heruntergekommene Stadt. Man brauchte sich nur in den mit Unrat übersäten Straßen umzusehen, um zu erkennen, daß die Leute nicht am selben Strang zogen. Kinder lernten schon früh, daß es ganz in Ordnung war, Pappbecher einfach auf den Bürgersteig zu werfen, und alle Arten von Spinnern liefen hier herum und murmelten vor sich hin, meist Obszönitäten und Flüche, die sich gegen ihre Mitmenschen richteten. Kranke Menschen, unglückliche Menschen! Und dann waren da die Räuber: Einer hielt einem von hinten die Arme fest, während der andere einem die Brieftasche abnahm, und im Nu waren sie weg. Das war Ralph einmal um fünf Uhr morgens passiert, auf dem Heimweg. Verflucht sollten sie sein – elendes Gesindel, Abschaum der Menschheit!

Ralph wünschte sich manchmal, er wäre vor zwanzig Jahren oder noch früher aus New York weggezogen, als Irma und er sich getrennt hatten – oder vielmehr: als sie mit einem anderen Mann davongelaufen war, korrigierte er sich ohne Groll. Er hätte zum Beispiel nach Cleveland, Ohio, ziehen können, in eine Stadt, die vielleicht ein bißchen amerikanischer, ein bißchen anständiger war. Möglicherweise hätte er dort die richtigen Leute kennengelernt, oder wenigstens einen guten Menschen, mit dem er sich hätte zusammentun können und der aus Ralphs Ideen etwas gemacht hätte. Ralph hatte viele Ideen für nützliche Erfindungen, aber nicht genug Kenntnisse in Mathematik und Maschinenbau. Aber dann war er vor fünfzehn, nein, achtzehn Jahren in der Garage, wo er als Wachmann gearbeitet hatte, während der Tagschicht in den Fahrstuhlschacht gestürzt. Im hellen Sonnenlicht hatte er nicht gesehen, daß der Fahrstuhl gar nicht dagewesen war, und das schwarze Quadrat für den Schatten auf dem Boden der Kabine gehalten, und so war er beinahe sechs Meter tief gefallen. Erstaunlicherweise hatte er sich nichts gebrochen, denn er hatte an diesem kalten Wintertag einen dicken Schaffellmantel getragen, doch alles in ihm war stark erschüttert gewesen. Er erinnerte sich, daß er das den Ärzten gesagt hatte, und so hatte er sich auch gefühlt: als hätte sich sein Herz ein wenig aus seiner Verankerung gelöst. Sein Kopf übrigens auch – er hatte eine Zeitlang Kopfschmerzen und so weiter gehabt. Man hatte einen Schock diagnostiziert, aber keine weiteren Verletzungen festgestellt. Doch seither hatte Ralph das Gefühl, ganz verändert zu sein. Er paßte jetzt gut auf sich auf, jawohl, und brauchte sich vor niemandem dafür zu rechtfertigen. Er konnte von Glück sagen, noch am Leben zu sein.

Der schwarzweiße Hund trabte gemächlich vor sich hin, schnupperte interessiert an einem Autoreifen oder einem zerknitterten Stück Aluminiumfolie und hob das Bein nur noch der Form halber, denn seine Blase hatte er bereits vor einer Weile geleert. Er war etwa sieben Jahre alt. Ralph hatte ihn aus dem Tierheim – er hatte ihn vor dem sicheren Tod bewahrt. God war eine Promenadenmischung, doch er hatte freundliche Augen, und das gefiel Ralph.

»God! God!« sagte er leise und zog an der Leine, denn der Hund schnüffelte nun schon seit einigen Sekunden an etwas, das, wie Ralph sah, die Exkremente eines anderen Hundes waren, die im Rinnstein lagen. »Komm jetzt.«

War das nicht Elsie, die da auf ihn zukam? Ralph blinzelte. Nein. Aber aus der Ferne sah sie ihr sehr ähnlich: der beschwingte Gang, der hocherhobene Kopf, ja, aus einiger Entfernung schien sie sogar wie Elsie zu lächeln. Doch als die junge blonde Frau an ihm vorbeiging, stellte Ralph fest, daß sie gar nicht lächelte. Elsie – also die sollte lieber einen richtigeren Kurs steuern, bevor es zu spät war! Ein unschuldiges, naives Mädchen aus einer Kleinstadt im New Yorker Hinterland, kaum zwanzig! Es war gewiß noch nicht zu spät, und bis jetzt war sie noch nicht in Schwierigkeiten geraten. Doch was ihr gefährlich werden konnte, war ihre Einstellung: Sie vertraute einfach jedem. Offenbar fand sie die Drogensüchtigen und grell geschminkten Prostituierten an der Eighth Street und der Sixth Avenue ebenso vertrauenswürdig wie … ganz normale Leute oder sogar ihn selbst! Elsie sagte, sie finde alle Menschen amüsant. Na ja, immerhin schien sie ihren Lebensunterhalt bislang selbst zu verdienen. Ralph hatte sie vor etwa einem halben Jahr in einem Coffeeshop in der West Fourth Street kennengelernt. Danach war sie für eine Weile von der Bildfläche verschwunden, und als er sie irgendwann auf der Straße wiedertraf, erzählte sie, daß sie in einem Coffeeshop mit 24-Stunden-Betrieb arbeite, wo man Espresso und Wein ausschenke. Elsie nahm befristete Jobs an. Ralph wußte nie, wo sie als nächstes auftauchen würde.

An Gods steifbeinigem Gang erkannte Ralph, daß der Hund gleich sein großes Geschäft machen würde. »In den Rinnstein, God!« Ralph zerrte an dem kauernden Hund, bis alle vier Beine vom Bürgersteig herunter waren. Zerstreut registrierte Ralph, daß Gods Verdauung in Ordnung zu sein schien, holte eine Plastiktüte und eine kleine Schaufel aus der Jackentasche und hob den Haufen auf. Die Schaufel steckte er mit dem schmutzigen Ende zuerst in die Tüte. Zu Hause würde er sie abwaschen. Gerade als God seine Schritte wieder beschleunigte, fiel Ralphs Blick auf etwas, das im Rinnstein lag.

Es war eine Brieftasche, nur zwei Meter von dort entfernt, wo God seinen Haufen gemacht hatte. Ralph bückte sich und hob sie auf, ohne stehenzubleiben. Er und der Hund, dessen Nase die Brieftasche im selben Augenblick berührte wie Ralphs Hand, gingen weiter. Ralph sah starr geradeaus. Niemand eilte ihm nach, um die Brieftasche zurückzufordern. Ralph hatte sich schon immer gewünscht, so etwas zu finden: eine Brieftasche, in der Geld und vielleicht auch ein Ausweis war. Diese hier war ziemlich dick, und das Leder war weich und glatt, wahrscheinlich Kalbsleder. Ralph steckte sie in die Jackentasche. Er bog nach links in die Hudson Street ein und ging in Richtung Barrow Street, die zur Bleecker Street führte. Dort wohnte er.

Ralph und God betraten ein vierstöckiges Gebäude und gingen die Treppe zu Ralphs nach hinten gelegener Wohnung hinauf. Vor dem Eingang hatten wie immer die beiden verzogenen Kinder gestanden, die sich, als Ralph zur Tür ging, quer über die Stufen einen Ball zugeworfen hatten, und dann war er der wie immer dunkelgekleideten Italienerin begegnet, die im zweiten Stock wohnte und sich stets vor ihrer offenen Wohnungstür mit einem Eimer oder einem Besen zu schaffen machte, und wie immer hatte Ralph »’n Abend« gemurmelt, ohne darauf zu achten, ob sie ihm eine Antwort gab, doch heute ärgerte Ralph sich nicht darüber, denn er hatte eine Brieftasche gefunden.

Nachdem er die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, nahm er God das Halsband ab, zog die Jacke aus und legte die Brieftasche auf den Tisch, der vor den beiden rückwärtigen Fenstern stand. An diesem Tisch saß er, wenn er aß oder las, wenn er mit einem Lineal Zeichnungen anfertigte oder Modelle mit beweglichen Holzteilen baute. Der Tisch war aus Fichtenholz und etwa eineinhalb Meter lang. Die Platte war alt und glänzte, und an den Kanten hatte die Säge Kerben hinterlassen. Ralph setzte sich auf einen Stuhl und klappte die Brieftasche vorsichtig auf.

