Emerald Beach - Dania Mari Hugo - E-Book

Emerald Beach E-Book

Dania Mari Hugo

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Beschreibung

Charlie, Shawn, Donnie, Liam, Jesse, Knox und Orry sind Freunde, die in Blue Harbor wohnen. Sie suchen alle nach der großen Liebe, doch das ist selbst in einem Touristenort nicht leicht, in dem es nur so von hübschen Mädchen wimmelt. Als Fremdenführer, Personal Trainer, Buchhändler, Hotelbesitzer, Eisverkäufer, Tätowierer und Sanitäter kommen sie ständig mit neuen Leuten in Kontakt. Ob für jeden der oder die Richtige dabei ist?

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Emerald Beach
Emerald Beach
Ein Liebesroman
1. Freunde
2. Charlie – Ein mieser Tag
3. Eine Telefonnummer
4. Rückruf
5. Lass uns tanzen gehen
6. Willst du mich küssen?
7. Unerfreulicher Besuch
8. Shawn – Arbeit? Nein, danke!
9. Zwei Wochen
10. Erstes Training
11. Mittagessen
12. Gibt es hier Schlangen?
13. Bergtour
14. Bademode
15. Unfreiwilliges Bad
16. Aufgeflogen
17. Donnie und das Kreidemädchen
18. Karaokeabend
19. Ein seltsames Mädchen
20. In flagranti
21. Mein Date, dein Date
22. Frieden
23. Fahr zur Hölle
24. Schuhe am Strand
25. Jesse und The Ring
26. Verabredung zum Essen
27. Geisterjäger
28. Markthallen
29. Hausverbot
30. Ein fantastischer Küsser
31. Graffiti
32. Privatkonzert
33. Geständnis
34. Hinterhalt
35. Rettung in der Nacht
36. Eiscremeflirt
37. Spontanes Date
38. Wiedersehen
39. Ein Job für Shawn
40. Unsichtbar machen
41. Enttäuschung mal zwei
42. Unangenehme Begegnung
43. Erster Arbeitstag
44. Das Mädchen aus Zimmer 13
45. Knox' Geheimnis
46. Nachtschicht
47. Nächtlicher Spuk
48. Entlassung
49. Knox und Paula
50. Parker & Parker
51. Obdachlose untereinander
52. Abschlussball
53. Anruf von Uma
54. Besuch bei der Ex
55. Der Typ mit der Freundin
56. Meine Wohnung, deine Wohnung
57. Die beste Überraschung

Emerald Beach

Dania Mari Hugo

Buchbeschreibung:

Charlie, Shawn, Donnie, Liam, Jesse, Knox und Orry sind Freunde, die in Blue Harbor wohnen. Sie suchen alle nach der großen Liebe, doch das ist selbst in einem Touristenort nicht leicht, in dem es nur so von hübschen Mädchen wimmelt. Als Fremdenführer, Personal Trainer, Buchhändler, Hotelbesitzer, Eisverkäufer, Tätowierer und Sanitäter kommen sie ständig mit neuen Leuten in Kontakt. Ob für jeden der oder die Richtige dabei ist?

Über die Autorin:

Dania Mari Hugo ist mit Stift und Papier zur Welt gekommen. Schon als Kind hat sie mit größter Fantasie Geschichten erfunden. Die Begeisterung fürs Schreiben hat sie nie im Stich gelassen. Sie lebt allein mit ihren Figuren in einem Penthouse in Salina.

Bisher von ihr erschienen: Snappy Kisses Romanreihe (2023 Band 1 - Bissige Küsse, Band 2 - Das gebrochene Pentagramm, Band 3 - Ein Privileg für Chenna)

Emerald Beach ist ein abgeschlossener Roman.

Triggerwarnung:

Folgende Themen kommen in diesem Buch in leichter bis mittlerer Intensität vor: Alkoholkonsum, Arbeitsverweigerung, Rassismus, Blut, Mobbing, Stalking, Selbstmord, Gewalt, Kriminalität, Tod, Liebeskummer, Obdachlosigkeit. Kann Spuren von ADHS enthalten.

Emerald Beach

Ein Liebesroman

Dania Mari Hugo

Books on Demand GmbH

22848 Norderstedt

[email protected]

1. Auflage, 2023

© 2023 Dania Mari Hugo. Alle Rechte vorbehalten.

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH

22848 Norderstedt

[email protected]

www.daniamarihugo.de

Umschlaggestaltung: inspirited books Grafikdesign | www.inspiritedbooks.at

Lektorat: Manu Hansen

Bild: Kapitelzierden gestaltet von Sora

ISBN: 978-3-7460-6804-6

Die Jungs vertreten, was mich am Leben hält:

Knox meine Leidenschaft für Tattoos

Liam meine Vorliebe für gutes Essen

Charlie mein Herz für LGBTQ

Shawn meine Abneigung gegen Sport

Donnie mein Faible für gute Geschichten

Jesse mein ungebrochener Glaube an die große Liebe und

Orry meine unbändige Begeisterung für die wundervollste Musik der Welt – K-Pop.

Dieses Buch ist für Euch!

Playlist zum Roman

Die folgenden Songs haben mich beim Schreiben begleitet und besonders inspiriert:

BTS:

Dimple

Paradies

Love Maze

Mikrokosmos

Pied Piper

Serendipity (Jimin)

Lost

House Of Cards

Best Of Me

Euphoria

Seesaw (Suga)

Life Goes On

The Truth Untold

Zero O'Clock

Butterfly

Save Me

Louder Than Bombs

We Are Bulletproof

Whalien 52

Magic Shop

Baepsae

Du findest die komplette Playlist auf Spotify unter Dania Mari Hugo ('Emerald Beach – Dania Mari Hugo')

1. Freunde

Der große, grüne Eiswagen raste die Strandpromenade hinauf. Der Fahrer des Wagens war ein mittelgroßer junger Mann mit dunkelblonden Wuschelhaaren und einer markanten schwarzen Brille auf der schmalen Nase. Jesse Reese war Anfang zwanzig und ein liebenswerter, aber aufgedrehter Chaot. Er hatte braune Augen und ein unwiderstehliches breites Lächeln.

Während er die Straße entlangbrauste, schielte er kurz auf seine Armbanduhr. Es war Zeit für das Treffen am Soulmate Café, mehr ein Restaurant als ein Café, aber der beste Laden am Ort, um Mittag zu essen. Aus alter Gewohnheit schob er seine schwarze Brille auf der Nase ein Stück nach oben und drehte dann am Radioknopf, um einen vernünftigen Empfang zu bekommen. Aber das Radio gab lediglich ein nervtötendes Knistern von sich. Resigniert lehnte er sich wieder zurück und sah erst jetzt, dass er sich einem Zebrastreifen näherte, der soeben von einer Gruppe von Vorschulkindern überquert wurde. Sofort trat er auf die Bremse und hielt gerade noch rechtzeitig an.

Einige der Kinder sprangen erschrocken zur Seite und beeilten sich dann, rüberzukommen. Die Kindergärtnerin warf ihm einen erbosten Blick zu und schob die letzten Nachzügler auf die andere Straßenseite. Jesse lehnte sich mit einem breiten Grinsen aus dem Fenster und tippte sich an den Schirm seiner imaginären Mütze. »Alles klar?«, rief er ihr nach.

Sie schüttelte empört den Kopf und wandte ihm dann demonstrativ den Rücken zu.

Von hier aus konnte er schon das Soulmate Café sehen, in dem er sich mit seinen Freunden praktisch täglich zum Essen traf. Er setzte den Wagen wieder in Bewegung. Leider gab es in der Nähe der Strandpromenade grundsätzlich keine kostenfreien Parkplätze, aber er hatte seine eigene Methode: Er fuhr bis zum Café, bog in die Nebenstraße und stellte den Wagen unter ein paar Linden ins Halteverbot, halb auf den Gehsteig. Dafür hatte er noch nie einen Strafzettel kassiert. Auch heute verließ er sich darauf, dass das so blieb.

Jesse schaltete den Motor aus und gönnte sich einen Moment der Ruhe. Vor ihm lag der vertraute Ausblick auf das Meer. Blue Harbor hatte zwei Gesichter: Auf der einen Seite war es ein recht beschaulicher Ort mit bezaubernden, bunten Häusern in gemütlichen Gassen, spielenden Kindern und tobenden Hunden. Hier waren Nachbarn noch Freunde und die Bewohner kannten sich von klein auf. Auf der anderen Seite war Blue Harbor ein beliebtes Küstenstädtchen. Der Touristenmagnet Emerald Beach lag im Zentrum des Ortes mit seiner breiten Strandpromenade, überlaufenen Restaurants und Souvenirläden. An diesem Strandabschnitt standen jeden Tag baden, schnorcheln oder surfen auf dem Programm. Der Sand war fein und weiß, das Meer saphirblau. In der Abendsonne leuchtete es smaragdgrün. Daher der Name Emerald Beach.

