Emblem Island – Der Fluch der Nachthexe - Alex Aster - E-Book

Emblem Island – Der Fluch der Nachthexe E-Book

Alex Aster

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Beschreibung

Wenn dein Wunsch zum tödlichen Fluch wird Eigentlich kennt der zwölfjährige Tor von Beginn an sein Schicksal. Ein Emblem auf seinem Arm zeigt, dass er zum Anführer geboren ist. Beim jährlichen Neujahrsfest äußert er jedoch seinen innigsten Wunsch – eine andere Bestimmung. Das hat fatale Folgen: Auf seiner Haut erscheint statt seines Anführer-Emblems nun ein düsteres Auge. Es ist der Fluch der Nachthexe, der Tors sicheren und nahen Tod bedeutet! Nur die berüchtigte Hexe selbst kann Tor von dem Fluch befreien. Also macht er sich mit seinen Freunden Engle und Melda auf die Suche nach ihr. Aber auf der abenteuerlichen Reise warten noch ganz andere gruselige Kreaturen auf die Kinder ... »Ein temporeiches Inselabenteuer mit wundersamen Kreaturen« School Library Journal - Eine rasant erzählte Abenteuerreise durch eine Inselwelt voller Magie und herrlich unheimlicher Wesen - Fantasyfans, aufgepasst: Diese Serie hat alles, was das Herz junger Abenteuer- und Fantasyfans höher schlagen lässt – gespickt mit originellen und witzigen Details

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Seitenzahl: 354

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Über das Buch

Wenn dein Wunsch zum gefährlichen Fluch wird

 

Eigentlich kennt der zwölfjährige Tor sein Schicksal genau: Er ist zum Anführer geboren. Das zeigt zumindest das Emblem auf seinem Arm. Tor ist damit jedoch überhaupt nicht glücklich. Als er seinen innigsten Wunsch – eine andere Bestimmung – äußert, hat das allerdings fatale Folgen: Auf seiner Haut erscheint statt seines Anführer-Emblems ein düsteres Auge. Es ist der Fluch der Nachthexe, der Tors nahen Tod bedeutet!

Nur die berüchtigte Hexe selbst kann Tor von dem Fluch befreien. Also macht er sich mit seinen Freunden Engle und Melda auf die Suche nach ihr. Doch bald finden die Kinder heraus, dass auf Emblem Island nicht nur Hexen, sondern auch andere gruselige Kreaturen lauern …

 

Ein spannendes Fantasyabenteuer von Bestsellerautorin Alex Aster

 

 

Von Alex Aster ist bei dtv außerdem lieferbar:

Lightlark (Band 1)

Nightbane (Band 2)

Alex Aster

Emblem Island

Der Fluch der NachthexeBand 1

Aus dem amerikanischen Englisch von Christina Neiske

 

Für JonCarlos und Luna.

Und für meine Oma, die mir die Geschichte von dem Mädchen mit dem Stern auf der Stirn erzählt hat.

1Der Wunsch

Tor Luna untersuchte oft die Lebenslinie seiner kleinen Schwester. Auch heute strich er mit einem Finger über Rosas kleine Hände und sie zuckte lachend zusammen. »Sieh dir all diese Gipfel an«, sagte er und tippte auf die regenbogenfarbenen Linien, die sich in ihren Handflächen auf- und abschlängelten.

»Sogar mehr als im Scalawag-Gebirge«, sagte Rosa mit einem selbstzufriedenen Grinsen. Sie war noch nie dort gewesen – und Tor auch nicht. Doch es hieß, dass dieses berühmte Gebirge selbst die Bergkette, die ihr Dorf wie ein Schutzwall umgab, in den Schatten stellte.

Sanft schloss Tor Rosas Hand, er war zufrieden. Es kam zwar selten vor, dass sich die Lebenslinie über Nacht veränderte, aber Tor überprüfte sie regelmäßig, nur um sicherzugehen. Er empfand dieses Ritual als beruhigend. Wenn er Rosas Schicksal auf ihren Handflächen abgebildet sah, war es, als hätte er ihre Zukunft genau vor Augen: die Herausforderungen (Täler), die Prüfungen (Schlingen) und natürlich die Erfolge (Gipfel). Ihre Lebenslinie war überdurchschnittlich lang und reichte fast bis zu ihrem rechten Handgelenk hinunter. Dafür war Tor dankbar.

Am dankbarsten von allen war jedoch seine Mutter. Acht Jahre zuvor, am Tag von Rosas Geburt, hatte Dorfvorsteherin Luna die Hände des kleinen Mädchens betrachtet und erleichtert aufgeatmet. Dann hatte sie, im Kreise der anderen Dorfbewohner und unter dem dumpfen Echo der Trommelschläge, jeden Zentimeter ihres Neugeborenen sorgfältig geprüft, auf der Suche nach einem Emblem. Die Menge hatte sich wie eine Welle bewegt – erwartungsvoll vorgebeugt, ihr leises Raunen wie knisterndes Feuer. Es hatte nicht lange gedauert, bis Tors Mutter fündig wurde.

»Da!«, hatte Tor gerufen und auf den Hals seiner Schwester gedeutet.

Dort an der linken Seite saß ein kleines rotes Herz, direkt zwischen Kiefer und Schlüsselbein. Tors Mutter lächelte und die Menge gurrte anerkennend. »Eine Sängerin«, sagte sie und legte sanft einen Finger auf die Haut des Babys.

Es war eine gute Gabe. Nicht so selten wie andere, aber dennoch ein gutes Emblem. Manche wurden ganz ohne Emblem geboren, erinnerte Frau Luna ihre Kinder immer wieder. Man nannte sie die Zeichenlosen.

»Mehr als im Scalawag-Gebirge«, bestätigte Tor jetzt mit einem kleinen Lächeln, dann warf er einen Blick auf seine eigenen Hände. Genau wie bei Rosa hatte sich seine Lebenslinie nie verändert.

Manchmal wünschte er sich, es wäre anders.

Die bunten Linien auf seinen Handflächen verliefen ebenmäßig, nahezu langweilig gerade. Ohne nennenswerte Gipfel oder wenigstens Täler. »Ein schönes, bequemes Leben«, pflegte seine Mutter zu sagen und ihre Augen strahlten, als sei das etwas Gutes.

Tor wies sie dann stets darauf hin, dass das nicht stimmte. Eine gleichförmige Lebenslinie verhieß zwar keinen Kummer oder Komplikationen, das war richtig. Aber es bedeutete auch, dass es nichts gab, worauf man sich freuen konnte. Kein Abenteuer.

Und was wäre das Leben ohne einen Hauch von Gefahr?

Eine Besonderheit gab es jedoch an Tors Lebenslinie: einen winzigen Punkt an seiner linken Hand, an dem alle Linien in einem kleinen Knoten gebündelt waren. Er war so winzig, so unauffällig, dass die alte Handleserin des Dorfes durch die Brille auf ihrem zweiten Nasenhöcker darauf geschielt und schulterzuckend erklärt hatte: »Ich sehe keinen Knoten.«

Aber Tor sah ihn. Und er hoffte, dass er etwas zu bedeuten hatte.