Es waren viele Geldscheine darin, eine Menge neuer Zwanziger. Ralph zählte das Geld und kam auf zweihundertdreiundsechzig Dollar. Nun zu den Papieren, den Ausweisen. Offenbar gehörte die Brieftasche einem Mann namens John Mayes Sutherland, der mindestens drei Adressen zu haben schien: eine in einer kleinen Stadt in Pennsylvania, von der Ralph noch nie gehört hatte, eine andere in Kalifornien und eine dritte in der Grove Street. Sicher lebt er dort, dachte Ralph, vermutlich in der Nähe der Stelle, wo er die Brieftasche verloren hat. Auf einer Karte, die seine Unterschrift trug, war mit Heftklammern das Foto eines jungen Mannes in einem Rollkragenpullover befestigt; es war ein Presseausweis, der zum Besuch eines französischen Filmfestivals berechtigte. Er war bereits seit einem Jahr abgelaufen, doch das Geburtsdatum des Mannes stand darauf, und Ralph sah, daß Sutherland dieses Jahr dreißig werden würde. Außerdem befanden sich vier Kreditkarten darin, und in einem mit einer Klappe verschlossenen Fach stieß Ralph auf drei Fotos. Zwei davon zeigten eine junge Frau mit langem, glattem, blondem Haar, das dritte dieselbe Frau mit Sutherland. Auf diesem Bild lächelte Sutherland glücklich, und er sah jünger aus als auf dem Foto, das an den Presseausweis geheftet war.

Ralph wollte nicht jedes Stück Papier untersuchen, das in der Brieftasche steckte, und davon gab es etliche: Visitenkarten und Zettel mit gekritzelten Adressen und Telefonnummern. Er fragte sich, ob Sutherland im Telefonbuch stand. Ob er jetzt zu Hause war? Als er zum Telefonbuch griff, ertappte sich Ralph dabei, daß er lächelte.

Es gab mehrere Sutherlands, doch Ralph fand, was er suchte: J.M. Sutherland in der Grove Street.

Jetzt gleich? Ralph zögerte und beschloß dann, sein Vergnügen, seinen Triumph über die Unehrlichkeit noch ein paar Minuten auszukosten. Er konnte Sutherland ja auch eine Karte schicken. Heute war Mittwoch. Er würde seine Vorfreude bis Freitag genießen können. Nein, das wäre übertrieben.

Ralph legte das Telefonbuch aufgeschlagen auf den Tisch und zog das Telefon zu sich heran.

»Au-wuff!« machte God unvermittelt, starrte Ralph mit seinen dunklen Augen an und wollte ihn zum Kühlschrank lotsen.

»Na gut, zuerst du, God«, sagte Ralph und legte den Hörer wieder auf. Seine Schicht begann heute nacht erst um zehn – es blieb also genug Zeit, um zu versuchen, Sutherland zu erreichen.

2

Jack Sutherland fand, daß es ein schöner Tag gewesen war. Er war im Supermarkt gewesen und hatte alles eingekauft, was er für morgen brauchen würde, wenn seine fünfjährige Tochter Amelia kam. Dann war er Richtung Central Park gefahren und hatte Geld von seinem Banckonto abgehoben, und anschließend hatte er sich zu einem sehr angenehmen Mittagessen mit seinem alten Studienfreund Joel MacPherson in einem Restaurant getroffen, das eher wie eine Kneipe wirkte und in der Nähe der CBS-Studios lag, wo Joel arbeitete. Jacks vier Zeichnungen – eigentlich eher Rohentwürfe – für Halb verstandene Träume hatten Joel gefallen, und seine Worte hatten Jack aufgemuntert: »Genau das, was ich will! Diese Leute sehen verwirrt aus, entmutigt, halb tot!« Und dann hatte er ein etwas irres Lachen hinterhergeschickt. Joels Buch hatte zweiundachtzig Seiten, und Jack sollte mindestens zwanzig Zeichnungen beisteuern. Der Titel gefiel Jack nicht, und das hatte er Joel auch gesagt, aber den Titel konnte man ja noch ändern. Das Buch handelte von einem New Yorker Ehepaar, das einen Sohn und eine Tochter hatte, die beide schon beinahe erwachsen waren; sie alle hatten Träume und Erwartungen, die sie weder dem Rest der Familie noch anderen Menschen mitteilen konnten oder wollten. Diese Träume und Phantasien wurden von denen, die sie hatten, nur halb verstanden und im täglichen Leben auch nur halb umgesetzt und von den anderen mißverstanden oder gar nicht bemerkt. Jack hatte Joel die Entwürfe gegeben und war nach dem Essen zu seinem Lieblingsgeschäft für Künstlerbedarf in der Seventh Avenue gegangen. Beladen mit einer neuen Zeichenmappe, ein paar Skizzenblöcken und einer Flasche Glenfiddich für Natalia (die übermorgen, also Freitag, kommen würde), hatte Jack sich ein Taxi gegönnt, anstatt wie sonst mit der Subway zur Christopher Street zu fahren.

Er freute sich besonders darüber, daß er einen ganzen Tag mit Amelia allein sein würde. Sie kam morgen früh in Begleitung von Susanne, ihrem inoffiziellen Kindermädchen, mit dem Bus aus Philadelphia. Da Natalia oft einen Tag später als geplant kam, würde er Amelia vielleicht sogar noch länger für sich haben.

Und Jack liebte auch die Wohnung in der Grove Street, die die ganze zweite Etage eines alten, aber gut erhaltenen Stadthauses umfaßte. Er liebte sie, weil Natalia und er eine ganze Menge Arbeit hineingesteckt hatten. Sie hatten bestimmte Räume nach ihrem Geschmack gestaltet und mit Möbeln eingerichtet, die ihnen gefielen. Eine Großtante von Natalia, die auf ihre alten Tage ein bißchen kauzig geworden war, hatte ihnen die Wohnung vor drei oder vier Jahren überlassen. Natalia und Jack zahlten nur die Steuern und die laufenden Kosten. Die Großtante besaß noch ein Haus irgendwo in Pennsylvania, aber da sie jetzt in einem Pflegeheim lebte, konnte man ziemlich sicher sein, daß sie nie mehr einen Fuß in dieses Haus oder die Wohnung in der Grove Street setzen würde. Natalia besuchte die alte Dame manchmal, obgleich diese sie oft gar nicht erkannte. Sie war jetzt sechsundneunzig, und Natalia sagte, sie könne ohne weiteres hundert werden, das liege bei ihr in der Familie.

Jack und Natalia hatten eine Wand herausreißen lassen, um das Wohnzimmer zu vergrößern, und an zwei Wänden Bücherregale aufgestellt. Jacks Arbeitszimmer befand sich am blinden Ende des Flurs und war von diesem durch einen Vorhang abgeteilt. Es war mit einem langen Tisch ausgestattet, der so hoch war, daß Jack daran stehen konnte, sowie mit einem höhenverstellbaren Bürostuhl für den Fall, daß Jack im Sitzen arbeiten wollte.

In den vergangenen drei Monaten war Jack in Philadelphia gewesen, in einem Studio in der Vine Street, das einem Freund gehörte. So war es für Jack leichter gewesen, Natalia an den Wochenenden im Haus ihrer Familie in Ardmore zu besuchen. Er hätte natürlich ebenfalls in dem großen Haus in Ardmore wohnen können – die Hälfte der Zimmer war ohnehin unbenutzt –, doch Jack arbeitete lieber in seinen eigenen vier Wänden, auch wenn es dort weit weniger luxuriös war. Natalias Mutter Lily verbrachte die Sommer in dem Haus in Ardmore, wo ihre Freunde sie besuchten und ein, zwei Tage blieben, und die Mahlzeiten wurden von Fred, dem Butler, serviert. Das war nicht so recht nach Jacks Geschmack, jedenfalls hielt er es dort nie länger als zwei Tage aus. Außerdem fand er, daß es Natalia ganz gut tat, nicht immer nur mit ihm zusammenzusein. Sie war eine Frau, die imstande war, einfach davonzulaufen, vielleicht für immer, wenn das Joch der Ehe sie auch nur ein kleines bißchen drückte. Natalia fühlte sich, wie sie es ausdrückte, »irgendwie verpflichtet«, ein paar Wochen bei ihrer Mutter zu verbringen, und diese schenkte ihr ja manchmal tausend Dollar oder auch mehr, wenn Natalia oder sie beide knapp bei Kasse waren oder eine bestimmte Anschaffung machen wollten. Jack wußte jedoch, daß Geld nicht der Grund war, warum seine Frau soviel Zeit bei ihrer Mutter verbrachte. Natalia machten diese Besuche mehr Spaß, ja, sogar Freude, als sie zugab.

In seinem Arbeitsraum packte Jack die neue Mappe aus. Sie war noch so sauber, ohne die Abdrücke von mit Zeichenkohle verschmierten Fingern, ohne die Tuschespritzer, die sie in den kommenden Monaten bekommen würde. Er löste die drei schwarzen Schleifen, mit denen sie zugebunden war, betrachtete das noch leere Innere, klappte sie zu und legte sie beiseite. Die Flasche mit dem Fixativ schob er zu den Tuschefläschchen, Farbdosen und Bechern mit Pinseln und Stiften in der hinteren linken Ecke seines Tisches und legte die Skizzenblöcke vor sich hin.