Während er schließlich schwungvoll aus dem Führerhaus sprang, sah Jesse einige seiner Freunde bereits am Tisch sitzen: Shawn, Charlie und Knox. Als er auf sie zukam, winkten sie ihm entgegen. Er begrüßte sie mit Handschlag, ließ sich auf einen freien Stuhl fallen und begann augenblicklich auf den hinteren zwei Beinen zu schaukeln.

Der schmächtige Shawn Nelson wirkte auf den ersten Blick nicht wie ein Personal Trainer. Nach seinem persönlichen Motto war unnötig viel Bewegung eher zu meiden. Er liebte es, seine Ruhe zu haben. Er hatte geschwungene Lippen, eine kleine Stupsnase und leuchtend grüne Augen. Keiner seiner Freunde würde je verstehen, wieso ausgerechnet er sich den Job als Personal Trainer ausgesucht hatte. Aber er kam offensichtlich ganz gut damit über die Runden.

Charlie Harris war ein schlaksiger Typ mit langen Armen und Beinen, aber einer gewaltigen Körperbeherrschung. Er war ein außergewöhnlicher Tänzer, hatte diese Tätigkeit jedoch hauptberuflich aufgrund eines Unfalls an den Nagel hängen müssen. Er hatte eine spitze Nase, hohe Wangenknochen und blonde Haare. Er trug gerne Schmuck, wie Ringe, Armbänder und Ohrringe. Außerdem stand er auf Männer. Beruflich führte er Touristen durch den Ort.

Knox Keaton war ein kräftiger, schwarzer Mann mit einer tiefen Stimme und kurzen Haaren. Er besaß zahllose Tattoos und Piercings, die einen eindeutigen Hinweis darauf gaben, womit er seinen Unterhalt verdiente. Mit dem 'Sea of Tears' besaß er seinen eigenen Tattoo-Shop in bester Lage am Emerald Beach. Er war ein zurückhaltender und gelassener Sonderling, der schwer zu durchschauen war.

Paula, die Kellnerin, kam mit drei Gläsern heran, die sie auf dem Tisch verteilte. Sie war klein, hatte freche, kurze Haare und war etwa im selben Alter wie die Jungs. Sie fragte nach ihren Menüwünschen. Da sich diese Clique praktisch jeden Mittag hier zum Essen traf, gab es für sie wenig Neues. Sie notierte dennoch alle Wünsche auf einem kleinen Block und verschwand wieder im Inneren.

Sie war schon außer Hörweite, als Charlie auffiel, dass sie ihm ein falsches Getränk gebracht hatte. Er griff sich das Glas und sprang auf, um ihr nachzueilen. Jesse und Shawn wechselten einen amüsierten Blick. Knox beobachtete die Szene relaxed hinter seiner Sonnenbrille. Dann wandte er sich dem kippelnden Jesse zu: »Wie kommt es eigentlich, dass du nie einen Strafzettel bekommst?«

»Hey, ich verkaufe Eiscreme. Ich mache Kinder glücklich – das bestraft man nicht.«

»Quatsch. Du hast einfach immer nur Schwein«, widersprach Shawn und stieß Jesses Stuhl mit seinem Fuß so hart an, dass Jesse für einen Sekundenbruchteil das Gleichgewicht verlor und mit entsetztem Gesicht wild mit den Armen ruderte. Er rettete sich schließlich gerade noch auf alle vier Beine zurück und stierte mit zusammengekniffenen Augen zu Shawn hinüber.

Knox gab ein amüsiertes Schnauben von sich: »Jetzt geht's dir an den Kragen, mein Freund!«

»Das traut er sich nicht«, mutmaßte Shawn. Doch er irrte sich. Jesse sprang auf, gerade als Charlie mit seinem neuen Getränk zurück an den Tisch kam. Als Jesse sich auf Shawn stürzte, wich dieser geschickt aus, rempelte dabei aber gegen Charlie. Der Inhalt dessen Glases ergoss sich zur einen Hälfte über seinen Stuhl und zur anderen über einen Mann am Nebentisch, der erschrocken aufschrie. Er hatte schulterlange, schwarze Haare, die vor der Attacke vermutlich noch sehr fluffig aussahen, jetzt waren sie klitschnass und klebten ihm im entsetzten Gesicht. Der Rest der Flüssigkeit hatte sein Shirt aufgeweicht und ließ mehr durchscheinen, als gewollt.

Für einen Sekundenbruchteil war es mucksmäuschenstill. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Jesse schlug sich die Hand vor den Mund und versuchte, Shawn nicht direkt anzusehen, da dieser sich arg bemühte, nicht zu lachen. Charlie war wie erstarrt. Sein Blick wanderte von seinem leeren Glas zu dem triefenden Gast und wieder zurück. Beschämt murmelte er eine verlegene Entschuldigung nach der anderen. Wobei er sich dabei mehr für seine Freunde entschuldigte als für sich selbst. Er griff sich die Servietten vom Tisch und reichte sie dem jungen Mann. Dieser starrte noch immer mit offenem Mund auf das Malheur und riss sie ihm unsanft aus der Hand.

Dann platzte es aus Shawn heraus. Er konnte nicht mehr an sich halten und lachte laut auf. Jesse stimmte mit ein. Einzig Knox saß weiter cool hinter seiner Sonnenbrille verborgen und schürzte mit einem leichten Kopfschütteln seine Lippen. Er beugte sich vor und nahm einen Schluck aus seinem Glas.

Der Fremde und vor allem seine Freundin warfen ihnen hasserfüllte Blicke zu und sprangen dann gleichzeitig auf. Die Frau stapfte voraus. Der Langhaarige bedachte Charlie noch einmal mit einem letzten erzürnten und zugleich abschätzenden Blick und folgte dann seiner Freundin.

Charlie wischte mit den restlichen Servietten seinen Stuhl wieder trocken und ließ sich resigniert hineinsinken. »Na, das war ja ganz groß! Danke auch, Shawn!«

Dieser riss die Augen auf: »Aber ich war das doch gar nicht. Jesse hat mich angegriffen.«

»Wenn du mir nicht immer nach dem Leben trachten würdest, müsste ich das nicht tun«, verteidigte sich dieser und kehrte an seinen Platz zurück. Paula brachte das Essen. »Was war denn hier gerade los?«, fragte sie und schaute in die Runde, bis ihr Blick bei Knox hängenblieb, so als sei er der Einzige, der ihr die Frage beantworten konnte. Der hob jedoch nur die Schultern, als ginge ihn das alles gar nichts an. Jesse guckte zu ihr auf und schenkte ihr sein strahlendes Lächeln. Sie lächelte automatisch zurück, ohne dass sie sich dagegen wehren konnte. Dann meldete sich Charlie zu Wort: »Wir hatten einen kleinen Unfall. Ich übernehme die Rechnung der beiden hier am Nebentisch.« Er drückte ihr einen Geldschein in die Hand. Sie blickte darauf und nickte, denn in Wahrheit hatte sie natürlich alles genau mitbekommen. Sie kannte die Jungs nun schon so lange, dass sie gar nichts mehr überraschen konnte. »In Ordnung!«, erklärte sie, »ich bringe dir gleich das Wechselgeld.«

Charlie winkte ab. »Nein, stimmt so. Aber ich hätte gerne noch ein neues Glas mit – na, du weißt schon.«

Sie lachte auf. »Ja, ich weiß. Du willst hier hoffentlich nicht als Kellner anfangen, oder Charlie?«

»Da musst du dir gar keine Sorgen machen«, versprach er.

Shawn schnappte sich das Besteck und verteilte es an alle. Dann fragte er in die Runde: »Was machen die anderen?«

Jesse drehte seine Gabel mit Spaghetti auf und stopfte sie sich in den Mund. »Orry hat eine Doppelschicht«, gab er kauend von sich. »Ich hab ihn heute Morgen noch am Strand getroffen.«

»Erzähl bitte nicht, was er getan hat«, murmelte Knox, der jegliche Geschichten aus der Abteilung Rettungswagen verabscheute. Doch mit vollem Mund berichtete Jesse unbeirrt weiter: »Eine Frau hatte sich den Fuß an einer Muschel aufgeschnitten, da war alles voller Blut. Echt eklig, sag ich euch. Ich wusste gar nicht, dass diese Muscheln so scharf sein können, dass man dabei einen halben Liter Blut verliert.«

Sie stöhnten alle auf und Knox verdrehte die Augen. Shawn versetzte Jesse einen erneuten Tritt gegen das Schienbein. »Wir essen hier, Bro. Muss das echt sein?«

Jesse schmunzelte kauend und kickte zurück. »Soll ich noch erzählen, wie er den Schnitt genäht hat?«

Shawn und Charlie stöhnten noch lauter auf, doch Knox lehnte sich lässig vor. »Das kann er gar nicht getan haben, denn das wird im Krankenhaus gemacht und nicht von einem Sanitäter am Strand.«

Jesse zuckte mit den Schultern. »Kann schon sein.«

»Ich denke, ich habe von Orry genug gehört. Wer weiß was von Liam oder Donnie?« Shawn versuchte, schnell das Thema zu wechseln.

