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Dreißig lange Jahre währte der große Krieg. In Hamburg – einer Insel der Sicherheit – war man von den Wirren der Zeit verschont geblieben. 1650, als endlich Friede herrscht, begibt sich Emma van Haaren auf die lange Fahrt nach Amsterdam. Dort muss ein Erbe verteilt werden. Doch in der Wildeshauser Geest wird Emmas Kutsche überfallen, ihr Mitreisender fällt Mordbuben zum Opfer. Mit seinem Sohn Valentin gelingt Emma im letzten Moment die Flucht. Eine abenteuerliche Reise durch ein so bedrohliches wie spätsommerschönes Land beginnt. Und beide wissen genau: Sie brauchen einander, wenn sie überleben wollen. Emma und Valentin treffen Freunde und Feinde, überstehen Hunger und Durst, lassen tückische Moore und lichtlose Wälder hinter sich. Aber die mörderischen Reiter aus der Wildeshauser Geest haben nicht aufgegeben. Welches Geheimnis umgibt Valentin? Europa kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg: ein historischer Roman wie ein Gemälde und das Stimmungsbild einer Epoche.
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Seitenzahl: 622
Petra Oelker
Emmas Reise
Historischer Roman
Ihr Verlagsname
Dreißig lange Jahre währte der große Krieg. In Hamburg – einer Insel der Sicherheit – war man von den Wirren der Zeit verschont geblieben. 1650, als endlich Friede herrscht, begibt sich Emma van Haaren auf die lange Fahrt nach Amsterdam. Dort muss ein Erbe verteilt werden.
Doch in der Wildeshauser Geest wird Emmas Kutsche überfallen, ihr Mitreisender fällt Mordbuben zum Opfer. Mit seinem Sohn Valentin gelingt Emma im letzten Moment die Flucht.
Eine abenteuerliche Reise durch ein so bedrohliches wie spätsommerschönes Land beginnt. Und beide wissen genau: Sie brauchen einander, wenn sie überleben wollen. Emma und Valentin treffen Freunde und Feinde, überstehen Hunger und Durst, lassen tückische Moore und lichtlose Wälder hinter sich. Aber die mörderischen Reiter aus der Wildeshauser Geest haben nicht aufgegeben. Welches Geheimnis umgibt Valentin?
Petra Oelker, geboren 1947, arbeitete als Journalistin und Autorin von Sachbüchern und Biographien. Mit «Tod am Zollhaus» schrieb sie den ersten ihrer erfolgreichen historischen Kriminalromane um die Komödiantin Rosina, neun weitere folgten. Zu ihren in der Gegenwart angesiedelten Romanen gehören «Der Klosterwald», «Die kleine Madonna» und «Tod auf dem Jakobsweg». Zuletzt begeisterte sie mit zwei Romanen, die in der Kaiserzeit angesiedelt sind: «Ein Garten mit Elbblick» sowie «Das klare Sommerlicht des Nordens».
Im August anno 1650
Der junge Wolf duckte sich tief in das Gestrüpp aus Gagelstrauch und Disteln. Ein herber Geruch stieg in der Abendluft auf, stärker als der nach Blut und Schwäche. Sein rechter Hinterlauf fühlte sich kraftlos an, brennender Schmerz schoss ihm von dort, wo die Forke getroffen hatte, bei jeder Bewegung in die Flanke. Dass er dem Dreschflegel hatte entkommen können, war nur Glück gewesen.
Ein Gewitter zog auf, das ängstigte ihn stets, nun sehnte er sich aber vor allem nach seinem Rudel. Das es nicht mehr gab. Und er zweifelte, ob er jemals Aufnahme in einem anderen finden würde. Als er es versucht hatte, unterwürfig winselnd und mit eingeknickten Läufen, wie es sich für einen hungrigen Bittsteller gehört, hatten sie ihn fortgejagt. Die Bisswunde im Nacken war nicht tief, nur ein Kratzer als erste Warnung, doch sie erinnerte ihn unablässig daran. Umso mehr fühlte er den Schmerz, umso wütender hatte er seine Zähne in die Reste des toten Kaninchens geschlagen, das er in der Heide gefunden hatte.