Er war hungrig. Am Vormittag hatte er Pastrami und Kohlsalat gekauft, doch vor dem Essen wollte er einen schönen, kühlen Drink. Der Barschrank war aus Bambus und hatte Schiebetüren. Natalia hatte ihn ausgesucht, und er war beileibe nicht billig gewesen. Er goß Jack Daniel’s über ein paar Eiswürfel, gab etwas Leitungswasser hinzu und schaltete den Fernseher ein. Bevor er sich in den Sessel mit dem grünen Überwurf setzte, faßte er in seine rechte Gesäßtasche, um seine Brieftasche herauszuziehen. Sie war nicht da. Dann mußte sie in der Jacke sein, die er heute getragen hatte.

Jack zögerte kurz und sah auf den Bildschirm, bevor er zum Garderobenschrank im Flur ging. Die Innentasche des blauen Baumwolljacketts war leer, ebenso die beiden Seitentaschen. Seltsam. Jack warf einen Blick in die Küche, ging dann ins Arbeitszimmer und sah schließlich im Barschrank nach, in den er den Glenfiddich gestellt hatte. Auch hier keine Brieftasche. Er öffnete die Wohnungstür. Auf dem marineblauen Fußabstreifer lag nichts.

Was war geschehen? Er hatte das Geld, mit dem er das Taxi bezahlt hatte, aus der Brieftasche genommen, das wußte er genau. Hatte er sie vielleicht im Wagen verloren? Oder war sie beim Aussteigen in den Rinnstein gefallen? Jack nahm die Hausschlüssel und rannte die Treppe hinunter. Wenn er unglaubliches Glück hatte, würde er sie auf der Straße finden. Er wußte noch, wo das Taxi gehalten hatte. Im Rinnstein lagen nur ein paar Filterzigarettenkippen und die Reißöse von einer Bierdose. Jack suchte den Boden rechts und links der Stelle ab und ging dann wieder hinauf, den Blick auf die Stufen gerichtet.

Herrgott, war das ärgerlich!

Vielleicht hatte er die Brieftasche einstecken wollen und die hintere Hosentasche verfehlt. Geschah ihm ganz recht: Warum lief er heute auch wie ein Freizeitcowboy herum, in Jeans und Turnschuhen, was er sonst so gut wie nie tat, das Geld in der Gesäßtasche? Plötzlich fiel ihm ein, daß er die Brieftasche beim Bezahlen zwischen die Knie geklemmt hatte, nachdem er einen Dollar extra als Trinkgeld herausgenommen hatte. Sie mußte auf den Boden des Taxis gefallen sein, und das bedeutete, daß er sie nie wiedersehen würde. Der nächste Fahrgast würde sie finden und einfach einstecken.

Am meisten ärgerte ihn der Verlust seines Lieblingsfotos von Natalia und ihm selbst. Es war kurz vor ihrer Hochzeit gemacht worden, etwa zu der Zeit, als Natalia schwanger geworden war. Vielleicht war sie da schon schwanger gewesen. Ich hab geheiratet, damit ich von der Schule abgehen konnte, hatte Natalia ein paarmal zu Freunden gesagt und dabei gelächelt. Sie hatten auch geheiratet, weil sie schwanger geworden war; Natalia hatte Angst vor einer Abtreibung, aber auch Angst vor der Geburt gehabt, doch sie hatte das Kind zur Welt gebracht, und glücklicherweise war die Geburt nicht allzu schwer gewesen. Es waren noch ein paar andere Fotos von Natalia in der Brieftasche. Auf einem davon war sie zweiundzwanzig und sah so jung und selbstsicher aus; sie lächelte, wie immer mit geschlossenem Mund, und das Lächeln in ihren Augen war noch größer. Die Fotos waren für immer verloren. Dieses Gesicht würde sie nie wieder für irgendeine Kamera aufsetzen.

»Verdammt!« Jack stand auf.

Und dann waren da noch die Kreditkarten von Brooks Brothers und American Express und von irgendeiner Tankstellenkette. Von welcher eigentlich? Er mußte den Gesellschaften sofort Bescheid geben und hoffte, daß er die Kreditkartennummern hier irgendwo hatte, daß sie nicht ganz hinten in dem Adreßbuch standen, das Natalia nach Ardmore mitgenommen hatte. Jack ging in die Küche, nicht mehr ganz so hungrig wie zuvor. Morgen würde er also noch einmal zur Bank gehen müssen, denn nun hatte er kein Bargeld mehr. Zum Glück war in seiner Tasche noch etwas Kleingeld für die Subway.

Er trug eine Dose Bier und den Teller mit Pastrami, Kohlsalat und sauren Gürkchen zu dem Sessel, vor dem er einen der kleinen Klapptische aufgestellt hatte, die Natalia so verabscheute, mit denen sie sich aber abgefunden hatte. »Verdammt!« murmelte Jack – ein letzter Kommentar zu der Sache mit der Brieftasche, bevor er von dem Brot abbiß. Der Fernseher war noch immer eingeschaltet, doch Jack interessierte sich nicht mehr für das Programm. Das Gerät war wie ein Nachbartisch in irgendeinem Restaurant: eine beruhigende Geräuschkulisse.

Das Telefon läutete, und Jack stand auf. Vielleicht war das Natalia. Er hoffte, daß sie nicht jetzt schon beschlossen hatte, später zu kommen.

»Hallo? Kann ich bitte Mr. Sutherland sprechen?«

»Das bin ich.«

»Würden Sie mir bitte Ihren Vornamen sagen?«

»Ja. John.«

»Haben Sie heute etwas verloren, Mr. Sutherland?«

Worauf wollte dieser Kerl – wie ein Junge hörte er sich nicht an – eigentlich hinaus? Natürlich war er auf Geld aus, aber Jack hatte plötzlich die Hoffnung, wenigstens die Fotos zurückzubekommen. »Ich habe meine Brieftasche verloren.«

Der Mann lachte kurz. »Tja, die habe ich gefunden. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Sind Sie das auf dem Foto? Mit der blonden Frau?«

Jack runzelte angespannt die Stirn. »Ja.«

»Dann werde ich Sie ja erkennen, wenn ich Sie sehe. Nicht daß ich sie dem Falschen gebe. Ich bin in Ihrer Nähe. Soll ich sie gleich vorbeibringen? In der nächsten Viertelstunde?«

»Ja, aber … Hören Sie, vielleicht können wir uns vor meinem Haus auf der Straße treffen. Hier schläft noch jemand, und darum –«

»Natürlich, Sir. In etwa zehn Minuten vor Ihrem Haus? Acht Minuten?«

Nachdem er aufgelegt hatte, kam es Jack einige Sekunden lang so vor, als habe er geträumt. Eine sehr amerikanische Stimme war das gewesen und eher die eines älteren Mannes. Trotzdem war es klug gewesen, diesen Burschen nicht in die Wohnung zu bitten. Das Geld war natürlich weg, aber vielleicht war alles andere noch da, sofern der Mann oder jemand, der die Brieftasche vor ihm gefunden hatte, auch die Kreditkarten behalten hatte. Jack sah auf seine Armbanduhr. Gleich halb acht.

Er nahm das blaue Jackett aus dem Garderobenschrank und ging hinunter. Auf dem Bürgersteig steckte er die Hände in die hinteren Taschen seiner Jeans und blickte die Straße hinauf und hinunter. Ein schlaksiger junger Schwarzer kam auf ihn zu und ging an ihm vorbei. Dann zwei Frauen, die sich miteinander unterhielten, und drei einzelne Männer, doch keiner von ihnen sah ihn auch nur an. Die Minuten vergingen. Jetzt näherte sich ein Mann in mittleren Jahren, mit einem Hund, dahinter ein bärtiger, rasch ausschreitender Rabbi.

»Mr. Sutherland?«

Jack hatte auf den Mann mit dem Hund nicht weiter geachtet. In diesem Augenblick schaltete sich die Straßenbeleuchtung ein, obgleich es noch recht hell war.

»Ja, Sie sind es«, sagte der Mann, der ebensogroß wie Jack war, wenn nicht sogar größer. Er hatte schwarzes, graumeliertes Haar und dunkle, wachsam blickende Augen. »Tja …« Er nahm die Hundeleine von der rechten in die linke Hand und griff in die Tasche seines alten, wenn auch ziemlich gepflegten Tweedjacketts. »Dann gehört das wohl Ihnen?« Er zog die Brieftasche hervor.

»Wo haben Sie sie gefunden? Hier, vor meiner Tür?«

»Ja. Vor etwa einer Stunde.«

Da der Mann ihm die Brieftasche hinhielt, nahm Jack sie und schob den Daumen hinein. Er klappte sie auf und sah das Bündel neuer Zwanzigerscheine, hob den Deckel des Fotofachs an und sah unter dem Fenster die Bilder. Auch die Kreditkarten waren da.

»Zweihundertdreiundsechzig Dollar«, sagte der Mann mit seiner etwas rauhen, aber artikulierten Stimme. »Ich hoffe, es stimmt.«

Jack lächelte überrascht und benommen. »Wenn Sie es sagen … Ich bin … völlig überwältigt. Darf ich Ihnen hundert Dollar für Ihre Freundlichkeit anbieten?« Er wollte das Geld schon abzählen. Der Mann sah aus, als könnte er es gebrauchen.