Ein rosafarbener Streifen wirbelte über den Himmel und Rosas dunkelbraune Augen weiteten sich. »Ich komme zu spät!«, rief sie und rannte aus dem Haus, das wie alle anderen in den Stamm eines riesigen Baumes gebaut worden war.

Tor seufzte. Rosa kam immer zu spät und sie wirkte immer überrascht davon.

Augenblicke später durchbrach eine wunderschöne Melodie die Dämmerung. Ein Chor von Stimmen, die niemals zitterten oder ins Stocken gerieten, sang das Morgenlied. Draußen erwachte das Dorf und die Bewohner schüttelten die letzten Reste Schlaf, ihre Träume und möglicherweise auch Albträume ab.

Die Melodie setzte sich fort und ging dann nahtlos in ein einfaches Lied über, das nur einmal alle zwölf Monate gesungen wurde, zu Neujahr. Das war der wichtigste Feiertag der Insel.

Jedes neue Jahr bot wieder eine Gelegenheit, sich etwas zu wünschen – und jeder Emblemträger schrieb seinen Wunsch auf ein Baumblatt. Am Abend des 31. Dezember wurden die Blätter in ein gewaltiges Feuer geworfen.

Ein Wunsch war etwas Heiliges. Er musste von Herzen kommen, aus einer tiefen Sehnsucht heraus. Es gab jedoch Regeln. Rache oder Gewalt waren nicht erlaubt. Und es gab Risiken. Schlechte Wünsche zu äußern konnte dazu führen, dass man verflucht wurde.

Und wie bei allem anderen brauchte man auch ein bisschen Glück. Von den vielen eingereichten Wünschen der Inselbewohner wurden nur einige wenige im neuen Jahr erfüllt. Auf der Haut dieser Glücklichen erschien ein goldener Stern, der sie an das Geschenk erinnern sollte, das ihnen gemacht worden war.

Tor hatte seinen Wunsch schon vor Monaten aufgeschrieben. Seither trug er das abgegriffene Blatt in seiner Tasche mit sich herum … und wartete. Als er nun endlich das Neujahrslied hörte, lächelte er und fuhr mit den Fingern über das Blatt.

Es ist so weit, es ist so weit, es ist so weit, sang er in seinem Kopf, bis die Worte ineinanderflossen.

»Alles Gute für heute«, sagte seine Mutter hinter ihm. Tor zuckte zusammen und zog schnell seine Hand aus der Tasche.

Er nickte, dann murmelte er, dass er die Dose mit dem Zimttee suchen wolle, und ging in Richtung Küche. In diesem Moment kam sein Vater mit einem Tablett herein, auf dem vier Tontassen mit dem traditionellen Neujahrsgetränk standen. Natürlich hatte er den Tee bereits zubereitet. Seine Gabe war das Kochen, zum Beweis trug er das Messersymbol auf seinem Zeigefinger.

»Fröhliches Neujahr«, sagte sein Vater und drückte Tor einen Kuss auf den Kopf.

Tor lächelte, aber nur einer seiner Mundwinkel hob sich. Sein Vater musterte ihn ein paar Augenblicke zu lang. Konnte er ihm ansehen, dass er schwitzte? Schaute das Blatt mit seinem Wunsch aus der Tasche hervor?

Dann lächelte sein Vater zurück. Im selben Moment lief Rosa mit fliegenden schwarzen Zöpfen durch den Vorgarten. Dabei summte sie eine Melodie, die so süß war wie Smaragdpudding und so leise wie der sanfte Klang eines Windspiels. Ihre Eltern tauschten liebevolle Blicke aus und Tor betrachtete die beiden halb angeekelt, halb glücklich.

»Schule«, murmelte er, schnappte sich sein Pausenbrot und verließ die Küche.

Seine Mutter wandte blitzschnell den Kopf. »So früh?«

Warum konnte sie nicht ein einziges Mal schlecht in ihrem Job sein? Sich nur ein kleines bisschen weniger kümmern? Es würde ihm nichts ausmachen, wenn seine Mutter ab und zu einmal abwesend wäre; sein Freund Engle kam sehr gut zurecht, ohne seine Eltern ständig um sich zu haben. Tor schluckte und versuchte, nicht auf seine Füße zu schauen. Das würde ihn mit Sicherheit verraten. »Der Schulvorstand trifft sich vor Unterrichtsbeginn.«

Er erstarrte und wartete darauf, dass seine Mutter misstrauisch die Augenbrauen zusammenzog. Aber stattdessen lächelte sie und ihre Augen füllten sich mit etwas Gefährlichem – Hoffnung. Tor wurde von Schuldgefühlen überwältigt, sein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen.

Das Lächeln seiner Mutter verschwand so schnell wieder, wie es gekommen war. »Dann geh schon«, sagte sie ruhig, als befürchtete sie, ihre Begeisterung könne Tor dazu verleiten, plötzlich doch nicht mehr im Schulvorstand sein zu wollen.

Er ging aus dem Raum und verließ rasch das Haus, wobei er die schwere Tür sorgfältig hinter sich schloss. Nervöser Schweiß stand ihm auf der Stirn, als ein paar Blätter von den Ästen herabfielen, die sich in einladender Geste über sein Zuhause erstreckten. Die Blätter leuchteten in einem kräftigen Lila, dem Farbton eines Dorfoberhaupts. Tor schluckte. Er konnte sich mit dieser Farbe nicht anfreunden und auch nicht mit dem, was sie symbolisierte. Leider trug er den Farbton direkt auf seiner Haut. Zwei lilafarbene Ringe wanden sich um sein linkes Handgelenk.

Tor warf einen Blick auf sein Führungsemblem und fragte sich, ob seine Mutter ihm jemals verzeihen würde, was er vorhatte.

Die magische Halskette

 

Vor langer, langer Zeit bekam ein Mädchen namens Estrelle von seiner Großmutter eine Halskette geschenkt. Daran hing eine Glaskugel mit winzigen Anhängern, die aus glitzernden Edelsteinen gefertigt waren.

Am selben Tag setzte die Großmutter das Mädchen in ein Boot und schob es aufs Meer hinaus. Der Krieg war in ihre Heimat vorgedrungen und die Flucht war die einzige Hoffnung zu überleben. Estrelle flehte ihre Großmutter an sie zu begleiten, aber sie konnte nicht.

So trieb Estrelle zehn Tage und zehn Nächte lang nur mit ihrer Halskette, einer Feldflasche mit Wasser und einem Proviantbeutel über den Ozean.

Sie lag zusammengerollt in dem kleinen Boot und schlief noch, als dieses plötzlich unsanft ans Ufer gespült wurde.

