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Jedes der 33 hier vorgestellten Gedichte lockt auf eine unbegangene Spur. Kaum eines der bekannten Gedichte von Emily Dickinson (1830–1886) rückt hier in den Blick, dafür viel bisher Unerschlossenes und Unterschätztes. Ein Streifzug durch das Werk der großen amerikanischen Dichterin, die heute weltweit ein ständig wachsendes Lesepublikum findet: mit dem raschen Flug ihrer Fantasie, der Präzision ihres Denkens, ihrem Sinn für Komik, ihrer Sehnsucht nach Liebe, ihrer ekstatischen Diesseitsfreude.
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Seitenzahl: 60
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Emily Dickinsonund der Wind – 33 Gedichte
Ausgewählt, übersetztund kommentiert vonGunhild Kübler
Die amerikanische Lyrikerin Emily Dickinson (1830–1886) hat der Nachwelt fast 1800 Gedichte hinterlassen, aufbewahrt in einer Schublade ihrer Kommode. Ein Teil von ihnen war eingetragen in selbstgemachte Manuskriptbüchlein, ein Teil auf Briefbögen notiert, ein Teil auf fliegende Blätter, die Rückseite von Einkaufslisten und gebrauchte Briefumschläge. Alle Gedichte waren undatiert bis auf zehn, die zu Dickinsons Lebzeiten anonym in Zeitungen erschienen waren.
Um zu testen, ob sich genug interessierte Leserinnen und Leser für Dickinsons Lyrik finden würden, publizierten ihre ersten Herausgeber Higginson und Todd zunächst einen schmalen Sammelband und, als der rasch zum Bestseller wurde, zwei weitere. Dabei standen sie vor der Aufgabe, eine plausible Anordnung für diese Gedichte zu finden, die sich in ihrer Vielsinnigkeit jeder thematischen Bündelung entziehen. Kaum eines hat einen Titel, und viele lassen offen, wovon sie eigentlich reden. Vom Geliebten? Von Gott? Vom Tod? Vom dichterischen Furor – oder von all dem zugleich?
Trotzdem behalfen sich Higginson und Todd damit, die Gedichte nach inhaltlichen Kategorien wie Leben, Liebe, Natur, Zeit und Ewigkeit anzuordnen und fanden damit viele Nachahmer. Eine Folge davon ist, dass selbst heute gelegentlich die Vorurteile kursieren, Dickinson sei eine »statische« Autorin – in ihrer Lyrik gebe es bloß eine Handvoll Themen, keine Abwechslung, keine Entwicklung, keinen künstlerischen Fortschritt. Ein typisches Dickinson-Gedicht bestehe aus gereimten vierzeiligen Strophen, Durchschnittslänge: zwölf Zeilen.
Knapp siebzig Jahre nach dem Tod der Dichterin kam die erste textkritische Gesamtausgabe ihrer Lyrik heraus, und noch einmal mehr als vierzig Jahre später konnte Ralph W. Franklin mit modernen wissenschaftlichen Methoden die chronologische Abfolge der meisten Gedichte ermitteln. Seine Publikation sämtlicher Gedichte bei Harvard University Press (1998) machte deutlich, wie absurd die jahrzehntelang gepflegten Vorurteile über Dickinsons Dichtung waren. Denn selbstverständlich gibt es in diesem umfangreichen Lebenswerk dramatische Entwicklungen, eine Fülle von Themen, von Einfällen und formalen Experimenten. Auch gibt es Jahre einer stürmischen Produktion, in denen Dickinson fast jeden Tag ein Gedicht schrieb, darunter Dutzende, die formal weit ausholend den Rahmen jeder Buchseite sprengen.
Vor dem Hintergrund dieser Einsichten, kann sich der Versuch wieder lohnen, schmale thematische Fährten durch Dickinsons lyrisches Werk zu legen. Die vorliegende Auswahl von 33 Gedichten, in deren Zentrum der Wind steht (oder in denen er zumindest eine wichtige Nebenrolle spielt), möchte die Leserschaft auf eine bisher wenig begangene Spur locken. Es ist ein Seitenweg, der die Hauptstraßen dieses reichen lyrischen Werks nur gelegentlich kreuzt. Kaum eins der bekannten, vielübersetzten Gedichte rückt hier in den Blick. Dafür manch bisher Unbekanntes, Unerschlossenes und Unterschätztes.
Auch auf einem derartigen Streifzug kann man dieser Dichterin nahe kommen, sich überraschen lassen von Einfallsreichtum und ihrem Spürsinn für Themen. Man kann Bekanntschaft machen mit dem schnellen Flug ihrer Fantasie, der Präzision ihres Denkens, mit ihren kühnen Ketzereien, ihrer Diesseitsfreude und ihrem Liebesbegehren, ihrem Zorn und ihrem kühlen Beharren auf Einsamkeit. Und man wird etwas spüren vom Zauber ihrer Musikalität, ihrer Freude an Mehrdeutigkeiten und von ihrer Fähigkeit, etwas im Tiefsten Unsagbares mit Worten einzukreisen.