Charlie meinte: »Ich dachte, Liam würde kommen. Aber vielleicht ist im Hotel doch mehr los, als sonst. Und Donnie ist auf einer Buchmesse in Salina.«

Jesse schlang sein Essen schnell herunter und kramte in seiner Tasche nach einem Geldschein, den er dann auf den Tisch warf. »Zahlt ihr für mich? Ich muss los.«

Knox blickte ihn über den Rand seiner Sonnenbrille prüfend an. »Ach ja? Wohin so eilig?«

Auch die Anderen horchten auf. Jesse hielt inne und grinste verlegen. »Ich treffe mich mit meiner neuen Freundin.«

»Ist es noch immer die Blonde mit den X-Beinen?«, wollte Shawn garstig wissen.

»Sie hatte keine X-Beine. Wie oft muss ich das noch sagen?« Er schüttelte beleidigt den Kopf. »Und nein. Meine Freundin ist schwarzhaarig und hat sehr schöne Beine.«

»Okay, und hat diese unbekannte Schönheit auch einen Namen?«, fragte Charlie.

»Das erzähle ich euch ein anderes Mal. Jetzt muss ich wirklich los.« Er drehte sich um, ohne auf das gehässige Geläster zu hören, und eilte zu seinem Wagen zurück.

Charlie schüttelte den Kopf. »Ich frage mich, ob er jemals die Richtige finden wird.«

Die Anderen nickten. »Wollen wir wetten, wie lange es diesmal geht?«, schlug Shawn vor.

»Ich wette, es ist bereits aus, noch bevor wir uns darüber einig sind«, entgegnete Charlie, doch er bedauerte die Worte sofort, obwohl die anderen lachten. Keiner von ihnen hatte es bisher geschafft, eine ernsthafte Beziehung zu führen. So wurden eben Witze gerissen. Es war reiner Galgenhumor. Charlie erhob sich ebenfalls. »Ich muss auch los. Meine nächste Führung fängt in einer halben Stunde an.«

»Ich wünsch dir einen Bus voller Bodybuilder, Charlie«, grinste Shawn und winkte ihm nach.

Charlie schlug andeutungsweise nach ihm. »Lass mal, die sind gar nicht mein Fall. Gegen ein paar ganz normale Jungs hätte ich jedoch nichts einzuwenden. Aber das wird heute nichts. Es hat sich ein Ehepaar auf Hochzeitsreise angemeldet.«

»Ich hab jetzt schon Angst«, frotzelte Shawn.

»Ja, ich auch«, gestand Charlie.

2. Charlie – Ein mieser Tag

Charlie kehrte zur Wohnanlage zurück, in der er und die meisten seiner Freunde wohnten, und betrat seine Wohnung. Er nahm eine schnelle Dusche und zog sich um. Dann verließ er schon wieder das Haus und begab sich zum Treffpunkt an der Strandpromenade. Das Paar war noch nicht da.

Charlie arbeitete für die örtliche Touristenagentur als privater Fremdenführer und zeigte allen Interessierten nicht nur die üblichen Sehenswürdigkeiten, sondern führte sie auch an Plätze, die bei den offiziellen Führungstouren nicht besucht wurden: lauschige Orte der Natur, kleine, aber dennoch sehenswerte Museen, kuschelige Restaurants mit ausgezeichneter Küche und ruhige Strandabschnitte. Er kannte für jeden Geschmack einen besonderen Ort. Meist improvisierte er, denn die Vorlieben der Gäste ergaben sich oft spontan, während sie schon unterwegs waren.

Ein Schwarm Möwen drehte kreischend ihre Runden über dem Strand und ließ sich dann an den auslaufenden Wellen nieder, wo sie auf angespülte Muscheln und Strandwürmer lauerten.

Von der anderen Straßenseite kamen jetzt ein Mann und eine Frau auf ihn zu. Sie waren viel älter, als er erwartet hatte, und sie wirkten angespannt. Waren das seine nächsten Kunden? Tatsächlich sprach der Mann ihn an: »Sind Sie Charlie Harris?«

Er nickte. »Herzlich willkommen in Blue Harbor. Ich hoffe, Sie haben gut hergefunden. Wollen wir starten?«

Die Frau nickte mit einem bemühten Lächeln, der Mann steckte seine Hände in die Hosentaschen und wandte den Blick ab. Charlie überlegte kurz, ob er etwas Falsches gesagt hatte, war sich aber keiner Schuld bewusst. Dann schob er es weg und startete die Tour auf seine unverwechselbare, fröhliche Art. Er redete sich ein, dass sich die Stimmung der beiden im Laufe des Nachmittags noch bessern mochte.

Leider war dem nicht so. Charlie gab sich Mühe. Doch egal, was er ihnen zeigte oder vorschlug, jedes Mal bekamen sich die beiden in die Haare. Sie wurden sich nicht einig, ob die Landschaft atemberaubend oder eintönig, ob das Essen lecker oder ungenießbar und die Ausstellung grandios oder langweilig war.

Charlie verstand nicht, wie ein Paar in den Flitterwochen so schlecht drauf sein konnte. Trotzdem bedankten sie sich am Ende herzlich und belohnten ihn mit einem ansehnlichen Trinkgeld. Er blickte den beiden nachdenklich hinterher.

Hoffentlich würde es ihm nicht auch so ergehen, wenn er einmal verheiratet war. Denn er wollte unbedingt heiraten. Er hatte schon oft darüber nachgedacht und im Kopf viele Pläne geschmiedet. Sollte er den Richtigen treffen, wünschte er sich diesen humorvoll, einfühlsam und vor allem romantisch.

Er bummelte über die Strandpromenade zurück nach Hause. Hier gab es einen winzigen Supermarkt, wo er sich etwas fürs Abendessen zusammensuchte. Er hatte die Arme bereits voll, als er sich noch eine Flasche Limo aus dem Kühlregal nehmen wollte. Mit dem kleinen Finger öffnete er die Glastür und drehte sich dabei nach links, um die Tür mit dem Ellenbogen festzuhalten. Vorsichtig streckte er die andere Hand aus, so weit er konnte, ohne alles fallen zu lassen, und griff sich eine Flasche. Die Glastür fiel wieder zu. In der Spiegelung sah er noch, dass sich jemand von hinten rückwärts näherte. Er wollte sich schnell umdrehen, als er auch schon einen kräftigen Stoß bekam und seine Waren alle auf den Boden purzelten. Nur die Flasche hielt er noch in der Hand, während er sich wütend umdrehte: »Passen Sie doch–!«

Er verstummte jedoch sofort, als er den Mann wiedererkannte, der ihn nun mit aufgerissenen Augen anblickte. Ausgerechnet der Langhaarige von heute Mittag. Sein Haar saß jetzt wieder perfekt und er hatte sich inzwischen umgezogen. Das schwarze T-Shirt mit einem Blue-Harbor-Aufdruck registrierte Charlie aber nur nebenbei. Ihm schoss durch den Kopf, wie attraktiv er aussah. Diesmal war er derjenige, der sich entschuldigte. Charlie konnte nicht anders und schenkte ihm ein verzeihendes Lächeln, während er in die Hocke ging und begann, seine Sachen wieder aufzuheben. Der Unbekannte beugte sich ebenfalls runter und half ihm dabei. Charlie hatte sich gerade umgedreht, als der Fremde ihm die Tüte Reischips reichte, die noch als letztes Stück auf dem Boden lag. Sie hielten dicht voreinander inne.