Dies war ein ganz anderes Land als das, das Estrelle verlassen hatte. Das Meer besaß nur einen Hauch von Blau. Der Strand war ein grauer Streifen.

Estrelle hielt ihre Halskette fest umklammert und machte den ersten Schritt in ihre neue Heimat.

Der Rest der Insel war ebenso karg und farblos. Die Bäume brachten bleiche Blätter hervor, die der Wind mit Leichtigkeit herabwehte, und die Erde war so staubtrocken wie die Asche aus dem Herd ihrer Küche. Pflanzen wuchsen – wenn überhaupt – verkrüppelt. Früchte reiften bereits verdorben heran.

Estrelle kämpfte ums Überleben in dieser seelenlosen Wildnis, die von farblosen Tieren und furchterregenden Bestien mit Reißzähnen bevölkert wurde. Jeder Tag war härter als der vorige, das Land kahl, als hätte ein Sturm es heimgesucht und alle guten Dinge mitgenommen.

Eine Zeit lang irrte Estrelle auf der Insel umher wie ein in einem alten Gemäuer gefangener Geist. Sie sprach nicht und verdrängte ihre glücklichen Erinnerungen, denn sie wusste, dass sie an einem so tristen Ort nicht willkommen waren. Bis sie eines Nachts in den Himmel schaute und vor Sehnsucht nach ihrem alten Leben zu weinen begann. Sie fragte sich, ob ihre Großmutter überlebt hatte. Und falls nicht, ob sie auf sie herabblickte.

Da fiel eine Träne auf ihre Halskette, das Glas zersprang und der Anhänger in Form eines Regenbogens landete auf ihrem Arm.

Ehrfürchtig sah sie zu, wie der Anhänger in ihre Haut eindrang und sich dort für immer niederließ. Als Estrelle mit einem Finger den Boden berührte, explodierte dieser in herrlichem Grün. Als sie ihre Hand in den Ozean tauchte, schoss Blau durch die Wellen, bis das ganze Meer leuchtete wie Lapislazuli. Alles, was sie berührte, von den Früchten über die Bäume bis hin zu den Tieren, nahm Farbe an … bis sie die ganze Insel nach ihren Vorstellungen bemalt hatte.

Als sie Monate später auf der anderen Seite der Insel auf weitere Bewohner stieß, schenkte sie jedem von ihnen einen ihrer magischen Anhänger in dem Wissen, dass sie sie nicht alle für sich selbst behalten konnte.

Ein Mann bekam einen Fisch und entdeckte, dass er unter Wasser atmen konnte.

Eine Frau erhielt einen Mond und fand heraus, dass sie das Meer beherrschen konnte.

Und ein Mädchen, dem Estrelle den Anhänger in Form eines Tigers schenkte, stellte fest, dass es mit Tieren sprechen konnte.

Es dauerte nicht lange, bis Kinder mit ihren eigenen Zeichen geboren wurden, und die ursprüngliche Halskette geriet in Vergessenheit.

So entstanden die Embleme.

2Neujahr

Der Strand war leer bis auf drei einbeinige Vögel, die lärmend herumhüpften, und einen Haufen riesiger heller Muscheln, die darauf warteten, von Dorfbewohnern eingesammelt zu werden, die darin ebenso große Perlen vermuteten. Die Oberflächen der Muscheln begannen bereits zu ergrauen, ein Hinweis darauf, dass sie reif waren und bereit geöffnet zu werden.

Erleichtert streifte Tor seine Schuhe, Socken und die Schuluniform ab. Als er nur noch seine Badehose anhatte, tanzten die ersten Sonnenstrahlen des Tages über seine gebräunten Arme, den Rücken hinunter bis zu seinen Zehen, die er in den feuchten Sand bohrte.

Seit Jahren schon übte er sich darin, nachts oder frühmorgens aus dem Haus zu schleichen, um schwimmen zu gehen. Er nahm Nebenstraßen, damit niemand im Dorf ihn auf dem Weg zum Meer sah, und mittlerweile war er Experte darin, leise auf Zehenspitzen zu laufen, gezielt nur auf die Dielen im Haus zu treten, die nicht knarrten, und sich unter kerzenbeleuchteten Fenstern zu ducken.

Eine Welle rollte heran und Tor stürzte sich hinein. Ihm lief ein Schauer über den Rücken, als das Wasser sich seinen Weg durch sein dunkles Haar bahnte. Er bewegte seine Beine und Arme synchron – nach vorne, zur Seite und wieder zurück –, so wie er es als kleiner Junge bei Fröschen gesehen hatte. Zügig durchquerte er das Meer, nicht nur, um möglichst schnell zu seinem Lieblingsriff zu gelangen, sondern auch, um seine Wut und Frustration hinter sich zu lassen, die nur beim Schwimmen zu verfliegen schienen. Das Wasser saugte alles auf, nahm seine Sorgen und Ängste und verquirlte sie miteinander, bis sie so glatt und geschmeidig waren wie der Pfannkuchenteig seines Vaters. Tor schwamm weiter, bis seine Glieder vor Anstrengung und Erleichterung ganz schlaff waren.

Erst dann holte er tief Luft und ließ sich hinabsinken.

Ein Schwall Luftblasen strömte aus seinem Mund, als er mit geschlossenen Augen und einem fernen Klingeln in den Ohren langsam und zufrieden auf den Meeresgrund sank.

Sein Großvater hatte stets von der beruhigenden Wirkung der Meditation gesprochen, allerdings in einem Atemzug mit dem wohltuenden Effekt des Verzehrs von rohem Gras, was zugegebenermaßen alles andere, was er sagte, etwas weniger glaubwürdig machte. Doch auch wenn der Gedanke daran, wie viel er mit seinem seltsamen Großvater gemeinsam hatte, Tor schaudern ließ – das Schwimmen war in gewisser Weise seine Meditation, die einzige Beschäftigung, bei der er sich vollkommen ausgeglichen fühlte.

Vollkommen glücklich.

Er dankte den Wunschgöttern, dass er in der Nähe eines so herrlichen Meeres lebte. Der Ozean vor dem Dorf Estrelle war berühmt, vor allem für die gigantischen Ausmaße der dort lebenden Meerestiere. Seesterne von der Größe eines Teppichs bedeckten den Meeresboden in Farben, die von Purpur bis Gold reichten, und die riesigen Muscheln brachten oft so große Perlen hervor, dass sie von fünf Dorfbewohnern mit einem Netz an Land gezogen werden mussten. Einmal hatte Tor sogar eine Krabbe gesehen, deren Scheren so dick wie Baumstämme waren.

Aber es war auch deshalb so herrlich, weil das Saphirmeer tatsächlich saphirblau war – ein Farbton, der unnatürlich leuchtend erschien, wie künstlich hergestellt. Diese intensive Farbe hatte Tor bisher nur noch ein einziges weiteres Mal gesehen: in den Augen einer Klassenkameradin, die er nicht besonders mochte.