»Nein, nein!« sagte der Fremde lachend und machte eine schüchterne, abwehrende Geste. »Es war mir ein Vergnügen. Man findet schließlich nicht alle Tage eine Brieftasche und hat Gelegenheit, sie ihrem Besitzer zurückzugeben. Ich glaube, das war das erste Mal in meinem Leben.« Wenn er lächelte, sah man, daß ihm der erste Backenzahn fehlte.

Jack hatte den Eindruck, daß er ein einsamer, vielleicht exzentrischer Junggeselle war. »Wenn einem jemand einen solchen Gefallen tut, will man sich aber irgendwie erkenntlich zeigen.«

»Es ist selbstverständlich, etwas Gefundenes dem Besitzer zurückzugeben, sofern man ihn herausfinden kann. Meinen Sie nicht auch? Jedenfalls, wenn wir in einer anständigen Welt leben würden.« Jetzt lächelte er nur noch schwach und hatte die Stirn über den dunklen Augen in ernste Falten gelegt.

Jack lachte und nickte zustimmend. »Und Sie sind sicher, daß Sie es sich nicht anders überlegen und Ihrem Hund ein schönes Zwanzig-Dollar-Steak kaufen wollen?« Jack zog einen Zwanziger hervor.

»Für God? Nein, ich glaube, er ist mit seinem Futter ganz zufrieden. Meistens gebe ich ihm frisches Fleisch und nicht dieses fette Hamburger-Zeug aus der Dose. Er kriegt ohnehin zuviel.« Er ruckte an der Leine. »God, sag dem Herrn da guten Tag.«

»Er heißt God?« fragte Jack und betrachtete den schwarzweißen Hund, der ihm bis zum Knie reichte. Die nach vorn geklappten Ohren und sein Ringelschwanz verliehen ihm Ähnlichkeit mit einem Schwein, nur daß die Schnauze recht spitz war.

»Ich bin Atheist«, sagte der Mann. »Darum habe ich Ihnen auch die Brieftasche zurückgegeben. Ich glaube nämlich, daß der Mensch sein Schicksal selbst gestaltet und sich Himmel oder Hölle hier auf Erden bereitet. Ich finde es zum Beispiel lächerlich, immer nur von einem einzigen Gott zu sprechen. Es gibt so viele Götter. Haben Sie schon mal daran gedacht, wie absurd es wäre, wenn in der Zeitung stünde, daß der Präsident zu Jupiter gebetet hat, um göttlichen Ratschluß zu bekommen? Oder vielleicht zu Thor? Das wäre doch lachhaft, nicht?«

Jetzt lächelte Jack, allerdings etwas unbehaglich.

»Wir nennen unseren Gott bloß ›Gott‹ – man könnte meinen, uns sind die Namen ausgegangen. Afrikaner haben alle möglichen Götter, und jeder hört auf einen anderen Namen.« Er schmunzelte.

Jack kam zu dem Schluß, daß der Mann ein Wirrkopf war und daß dieser Sermon den ganzen Abend dauern konnte, wenn er ihn nicht bremste. Er nickte. »Da könnten Sie recht haben. Tja, nochmals herzlichen Dank – das meine ich ganz aufrichtig.« Er streckte ihm die Hand hin.

Der andere ergriff sie, als schüttelte er gern Hände. »Es war mir ein Vergnügen, Sir. Sind Sie Journalist?«

Jack machte sich los und tat einen Schritt in Richtung Hauseingang. »Gelegentlich. Als freier Mitarbeiter. Einen schönen Abend, Sir, und nochmals danke.« Als er die Stufen hinaufging, hielt er den Schlüssel bereits in der Hand. Er hatte das Gefühl, daß der Mann ihn beobachtete, doch als er die Tür hinter sich schloß und auf die Straße blickte, ging der Mann mit seinem Hund in östlicher Richtung davon und sah sich nicht um.

Seltsame Geschichte, dachte Jack. In New York wußte man nie, was passieren würde.

Er setzte sich an den Schreibtisch, der in der Ecke des Wohnzimmers stand, und untersuchte die Brieftasche genauer. Es war schon verwunderlich, daß er alles wieder zurückhatte. Als erstes betrachtete er die Fotos, dann zählte er die Kreditkarten – es waren nicht drei, sondern vier, aber das hatte schon seine Richtigkeit. Das Geld zählte er nicht, denn er war sicher, daß nichts fehlte. Er setzte sich an den Klapptisch und aß mit besserem Appetit als zuvor.

Der Fernseher lief noch immer, und das Programm war noch immer uninteressant.

Ein komischer Kauz, dieser Mann mit dem Hund, der »God« hieß. Jack hatte höflich sein und ihn fragen wollen, wie er hieß und was er von Beruf war, doch jetzt war er froh, daß er das nicht getan hatte. Der Bursche war auf seine wohlmeinende Art bestimmt eine Nervensäge, und offenbar wohnte er in der Nachbarschaft. Es war eine witzige Geschichte, die er Natalia erzählen konnte.

Eine knappe Stunde später legte sich Jack die Arbeit zurecht, an die er sich morgen machen würde – vielleicht auch noch heute abend, wenn ihm danach war. Außer Joels Projekt, für das es noch keinen Vertrag und daher auch keinen Abgabetermin gab, warteten zwei Buchumschläge auf ihn, und die mußten in etwa zwei Wochen fertig sein. Auf dem einen sollte ein Haus mit drei Menschen an drei verschiedenen Fenstern sein, Neuengland-Stil, neunzehntes Jahrhundert. Auf dem anderen Umschlag sollte ein Gewimmel von Leuten sein, die einander schoben und sich drängelten wie die Menschenmassen, die um sechs Uhr abends aus den U-Bahnhöfen auf die Straßen quollen. Dem Lektor hatten die Entwürfe gefallen, die Jack ihm aus Philadelphia geschickt hatte, und gestern war Jack im Verlag gewesen, wo man sich bezüglich der farblichen Gestaltung verständigt hatte. Jack spielte mit dem Bleistift herum, kritzelte, träumte vor sich hin und experimentierte mit dem Weiß, das er für die Fassade des Hauses verwenden wollte. Das Haus sollte weiß, rosafarben und grün sein; die Konturen würde er mit dem schwarzen Tuschestift zeichnen. Morgen, wenn Amelia da war, würde er vielleicht nicht viel arbeiten können. Abgabetermine waren ihm zuwider. Am liebsten tat er so, als gäbe es sie nicht, und wenn es ihm gelang, diese Illusion aufrechtzuerhalten, konnte er die Arbeit sogar früher abgeben.

Als Hintergrundmusik legte er eine Glenn-Gould-Kassette ein, doch seine Gedanken waren gleichermaßen bei der Musik wie bei den Farben und Linien auf dem Papier unter seiner linken Hand. Es kam darauf an, das Gleichgewicht zwischen dem Träumen und dem Gestalten zu bewahren, dachte Jack und fühlte sich mit jeder Minute glücklicher.

3

Jack spähte über die Menge der Passagiere hinweg, die auf ihr Gepäck warteten. Wie konnten in einem einzigen Bus so viele Menschen gewesen sein? Wo war Susannes langes braunes Haar, wo war ihr ernstes Gesicht, das sich zu Amelia hinunterbeugte, die, weil sie so klein war, natürlich nicht zu sehen sein würde?

»Ich nehm Ihre –«

»Finger weg!« fauchte ein schmächtiger Mann einen Burschen an, der seine Koffer nehmen wollte, um sie zu einem Taxi zu tragen. Der kleine Mann packte mit jeder Hand einen Koffer und schien entschlossen, den Größeren mit Fußtritten abzuwehren.

Jack hatte an diesem Morgen gearbeitet und in dem hohen Flur der Wohnung an den Ringen trainiert. Auch heute trug er Jeans und das blaue Jackett, doch diesmal hatte er die Brieftasche in die Innentasche gesteckt.

»Susanne!« rief er und winkte.

»Hallo, Jack! Ich warte noch auf einen!« Damit meinte Susanne einen Koffer.

»Hallo, Süße!« Jack hob das kleine Mädchen in Bluejeans und T-Shirt hoch. Amelias Haar war lang und glatt wie das ihrer Mutter, nur heller.

»Hallo, Daddy«, antwortete sie ruhig. »Laß mich runter.«

»Du bist schwerer geworden.«

»Ich bin gewachsen.« Amelia griff nach ihrem kleinen Koffer.

Jack nahm Susanne einen Koffer und Amelias Rucksack ab. »Wie geht’s?«

»Prima, danke.«

»Kommst du mit in die Grove Street oder –«

»Nur wenn du mich brauchst, Jack. Aber wenn du mich brauchst, habe ich jede Menge Zeit.« Susanne war zweiundzwanzig, ernsthaft und recht hübsch, auch wenn sie sich kaum schminkte. Sie lebte mit ihren Eltern in einer geräumigen Wohnung am Riverside Drive.