Eine kalte Stimme ließ die beiden hochschrecken: »Hier steckst du.« Es war seine Freundin. Sie wandte sich zu Charlie herum, erkannte ihn offensichtlich sofort wieder und ihr fielen die Mundwinkel herab. »Ach, du schon wieder.«

Der Langhaarige kam hoch und murmelte: »Lass gut sein.«

»Gibt's vielleicht schon wieder ein Problem?« Sie stemmte die Fäuste in die Hüften und baute sich vor Charlie auf, der sich jetzt auch wieder erhob. Ihr Freund nahm ihren Arm und zog sie mit sich. »Ist schon gut, Kimber. Lass uns gehen, okay?«

Nur widerwillig drehte sie sich um und ließ sich fortziehen. Alleine Charlie bemerkte den Blick, den der Unbekannte ihm über die Schulter noch einmal zuwarf, kurz bevor die beiden um die Ecke aus seinem Sichtfeld verschwanden. Und dieser Blick verwirrte ihn komplett. Er atmete tief durch, nachdem der Schauer, der ihn durchlief, langsam verebbt war. Noch einmal sah er vor sich die tiefbraunen Augen, die ihn einfach nicht loslassen wollten. Die Erinnerung an den Moment, als er ihm die Tüte zurückgab und sie beide direkt voreinander hockten, ließ ihn erneut erzittern. Der Duft von dem unbekannten Parfum hatte ein paar Schmetterlinge in seinem Bauch geweckt. Doch das durfte nicht sein. Der Mann hatte eine Freundin. Der hatte doch kein Interesse an ihm. Außerdem war er mit großer Wahrscheinlichkeit ein Tourist und er würde ihn sicher nicht mehr wiedersehen. Charlie ging nach vorne zur Kasse und blickte sehnsüchtig durch die Schaufenster auf die Straße, ob er nicht doch noch einen Blick auf ihn erhaschen konnte. Aber die beiden waren längst verschwunden. Er seufzte und zahlte seine Einkäufe.

Während er noch in Gedanken an diese zweite Begegnung innerhalb eines Tages seine Sachen in einen Beutel packte, hörte er hinter sich eine vertraute Stimme. Es war eindeutig Jesse. Er war im nächsten Gang hinter einem Regal verborgen und die zweite Stimme war sicher die seiner neuen Freundin. Charlie hielt es für keine gute Idee, sich ihnen zu zeigen. So blieb er auf dieser Seite des Regals stehen und lauschte. Die Unterhaltung der beiden verlief nicht sehr harmonisch.

Jesse machte einen Witz. Von ihr kam jedoch keine Reaktion. Charlie hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht zu lachen. Das war doch witzig, hatte sie den Gag nicht verstanden? Jesse versuchte es mit Charme – und davon hatte er eine ganze Menge. Die weibliche Stimme wurde immer gereizter. Was war denn da los? Auch Jesse schien das aufzufallen, denn er fragte sie, ob es ihr gut ginge. Sie behauptete, es sei alles in bester Ordnung, doch es war unüberhörbar, dass sie log. Jesse schwieg für einen kurzen Moment, dann schlug er vor, in die Spielhalle am Südende des Strandes zu fahren. Sie war einverstanden, doch Charlie war nicht überzeugt davon, dass sie darauf wirklich Lust hatte. Während das Paar den Laden verließ, versteckte Charlie sich hinter einem Zeitschriftenständer. Mit Abstand folgte er ihnen hinaus und beobachtete, wie sie die Straße hinabschlenderten. Von Jesses fröhlichem Wesen war im Augenblick nichts zu erkennen. Er schlurfte mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf neben ihr her. Charlie seufzte. Armer Jesse. So viel Pech konnte doch keiner haben.

Auf dem Weg nach Hause entschloss er sich zu einem kleinen Umweg über die Hauptstraße und betrat das 'Blue Moon Inn'. Es war das Hotel von seinem Freund Liam. Er hatte ihn den ganzen Tag nicht gesehen und fand, es war Zeit für ein kurzes 'Hallo'.

Liam Parker saß an der Rezeption. Er war groß und schlank und hatte blonde Haare. Er war immer vergnügt und überall sehr beliebt. Sein Lachen war hochansteckend und über die Jahre zu seinem Markenzeichen geworden. Er liebte es, zu essen. Und das konnte er tun, ohne dass er dabei auch nur ein Gramm zunahm.

Er entdeckte Charlie sofort, kam um den Tresen herum und sie umarmten sich kurz zur Begrüßung.

»Wieso warst du nicht beim Essen heute Mittag?«, wollte Charlie wissen.

Liam lächelte verlegen. »Ich hatte mehr anreisende Gäste, als ich bewältigen konnte. Knox hat mich mit Pizza versorgt.«

»Ich dachte, die große Touristenwelle ist erst für nächste Woche angekündigt.«

»Ja, das war auch so. Aber ein kleiner Verein hat sich kurzfristig für fünf Tage eingefunden. Zwanzig Leute. Das Haus ist voll.« Er freute sich sichtlich über diese Tatsache.

Das Telefon klingelte im selben Augenblick und Liam hob sofort den Hörer ab. Er meldete sich, lauschte einen Moment und sagte dann: »Es tut mir leid, es ist alles ausgebucht. Ich kann Ihnen frühestens in drei Wochen wieder ein Zimmer anbieten.« Der Anrufer sprach wieder eine Weile. Liam blickte zu Charlie, der geduldig wartete. »Ja, das verstehe ich natürlich. Hmhm, das stimmt. Zimmer 13 ist noch frei, aber da will doch niemand drin wohnen.«

Charlie verzog das Gesicht. Zimmer 13 – er hatte sich schon immer gefragt, wieso hier nicht, wie in Hotels üblich, die Nummer 13 einfach übersprungen wurde. Dann könnte er das Zimmer wie alle anderen vermieten.

»Sind Sie sich da ganz sicher?« Liam sah überrascht aus. »Okay, dann geben Sie Bescheid, wenn Sie sich entschieden haben. Einen schönen Tag noch!«

Liam legte auf und sah Charlie an.

»Sag nicht, er wollte das Zimmer trotzdem haben.«

»Das war eine Frau. Sie wollte unbedingt hier wohnen und sie hat sogar darauf bestanden, genau dieses und nur dieses Zimmer zu bekommen. Das hatte ich auch noch nicht.«

»Ich weiß gar nicht, wieso du noch immer dieses Zimmer hast. Ich hätte es längst umnummeriert oder einen Lagerraum draus gemacht.«

»Die Touristen stehen irgendwie drauf. Bei manchen Gästen ist es eine richtige Attraktion. Einige bitten mich sogar, hineinsehen zu dürfen. Aber über die Schwelle traut sich kaum einer. Irgendwer hat vor langer Zeit mal verbreitet, dass es darin spukt. Und die Leute fahren voll auf diese Art von Grusel ab heutzutage.«

Charlie schüttelte den Kopf. »Verrückt. Ich geh dann mal wieder. Du hast ja zu tun. Vielleicht sehen wir uns morgen?«

»Ja, bis morgen.«

Charlie machte sich auf den Heimweg. Es wurde allmählich dunkel und seine Füße schmerzten vom vielen Herumlaufen. Er war froh, nach Hause zu kommen. Morgen hatte er zwei Touren: eine Gruppe vormittags und die andere am Nachmittag. Und für die nächsten Wochen war er jetzt schon recht gut ausgebucht, zwei bis drei Touren pro Tag. Manche als Nachttour. Heute wollte er nur noch die Füße hochlegen und seine Reischips knabbern.

3. Eine Telefonnummer

Die Sonne weckte Charlie am nächste Morgen, was fatal war, denn er hatte verschlafen. Der Wecker hatte seinen Dienst versagt. Er pfefferte das Teil wütend in die Ecke, wo es in Einzelteilen liegen blieb. Eilig begab er sich ins Bad und war schon fünf Minuten später fertig wieder heraus. Auf dem Weg zum Treffpunkt seiner heutigen Tour holte er sich einen Coffee-to-go und verbrühte sich die Zunge, nachdem er ihn unvorsichtigerweise sofort probierte. Entnervt warf er den Becher in den nächsten Müll. Dann traf er seine Gruppe. Es waren acht Teilnehmer, die am Marktbrunnen auf ihn warteten.

Er begrüßte die Gäste und entschuldigte sich ausgiebig für die Verspätung. Als sein Blick über die Gesichter streifte, stockte er. Ihm blieben die Worte im Hals stecken. Das durfte doch nicht wahr sein. Er war es schon wieder!

Charlie kniff ungläubig die Augen zu. Das musste eine Täuschung sein. Sicher würde er seinen Irrtum jeden Moment erkennen. Doch als er sie wieder öffnete, stand er noch immer da und starrte verblüfft zurück. Dann entdeckte Charlie seine feindselige Freundin, die ebenfalls die Situation erfasst hatte. Die beiden wechselten einen kurzen Blick. Sie stöhnte und verschränkte die Arme vor der Brust. Doch er reagierte ganz anders, als Charlie erwartet hatte: Er brach in schallendes Gelächter aus. Die übrigen Teilnehmer schauten etwas verwirrt zu ihm hin.