Als Tor endlich den Meeresboden erreichte, blinzelte er.

Vielleicht lag es daran, dass er es gewohnt war, nachdem er fast sein ganzes Leben lang jeden Tag geschwommen war, oder vielleicht war der Grund ein ganz anderer, aber Tor spürte das Salz nicht in seinen Augen. Er konnte die Welt des Ozeans genauso mühelos betrachten wie das Leben an Land und er konnte einen Mundvoll Meerwasser schlucken, ohne ein einziges Brennen im Hals zu spüren.

Er wusste, dass es nicht normal war sich an dem Salz nicht zu stören. Sein Freund Engle ging genau aus diesem Grund nie ins Meer, seine Augen waren empfindlicher als die der meisten anderen. Wenn Engle mit Tor am Strand war, ging er nicht schwimmen, sondern kletterte auf eine Palme und hielt mithilfe seines Emblems Ausschau nach Haien und menschenfressenden Tintenfischen.

Auch wenn seine Augen unbeeindruckt blieben, spürte Tor gleichwohl das Zittern seiner Lunge, das darauf hindeutete, dass er zu lange unter Wasser gewesen war. Trotzdem blieb er noch etwas und betrachtete die Korallen zu seiner Linken. Spike, ein roter Seeigel, den Tor dabei beobachtet hatte, wie er von einem winzigen Punkt auf die Größe eines menschlichen Kopfes herangewachsen war, hatte sich bewegt und saß nun im Schatten eines Seefächers mit langen, verzweigten Adern. Engle hatte ihm gesagt, dass Spike hundert Jahre alt werden kann, was Tor nicht geglaubt hätte, hätte es ihm irgendjemand anderes erzählt. Aber Engle wusste sogar mehr über die Kreaturen von Emblem Island als Theodora, ein Mädchen aus ihrem Jahrgang, das dank seines Emblems mit Tieren sprechen konnte.

Tors Brust zog sich zusammen; seine Lunge fühlte sich nun endgültig an, als würde sie zu einer Rosine schrumpfen. Widerwillig stieß sich Tor vom Boden ab, wobei er mit dem Fuß nur knapp einen Seestern verfehlte, dann schoss er nach oben und schnappte nach Luft, als er endlich an die Oberfläche kam.

Die Haare klebten ihm an der Stirn und Tor atmete fünfmal tief durch. Nach Jahren des Schwimmens hatte er daraus eine Art Wissenschaft gemacht. Fünf volle Atemzüge entsprachen ungefähr zwei Minuten unter Wasser.

Er war wieder einsatzbereit.

Diesmal tauchte Tor jedoch nicht nach unten, sondern schwamm zügig geradeaus. Er war auf dem Weg zum Knochenschiff.

Hundert Jahre zuvor war ein Schiff mit verzauberten Gegenständen gesunken, kurz bevor es die Küste erreichte. Noch ehe Tor gelernt hatte, wie man einem Hai ausweicht, sogar noch bevor ihm beigebracht worden war, wie man sich aus einer Strömung freischwamm, hatte er gewusst, dass es streng verboten war den Schatz dieses Knochenschiffs zu berühren. Eine Missachtung dieser Regel würde gewaltiges Unheil mit sich bringen: hundertjährige Flüche, Zähne, die vom Himmel fallen, Ozeane, die sich grau färben, bla, bla, bla – all die alten Geschichten eben, über die Tor so gern die Augen verdrehte.

Aber niemand hatte etwas davon gesagt, dass man sich das Schiff nicht ansehen durfte – zu Unheil verkündenden Prophezeiungen gab es nichts Kleingedrucktes. Also schwamm Tor den Mast hinunter bis zum Deck, wo die magischen Gegenstände liegen geblieben waren, bedeckt von dichtem Seegras und moosigen Algen.

In dem Moment sah er es. Den Schimmer von etwas Silbernem. Da steckte etwas unter einer verrutschten Schiffsplanke.

Es sah aus wie ein Ring. Nein, vielleicht eher eine Brosche. Oder eine Münze?

Wenn er es doch nur aufheben könnte, um zu sehen, was es bewirkt. Niemand würde es merken … Er könnte einfach seine Hand ausstrecken und danach greifen.

Nein. Er schaffte es gerade noch sich zurückzuhalten.

Auch wenn Tor nicht wirklich an Flüche glaubte – zumal er noch nie von einem gehört hatte, der außerhalb der Legenden tatsächlich eingetreten war –, brannte er nicht unbedingt darauf herauszufinden, ob die überlieferten Geschichten wahr waren.

Also wandte er sich mit einem blubbernden Seufzer ab und beschloss stattdessen Muscheln zu sammeln. Eine halbe Stunde lang ließ er sich auf dem Bauch dahintreiben, die Augen auf den Meeresgrund gerichtet, auf der Suche nach dem Schimmern einer besonders schönen Muschel. Geduldig wartete er und beobachtete, wie die Strömung den Sand aufwirbelte – denn dadurch kam jedes Mal, wie bei einer Decke, die weggezogen wurde, ein völlig neues Muschelsortiment zum Vorschein. Dann tauchte er schnell hinunter, um diejenigen einzusammeln, die ihm am besten gefielen, bevor der Sand sie wieder zurückerobern konnte.

Als Tor wieder einmal Luft holte, hatte sich der Himmel verändert. Er war vom hellen Rosa des Sonnenaufgangs zum Blau des Morgens übergegangen, was bedeutete, dass es Zeit für die Schule war.

Tor ließ die Handvoll Muscheln, die er gefunden hatte, auf den Meeresboden fallen und die Enttäuschung durchzuckte seinen Magen wie ein Blitz, als er sie verschwinden sah. Doch er wusste, dass er sie nicht behalten konnte. Natürlich konnte er das nicht. Engle war der Einzige, der wusste, dass Tor noch immer schwimmen ging.

Seit seine Lehrerin diesen Brief geschickt hatte, in dem sie seine mangelnde Leistungsbereitschaft – oder besser gesagt, seine mangelnde Leistung – beanstandet hatte, hatten Tors Eltern ihm unmissverständlich klargemacht, dass er sich von nun an nur noch auf seine Ausbildung konzentrieren sollte.

Und die beinhaltete leider kein Wasser.

Mit schleppenden Schritten machte er sich auf den Weg zum Ufer. Während die Sonne ihm auf den Kopf brannte, drückte Tor die Enden seiner Badehose trocken und zog sich an. Da er kein Handtuch hatte – das hätte garantiert Verdacht erregt –, waren seine Socken am Ende voller Sand und in seinen Schuhen schwappte das Wasser herum. Aber das machte ihm nichts aus. Nein, es gefiel ihm sogar. Die Muschelsplitter zwischen seinen Zehen ließen acht Stunden Unterricht fast erträglich erscheinen.