»Nein«, sagte Jack. Sie gingen zum Taxistand. »Vielen Dank, daß du diese Woche ein bißchen aufgeräumt hast.« Susanne hatte vor seiner Ankunft die Wohnung in der Grove Street geputzt und ein paar Lebensmittel in den Kühlschrank gestellt. »Und Natalia kommt also morgen?«

»Ich glaube schon.« Susanne sah ihn mit ihrem freundlichen Lächeln an und strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Ich habe jedenfalls nichts anderes gehört.«

Sie sagte, wenn er sie brauche, um auf Amelia aufzupassen oder um einzukaufen und für Gäste zu kochen, werde sie vorbeikommen. Das war die Abmachung, die sie vor über einem Jahr mit Susanne Bewley getroffen hatten. Susanne war Studentin an der New York University und arbeitete schon seit Ewigkeiten, wie Jack fand, an ihrer Dissertation.

»Nimm du das hier.« Jack meinte das erste Taxi. »Doch, ich bestehe darauf.« Er lud ihren Koffer hinein. »Ich melde mich. Danke, Susanne.«

»Wiedersehen, Süße! Bis bald!« rief Susanne Amelia zu, als wäre sie ihre kleine Schwester.

Sogleich winkte Jack ein zweites Taxi herbei.

»Na, freust du dich, wieder in New York zu sein, Amelia?« fragte Jack, als sie in südlicher Richtung fuhren.

»Ja.« Amelia saß kerzengerade da und sah aus dem Fenster. »Ich verreise gern.«

»Wie geht’s deiner Mama?«

»Ganz gut. Sie spielt Golf und –«

»Golf?« Jack lachte.

Amelia lächelte und entblößte ihre Milchzähne. In ihrem Lächeln lag eine Andeutung wissender Amüsiertheit, und die Art, wie sie ihr Haar mit einem Kopfruck aus dem Gesicht warf, erinnerte Jack an ihre Mutter. Natalia trug den Scheitel rechts, Amelia links. »Aber man muß nicht Golf spielen, um dahin zu gehen«, sagte sie.

Jack wußte, daß sie von dem Golfclub sprach. Sie waren auf der Seventh Avenue und fuhren gerade an der Twentythird Street vorbei. »Und war Louis auch da?« fragte er. Er stellte diese Frage nicht gern, aber es würde wohl die erste und letzte sein, die sich auf Louis bezog.

»Nein, Louis würde nie in den Golfclub gehen!« sagte Amelia kichernd.

Doch er ist im Haus, wollte Jack sagen, tat es aber nicht. Nie das Personal aushorchen – an diesen Satz erinnerte er sich aus seiner Kindheit, und daraus folgte, daß man auch Kinder nicht aushorchte. Louis war immer in Natalias Nähe, wie ein unentbehrliches Accessoire. Louis Wannfeld hatte ein Haus in Philadelphia und eine Wohnung in New York, in den East Sixties, die er mit seinem Freund Bob teilte. Louis war Börsenmakler oder Investmentberater und handelte auch mit Immobilien – lauter Dinge, von denen Jack keine Ahnung hatte. Jedenfalls schien Louis unbegrenzt Zeit zu haben. In Ardmore oder in irgendeinem Restaurant in New York unterhielt er sich manchmal bis drei Uhr morgens mit Natalia, und wie Natalia konnte er am nächsten Tag ausschlafen. Da Louis schwul war, hatte Jack eigentlich keinen Grund zur Eifersucht, aber dennoch war er hin und wieder eifersüchtig. Über was, zum Donnerwetter, unterhielten sich Natalia und Louis eigentlich von zehn Uhr abends bis in die frühen Morgenstunden? Warum waren sie voneinander so angezogen? Er ist mein Seelengefährte, hatte Natalia mehr als einmal gesagt. Und ist dir je der Gedanke gekommen, ihn zu heiraten? hätte Jack fragen können – und hatte es doch nicht getan. Er war sicher, daß Natalia geantwortet hätte: Um alles zu kaputtzumachen?

Amelia akzeptierte Louis wie einen Onkel. Und Louis wiederum akzeptierte, wie Jack wußte, auf seine Art auch Jack und Amelia. Vermutlich fand er, seine Freundschaft zu Natalia sei ganz rein und unschuldig, denn schließlich hatte sie ja schon bestanden, bevor Natalia Jack kennengelernt hatte.

Sie bogen jetzt in die Barrow Street ein und näherten sich der Grove Street, und Jack zog die Brieftasche hervor, um zu bezahlen, achtete aber sorgfältig darauf, daß er sie wieder sicher in der Innentasche verstaute.

»Den kann ich nehmen!« sagte Amelia. Damit meinte sie ihren Koffer, und Jack überließ ihn ihr.

Oben verkündete sie: »Ich mag diese Wohnung«, als hätte sie sie noch nie gesehen – dabei hatte sie den größten Teil ihres Lebens hier verbracht. Sie ging von einem Ende der Wohnung zum anderen und sah aus den vorderen und hinteren Fenstern.

»Dein Zimmer ist hier. Kennst du es noch?« Jack legte den größeren Koffer auf die blaßblaue österreichische Truhe mit dem rosafarbenen Blumenmuster.

Das Telefon klingelte.

»Wahrscheinlich für dich«, sagte Jack. »Gehst du dran, Amelia?« Er hoffte, daß es Natalia war.

»Familie Sutherland«, sagte Amelia. »Oh, hallo, Penny … Ja … Weiß nicht. Ich glaube schon.«

Jack wurde gerufen, damit er sein Einverständnis gab, daß Amelia Penny morgen bei Pennys Mutter in den East Eighties besuchte. Jack notierte sich die Adresse für den Fall, daß sie in keinem ihrer Adreßbücher stand. Um elf.

»Ich bringe Amelia dann gegen vier Uhr zurück«, sagte Pennys Mutter. »Ist Natalia da?«

»Sie kommt erst morgen«, sagte Jack.

Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, drehte er sich zu seiner Tochter um. »Vielbeschäftigtes Mädchen.« Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie Mrs. Vernon, Pennys Mutter, eigentlich aussah, doch er erinnerte sich, daß Natalia sie einige Male erwähnt hatte. Die Kinder kannten sich von Amelias Schule in der West Twelfth Street. »Was habt ihr beiden morgen vor?«

»Wir sind zu mehreren. Vielleicht vier oder fünf. Penny hat neue Videokassetten. Kann ich baden?«

»Klar.«

Amelia wollte, daß er die blauen Kügelchen aus dem großen Glas ins Wasser gab, das Badesalz, das Natalia manchmal benutzte. Jack konnte den Duft bis in die Küche riechen. Daß ich dazu beigetragen habe, eine Miniatur-Natalia zu erschaffen, dachte er lächelnd, während er das Mittagessen vorbereitete. Er deckte den Tisch mit grünen Servietten und weißen Tellern ohne Dekor. Schinken, Kartoffelsalat, Milch. Zum Nachtisch Vanillecremetorte. Neben Amelias Teller legte er ein langes, schmales, in rot gestreiftes Papier gewickeltes Päckchen.

Barfuß, in weißen Shorts und ohne Oberteil trat Amelia in die Küche. Sie erklärte, in New York sei es heißer als in Ardmore, doch die Luft gefalle ihr besser. Jack lachte, doch er wußte, was sie meinte.

»Was ist das?« fragte sie, als sie sich gesetzt hatte, und nahm das Geschenk in die Hand.

»Für dich. Mach’s auf.«

Sie löste die schmale Schleife. Ihr blondes Haar, noch feucht vom Bad und dunkler als sonst, sah so golden aus wie das von Natalia, ihre Augenbrauen wirkten ebenso ungewöhnlich wie die ihrer Mutter – schwere, unweiblich gerade Balken –, doch ihr Mund war eher wie seiner: schmaler als der von Natalia, beweglicher, veränderlicher. Amelia kam ihm bei jedem Wiedersehen, selbst nach nur zwei Wochen, ein wenig größer, ein wenig verändert vor, und schon darum wurde es Jack nie müde, sie zu betrachten.

»Oh, eine … eine Plockflöte!«

»Blockflöte, Schatz. Eine echte. Damit kannst du schöne Musik machen.«

Amelia versuchte es und legte angestrengt die Stirn in Falten.

»Nicht vergessen: Du mußt alle Finger benutzen. Fast alle. Ich habe ein kleines Buch dazu, das zeige ich dir später. Jetzt laß uns erst mal essen.«

Als es Abend wurde, hatte Natalia noch nicht angerufen, was darauf hindeutete, daß sie morgen kommen würde. Amelia hatte sich mit Blockflöte und Büchlein in ihr Zimmer zurückgezogen und beinahe eine halbe Stunde lang geübt, und Jack hatte sich von den falschen Tönen nicht bei der Arbeit stören lassen. Dann hatte sie zu seiner Überraschung einen langen Mittagsschlaf gehalten. Danach war sie hungrig gewesen, doch Jack hatte sie überredet, noch eine halbe Stunde zu warten – er wolle nämlich mit ihr ausgehen.