Charlie versuchte, professionell zu bleiben, und begann mit seiner Führung, als wäre nichts gewesen. Alle nannten nacheinander ihre Namen und den Herkunftsort. Schließlich waren die beiden an der Reihe und stellten sich als Henry und Kimber aus Kisko vor. Einem Nachbarort. Charlie freute sich insgeheim ein kleines bisschen über die Tatsache, dass er kein echter Tourist war. Dann verbot er sich jedoch jeden weiteren Gedanken, obwohl ihm ihre zweite Begegnung die ganze Nacht nicht aus dem Kopf gegangen war. Aber er wollte vernünftig sein. Und doch fiel es ihm so schwer, ihn nicht immer wieder anzustarren.

Charlie führte seine Gruppe durch die Stadt und die Zeit verging viel zu schnell, ohne dass sich eine Gelegenheit ergab, direkt mit ihm zu sprechen, zumal Kimber ihm nicht eine Sekunde von der Seite wich und Charlie weiterhin argwöhnisch beäugte. Aber ihm entging nicht, dass Henry ihn ununterbrochen ansah. Natürlich war er der Tourleiter und alle sahen zu ihm, während er sprach. Dennoch fing er auch ständig dann seinen Blick auf, wenn er gerade nichts zu sagen hatte.

Das Schicksal hatte sie nun zum dritten Mal zusammengeführt. Das musste doch etwas bedeuten. Er konnte nicht glauben, dass es nur Zufall war. Er wusste, dass er ihn darauf ansprechen musste, noch bevor die Gruppe sich auflöste. Oder er würde es sich nie verzeihen. Doch wie sollte er das anstellen? Hier mitten in der Runde war das mehr als unprofessionell und das konnte er sich nicht leisten. Aber wenn die Tour beendet war, würden sich alle verabschieden. Und dann würden sie sich sicher nicht noch einmal begegnen. Er fühlte sich furchtbar unter Druck gesetzt.

Schließlich war es an der Zeit, die Tour zu beenden. Alle kamen noch einmal zu ihm und bedankten sich, ein paar gaben Trinkgeld. Kimber hielt sich abseits. Sie machte nicht den Eindruck, sich persönlich verabschieden zu wollen. Doch Henry kam auf ihn zu. Er hatte bis zum Schluss gewartet, so als hätte auch er gewollt, dass ihnen niemand zuhörte. Er reichte ihm die Hand und bedankte sich für die Stadttour. Seine Finger fühlten sich weich und warm an. Er betonte, wie gut es ihm gefallen hatte und meinte, wenn er wieder einmal in Blue Harbor sei, würde er gerne wieder eine Tour bei ihm buchen. Dann stand er weiter vor ihm. Charlie wurden die Knie weich. Wollte er jetzt endlich gehen? Es fiel ihm schwer, zu atmen, wenn er so dicht bei ihm war. Er wusste, dies war der Moment. Die Gelegenheit, ihn anzusprechen. Doch er war wie eingefroren und sein Kopf war leer. Was genau sollte er fragen? Henry lachte ihn an und das haute Charlie fast um. Er lächelte verzweifelt zurück. Dann senkte Henry den Blick und setzte zum Sprechen an. Charlie erwartete nun endgültig eine Verabschiedung und schluckte nervös. Er konnte ihn doch nicht einfach so ziehen lassen. Das durfte er nicht.

»Kannst du mir ein Restaurant empfehlen? – Ich meine eines, wo man trocken bleibt?«

Charlie spürte, wie die Hitze in ihm hochstieg und er schnappte erschrocken nach Luft.

Henry lachte auf und hob dann die Hand. »Entschuldige, war nicht böse gemeint. Aber ich konnte's mir nicht verkneifen.«

Charlie nickte und stimmte in das Lachen mit ein. »Schon gut. Ich hab's ja verdient.«

»Also schön. Ich will dich dann auch nicht weiter aufhalten.« Henry drehte sich zum Gehen, als es aus Charlie herausplatzte: »Darf ich dich wiedersehen?«

Er wandte sich wie in Zeitlupe wieder zu ihm. Seine Augen blickten ihn erstaunlich gelassen an, beinahe so, als wollten sie sagen: »Das wurde aber auch Zeit.« Dann nickte er fast unmerklich. Er streckte erneut die Hand aus. Als Charlie sie automatisch zum zweiten Mal ergriff, bemerkte er den zusammengefalteten Zettel, den er schon die ganze Zeit vorbereitet gehabt haben musste. Henry drückte noch einmal fest seine Finger, drehte sich dann sofort um und kehrte zu Kimber zurück. Die beiden schlenderten vom Platz.

Charlie blickte auf den Zettel in seiner Hand und entfaltete ihn. Es stand nur eine Telefonnummer darauf. Er hob den Kopf und sah gerade noch, wie die beiden um die nächste Ecke verschwanden.

Charlie schüttelte ungläubig den Kopf, als er zurück auf den Zettel schaute. Das würde ihm niemand glauben. Er faltete das Papier wieder zusammen und ließ es in seine Tasche gleiten. Dann machte er sich zum Mittagessen auf den Weg zum Soulmate Café. Nach diesem Erlebnis hatte er zwar keinen Hunger, aber er brauchte jetzt die Ablenkung. Allerdings entschied er, den Jungs nichts zu erzählen – noch nicht.

Shawn und Jesse saßen bereits am Tisch, als Charlie ankam. Charlie blickte Jesse prüfend an, doch dieser war fröhlich wie immer. Er beschloss, ihn nicht nach dem Mädchen vom Vortag zu befragen. Zumindest nicht vor den Anderen. Das hatte noch Zeit. Von der Strandseite kamen kurz darauf Orry und Liam gemeinsam heranmarschiert.

Orlando Young, von allen nur Orry genannt, war Rettungssanitäter und ein wahres Glückskind. Was er anfing, gelang ihm, er hatte praktisch ein Talent für alles. Und er war auch in allem wirklich gut. Er konnte mit Menschen umgehen, mochte Tiere und Kinder, beherrschte mehrere Instrumente und zahllose Sportarten, sprach vier Fremdsprachen. Man hätte vor Neid platzen können, doch es ging nicht anders, man musste ihn einfach gern haben. Das einzige, was ihm nicht gelang, war eine richtige Beziehung zu führen. In der Liebe hatte er Pech, wie alle anderen auch.

Sie bestellten und Charlie musste sich von Paula erst einmal eine spitze Bemerkung über sein Getränk anhören. Jesse und Shawn stimmten sofort mit ein und lachten herzlich. Orry und Liam sahen sich fragend an und Liam wollte wissen: »Was hat das zu bedeuten?«

»Charlie hat gestern mit seinem Getränk einen Typen am Nachbartisch geduscht. Das war großartig«, fand Shawn und lachte schadenfroh in Erinnerung an den Anblick und Jesse stimmte ins Lachen mit ein, dann erklärte er es genauer: »Shawn hat Charlie geschubst und der – gerade ein volles Glas in der Hand – kippt nach vorne und platsch! Alles über den Boy am Nebentisch.«

»Ich hab ihn nicht geschubst«, widersprach Shawn pikiert, »du warst das.«

Jesse schüttelte laut lachend den Kopf und zeigte auf Shawn. »Nein, nein – du warst das!«

»Und was ist aus dem Typ geworden?«, wollte Orry wissen.

Liam blickte ihn an. »Na, seine Telefonnummer wird er nicht bekommen haben.« Die beiden lachten und die anderen stimmten mit ein. Charlie blickte auf. Er fasste mit seiner Hand in die Hosentasche, wo er nach dem Zettel von Henry tastete. Er schenkte seinen Freunden ein breites Grinsen und hielt den Mund. Sollten sie sich ruhig lustig machen. Es war noch nicht an der Zeit, mit dieser Eroberung anzugeben. Bisher war ja noch nichts entschieden.

Es dauerte auch gar nicht lange, bis sie ein neues Thema gefunden hatten, über das sie herziehen konnten: Jesses neue Freundin. Auch hier hielt Charlie sich raus. Er beobachtete Jesse, der augenscheinlich nicht darüber sprechen wollte. Wieder überkam ihn das Gefühl, eingreifen zu müssen. Er sah doch, dass Jesse mit der Situation nicht glücklich war. Aber was hätte er schon tun können? Im Augenblick war es unmöglich, in Ruhe mit ihm zu sprechen. Er würde auf den passenden Moment warten. Während die anderen weiter quatschten, konnte Charlie nicht verhindern, dass seine Gedanken zu Henry abschweiften.