Die Azulmar-Akademie war direkt in den Hang eines Berges gebaut, den die Schüler Pfeilspitze nannten, weil sein Gipfel einer solchen ähnelte. Die Rückwände der Schule bestanden aus glänzendem grauem Granit und in der Eingangshalle brannten große Feuer, die durch die stets geöffneten, kolossal großen Türen zu sehen waren. Die Schule wirkte freundlich und einladend.

Ganz im Gegensatz zu den Lehrern.

»Junge!« Die donnernde Stimme kam von einer Frau, die gerade mal einen Meter zwanzig groß war. Die Schüler scherzten gern, dass Frau Alma von einem Gnom abstammte, aber das war nicht ernst gemeint. Schließlich wusste jeder, dass Gnome schon vor vielen Jahren, in der letzten Eiszeit, ausgestorben waren. Engle schwor, er habe einmal einen versteinerten gesehen, auf einem Markt in Zeal, der Stadt der Eifrigen.

Tor schluckte. »Ja, Frau Alma?«

Sie deutete mit ihrem verstörend langen, gebogenen Fingernagel auf ihn und wedelte damit hin und her, wie ein Hund – unter glücklicheren Umständen – seinen Schwanz bewegen würde. »Du bist gestern ganz schön früh verschwunden. Hast drei komplette Schriften ungelesen zurückgelassen!« Frau Alma hatte schlechte Augen und die Angewohnheit, ihre Brille zu verlieren, sodass es normalerweise ziemlich einfach war sich vor der Arbeit zu drücken. Wenn Tor nicht gerade zum Strand lief, träumte er im Unterricht zumindest davon.

In Azulmar lernten die Schüler nur das, was relevant für ihr Emblem war – ihre Gabe.

Und Tor hasste seine.

Er war sich sicher, dass ihm das wohl niemand verübeln würde, der einen Blick auf seinen Tagesplan geworfen hatte. Als geborener Anführer, wie seine Mutter, hatte Tor Unterricht, der aus dem Studium von politischen Ereignissen, Dokumenten und Entscheidungen der Vergangenheit bestand. Diese Schriften waren nicht nur umfangreich, sondern die Leute mit den Führungsemblemen schienen obendrein allesamt keine guten Schreiber zu sein, was bedeutete, dass man stundenlang Sätze lesen musste, die nie zu enden schienen und über Ereignisse berichteten, die fade waren wie altes Brot.

Eigentlich wäre das halb so wild, wenn sein Unterricht wenigstens so spannend gewesen wäre wie der der Elixierschüler, die ihre Tage damit verbrachten, blubbernde chemische Mixturen zu brauen. Eine Fähigkeit jedoch, die nichts mit Wasser zu tun hatte, interessierte Tor nicht im Geringsten. Schwimmen war das Einzige, das ihn jemals begeistert hatte.

Als wäre das nicht schon schlimm genug, war die Klasse seines Emblems auch noch die kleinste der Schule. Es gab nur zwei Schüler mit dem Anführeremblem.

Wenigstens seine Klassenkameradin schien das Fach zu mögen.

Melda Alexander kam gerade durch die Eingangstür der Schule gehüpft. »Keine Sorge, Frau Alma. Ich werde Tor meine Zusammenfassung der Kapitel geben, die er verpasst hat.«

Frau Alma drehte sich zu Melda um, blickte jedoch mehrere Zentimeter an ihr vorbei, sodass es wirkte, als würde sie mit einem der grauen Wasserspeier sprechen, die den Eingang der Azulmar-Akademie flankierten. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig. »Das ist sehr nett von dir.« Frau Alma mochte Melda mehr als jeden ihrer anderen Schüler. Vielleicht überhaupt mehr als jeden anderen Menschen. Die Frau drehte sich vage in Tors Richtung. »Sieh zu, dass das nicht noch einmal vorkommt«, sagte sie und schlurfte mürrisch davon.

Tor seufzte und wandte sich Melda zu. »Danke.«

Sie blinzelte ihn mit ihren saphirblauen Augen an. Blau war eine extrem seltene Augenfarbe und Tor fand, dass sie an einem so eingebildeten Mädchen wie ihr verschwendet war.

»Nur um das klarzustellen, ich helfe dir lediglich, weil ich nicht will, dass mein Neujahrswunsch durch schlechtes Karma beeinträchtigt wird«, sagte sie, bevor sie den Anhänger, den sie immer um den Hals trug, mit den Fingern umfasste und auf dem Absatz kehrtmachte in Richtung Klassenraum.

Der Unterricht verlief genau wie an jedem anderen Tag. In den sechs Jahren, die Tor bereits an der Führungsausbildung teilnahm, hatte er die meiste Zeit damit verbracht, abwechselnd so zu tun, als würde er lesen, und auf die Uhr zu starren und sich zu wünschen, er hätte ein Sanduhremblem. Dann könnte er die Zeiger des Zeitmessers allein durch seine Gedanken auf Mittag stellen.

Aber Tor hatte einen Plan, von dem er hoffte, dass er alles ändern würde. Er schaute auf das Emblem an seinem linken Handgelenk hinunter und lächelte. Mit etwas Glück würde er schon morgen davon befreit sein.

Sobald Tor seinen besten Freund in der Kantine entdeckt hatte, sagte Engle: »Hast du deinen Wunsch wirklich mit in die Schule gebracht?«

Tor schluckte und seine Hand wanderte instinktiv zu seiner Tasche. Engle bemerkte seine plötzliche Bewegung und hob sichtlich neugierig die Augenbrauen.

»Also?«, fragte Engle, als Tor ihm gegenüber an ihrem angestammten Mittagstisch Platz nahm. Die meisten Schüler saßen mit ihren Emblemgruppen zusammen, aber Tor und Engle waren seit jeher beste Freunde und verbrachten die Pause immer gemeinsam.

Engle hatte die Gabe des Sehens, was bedeutete, dass er eine Murmel aus einem Kilometer Entfernung erkennen konnte – oder einen Hai, der durch die Tiefen des Saphirmeeres glitt. Manchmal, wenn das Wetter günstig war und seine Augen nicht juckten, konnte er sogar durch Gegenstände hindurchsehen. Tor konnte von Glück sagen, dass Engles durchdringender Blick noch ein wenig verschwommen war.

Tor seufzte und ließ den Kopf sinken. »Ja. Versuch bloß nicht ihn zu lesen.«

Engle nickte. Ein enthüllter Wunsch war ein unerfüllter Wunsch. Das wusste jeder.

»Tja, mein Blatt ist jedenfalls sicher zu Hause, wo niemand es finden wird, direkt unter meiner Hydroklops-Statue«, erklärte Engle. Dann erstarrte er und lachte nervös, als hätte er seine letzten Worte gern zurückgenommen. »Ähm, sag das nicht weiter.«

Tor war neugierig, was Engle sich wohl wünschen würde. Soweit er es beurteilen konnte, war sein Freund glücklich.

»Bei mir ist dein Geheimnis sicher«, erwiderte Tor.