»In ein Restaurant, wo sie riesige Portionen servieren. So groß.« Er breitete die Arme aus.

»Und wie heißt das?«

»Mexican Gardens. Wir können zu Fuß hingehen. Waren wir da nicht schon mal? Kommt mir so vor.«

Amelia konnte sich nicht erinnern. »Du hast Tusche am Finger.«

Jack betrachtete den Mittelfinger seiner linken Hand, der oft mit Tusche verschmiert war. »Na und? Ich hab übrigens eine Geschichte für dich.«

Er erzählte ihr, er habe seine Brieftasche verloren und sich sehr geärgert, weil er gedacht habe, daß er die Fotos nie mehr wiedersehen würde, und außerdem sei auch eine Menge Geld darin gewesen. Dann von dem geheimnisvollen Anruf, dem Treffen vor dem Haus, dem fremden Mann und seinem Hund namens God. Während er sprach, griff Jack zu dem Bleistift und dem Notizblock, die auf dem Küchentisch lagen.

»So sah er aus: die Haare ein bißchen zerzaust, etwas unrasiert – stirnrunzelnd und zugleich lächelnd. Und das ist der Hund, der ein bißchen wie ein Schwein aussieht – aber ein freundliches Schwein, denn er hat auch gelächelt.«

Amelia lachte und sah zu, wie der Bleistift sich über das Papier bewegte.

»Aber er hatte meine Brieftasche, und das ganze Geld war noch darin, und er wollte nicht mal zwanzig Dollar Finderlohn. Ist das nicht eine nette Geschichte? Ist das nicht ein netter Mann?«

Amelia legte den Kopf schief und betrachtete nachdenklich lächelnd die Zeichnung. »Wie alt war er?«

»Hm – etwas über fünfzig, vielleicht fünfundfünfzig.«

»Fünfundfünfzig!«

»Na ja, deine Großmutter ist auch fast fünfundfünfzig. Ja, das stimmt. Aber ist diese Geschichte nicht schöner als diese Bibelgeschichten?« fragte Jack, denn ihm fiel ein, daß Natalia ihm erzählt hatte, ihre Mutter habe Amelia ein paar Geschichten aus einer Kinderbibel vorgelesen – allerdings wohl nicht sehr viele, denn Lily war nicht sonderlich religiös. »Und noch dazu wahr.«

»Sind die Bibelgeschichten denn nicht wahr?«

»Doch. Die meisten jedenfalls. Also, Amelia, wenn du mal eine Brieftasche oder Handtasche findest und den Besitzer ausfindig machen kannst, dann machst du es hoffentlich wie dieser Mann: Du gibst sie demjenigen zurück, der sie verloren hat.«

Abermals legte Amelia den Kopf schief. »Auch wenn richtig viel Geld drin ist?«

»Ja!« Jack lachte. »Du hättest sehen sollen, wie glücklich der Mann war, als er mir die Brieftasche überreicht hat! Das war für ihn wirklich der Höhepunkt des Tages.«

4

Am nächsten Morgen rief Natalia an, kurz nachdem Jack Amelia zu Mrs. Vernon gebracht hatte.

»Ich hab’s vorher schon mal probiert, aber … Ach so, bei den Vernons, ja, das dachte ich mir. Ich wollte nur sicher sein, daß du zu Hause bist, denn ich kann meinen Schlüssel nicht finden. Den Wohnungsschlüssel. Vielleicht ist er in irgendeinem Koffer.«

»Ich bin zu Hause. Wo bist du jetzt?«

Sie war an einer Tankstelle und sagte, sie brauche noch etwa eine Stunde.

»Hetz dich nicht. Fahr vorsichtig, Schatz.«

Jack ging wieder an seinen Arbeitstisch. Die Zeichnung der Hausfassade lag vor ihm, in zarten Bleistiftstrichen, bereit für die Tusche, doch Jack schlenderte erst einmal durch die ganze Wohnung. Er ordnete die Kissen auf dem Sofa, auch wenn Natalia nicht viel auf Ordnung gab. Es war genug zu essen da, und Natalia würde gegen Mittag ankommen, doch auch auf regelmäßige Mahlzeiten gab Natalia wenig, und man konnte nie wissen, ob sie hungrig sein würde oder nicht.

Er war tief in die Arbeit versunken und gerade dabei, mit dem Pinsel einen dünnen, aufwärts gereckten Zweig zu zeichnen, als er den Zweiklang einer Autohupe hörte, der sich für ihn von den anderen Straßengeräuschen unterschied. Er trat ans Wohnzimmerfenster und sah auf der anderen Straßenseite Natalia, die den Kofferraum ihres roten Toyotas öffnete. Die Straße war feucht von einem leichten Regen, den Jack gar nicht bemerkt hatte.

»He!« rief er. Sie sah auf. »Ich komme runter!« Sie winkte ihm zu.

Jack nahm seinen Schlüsselbund und eilte die Treppe hinunter. »Hallo, Schatz.« Sie trug den alten Regenmantel mit dem Pelzkragen, und er drückte ihren Arm und gab ihr einen flüchtigen Kuß auf die Wange. »Müde?« Er hob einen Koffer aus dem Kofferraum.

»Nein, aber in Pennsylvania hat es geschüttet wie aus Kübeln.«

Die Kotflügel des Wagens waren schlammbespritzt. »Die hier auch?« Er hielt eine Reisetasche hoch.

»Ja. Ich nehme die Büchertasche.« Sie verschloß die Wagentür, nahm eine mit dem Harvard-Zeichen bedruckte Stofftasche voller Bücher aus dem Kofferraum und verschloß auch diesen.

Oben stellte sich heraus, daß Natalia eben doch müde war – es klang so, als hätte sie, wenn überhaupt, nur zwei Stunden geschlafen. Sie hatte sich mit Louis und einigen seiner Freunde zum Abendessen getroffen, und dann hatte Louis sie in den frühen Morgenstunden noch einmal angerufen.

»Da hatte ich dann die Nase voll, und so hab ich mich ziemlich früh auf den Weg gemacht.«

Doch dann erzählte sie von Leuten, die in Ardmore zu Besuch gewesen waren, und von einem langweiligen Essen im Golfclub, mit Freundinnen ihrer Mutter, und sagte nichts mehr davon, daß sie von Louis die Nase voll hatte.

»Zieh dir doch wenigstens die Schuhe aus. Entspann dich.«

Sie trug weiße Sandalen mit Absätzen, einen Sommerrock und darüber eine Bluse. Möglicherweise hat sie sich seit gestern abend nicht umgezogen, dachte Jack.

»Willst du duschen? Einen Drink? Es ist jede Menge Glenfiddich da.«

»Ja«, sagte Natalia, setzte sich auf das Sofa und streifte die Sandalen ab. Sie zündete sich eine Marlboro an und ließ sich zurücksinken.

Jack machte ihr einen Scotch on the Rocks, in einem altmodischen, gedrungenen Glas, denn Natalia mochte keine hohen Gläser. Er atmete Natalias zarten, erregenden Duft ein. Selbst der Rauch ihrer Zigarette war erregend.

»Danke, Jack.« Sie lächelte mit geschlossenem Mund, ihre graugrünen Augen blickten warm. Unter ihren Augen waren winzige Fältchen, die sie, wenn sie gewollt hätte, unter etwas Make-up hätte verbergen können. Ihre Augen waren nicht groß, und an den inneren Winkeln liefen die Oberlider in einer Falte aus. Beim Lächeln öffnete sie selten den Mund, nur beim Lachen, denn sie schämte sich ihrer Zähne, die nicht so weiß waren, wie sie es sich wünschte, auch wenn die Verfärbungen nicht vom Rauchen stammten. Auch ihre Beine waren nicht das Attraktivste an ihr, denn sie waren ein bißchen zu dick. Was war es nur, das ihr diesen wahnsinnigen Sex-Appeal verlieh, und zwar nicht nur für Jack, sondern auch für viele andere? Vielleicht ihre Stimme, die Humor und Intelligenz verriet, auch wenn sie manchmal ein wenig belegt war und Natalia sich häufiger räuspern mußte als die meisten. Jack dachte oft, daß Natalia am Telefon nur zu husten oder sich zu räuspern bräuchte – er würde sofort wissen, daß sie es war. Er hoffte sehr, daß es ihm gelingen würde, sie in Stimmung zu bringen, damit sie mit ihm ins Bett ging, bevor Amelia zurückkehrte – das würde so gegen halb fünf sein.

»Wie kommst du mit der Arbeit voran?« fragte sie.