Erst als Paula das Essen brachte, fiel ihm auf, dass ihr Blick suchend die Reihe entlangglitt und sie am Ende etwas enttäuscht dreinblickte. Ihm war in letzter Zeit schon öfter aufgefallen, dass sie sich eigenartig benahm. Ihm war nicht ganz klar, woran das lag. Es schien aber auch sonst niemand zu bemerken. Noch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, wurde er von den anderen abgelenkt und vergaß den Gedanken wieder.

4. Rückruf

Nach dem Essen löste die Gruppe sich schnell auf. Charlie ging den üblichen Weg nach Hause, während er geistesabwesend mit dem Zettel in seiner Hosentasche spielte. Erst nach einer ganzen Weile wurde ihm bewusst, was er da tat und er zog ihn heraus. Er blickte auf die akkurate Handschrift, die wie gedruckt aussah. Diese Schrift war so ästhetisch wie der Mann, der sie produziert hatte. Seine eigene Handschrift war eine mittlere Katastrophe. Manchmal konnte er sein Gekrakel selbst nicht mehr entziffern. Sein Blick schwenkte über die Umgebung. Henrys Gesicht schien sich im Schaufenster einer Galerie widerzuspiegeln. Doch das war nur in seinem Kopf. Trotzdem verursachte dieser Gedanke ihm einen angenehmen Schauer. Nachdenklich betrachtete er die Zahlen und dann fiel er eine Entscheidung: Er würde ihn sofort anrufen.

Er zog sein Handy hervor und wählte. Es klingelte lange, so dass er schon nervös wurde und beinahe wieder auflegte. Doch dann hörte er die sanfte Stimme: »Hallo?«

»Hier ist Charlie. Es tut mir leid, dass ich mir so viel Zeit gelassen habe, dich anzurufen ...«, er dachte, es wäre gut, als Erstes seinen Humor zu prüfen. Henry enttäuschte ihn nicht, denn er antwortete gespielt vorwurfsvoll: »Ich hatte, ehrlich gesagt, schon nicht mehr damit gerechnet, noch jemals von dir zu hören.«

Einen Moment verstummten beide, dann fingen sie gleichzeitig an zu lachen.

Seine Stimme wurde wieder sanfter: »Schön, dass du anrufst.«

Die Worte umhüllten Charlie mit einer inneren Wärme. Manchmal konnte es so einfach sein. »Danke, dass du mich lässt.«

»Was tust du gerade?«

»Ich komme vom Mittagessen.« Charlie war erstaunt, wie selbstverständlich sie miteinander sprachen. Es kam ihm vor, als hätten sie nie etwas anderes getan. »Und du?«

»Ach«, seufzte er. »Ich langweile mich zu Tode. Eigentlich wollte ich Shoppen gehen, doch dann hatte ich alleine doch keine Lust.«

»Wieso bist du allein? – Ich dachte, du hättest eine Begleitung?« Charlies Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken an Kimber. Er hatte Angst vor der Antwort.

Henry zögerte. In seiner Stimme war das Schmunzeln zu hören: »Du kannst es ruhig aussprechen: Du willst wissen, wie ich zu Kimber stehe, richtig?«

Charlie schluckte. »Ähm, will ich das?«

Er lachte kurz auf. »Wir sind Freunde. Ganz platonisch. Ich stehe nicht auf Frauen.«

Von Charlie fiel ein ganzes Gebirge ab.

»Allerdings ist sie furchtbar eifersüchtig und glaubt immer, auf mich aufpassen zu müssen. Du hast keinen guten Start hingelegt, weißt du?«

Er räusperte sich. »Ja. Das sehe ich ein.« Das nasstriefende Gesicht würde er so schnell nicht vergessen.

»Sie ist zu einem Surfkurs an den Strand gegangen«, er stöhnte, »gar nicht meins. Ich dachte, vielleicht kannst du mich auf andere Gedanken bringen.«

Charlies Herz machte einen Hüpfer. Er bat ihn tatsächlich um ein Date? Aber gleichzeitig bedauerte er dies. Er hätte nichts lieber getan, als mit Henry den Rest des Tages zu verbringen. Das war nur leider nicht möglich.

»Ich habe gleich eine Führung.« In seinem Kopf stellte er sich vor, wie er diese Gruppe sausen ließ und stattdessen mit ihm durchbrannte. Ein wunderschöner Gedanke. Aber das kam natürlich nicht in Frage. Er würde ihn um etwas Geduld bitten müssen. »Ich hätte heute Abend Zeit für dich.«

»Ist in deiner Führung denn kein Platz mehr für mich frei?«, fragte er kokett.

Überrascht nickte Charlie. »Das könnte ich natürlich einrichten. Aber willst du das wirklich? – Es kann sein, dass wir genau dieselbe Runde drehen.«

»Wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich vorhin nicht besonders viel von der Umgebung mitbekommen.«

»Was? Wieso das denn?« Einen Moment fühlte er sich auf den Schlips getreten. Wollte er damit sagen, seine Führungen waren so schlecht ausgeführt? Doch kaum hatte er es ausgesprochen, fiel der Groschen und er hüstelte. »Oh, ja. Ich weiß schon.« Die Blicke, die sie getauscht hatten, hatten ihn also ebenso abgelenkt.

»Sag bitte ja«, bat Henry.

Charlie freute sich. »Also schön. Wo bist du? Ich hole dich ab.«

»Im 'Blue-Moon-Inn', weißt du, wo das ist?«

»Natürlich. Das Hotel gehört einem Freund. Ich bin in fünf Minuten da.«

»Was? So schnell?«, rief er jetzt aus, »dann muss ich Schluss machen. Bis gleich.« Er legte augenblicklich auf.

Lachend blickte Charlie auf sein Handy. Er verstand die Hektik nicht. Henry war in seinen Augen so perfekt, dass ihm nichts einfiel, was es da vorzubereiten gab. Aber die Vorstellung, wie er jetzt durchs Hotelzimmer huschte, das richtige Hemd aussuchte oder sich sein makelloses Haar noch einmal durchkämmte oder was immer er für nötig hielt, amüsierte ihn außerordentlich.

In aller Ruhe machte er sich dann auf den Weg, um ihm ein wenig Zeit zu verschaffen. Allerdings war er so beflügelt, dass er sich zur Langsamkeit zwingen musste. Er spazierte in die Halle und trat zu Liam an die Rezeption.

»Du hast zwei Gäste, Kimber und Henry, die Nachnamen weiß ich nicht.«

Liam grinste breit. »Aha. Henry also, ja?«

»Ich hole ihn zu einer Tour ab.«

»Okay, so heißt das heute.«

»Nein, wirklich.« Charlie weigerte sich, etwas zuzugeben. Noch war gar nichts spruchreif. Obwohl die Schmetterlinge in seinem Bauch eine völlig andere Sprache sprachen. Aber das musste Liam ja nicht wissen.

»Wie sieht er denn aus?«

»Groß, schlank, lange, schwarze Haare, braune Augen, volle Lippen.«

»Das ist schon eine ziemlich intensive Beschreibung für einen Kunden«, murmelte Liam, während er das Gästebuch im Computer aufrief. »Aber hattest du nicht eben gerade noch von zwei Gästen gesprochen?«

Charlie schluckte, dann seufzte er und blickte angestrengt auf seine Armbanduhr. »Ich habe wirklich einen engen Zeitplan.«

»Ja, natürlich. Was auch sonst?« Doch er hörte nicht auf zu feixen.

»Komm, jetzt sag mir schon die Zimmernummer.« Er lehnte sich auf den Tresen und sah zu, wie Liam das Gästebuch auf dem Bildschirm durchsah.

Liam drehte den Bildschirm von ihm weg und blickte ihn tadelnd an. »Du weißt aber schon, dass ich die Zimmernummern meiner Gäste nicht rausgeben kann, oder?«

»Och, komm schon, Liiiiaaam!« Er zog seinen Namen lang, um sich einzuschmeicheln, doch Liam ließ sich nicht erweichen.

»Ich werde einfach mal anrufen.« Er griff nach dem Telefon, dann sprach er kurz mit Henry und legte wieder auf. »Er kommt runter.« Erklärte er dann.

Charlie nickte. Das reichte ihm.

»Jetzt sag mir doch noch mal, was läuft da genau?« Diesmal lehnte Liam sich rüber und raunte ihm die Worte verschwörerisch zu.

Charlie winkte ab, aber er spürte, dass ihm das Blut in die Wangen schoss, und gleichzeitig sah er an Liams Ausdruck, dass dieser es bemerkt hatte. »Ich mache nur meinen Job, klar?«

Noch bevor Liam antworten konnte, kam Henry die Treppe herunter. Er blickte kurz zu Liam rüber und ging dann gemächlich auf Charlie zu. Er begrüßte ihn freundschaftlich mit einem kumpelhaften Handschlag. Charlie ging vor und öffnete ihm galant die Tür. Als er hinter Henry hinausging, winkte er seinem Freund noch einmal zu, der ihm seinerseits mit einer schnellen Bewegung einen Daumen nach oben zeigte und grinsend blinzelte.