Seine Pfoten spürten eine Erschütterung. Er duckte sich noch tiefer in den sandigen Boden und blinzelte durch die Zweige. Er kannte sich hier nur wenig aus, es war die Randzone des Reviers seines Rudels – seines einstigen Rudels –, aber er wusste, auf dem Weg, den er gerade kreuzen wollte, rollten nur selten Kutschen. Reitern, einfachen Bauernkarren, lumpigen, in seiner empfindlichen Nase grausam stinkenden Menschen konnte man begegnen, Kutschen hatte er hier noch nie gesehen.
Auf dem weiter entfernten breiten Fahrweg musste man sich ständig vor Fuhrwerken und Kutschen jeder Größe in Acht nehmen, selbst bei Nacht. Viele wurden von Bewaffneten begleitet, und die Menschen jagten Wölfe – aus Lust und weil sie sie für böse hielten, für blutgierige Räuber ihres Viehs. Tatsächlich waren es die Menschen samt ihren Hunden, diesen Verrätern, die jegliches Getier jagten und töteten, selbst die possierlichen Eichhörnchen und die Gefiederten am Himmel, die keinem Erdenbewohner das Revier streitig machten.
Er spitzte die Ohren. Die Luft lag bleiern über dem Land. Da ächzte tatsächlich eine Kutsche durch den Sand, er spürte die Erschütterung nun auch am Bauch und an der Brust, schon kroch der scharfe Geruch des schwitzenden Zugpferdes in seine Nase. Etwas weiter entfernt folgten noch mehr Pferde, schwere Tiere, mindestens drei. Penetrante menschliche Ausdünstungen verrieten Reiter.
Keine Stimmen? Das fand der junge Wolf befremdlich. Sonst war es den Menschen unmöglich, länger zu schweigen, als sie brauchten, um den Schatten einer Birke zu durchwandern.
Er hätte gerne gewartet und beobachtet, was nun geschehen mochte – wer in der Kutsche reiste, wer die stummen Reiter waren. Aber er war nur jung, nicht dumm. Er spürte etwas Dunkles, Unheimliches, und es kam unaufhaltsam näher. Behutsam und dennoch flink schob er sich rückwärts. Als er es in einer der flachen Senken für sicher genug hielt, wandte er sich um und lief zu dem uralten Hülsebusch auf dem Hügel. Von dort konnte er selbst im diffusen Licht der hereinbrechenden Dämmerung das Geschehen beobachten.
Der staubige Kasten auf Rädern kam gemächlich näher. Die beiden Pferde waren erschöpft, das erkannte sogar der junge Wolf, obwohl er erst wenigen dieser großen starken Tiere begegnet war, ihr Fell war von Schweiß und Staub verklebt. Und nun preschten hinter dem Buschwerk Reiter hervor – er hatte sich also nicht geirrt. Sie ritten am jenseitigen Rand der Straße längs der Kutsche, das Pferd des ersten, ein riesiges Tier, stieg mit wildem Wiehern – nie zuvor hatte der junge Wolf ein so entsetzliches, so schrilles Geräusch gehört.
Der Himmel war nun fast schwarz, nur über dem Horizont zog sich noch ein gelber Streifen und schickte unheimliches Licht in die Geest, das auch einem mutigeren älteren Tier Angst vor den unbekannten hohen Mächten gemacht hätte. Der junge Wolf duckte sich tiefer in den Sand. Da flackerte ein Licht, gleich darauf dröhnte der erste Donner über die Ebene, prallte gegen die hohen Dünen und rollte davon. Als sei es das erwartete Signal gewesen, verschwand plötzlich der Kutscher vom Bock, die Reiter brüllten, schlugen mit Knüppeln gegen die Kutsche, und dann geschah etwas Seltsames. An der Buschwerkseite, wo für die Reiter kein Raum war, öffnete sich der Schlag, etwas Dunkles flog heraus, dann etwas Größeres – das waren Menschen! Zuerst ein kleiner Mensch, dann ein zweiter, etwas größerer, beide verschwanden im stachligen Buschwerk. Donner dröhnte wieder, diesmal war zuvor kein Licht aufgeblitzt, noch ein peitschender, zugleich dumpfer Knall.