»Bei mir auch«, ertönte eine Stimme hinter ihnen und beide drehten sich erschrocken um, um zu sehen, wer ihr Gespräch belauscht hatte.

Klar, wer sonst? Melda.

Engles Schultern spannten sich an, dann verdrehte er die Augen. »Ich hätte sie kommen sehen müssen«, murmelte er.

»Was willst du, Grimelda?«, fragte Tor. Alle nannten sie Melda, aber Engle hatte einmal vom anderen Ende des Flurs ihren vollen Namen auf den Dokumenten im Hauptbüro gesehen und Tor benutzte ihn gern, wenn sie mal wieder besonders nervig war.

Ihre Augen verengten sich zu einem finsteren Blick. »Ich wollte dir nur das hier vorbeibringen«, sagte sie und legte einen Stapel Papier vor ihm ab.

Tor blinzelte. Ihre vermeintlichen Zusammenfassungen sahen länger aus als die Abhandlungen selbst.

Dann machte sie sich wieder auf den Weg zurück zu ihrem Tisch. Auf dem Stuhl neben ihr, wo Tor wahrscheinlich hätte sitzen sollen, stapelten sich Bücher.

Für Tor war es einer der größten Vorzüge von Neujahr, dass der Unterricht früher zu Ende war. Er summte fröhlich vor sich hin, während er die drei Hügel zwischen der Azulmar-Akademie und dem Dorf hinauf- und hinunterging. Rosa lief weiter vorn mit den anderen Chormitgliedern. Engle, der wahrscheinlich wie üblich seine Sicht abwechselnd auf die Nähe und die Ferne einstellte, war an seiner Seite.

Ihre Stadt war eine von vielen auf Emblem Island. Sie war nach ihrer Gründerin Estrelle benannt und irgendwann einmal Schauplatz einer großen Schlacht gewesen. Den vielen Geschichtsstunden zufolge, deren Inhalt er zwar versucht hatte auszublenden, der es aber dennoch zum Teil in sein Gehirn geschafft hatte, hatte Estrelle den Vorteil, in einem Tal zwischen einem Meer und einer Bergkette zu liegen. Irgendetwas daran machte es schwieriger, die Stadt zu erobern. Oder war es leichter? Er erinnerte sich nicht mehr.

Ein lautes Hupen ertönte vom Dorfplatz unten und ein paar Lulo-Vögel flogen aus den dichten, bunten Baumkronen auf.

»Haaaaallo, Frau Luna!«, rief Engle zum Dorf hinunter und winkte. Wahrscheinlich konnte er sie sehen, auch wenn sie noch weit weg waren.

Tor seufzte. Seine Mutter führte den Vorsitz bei allen Neujahrsfeierlichkeiten und trug dabei die traditionelle Kleidung der Emblemiten, die er etwas peinlich fand. Dennoch musste er zugeben, dass er stolz auf sie war. Sie ging in ihrer Führungsrolle auf und war sehr gut darin, was zum Teil auch an ihrem Emblem lag. Es verstärkte die Eigenschaften, die bereits in ihr steckten und die mit Leidenschaft und zunehmender Erfahrung immer ausgeprägter wurden. So war es bei den meisten Emblemiten. Tor war von Menschen umgeben, die ihre Gabe liebten. Rosa sang für ihr Leben gern, sein Vater war ein großartiger Koch. Engle liebte es zu … starren?

Doch Tor war nicht wie sie und er fürchtete, seine Mutter würde das nie verstehen. Deshalb hatte er die Sache selbst in die Hand genommen.

Sein Vater war in der Küche, als sie ankamen.

»Engle! Saphirkuchen?« Anton Luna deutete auf eine klebrige, blau gefleckte Torte, die gerade aus dem Ofen kam. Wenn sie bei ausreichend hohen Temperaturen erhitzt wurden, waren Edelsteine süßer als jede andere Zutat. Saphire hatten einen intensiven, sahnigen Geschmack.

»Zwei Stücke«, rief Engle aufgeregt. »Oder lieber drei, bitte.« Er hatte den größten Appetit, den Tor je erlebt hatte – und das galt nicht nur für die köstlichen Speisen von Anton Luna.

Tors Vater bot auch ihm ein Stück an, aber er sagte: »Nein danke.« Sein Magen spielte schon verrückt vor Aufregung. Morgen um diese Zeit könnte er bereits von seinem Emblem befreit sein. Und, noch besser, er könnte ein neues haben. Eines, das er sich schon immer gewünscht hatte.

Herr Luna warf einen Blick auf die Uhr und klatschte dann in die Hände. »Die Feierlichkeiten beginnen in ein paar Minuten, ihr zwei. Macht euch bereit.«

Engle glitt von dem Barhocker, auf dem er sich niedergelassen hatte. Seine drei Kuchenstücke hatte er bereits verdrückt. »Dann gehe ich besser mal nach Hause.« Seine Augen leuchteten vor Vorfreude. »Ich muss meinen Wunsch holen.«

Sie verabschiedeten sich, obwohl klar war, dass er in ein paar Minuten zurück sein würde.

Rosa kam aus dem Wohnzimmer. Ihre Lippen waren zu einem missmutigen Schmollmund verzogen. »Warum bin ich zu jung zum Wünschen?«

Ihr Vater grinste und ging vor ihr in die Hocke, sodass er mit ihr auf Augenhöhe war. »Wenn die Träume von Achtjährigen wahr würden, gäbe es jeden Tag Kuchen zum Frühstück und der Schulunterricht würde durch die Jagd auf Glühwürmchen ersetzt.«

Rosa blinzelte. »Das klingt toll!«

Tor lachte. »Was würdest du dir denn wünschen?« Das Mindestalter für das Wünschen lag bei zwölf Jahren – für Tor war es das erste Mal, dass er mitmachen durfte.

Rosa hielt ihre Nase hoch. »Ich möchte ein Seheremblem haben wie Engle!«

Tor hob eine Augenbraue. »Ich dachte, du singst gern.«

»Tue ich auch. Ich will Sängerin und Seherin sein.«

Das Lächeln ihres Vaters erlosch. »Rosa«, sagte er mit strenger Stimme, »du kennst die Regeln. Wir haben ein Emblem, nur ein einziges. Alles andere wäre zu viel.«

»Aber –«

»Ende der Diskussion.« Er seufzte, dann strich er ihr über den Kopf. »Geht jetzt und macht euch fertig, ihr beiden. Wir haben eine lange Nacht vor uns.«

Tor zog sich in sein Zimmer zurück, schloss die Tür hinter sich und drehte ihr den Rücken zu. Er hatte das Gefühl, in seinem Hals stecke ein Seeigel. Vielleicht sollte auch er dankbar sein für das Emblem, das er hatte. Vielleicht sollte er seinen Wunsch einfach vergessen.