»Ach, das erzähle ich dir später. Ich zeige es dir. Im Augenblick mache ich Buchumschläge.« Jack kniete auf dem großen Sessel und hatte die Unterarme auf die Lehne gelegt. Am liebsten wäre er darüber hinweggesprungen, hätte sich auf Natalia mitsamt ihrem Scotch gestürzt und gleich hier auf dem Sofa mit ihr geschlafen. »Und wie geht’s deiner Mutter?«

»Ach, meine Mutter«, stöhnte Natalia, sah an die Decke und lachte. »Am Sonntag kommt Teddie. Er wird sie bei Laune halten.«

Teddie war Natalias jüngerer Halbbruder aus der zweiten Ehe ihrer Mutter. Natalias Vater war tot, und Teddies Vater hatte sich scheiden lassen. Teddie war zwanzig und ging irgendwo in Kalifornien aufs College. Er war bei seinem Vater, der das Sorgerecht hatte, aufgewachsen.

Natalia bemerkte, die Wohnung sei bemerkenswert gut aufgeräumt. Das war ungewöhnlich. Jack spürte, daß ihr irgend etwas Sorgen bereitete. Sie hatte ihren Scotch erst halb ausgetrunken, als sie sich erhob und sagte, sie wolle jetzt duschen. Während sie im Badezimmer war, brachte Jack ihren Koffer ins Schlafzimmer und machte die Schließen auf, ohne den Deckel zu öffnen. Eine leise, angenehme Erregung ließ sein Herz klopfen. »Wie kommst du mit der Arbeit voran?« Jack lächelte unwillkürlich. Meist hatte er das Gefühl, daß sie daran nicht sonderlich viel Anteil nahm. In ihren Augen war seine Arbeit wohl eine Art Zeitvertreib, mit dem er vielleicht auch ein wenig Geld verdiente. Einige seiner Zeichnungen fand sie sehr gelungen, doch im Grunde interessierte sie sich mehr für Gemälde. Gute Kunst war für sie etwas Lebenswichtiges, wie Vitamine oder das Sonnenlicht. Jack war kein herausragender Künstler. Und auf sein Geld war sie nicht angewiesen, wie er sehr wohl wußte.

In blauen Plüschpantoffeln und dem gelben Frotteebademantel, der an der Badezimmertür hing, trat Natalia wieder ins Wohnzimmer. Wie gestern Amelias Haar war auch ihres jetzt dunkler, und Jack schlug die Augen nieder, einfach weil er sie so gern ansah. Natalia verabscheute sklavische Ergebenheit, rief er sich ins Gedächtnis, ja, sie lachte nur darüber.

»Vielleicht werde ich Isabel nächste Woche ein bißchen helfen«, sagte Natalia und nahm ihr Glas, das auf dem Couchtisch gestanden hatte. »Sie hat demnächst eine Pinto-Ausstellung.« Natalia nippte an dem Scotch. »Und er ist eine echte Nervensäge. Du erinnerst dich?«

»Mhm.« Jack dachte an die Geschichten, die Natalia ihm über Pinto erzählt hatte, einen nervösen, aber sehr von sich eingenommenen jungen Künstler aus Brasilien, der ein paar Ausstellungen in Amsterdam und Paris hinter sich hatte. »Wann ist die Ausstellung?«

»Die? In ungefähr einer Woche. Ich helfe ihr nur beim Hängen und so. Sie bezahlt mir sogar was dafür – und ein kleines Zubrot kann ich immer gebrauchen. Wir, meine ich.« Sie lachte bei dem Wort »gebrauchen«.

»Dann bindet sie dir also Pinto ans Bein?« Jacks Stimme verriet seine Verachtung für Pinto.

»Sechsundzwanzig Jahre alt und hält sich für ein Genie.« Sie zündete sich eine Zigarette an. »Na ja, er ist nicht schlecht. Aber …« Sie zuckte die Schultern. »Er ist einfach nicht gut.«

Jack wußte, was sie meinte. Natalia hätte es vielleicht so ausgedrückt: Es kam darauf an, ein paar gute Kritiken zu bekommen und die Preise anzuheben. Jack erinnerte sich an Pintos Zeug, an die paar Bilder in der Broschüre, die Natalia ihm gezeigt hatte: rötliche Hintergründe und viele verschieden große Kreise in, so schien es, dick aufgetragenem Silbergrau.

»Vielleicht läuft das bis zum Herbst – Isabel, meine ich«, sagte Natalia.

In gewisser Weise freute sich Jack. Natalia hatte früher schon in Isabel Katz’ Galerie gearbeitet. Sie war eine gute Rezeptionistin, und sie konnte Bilder verkaufen, was sie mehrfach bewiesen hatte. Natalia wirkte sympathisch, hatte gute Umgangsformen und schwatzte niemandem etwas auf. »Hast du vielleicht Hunger?«

»Nein, aber du doch sicher. Was ist denn überhaupt da?«

»Wie wär’s mit Roastbeef? Und Meerrettich?«

»Lecker!« Sie hüpfte auf Zehenspitzen herum und rieb sich den Bauch wie ein Kind.

Gemeinsam deckten sie den Tisch. Es waren auch noch ein Rest Kartoffelsalat und Schinken von gestern da und das frische französische Brot, das Jack morgens gekauft hatte. Eine angenehme Brise strich durch die Vorderfenster bis zum hinteren Ende der Wohnung, wo die Fenster ebenfalls teilweise geöffnet und grüne Baumwipfel zu sehen waren. Jack schenkte sich ein Glas Chianti ein, Natalia trank noch einen Scotch. Sie sah jetzt heiterer aus, und ihr vorhin so blasses Gesicht – auf sommerliche Bräune legte Natalia keinen Wert – hatte ein wenig Farbe bekommen. Allerdings wirkte sie auch zunehmend müde.

Jack strich Butter auf ein letztes Brot. »Ich habe am Mittwoch abend meine Brieftasche verloren, und ein Mann hat sie gefunden und mir zurückgegeben. Es war alles noch da – Geld, Kreditkarten, alles.«

Sie sah ihn interessiert an. »Wo hattest du sie verloren?«

»Gleich vor dem Haus. Auf der Straße. Es ist bestimmt passiert, nachdem ich das Taxi bezahlt hatte. Um halb sechs nachmittags. Jedenfalls, ungefähr eine Stunde nachdem ich gemerkt hatte, daß sie weg war, und mir die Haare raufte, weil ich an die Kreditkarten dachte – nein, stimmt nicht, ich hab an die Fotos von dir gedacht –, läutet das Telefon und ein der Stimme nach älterer Mann fragt mich, ob ich Mr. Sutherland bin und ob ich etwas verloren habe. Also sage ich, ja, meine Brieftasche. Darauf sagt er, daß er sie gefunden hat und sie in zehn Minuten vorbeibringt. Unten, vor dem Haus. Und er ist tatsächlich gekommen und wollte keinen Finderlohn. Ich hätte ihm hundert Dollar gegeben, aber er wollte nicht mal zwanzig annehmen.« Jack schlug mit den Fingern auf die Tischkante und lachte.

»Und das ganze Geld war noch da?«

»Ja, und dabei war ich gerade bei der Bank gewesen. Es waren über zweihundert Dollar in der Brieftasche, und er wußte es genau, denn er hatte das Geld gezählt.«

Sie lachte kurz. »Muß einer von diesen wiedergeborenen Christen gewesen sein.«

»Nein. Mir hat er gesagt, er sei Atheist. ›Darum habe ich Ihnen die Brieftasche selbstverständlich zurückgegeben‹, sagte er. Wahrscheinlich haßt er die Kirche. Ach ja, er hat einen Hund, der ›God‹ heißt. Irgendeine schwarzweiße Promenadenmischung.«

»Ein Hund namens God.« Sie schüttelte lächelnd den Kopf.

Jack seufzte glücklich. »Leg dich doch für eine Stunde hin. Nach der langen Autofahrt wird dir das bestimmt guttun.«

Natalia stand auf und holte sich noch eine Zigarette vom Couchtisch. »Ja. Ach, es ist schön, wieder hier zu sein!«

Das machte Jack noch glücklicher, doch er sagte nichts. Er deckte langsam den Tisch ab und ließ Natalia tun, was sie wollte. Sie trug ein paar Sachen in die Küche, ging ins Bad, um sich die Zähne zu putzen, und verschwand im Schlafzimmer.

»Bis nachher«, sagte sie. »Weck mich in einer Stunde, wenn ich nicht von allein aufwache.«

Als Jack eine gute Stunde später leise die Schlafzimmertür öffnete, schlief Natalia. Sie hatte die Decke beinahe bis zu den Schultern gezogen, ihre rechte Hand war unter dem Kinn zu einer lockeren Faust geballt, und ihr Profil hob sich scharf vom Kissen ab. Es war eine eigenartig gedankenvolle Pose, und Jack lächelte. Neben ihr lag ein Kunstkatalog mit einem weißen Hochglanzeinband, auf dem in großen schwarzen Buchstaben KUNST stand. Dicht neben ihrer linken Schulter lag ungeöffnet ein Buch von Irving Howe.

Jack verschränkte die Arme und lehnte sich an den Türrahmen. Er war ganz still, und dennoch flatterten Natalias Lider, und dann schlug sie die Augen auf. »Bist du … bist du vielleicht in Stimmung?« fragte er.