Die Tour ging über zwei Stunden und immer wieder wechselten Charlie und Henry vielsagende Blicke. Die Gruppe wünschte am Ende, in ein Restaurant geführt zu werden und Charlie empfahl eine kleine Pizzeria direkt an der Strandpromenade.

5. Lass uns tanzen gehen

'Uncle Ellis' war ein Familienrestaurant mit Charme und einer kleinen, aber ausgewählten Speisekarte. Es gehörte Charlies Onkel und der war berühmt für seine ausgefallenen Pizzakreationen. Die Gruppe saß gemeinsam an einem einzigen langen Tisch. Indirektes Licht und viele Kerzen sorgten neben der dezenten Musik im Hintergrund für eine behagliche Atmosphäre. Mit seinem Onkel hatte Charlie eine Übereinkunft. Wenn seine Gäste Essen wünschten, brachte er sie hierher. Dafür waren für ihn um diese Zeit grundsätzlich entsprechende Plätze reserviert. Ansonsten bekam man hier nämlich nur nach längerer Wartezeit einen freien Tisch. Charlie und Henry saßen während des Essens an verschiedenen Enden der langen Tischreihe und trotzdem hatte Charlie wenig Appetit und stocherte nur nebenbei in seinem Salat. Nach einer Stunde löste sich die Veranstaltung langsam auf und die Gäste verabschiedeten sich nach und nach. Am Ende blieben nur noch die beiden übrig. Charlie half seiner Tante, die Tische wieder auseinanderzustellen und die beiden Jungs setzten sich auf ein weiteres Getränk an einen Zweiertisch zusammen.

Henry zeigte auf Charlies Teller: »Du hast ja gar nichts gegessen.«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich war nicht hungrig.«

»Tztz«, Henry schnalzte mit der Zunge. »Das kann ich auf gar keinen Fall akzeptieren.«

»Was denn?«

Er griff nach der Gabel und spießte eine Cocktailtomate auf. »Ich werde dich eigenhändig füttern, wenn es sein muss.« Er hielt ihm die leuchtend rote Frucht entgegen.

Charlie lachte, wehrte aber ab. »Nein, hör auf. Was soll das denn?«

»Du isst jetzt sofort diese Tomate.«

»Nein.«

»Magst du keine Tomaten?«

»Doch natürlich.«

»Dann iss jetzt!« Er hielt ihm die Gabel wieder entgegen.

Schließlich resignierte Charlie und öffnete den Mund.

»Brav.«

Er kaute und als Henry Anstalten machte, ein paar Salatblätter aufzuspießen, griff er nach der Gabel. »Ich kann das selbst, danke.«

Henry hielt inne.

Charlie atmete tief durch. Die Berührung ihrer Hände durchfuhr ihn wie ein Stromschlag. Er versuchte, dem keine Bedeutung beizumessen, und forderte ihn munter auf: »Erzähl mir von dir!«

»Was soll ich erzählen?« Er räusperte sich. Dann nahm er einen Schluck aus seinem Glas. »Ich bin ein ganz langweiliger Typ aus Kisko, der ein paar Tage am Meer ausspannt.«

»Das mit dem langweiligen Typ kann ich irgendwie nicht nachvollziehen.«

»Ist aber so. Ich habe den ödesten Job aller Zeiten.«

»Und was wäre das?«

»Ich arbeite bei Jonasons als Kundenberater. Das ist eine Firma, die Maschinenersatzteile herstellt und vertreibt.«

Charlie musste zugeben, dass das wirklich nicht besonders aufregend klang. Aber er wollte etwas Positives dazu beitragen: »Aber immerhin hast du ein festes Gehalt, oder?«

Henry seufzte. »Das stimmt. Musst du dich denn um deine Einnahmen sorgen?«

»Ich arbeite für eine Touristen-Agentur hier im Ort. Das läuft im Augenblick ganz gut. Aber ich bin immer noch selbständig, da kann man nie sicher sein. Durch die Agentur kommen allerdings auch im Winter Aufträge aller Art rein. Das ist gut für mich.«

»Und du scheinst deine Arbeit zu lieben.«

»Ja, das tue ich. Ich würde nichts anderes machen wollen.«

»Das ist beneidenswert.«

»Was tust du in deiner Freizeit? Hast du wenigstens einen Ausgleich?« Jetzt bekam er doch Hunger und machte sich über seinen Salat her.

Henry zuckte mit den Schultern. »Nicht wirklich. Ich bin ein Sportmuffel. Ich lese lieber Bücher. Und ich koche.«

»Das finde ich super.«

Henry winkte ab: »Ach, hör schon auf. Du denkst jetzt auch, ich bin ein Langweiler.«

»Gar nicht. Damit erweiterst du meinen Horizont.«

»Witzig! Was machst du denn in deiner Freizeit?«

»Ich tanze.«

»Nicht ernsthaft?«

»Doch. Ich war professioneller Tänzer, bevor ich Fremdenführer wurde.«

Er erzählte ihm, dass er vor ein paar Jahren einen Unfall hatte und danach nicht mehr weitermachen konnte. Privat hatte er aber nie damit aufgehört.

»Hast du eine Freundin?«, wollte Henry jetzt mit einem durchdringenden Blick wissen.

»Meinst du die Frage ernst?« Zweifelte er tatsächlich noch an seiner Orientierung? Er hielt dem Blick stand. Dann sagte er bestimmt: »Nein. Und auch keinen Freund. Was ist mit dir? Bist du vergeben?«

Henry schüttelte den Kopf. »Dann säßen wir jetzt nicht hier.«

Er nickte ihm zu. Er mochte das Blitzen in seinen frechen Augen und wenn sein Mundwinkel leicht nach oben zuckte. »Da bin ich aber froh.«

»Ja, ich auch. Meine letzte Beziehung war nämlich eine Vollkatastrophe.«

»Ich weiß, was du meinst. Ich hatte auch nicht so viel Glück bisher.«

»Ich glaube nicht, dass du meine Erfahrungen toppen kannst.«

»So schlimm?«

Henry nickte. »Erzähl mir lieber schnell was ganz Schönes.«

Während sie weitersprachen, vergaßen beide darüber die Zeit. Irgendwann entstand eine Pause. Charlies Teller war längst leer und ihre Gläser auch. So fragte Charlie: »Was machen wir jetzt? Willst du ins Hotel zurück?«

»Auf keinen Fall«, widersprach Henry, »es ist doch noch früh. Können wir nicht noch etwas unternehmen? – Ich kenne dich noch gar nicht.«

»Wir sprechen jetzt seit einer geschlagenen Stunde nur über mich.«

Henry stützte seinen Kopf verträumt auf die Hand. »Ich könnte die ganze Nacht über dich sprechen.«

Charlie blickte ihm in die dunkelbraunen Augen. Sein Gesicht war so perfekt und ebenmäßig. Es war kaum zu glauben, dass so ein Mann auch nur das geringste Interesse an ihm zeigte. Wie gerne hätte er diese vollen Lippen geküsst. Doch dies war nicht der Ort dafür. Der Abend war noch lang und Henry hatte ihm gerade ein unglaubliches Kompliment gemacht. Das versprach einiges. Charlie entschied, cool zu bleiben. »Worauf hättest du denn Lust?«

»Ich weiß nicht. Du bist doch hier derjenige, der sich so gut auskennt.«

»Ich hab dir erzählt, dass ich gerne tanze. Wie ist es mit dir?«

»Ja, schon.«

»Dann lass uns tanzen gehen.«

Er führte ihn in einen Tanzclub am Ende der Strandpromenade, der schon früh seine Türen öffnete und gute Musik machte. Und auch praktisch immer gut besucht war. Viele Touristen kamen direkt vom Strand hierher. Sie bekamen gerade noch einen kleinen Tisch an der Tanzfläche und Charlie bestellte für sie beide Getränke. Sie saßen sich gegenüber und sahen den Tanzenden eine Weile nur zu. Dann hielt es Henry nicht mehr auf seinem Stuhl und er griff nach Charlies Hand, »das ist mein Song!«

Er ließ sich bereitwillig mitziehen. Sie brauchten nicht erst warm zu werden, sie fanden sofort ihren Rhythmus und bewegten sich geschmeidig im Takt. Er sah Henry begeistert zu und war sehr froh, dass sein Körper perfekt mit der Musik zu verschmelzen schien. Doch vergaß er darüber, sich selbst der Musik hinzugeben. Dann bemerkte er, dass Henry etwas enttäuscht auf seine sparsamen Bewegungen blickte. Er lachte.