Der junge Wolf fühlte sein Herz rasen. Bis vor wenigen Tagen hatte er ein schönes Leben gehabt, im Rudel war er immer satt und nie alleine gewesen. Mit seinen Geschwistern war er die Dünen heruntergekullert, miteinander balgend hatten sie gemessen, wer der Stärkere war, hatten zur Rast in der Sonne gelegen und sich in den Bächen und Teichen abgekühlt. Wie war er nur in diese andere dunkle Welt geraten? Das war nicht sein Leben, das konnte nicht sein. Täte sich doch ein breiter Fluss vor ihm auf. Er war ein schneller Schwimmer, der beste unter seinen Geschwistern, dann könnte er ein neues Ufer finden. Oder gar zurück in sein altes Leben. Sein Leben. Er war zu jung, als dass er schon in die Mysterien eingeweiht worden wäre, aber er wusste, dass es Mächte gab, ein Diesseits und ein Jenseits, dass man es sich verdienen musste – Es? Wie? Wer würde ihn diese Dinge nun lehren?
Neuer Lärm ließ ihn aufschrecken und die Nässe an den Augen rasch mit der Pfote verreiben. Es konnte nur ein kurzer Moment der Unachtsamkeit vergangen sein. Die Kutsche? Ein Blitz erhellte für einen Atemzug den Weg – da war sie wieder, schon ein ganzes Stück weiter, kein Mensch auf dem Bock. Aber die Reiter waren noch da, nun auf beiden Seiten des Gefährts, und trieben die Pferde an.
Plötzlich begann es zu rauschen, und Regen fiel vom Himmel wie der Wasserfall bei der Mühle am dritten Dorf. Der junge Wolf schob die Schnauze ins Gras unter dem Gesträuch, kreuzte die Pfoten darüber und tat so, als wäre er gar nicht da.
Später in der Nacht duckte sich der junge Wolf immer noch in sein Versteck. Vielleicht hatte er geschlafen, er wusste es nicht. Der Regen hatte den Gestank von Menschen und Pferden weggespült. Auch den nach frischem Blut, den er kurz vor dem Regen noch gewittert hatte. Ein kleiner Mensch irrte ganz in der Nähe durch die Dunkelheit, der größere war in einer Senke verschwunden. Von beiden ging nur ein leichter Geruch aus, kein übler Gestank. Das fand er erstaunlich. Natürlich war der junge Wolf neugierig, noch mehr sehnte er sich nach Gesellschaft, weil er aber nicht wusste, ob es freundliche Menschen gab, und er – nebenbei – auch sehr satt war, verbarg er sich bei dem alten Hülsebusch und wartete, was nun geschehen würde.
Hamburg, einige Wochen früher, im Juli anno 1650
Der Brief aus Amsterdam erreichte das Haus am Herrengraben an einem freundlichen Sommertag. Die Sonne schien, es war weder zu heiß noch zu kühl, von der Elbe wehte ein leichter Wind, und am blauen Himmel zogen gemütliche weiße Wolken.
Der drei Jahrzehnte währende Krieg war nun endgültig beendet, auch unter den allerletzten zäh ausgehandelten Bedingungen waren die Siegel der Vertreter aller beteiligten Mächte erhärtet. Überall im Reich feierten die Menschen Friedensfeste. So viele Dankgottesdienste und in Licht und Farben explodierende Feuerwerksspektakel hatte es nie zuvor gegeben. Auch in Hamburg wurde ein weiteres prächtiges Freudenfest vorbereitet. Im vergangenen Jahr schon war nur wenige Schritte vom Herrengraben entfernt der Grundstein für ein ganz besonderes Friedensdenkmal gelegt worden: für die eigene Pfarrkirche der Neustadt. Sie sollte nach dem Erzengel Michael benannt werden, dem Bezwinger des Satans, Schutzpatron der Soldaten und des Reichs. Ein teures Denkmal, doch diesmal knauserten die wohlhabenden Bürger nicht. Etliche Kaufleute der großen Hafen- und Handelsstadt hatten zwar besonders gut am Krieg verdient, letztlich versprach jedoch der Frieden Prosperität, Freiheit des Handels und sichere Wege in die Welt.