Er straffte sich entschlossen. Nein, er hatte schon viel zu lange gewartet. Das hier war keine voreilige Entscheidung; er hatte sein Emblem jahrelang gehasst, seit dem Moment, in dem er erfahren hatte, dass es ihn von dem abhalten würde, was er liebte.

Jetzt hatte er endlich die Chance, etwas dagegen zu tun.

Als Tor sicher war, dass Rosa und sein Vater nicht hereinplatzen würden, kramte er das Blatt aus seiner Tasche und entfaltete es vorsichtig. Zu seiner Erleichterung war sein Wunsch immer noch sichtbar, schwarze Tinte auf sattem Grün. Wenn man einmal auf eine immergrüne Pflanze geschrieben hatte, blieb sie dauerhaft frisch. Er las die Worte im Flüsterton vor:

»Ein Anführer wünsche ich nicht zu sein,

lieber ein Meeresatmer, das wär fein.«

Reimen war kein Muss, aber Tor hoffte, dass sein Versuch die Chancen auf die Erfüllung seines Wunsches erhöhen würde. Vielleicht mochten die geheimnisvollen Wunschgötter Poesie? Es konnte jedenfalls nicht schaden, dachte er.

Als er die Trommler draußen vorbeimarschieren hörte, deren Schläge wie Donnergrollen klangen, wusste er, dass es Zeit war das Haus zu verlassen. Rosa öffnete die Haustür und Tor beobachtete die Prozession, eine Masse von Menschen, die durch die Straßen strömte. Sobald die Sängerinnen und Sänger in Sicht kamen, machte sich Rosa bereit und fügte sich nahtlos in die Gruppe ein, während sie mit ihrer unverwechselbaren Stimme, hoch in der Tonlage und lieblich in der Melodie, in das Lied einstimmte.

Dann war Tor an der Reihe, sich dem verrückten Treiben anzuschließen.

Seine Sinne wurden regelrecht überflutet. In seinen Ohren dröhnte die Musik, das Zupfen einer Harfe, unterbrochen von Trommelschlägen, abgelöst vom Echo eines Horns, das direkt vor ihm geblasen wurde. In seine Nase drangen die intensiven Düfte von frischen Croissants mit Lavendelgeschmack und mit Blumen gefüllten Empanadas. Seine Augen nahmen jede vorstellbare Farbschattierung wahr, Blätter in allen Farben des Regenbogens segelten von den Baumkronen, die über die Häuser wachten; orangefarbene Körbe wurden hoch auf den Köpfen transportiert und waren mit fliederfarbenen Beeren und goldenen Äpfeln gefüllt. Auf seiner Haut spürte er die Arme der Dorfbewohner, die sich an ihm vorbei in dieses wunderbare Gewimmel stürzten. Engle schloss sich ihm zu seiner Rechten an, gerade als das Feuer in Sicht kam.

Seine Mutter stand davor, mit einem Kopfschmuck aus hundert Federn und Blumen. Vor langer Zeit hatte jeder zur Neujahrsfeier einen Kopfschmuck getragen – und ein paar ältere Dorfbewohner taten es immer noch. Der Kopfschmuck des Oberhaupts von Estrelle wurde von Generation zu Generation weitergegeben und war aus den Federn von Vögeln gefertigt, die nicht länger am Himmel schwebten. Rotköpfige Raben, blau gefiederte Geier. Und schließlich, Gegenstand vieler märchenhafter Geschichten, eine einzelne Silberfalkenfeder.

Die Dorfbewohner versammelten sich um das Feuer. Tor stand so nah, dass seine Wangen brannten vom heißen, dichten Atem der Flammen. Als auch der Letzte seinen Platz gefunden hatte, verstummte die Menge.

»Fröhliches Neujahr«, verkündete die Dorfvorsteherin und ihre Worte dröhnten fast so laut wie zuvor ihr Horn. Einer der Vorteile, wenn man als Anführer geboren wurde, war, dass man eine außergewöhnlich durchdringende Stimme hatte. Die hatte auch Tor. Aber eine Gabe war nutzlos, wenn sie nicht gebraucht wurde. »Wir feiern den Übergang in ein neues Jahr, in ein neues Kapitel unseres Lebens. Die Wunschgötter wachen über uns, so wie sie es seit tausend Jahren tun, und hören sich unsere Bitten und innigsten Wünsche an. Heute Abend belohnen sie die Besten unter uns und offenbaren ihre Stärke und Großzügigkeit denen, die es verdienen.«

Tor schluckte. Wie konnte er nur so naiv sein? Natürlich würde sein Wunsch nicht erfüllt werden. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, musste Tor sich eingestehen, dass er wahrscheinlich derjenige war, der es am wenigsten verdient hatte.

Andererseits …

Vielleicht würden die Wunschgötter erkennen, dass er sich nur deshalb so verhalten hatte, weil er ein völlig falsches Emblem erhalten hatte. Möglicherweise war Tor ja doch genau die Art Mensch, die sie belohnen wollten.

Ja, das hörte sich richtig an. Er hatte jahrelang mit dem falschen Emblem gelebt, natürlich hatte er es verdient, dass sein Wunsch erfüllt wurde.

Die Hoffnung keimte wieder in seiner Brust auf.

Die Dorfvorsteherin fuhr fort: »Mögen wir in diesem neuen Jahr mutiger, besser und wahrhaftiger sein als zuvor. Mögen wir für die Liebe kämpfen und den Kampf lieben. Mögen wir uns selbst und unsere Rechte verteidigen. Mögen wir auf immer als Emblemiten weiterbestehen. Und solange der Himmel und das Meer blau sind, mögen eure wildesten Träume die Chance haben wahr zu werden. Denn Wünschen ist die mutigste Form des Träumens.«

Das Dorf tobte wie eine gewaltige Brandung, alle klatschten und jubelten Beifall. Sogar das Feuer schwoll ein wenig an.

»Holt eure Wünsche hervor.« Ein Rascheln ertönte, als die Bewohner von Estrelle in ihren Taschen kramten. Tor hatte sein Blatt bereits in der Hand, hielt es so fest umklammert, dass er Gefahr lief es zu zerreißen.

Seine Mutter lächelte. Gleich war es so weit. Tors Herz fühlte sich an wie ein Ballon kurz vorm Platzen. In wenigen Augenblicken könnte sich sein ganzes Leben ändern – ein neues Schicksal könnte in Gang gesetzt werden.

»Nun lasst sie frei!«

Hunderte von Wünschen stoben in derselben Sekunde empor, eine wahre Lawine von Blättern, die die Abendluft grün färbten. Tor sah zu, wie sein eigenes Blatt vom Feuer verzehrt wurde, wie die Ränder sich wellten und die Mitte in Flammen aufging, bis es ganz verschwunden war. Als auch der letzte Wunsch verbrannt war, färbten sich die Flammen für einen kurzen Moment von Kupferfarben zu Silber. Dann erlosch das Feuer komplett und hinterließ nur einen Haufen violetter Asche.