Henry beugte sich zu ihm vor und schrie über die Musik: »Ist das alles, was du drauf hast? Das mit dem Tänzer war nur so'ne Masche, hm?«

»Du willst mich Tanzen sehen?«, fragte er genauso laut zurück und Henry nickte ermutigend.

»Dann pass mal auf!«

Charlie sah sich um und schätzte den ihm zur Verfügung stehenden Platz ein. Noch war die Tanzfläche nicht zu voll und er konnte sich austoben. Das war ganz in seinem Sinne. Die ersten Bewegungen waren noch ein wenig steif, aber das war völlig normal. Nachdem er sich erstmal in den Takt des Songs eingegroovt hatte, flossen die Bewegungen immer leichter und mit Freude registrierte er, wie Henrys Augen immer größer wurden. Nun war er derjenige, der innehielt und nur noch ihm zusah. Auch einige anderen Anwesenden blickten fasziniert zu ihm, doch die waren ihm egal. Er tanzte nur für einen. Er hatte Glück, es war einer seiner Lieblingssongs, der jetzt spielte und er konnte sich ganz der Musik hingeben. Seine Moves wurden immer ausgefallener, er ging in die Knie, nur um sofort wieder hochzufedern, machte Drehungen und seine Arme bewegten sich im Rhythmus seines ganzen Körpers, so dass sein Tanz wie eine einzige fließende Bewegung aussah. Er wusste genau, wie es wirkte, denn er hatte jahrelang jeden Tag stundenlang vor dem Spiegel geübt. Er liebte das Tanzen einfach.

Als das Lied zu Ende war, gingen sie den Weg zum Tisch zurück, um etwas zu trinken. Henry konnte überhaupt nicht mehr aufhören zu schwärmen. »Ich habe noch niemals jemanden so tanzen gesehen. Das ist ja unglaublich!«

»Danke. Aber das ist doch nichts.«

»Ich bitte dich. Das war großartig. Ich wünschte, ich könnte nur halb so gut Tanzen.«

»Aber du tanzt doch toll.«

Er winkte ab. »Ach, das erzählst du doch sicher allen Boys, mit denen du ausgehst.«

Charlie lächelte neckisch: »Und, wirkt es?«

Er lachte auf und gab ihm einen Knuff. Charlie wollte ausweichen, aber Henry traf ihn doch. Er blieb stehen. Sie sahen sich an. Die Luft zwischen ihnen schien in Flammen zu stehen. Charlie konnte sich kaum zurückhalten. Konnte er es wagen, ihn zu küssen? Gleich hier im Gang?

Noch bevor es dazu kam, blinzelte Henry jedoch und drehte sich um. Sie setzten ihren Weg zum Tisch fort.

6. Willst du mich küssen?

Sie tanzten noch ein paarmal, bis ihnen beiden so warm war, dass sie dringend frische Luft schnappen mussten. So drängten sie sich hinaus. Es war inzwischen voll geworden. Hier vor dem Club standen viele Gäste herum, um sich abzukühlen oder eine Zigarette zu rauchen. Der Abend begann zu dämmern. Sie suchten sich eine freie Stelle an der Hauswand. Von hier konnte man die Sonne im Meer versinken sehen. So standen sie eine Weile schweigend nebeneinander. Unter den Gesprächen der Umstehenden stachen zwei Stimmen hervor. Charlie erkannte die zwei, bevor er sie sah. Es waren Jesse und seine Freundin. Er drehte sich um und sah die beiden näher kommen. Schnell zog er Henry aus dem Sichtfeld mit sich in eine Nische. Dieser sah ihn fragend an. Charlie legte einen Finger auf seine Lippen, doch dann bemerkte auch Henry das streitende Paar und die beiden lauschten gebannt.

»Das hatte ich mir aber gar nicht so vorgestellt«, quäkte sie und sie blieben nur wenige Meter entfernt stehen. Sie blickte suchend die Straße hinunter. »Du bist der langweiligste Typ, den ich je getroffen habe.«

»Ich habe langsam das Gefühl, dass man dir überhaupt nichts recht machen kann«, murrte Jesse, »und das hatte ICH mir ganz anders vorgestellt.«

»Wir machen doch immer nur, was DU willst. Ich habe das langsam echt satt.«

Er schnappte nach Luft. »Wie bitte? Ich frage dich doch die ganze Zeit, was du willst.«

»Ich weiß auch nicht, was das soll. Ständig löcherst du mich mit deinen komischen Fragen. Ich verstehe doch immer nur die Hälfte von dem, was du sagst.«

»Kein Problem«, Jesse hob abwehrend die Hände, »das hört in Zukunft auf, versprochen!«

»Das wird auch Zeit. Deine Stimme nervt echt.«

»Oh wirklich? Hat dir schon mal jemand gesagt, dass deine Stimme Ohrenschmerzen bereitet?«

»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ein Idiot bist?«

Er hielt kurz inne.

Es tat ein wenig weh, das zu hören. Charlie wäre am liebsten aus dem Versteck gestürmt und hätte ihr eine Ohrfeige verpasst, aber er ballte nur wütend die Fäuste.

»Gut. Das reicht. Ich hab das jetzt lange genug versucht. Sieh zu, dass du Land gewinnst!«

»Was soll das heißen?« Sie fuhr herum. »Willst du etwa Schluss machen?«

Er sah sie fassungslos an. »Du etwa nicht?«

»Mit mir macht keiner Schluss. Wenn, dann mache ich das.«

»Diesmal nicht«, gab er kühl zurück und beugte sich vor: »Es ist aus!« Dann drehte er sich um und ging mit den Händen in den Hosentaschen und erhobenen Kopf die Straße hinunter.

»Hey!«, rief sie ihm nach. »Wer bringt mich denn jetzt nach Hause?« Unsicher blickte sie hin und her. »Du kannst mich doch hier nicht einfach stehen lassen«, ihre nervtötende Stimme wurde immer brüchiger. Dann räusperte sie sich, prüfte noch einmal, ob sie jemand beobachtet hatte, und stöckelte schließlich in die entgegengesetzte Richtung davon.

Henry und Charlie sahen sich an. »War das nicht einer deiner reizenden Freunde aus dem Café?«

»Ja, das war Jesse. Und ich bin wirklich stolz auf ihn.«

»Wenn ich ihm eines Tages verziehen habe, dass er mich bei deinem Missgeschick ausgelacht hat, werde ich das auch sein. Die war ja furchtbar.«

Charlie nickte. »Das kannst du wohl sagen.« Er schielte um die Ecke und sah, dass Jesse zurückkam. Diesmal mit Shawn und Knox im Schlepptau. Sie mussten sich ein Stück weiter die Straße rauf in die Arme gelaufen sein. Charlie zog Henry wieder zurück in Deckung. Die Jungs kamen näher und verschwanden dann im Club.

»Und was soll das jetzt werden?«, fragte Henry. »Schämst du dich für mich oder du willst mich heimlich küssen?«

Charlie sah ihn erstaunt an. Seine Unverblümtheit traf ihn bis ins Mark. Die Wahrheit war, er war tatsächlich noch nicht bereit zu einer Begegnung mit den Jungs. Aber das lag nicht daran, dass er sich für Henry schämte. Ganz im Gegenteil. Dieser Mann war wie ein wertvoller Schatz, den er noch nicht bereit war zu teilen.

Charlie blickte ihn an. Er wollte tatsächlich nur noch eines und das hatte er schon den ganzen Abend gewollt. Er zog ihn zu sich heran und ihre Lippen trafen einander. Es war wie eine Explosion in seinem Kopf. Er spürte Henrys Zunge in seinem Mund und seine Hände auf seinem Körper. Charlies Hände fuhren durch das lange, weiche Haar und er drückte ihn gegen die Wand.

Die beiden küssten sich eine halbe Ewigkeit. Dann lösten sie sich voneinander und rückten sich die Kleidung und die Haare wieder notdürftig zurecht. Sie sahen sich an. Henrys unvergleichlichen vollen Lippen formten sich zu einem strahlenden Lächeln, welches Charlie den Rest gab. Er wusste in diesem Moment, dass er ihn mit diesem Lächeln um den kleinen Finger wickeln konnte. Er hoffte nur, dass ihm das nicht eines Tages zum Verhängnis wurde. Charlie griff nach seiner Hand und zog ihn vom Club fort. »Wir sollten gehen.« Er führte ihn die Strandpromenade entlang. »Hast du noch Durst?«