Womöglich war deshalb der Brief aus Amsterdam gerade in diesen Tagen auf die Reise geschickt worden. Auch die Holländer waren in den Friedensschluss involviert, worüber dort, ganz am westlichen Rand Nordeuropas, allerdings nicht nur Freude herrschte.
Als es gegen Mittag an der Haustür am Herrengraben pochte, sprang Emma van Haaren auf und lief in die Diele. Sie hatte sich brav am neuen Spinett gequält, jede Unterbrechung kam ihr recht. Emma liebte ihre Laute, da der Hausherr jedoch das Spinett vorzog, verstand es sich von selbst, dass seine Stieftochter sich nun auch auf den hellen und dunklen Tasten übte.
Natürlich schickte es sich nicht für eine junge Dame von fast achtzehn Jahren, wie ein ungebärdiger Junge zur Tür zu rennen und dabei Magd oder Diener zuvorzukommen. Das vergaß Emma hin und wieder. Bis sie mit ihrer Mutter in das Ostendorf’sche Haus gezogen war, hatten derlei Nachlässigkeiten niemanden gestört, schon weil es nur eine Hausmagd gegeben hatte, Margret, die stets mit Wichtigerem beschäftigt gewesen war.
Vor der Tür stand ein Hüne, Kleidung und Gesicht waren von Schweiß und Staub geschwärzt, wie nach einem langen, rasanten Ritt über die Landstraßen. Er hielt sein Pferd am Zügel, ein mächtiges Tier, dessen Farbe unter dem eigenen Schweiß und Schmutz kaum zu deuten war. Die Satteltaschen waren prall gefüllt.
«Juffrouw van Haaren?» Seine Stimme klang tief und heiser.
Als Emma nur nickte, reichte er ihr einen Brief aus dickem, mehrfach gefaltetem Papier, umwickelt von einer braunen Kordel und doppelt gesiegelt. Mit energischer, doch akkurater Schrift hatte ihn jemand an Mevrouw Flora Ostendorf und Juffrouw Emma van Haaren, Straat aan de Heerengraben, Hamburg adressiert.
Emma stutzte. Das war Niederländisch. Und woher hatte der Bote gewusst, dass sie das Fräulein van Haaren war? Sie wollte ihn fragen, doch statt auf die Bezahlung zu warten, hatte er sich schon abgewandt und führte sein Pferd die Straße hinunter zum Hafen.
Niemals zuvor hatte Emma einen Brief von jenseits der Wälle bekommen. Vor allem: niemals zuvor aus Holland. Plötzlich war ihr schwindelig, ein bisschen nur, sie war keine, die einfach so in Ohnmacht fiel, aber ein Brief aus Amsterdam – nach all den Jahren? Zu gerne hätte sie das Siegel erbrochen, gleich jetzt, hier vor der Tür. Aber das ging nicht. Zum einen weil ihre Hände zitterten, was es zu verbergen galt, zum anderen weil der Brief zuerst an Flora gerichtet war, an ihre Mutter.
Etwas Eigentümliches geschah. Plötzlich fühlte sie sich wieder klein, wie ein Kind von acht Jahren. Voller Trauer und betäubt von dem, was geschehen war. Damals hatte sie schließlich der Gedanke gerettet, dass ihr Vater, ihr wunderbarer, immer fröhlicher Vater, gar nicht tot war. Er konnte einfach nicht tot sein. Es war nur eine Geschichte, die man ihr erzählt hatte, um sie zu foppen. Ein grausamer Scherz, Erwachsene waren so. Sie wussten oft nicht, ob etwas grausam oder lustig war.
Nun war sie also fast achtzehn Jahre alt und fühlte sich wieder wie das Kind von damals, wollte an eine erschreckende und zugleich beglückende Gewissheit glauben. Der Brief kam aus Amsterdam, aus der Heimatstadt ihres Vaters – also hatte sie recht gehabt. Er war nicht tot. Er war nur verschwunden, damals, irgendwo in den Wirren des Krieges verlorengegangen. Aber er lebte, und nun, endlich, nach all den Jahren, hatte er geschrieben. Für seine Frau kam der Brief zu spät. Flora hieß seit fast einem Jahr Ostendorf. Aber für eine Tochter kommt so ein Brief nie zu spät, und gerade jetzt erreichte er Emma zur allerpassendsten Zeit. Gerade jetzt.