Tor stand wie angewurzelt da, während die anderen Dorfbewohner sich auf den Weg zu den Essenswagen machten, die den Dorfplatz säumten. Jetzt, da er von seinem Wunsch befreit war, fühlte er sich etwas leichter ums Herz, aber ihm war noch immer flau im Magen vor Sorge.

Was würde passieren, wenn sein Wunsch nicht erfüllt würde? Bestimmt musste er dann seine Ausbildung fortsetzen, sich weiter von Frau Alma zum perfekten zukünftigen Dorfoberhaupt formen lassen … Vielleicht musste er sogar die Anweisung seiner Eltern befolgen und aufhören zu schwimmen.

Nein. Er schluckte den aufsteigenden Kloß in seinem Hals hinunter. Wenn sein Wunsch in Erfüllung gehen sollte, durfte er diese düsteren Gedanken gar nicht erst aufkommen lassen.

»Das Essen ist der Hammer.« Engle hielt drei verschiedene Sorten Zuckerwatte, eine Tüte Knallpopcorn und ein großes Glas Tee mit Sahne in der Hand. Die Luft war wie elektrisiert. Schließlich war Neujahr, der Abend, dem die Emblemiten das ganze Jahr entgegenfieberten – das Fest aller Feste. Die Bauern schälten in Windeseile goldene Äpfel, um die Nachfrage zu stillen, und die Kinder stürzten sich hungrig auf den riesigen roten Rubinkuchen, den Tors Vater tagelang gebacken hatte. Das Einzige, dachte Tor, was Engle brauchte, waren mindestens drei weitere Hände, um das viele Essen tragen zu können.

»Dir wird noch schlecht davon«, sagte er und sah zu, wie Engle sein Getränk in einem Zug hinunterschüttete und dann den Becher in die Mülltonne warf.

Stolz rieb sich Engle den Bauch. »Dieser Magen ist ein Kämpfer«, stellte er klar. »Er hat mir ein Dutzend Jahre lang gute Dienste geleistet. Ich bezweifle, dass das heute Abend anders sein wird.«

Tor zuckte mit den Schultern.

Anstatt sich weiter darüber den Kopf zu zerbrechen, was passieren würde, wenn sein Wunsch nicht in Erfüllung ging, überlegte er jetzt, was passieren würde, wenn er es tat. Er hatte seinen Eltern nicht erzählt, dass er sein Führungsemblem loswerden wollte, geschweige denn dass er sich wünschte ein Meeresatmer zu sein. Jetzt wurde ihm bewusst, dass das ein Fehler gewesen war. Er hatte sie hintergangen.

Selbstsüchtig. Das Wort stieg brodelnd in seiner Kehle auf, bereit laut ausgesprochen zu werden. Er war so selbstsüchtig. Monatelang hatte er nur daran gedacht, wie stark sein Wunsch war. Er hätte auch an die anderen denken sollen, nicht nur an sich selbst.

Aber er hatte es verdient glücklich zu sein. Und wenn seine Eltern ihn wirklich liebten, würden sie das auch verstehen.

Tor blinzelte, als jemand mit den Fingern vor seiner Nase schnippte.

»Bist du dabei oder nicht?«, fragte Engle.

»Bei was?«

»Das Legendenbuch deiner Mutter zu suchen. Da steht doch die Vanor-Geschichte drin, oder?« Das Buch der Legenden war eine Sammlung von Geschichten, die sie als Kinder oft gelesen hatten, Erzählungen über Flüche und Fabelwesen.

Allerdings kannten sie nur die abgeschwächte, vereinfachte Version dieser Legenden. Die schlimmsten Stellen waren rausgestrichen worden. Die wahren Geschichten waren düster und grausam … Der Stoff, aus dem Albträume sind. Die Ausgabe seiner Mutter enthielt die wahren Erzählungen.

Natürlich war Tor dabei.

Die Höhle von Cosas

 

Es gab einmal vor langer, langer Zeit eine Höhle.

Die Höhle von Cosas durfte nicht betreten werden – wenngleich es keine Tür gab, die jemanden davon abgehalten hätte. Cielos Mutter hatte ihn gewarnt niemals auch nur in den Schatten der Höhle zu treten.

Sie ist verflucht. Durch und durch.

Cielo gehorchte. Zumindest für eine Weile. Aber dann kam der Sommer und er verbrachte seine Nachmittage auf den Wiesen rund um die Höhle, wo das Gras so lang war, dass es seine Hüften berührte, wenn er sich darin bewegte und mit der Hand darüberfuhr, als würde er den Rücken eines riesigen Tieres streicheln.

Eines Abends schlief Cielo darin ein. Als er erwachte, leuchtete der Mond wie eine Perle über ihm und die Sterne blinzelten ihm freundlich zu.

Und da war noch etwas.

Eine Stimme.

Ein Flüstern.

Cielo …

Er setzte sich auf und wandte sich in die Richtung, aus der das Geräusch kam.

In Richtung der Höhle.

Ist da jemand?, fragte er in die Dunkelheit.

Einen Moment lang herrschte Stille. Dann: Komm näher.

Cielo schluckte. Er überlegte, ob er sich abwenden sollte. Er konnte das Flackern der Kerzen seines Dorfes am Rande der Wiese erkennen. Er konnte sogar sein Zuhause sehen, wenn er die Augen zusammenkniff.

Ich habe etwas für dich.

Die Stimme klang süß wie Milch und Honig. Freundlich, samtig.

Er machte einen Schritt vorwärts.

Nur noch ein bisschen näher …

Und Cielo ging weiter, bis er am Eingang der Höhle angelangt war.

Im Inneren stand eine Frau, die in Licht gehüllt war. Sie trug fließende Stoffe, die vor seinen Augen die Farbe wechselten. Und da war eine Truhe.

Sie öffnete sich und gab den Blick auf Edelsteine frei, die in der Nacht funkelten wie Sterne, direkt aus der Galaxie gepflückt.

Sind die für mich?, fragte er mit großen Augen. Er betrachtete die Juwelen. Das war mehr, als er sich je in seinem Leben gewünscht hatte.

Du kannst so viele behalten, wie in deine Taschen passen, sagte die Frau.

Er machte einen Schritt nach vorn, die Hände schon weit geöffnet, die Finger gekrümmt.

Doch in dem Moment, als er die Höhle betrat, verschwand die Frau. Die Edelsteine zerfielen zu Staub.

Cielo stolperte rückwärts, dann keuchte er auf. Die Wiese war verdorrt, das Gras war zu Erde geworden, die Pflanzen zu Felsen. Nein, nein …

Er schrie auf, als das Emblem an seinem Handgelenk schorfig wurde und abfiel – und etwas anderes an seiner Stelle erschien. Ein Auge mit einer Iris so dunkel wie die Nacht.

Ein Fluch.

Und niemand betrat je wieder die Höhle von Cosas.

3Verflucht