Sie drehte sich auf den Rücken, breitete die Arme aus und lächelte leicht. Im Nu hatte er sich ausgezogen und schlüpfte neben ihr unter die Decke. Endlich zu Hause, dachte er, nach drei Monaten in Ardmore. Er liebte das leichte Kratzen der feinen blonden Härchen an ihren Oberschenkeln und ihre Taille, die glatt und ganz rund war, nicht vorn und hinten flach wie bei den meisten anderen Frauen. Und sie küßte ihn voll Begeisterung.

Doch letztlich war es nicht so befriedigend, wie Jack gehofft hatte. Er war sicher gewesen, daß sie bereit war, und hatte die Zügel schießen lassen und ihren Atem in seinem Ohr gespürt. Und danach hatte er an der Art, wie sie atmete, erkannt, daß sie keinen Orgasmus gehabt hatte. Er küßte ihren Busen.

»Tut mir leid. Ich weiß auch nicht, was los ist. Hat nichts zu bedeuten.«

Jack hob die Lippen von der straffen Haut unter ihren Brüsten. »Beim nächsten Mal.« Er stand auf.

Doch die nächste Stunde hatte für Jack eine eigenartige Schwere. Er war nicht müde von dem einen Glas Wein oder davon, daß er mit Natalia geschlafen hatte, und doch fühlten sich seine Füße wie Bleigewichte an. Amelia würde bald wieder dasein. Jack und Natalia sprachen über Amelias Schule in der West Twelfth Street, die Sterling Academy for Young People – ein Name, bei dem sich Natalias Mund gewöhnlich zu einem amüsierten und herablassenden Lächeln verzog.

»Findest du, daß sie ihr Geld wert ist?« fragte Natalia. Sie wirkte irgendwie gereizt.

Sie hatten schon öfter darüber gesprochen. Die Academy war ein Ort, wohin man Kleinkinder und Kinder bis zum Schulalter, ja, sogar bis zum Alter von neun Jahren bringen konnte und wo sie auch noch etwas beigebracht bekamen, nämlich Rechnen, Lesen und Schreiben. Sie war zu Fuß zu erreichen, und eine Betreuerin begleitete Amelia nach Hause, es sei denn, Jack oder Natalia riefen an und sagten, sie würden Amelia selbst abholen. Pro Woche – die ja aus nur fünf Schultagen bestand – kostete das zweihundert Dollar, und dafür bekam Amelia auch ein gutes Mittagessen.

»Ich dachte, du hättest gesagt, die Vernons fänden die Schule in Ordnung«, sagte Jack und hatte das Gefühl, als hätte er das bereits zweimal gesagt, »und die haben einen viel weiteren Weg dorthin.«

Worüber ist Natalia in Wirklichkeit besorgt?, dachte er. Vielleicht war es nichts Ernsthaftes, aber man sah ihr die kleinste Sorge sofort an.

»Wir brauchen eine Großmutter, die sich kümmert«, murmelte Natalia, »und die genug Geduld hat, ihr Rechnen und Schreiben und all das beizubringen.«

»Eine Großmutter, die bei uns wohnt?« Jack lachte.

»Nein, ich meine –« Das Telefon und die Türklingel läuteten zugleich, und sie sprang auf und schnippte ungeduldig und nervös mit den Fingern. »Ich geh dran«, sagte sie und nahm den Telefonhörer ab.

Jack drückte auf den Knopf des elektrischen Türöffners, ließ die Wohnungstür angelehnt und lief die Treppe hinunter, um Mrs. Vernon zu begrüßen und ihr zu danken.

Doch Amelia wurde von einer jungen Frau um die Zwanzig gebracht. Jack hatte sie noch nie gesehen, nahm aber an, daß sie das Gegenstück zu Susanne war.

»Hallo«, sagte er. »Ich bin Jack Sutherland, der Vater von diesem eigenartigen Kind.«

»Oh, hallo. Ja, hier ist Amelia.« Die junge Frau lächelte. »Alles in Ordnung, glaube ich. Keine aufgeschürften Knie.« Die Frau war Engländerin.

»Gut. Tausend Dank.«

Die Frau nickte, sagte: »Wiedersehen, Amelia« und ging hinaus.

Sie stiegen die Treppe hinauf. Amelia plapperte, aber Jack hörte kaum zu. Natalia hätte vermutlich eine Bemerkung darüber gemacht, daß Amelia sich weder bedankt noch verabschiedet hatte. Wie unhöflich.

»Tag, Mr. Hartman«, sagte Jack zu einem Mann in mittleren Jahren, der aus seiner Wohnung im ersten Stock kam. »Wir sind wieder da – für eine Weile jedenfalls.«

»Schön, Sie mal wieder zu sehen. Hallo, Amelia.« Freundlich lächelnd, in der Hand einen ordentlichen verschnürten Müllbeutel, ging Mr. Hartman die Treppe hinunter.

Natalia war noch am Telefon. Sie lehnte an der Wand neben einem der Fenster zur Straße, rauchte und sprach leise in den Hörer. Jack spürte sofort, daß der Anrufer Louis Wannfeld war, blendete diese Tatsache aber einfach aus. Das konnte leicht noch eine Viertelstunde dauern.

»War’s schön?« fragte Jack Amelia.

»Ja. Ich hab Durst.« Sie tat, als taumelte sie gegen die Wand. »Wir haben LSD genommen – oohh!«

»Dann trink etwas«, flüsterte Jack und verkniff sich ein Lächeln. »LSD – du lieber Himmel!«

»Ja, und jetzt fühle ich mich ganz schlecht!« Amelia lehnte mit gekreuzten Beinen an der Küchenwand und tat ihr Bestes, glasig zu blicken.

»Leise, deine Mom telefoniert.« Jack füllte ein Glas mit Wasser und reichte es Amelia.

»… wie schrecklich …«, sagte Natalia. »Nein. Nein, das würde ich nicht tun. Paß auf, ich rufe dich zurück – hier ist im Augenblick … In zehn Minuten? Gut.«

»Mom, ich hab LSD genommen!« Amelia schlang die Arme um die Beine ihrer Mutter.

»Au!« sagte Natalia, als das Mädchen zudrückte. »Ich glaube dir kein Wort.«

»Mom – Jack – Daddy, warum kann ein Elefant nicht Fahrrad fahren?« fragte Amelia, die merkte, daß ihr LSD-Scherz nicht ankam, und blitzschnell umschaltete.

Natalia stöhnte. »Keine Ahnung. Oh, diese schrecklichen Kinderwitze. So was höre ich zehnmal am Tag.«

»Ich weiß es auch nicht«, sagte Jack. »Warum?«

»Weil er keinen Daumen hat zum Klingeln!« sagte Amelia.

»Ohhh!« Jack tat, als wäre er tödlich gelangweilt, und mit einemmal war er das auch. Oder fühlte er sich bloß unbehaglich? Er wollte in sein Arbeitszimmer gehen und den Vorhang zuziehen. Er sah Natalia an. »Ich gehe mal ein paar Schritte vor die Tür. Wolltest du nicht zurückrufen …« Er sah zu dem weißen Telefonapparat.

Natalia wollte etwas sagen, sah Amelia an und winkte Jack, ihr ins Schlafzimmer zu folgen. Sie lehnte die Tür an, ließ die Hand auf dem Türknauf und flüsterte: »Das war Louis. Er glaubt, er hat Krebs. Ich sag’s dir lieber gleich.«

Sie sagt’s mir lieber gleich, dachte Jack. Glaubt sie, es würde mir das Herz brechen? »Krebs? Was für einen Krebs?«

Sie schloß die Tür ganz. »Magenkrebs. Glaubt er wenigstens. Sein Arzt in Philadelphia –«

»Wäre ein Geschwür nicht wahrscheinlicher?«

Natalia lachte ihr kurzes Lachen. »Das würde zu ihm passen, nicht? So nervös, wie er immer ist. Und er hat irgendwelche Blutungen. Das hat er vor Monaten schon mal erwähnt. Auch Schmerzen. Sein Arzt in Philadelphia hat ihm geraten, hier zu einem Spezialisten zu gehen, und da war er heute nachmittag. Ich hab ihn nach New York mitgenommen.«

»Aha. Aber heute werden sie noch keinen Befund haben, oder? So schnell?«

»Mommy!« Amelia war auf der anderen Seite der Tür und wollte Aufmerksamkeit.

»Er hat gesagt, sie haben heute irgendwas ausgeschabt. Klingt schrecklich.« Natalia verzog das Gesicht, als müsse sie selbst diese Prozedur gerade über sich ergehen lassen. Plötzlich sah sie Jack in die Augen. »Er erträgt es sehr tapfer.«

Das ist wohl eine Leistung, dachte Jack. »Ich verstehe, daß du mit ihm sprechen willst. Soll ich was für das Abendessen mitbringen? Oder gehen wir aus?«

»Nein, laß uns hier essen.«