»Circumference« hat sie dieses poetische Verfahren mehrfach genannt. Streng genommen eine Bezeichnung für den Kreisumfang, wird dieser Begriff von ihr dynamisiert, um das poetische Tun als eine Bewegung zu veranschaulichen: Umkreisen als ein beharrliches Sich-Annähern an etwas, das plötzlich zu Tage tritt oder sich offenbart und sofort wieder zu verschwinden droht. – In diesem Sinn kann »Circumference« auch eine Methode sein, Emily Dickinsons Gedichte mit-denkend und mit-fantasierend beharrlich zu umkreisen und sich so ihre unvergleichliche Hinterlassenschaft zu erschließen.
Unser kleiner Streifzug beginnt mit einem Dreizeiler, den die junge Dichterin 1858 in ihr erstes Manuskriptbüchlein eintrug (Fr 23, die Gedichte sind im Folgenden mit den Nummern bezeichnet, die Franklin ihnen gegeben hat):
In the name of the Bee –
And of the Butterfly –
And of the Breeze – Amen!
Im Namen der Biene –
Und des Schmetterlings –
Und der Brise – Amen!
Federleicht wirkt das Gedichtchen bei der ersten Lektüre, erst mit dem letzten Wort bemerkt man seinen Stachel: Es parodiert blasphemisch die uralte Formel, die sich von Jesu Taufbefehl an seine Jünger (Matth. 28, 19) herleitet und bis heute jedes christliche Ritual, jeden Gottesdienst eröffnet: »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.« Diese Formel wurzelt im Dogma der Trinität. Die hier angerufene Frühlings-Trinität von Bee, Butterfly und Breeze dagegen hat die Dichterin selber inthronisiert – und bekräftigt sie am Ende selbstbewusst mit lautem Amen!
Nicht bloß der Stabreim macht aus ihren drei Akteuren eine Trinität, sondern auch ihre symbolische Bedeutung. Die Biene steht für die Befruchtungskraft des Vaters, der Schmetterling für die Metamorphose des auferstandenen Sohns und die Brise für den Wind, dessen leichter Hauch Moses im Alten Testament die Gegenwart Gottes spüren ließ und dessen gewaltiges pfingstliches Wehen im Neuen Testament das Haus erfüllte, in dem die Jünger Jesu nach Ostern saßen und auf ein Zeichen von ihm warteten.
Mit Blick aufs Gesamtwerk erweist sich das kleine Terzett als ein Portal-Gedicht: Den Platz der christlichen Trinität nehmen hier drei natürliche Akteure ein. Und auf die Natur wird sich Dickinson berufen, wenn sie in den kommenden Jahren als Dichterin das Wort ergreift, ihre »Briefe an die Welt« schreibt, ihre Zaubersprüche murmelt und in Gärten und Gedichten ihren säkularen Sabbath feiert. Losgesagt hat sie sich damit von jenem Vatergott, den das puritanische Amherster Milieu, dem sie entstammte, mit erstickender Strenge propagierte.
Von keinem Zweifel angekränkelt ist Dickinsons Vertrauen auf die Bannkraft der poetischen Sprache. Die strengen Vorgaben der lyrischen Tradition – metrisch gebundene Verse, Strophen, Alliterationen und (Halb-)Reime – hat sie wohl kaum als Zwang empfunden. Ihre Musikalität erlaubte ihr, sie als das zu nutzen, was sie schon immer waren: Uralte Suggestionstechniken. Viele ihrer Verse klingen darum wie Zaubersprüche.
Hier ist einer ihrer schönsten (Fr 25):
A sepal – petal and a thorn
Opon a common summer’s morn –
A flask of Dew – A Bee or two –
A Breeze a’caper in the trees –
And I’m a Rose!
Ein Blütenblättchen – und ein Dorn
Am Sommermorgen zu besorgen –
Ein Fläschchen Tau – und ein, zwei Bienen –
Im Baum – hüpft eine Brise –
Und ich bin eine Rose!
Die beiden folgenden Gedichte (Fr 216 und 224) aus dem Jahr 1861 erzählen von Stürmen und von der Stille, die auf sie folgt. Das erste setzt nach kurzem Rückblick auf das Unwetter mit dieser Stille ein und lässt gleich zu Beginn einen Regenbogen aufziehen – das alte biblische Zeichen von Gottes Versöhnung mit den Menschen nach der Sintflut. Der Sturm zieht ab mit wunderbar plastischen Wolkenformationen, der Sommertag kehrt zurück. Alles wird wieder so, wie es vorher war. Da schneidet plötzlich ein Alas / ein »Ach«, das Gedicht in zwei gleich große Hälften:
On this long storm the Rainbow rose –
On this late morn – the sun –
The Clouds – like listless Elephants –
Horizons – straggled down –
The Birds rose smiling, in their nests –
The gales – indeed – were done –
Alas, how heedless were the eyes –
On whom the summer shone!
The quiet nonchalance of death –
No Daybreak – can bestir –
The slow – Archangel’s syllables
Must awaken her!
Nach Unwetter – der Regenbogen –
Die Sonne – spät am Tag –