Schon bevor Flora das Siegel erbrach und zu lesen begann, hatte Emma ihre alte Kinderphantasie verscheucht. Sie hatte viel zu oft das Grab ihres Vaters besucht, um wirklich an seinem Tod zu zweifeln, und sie wusste auch, dass unerfüllbare Wünsche zu Träumen werden können, bis man sie eines Tages mit der Wirklichkeit verwechselt. Der Brief aus Amsterdam war nicht von Hanns van Haaren. Natürlich nicht. Ihr Vater war schon vor einem Jahrzehnt nach einem dieser schweren Fieber innerhalb weniger Tage gestorben. Seine Mutter hatte diesen Brief geschickt, die alte Mevrouw van Haaren. Flora und Emma kannten sie und die gesamte Amsterdamer Verwandtschaft Hanns van Haarens nicht – sie hatten diese Ehe nie akzeptiert. Kämen die Zeilen nun tatsächlich aus dem Totenreich, wäre es kaum weniger erstaunlich. Noch überraschender war die Botschaft des Briefes.
Ein Jahrzehnt nach dem Tod ihres «über alles geliebten jüngsten Sohnes Hanns», so schrieb Mevrouw van Haaren, Emmas unbekannte Großmutter, habe Gott ihr die Gnade der Einsicht und Milde geschenkt. Sie bedauere tief – von Reue erwähnte sie nichts –, sich die Freude der Bekanntschaft und kindlichen Liebe ihrer Enkeltochter versagt zu haben. Ihr bleibe nur mehr wenig Zeit auf Erden, um wiedergutzumachen, was sie versäumt habe. Die Fahrt von der Amstel an die Elbe sei für eine alte und von der Gicht geplagte Frau zu beschwerlich. «So bin ich zuversichtlich, das einzige Kind meines unglücklichen jüngsten Sohnes ist gerne bereit, die Mühen der Reise auf sich zu nehmen, um der Mutter ihres Vaters ein wenig Seelenfrieden zu schenken.»
Die üblichen Höflichkeitsfloskeln, die an den Anfang und das Ende eines artigen Briefes gehören, waren ein wenig knapp gehalten, was die Privatheit des Schreibens nur unterstrich.
Im Ostendorf’schen Haus herrschte plötzlich summende Unruhe. Für gewöhnlich ging es dort ruhig zu. Natürlich nicht in Kontor und Speicher, Emmas Stiefvater war in seinen Handelsgeschäften überaus erfolgreich. Es war fraglich, ob diese speziellen Geschäfte mit den großen Gewinnen auch nach dem Friedensschluss in Münster und Osnabrück weiter fließen würden. Erst in diesen Wochen hatten die Mächtigen besonders aus Frankreich, Schweden und dem Deutschen Reich in Nürnberg den Frieden endgültig besiegelt. Ostendorf blickte zuversichtlich in die Zukunft. Seine Verbindungen reichten inzwischen weit und quer durch Europa.
Wie jeder wahrhaftige Christ hatte er für den Frieden gebetet und versäumte keinen Dankgottesdienst, aber er vertraute auf die Menschheit, die es nie lange ohne Krieg aushielt. Hier der Frieden, dort der Krieg. So hielt sich die Welt im Gleichgewicht. Frankreich, dachte er immer, wenn ihn doch eine leichte Ungewissheit bedrängte. Spanien. Und England. Und die Holländer, überhaupt die nördlichen Niederlande? Da drohte noch manches Pulverfass zu explodieren, seit die katholischen Spanier endgültig über die südlichen Niederlande herrschten. Und erst in den überseeischen Kolonien – es gab wirklich keinen Grund zur Sorge um die Prosperität des Ostendorf’schen Handels.
Der Brief der Mevrouw van Haaren erforderte eine baldige Antwort. Doch die Tage gingen ins Land, nun waren es schon fünf, ohne dass Flora zur Feder gegriffen hätte. So sah es jedenfalls für ihren zweiten Ehemann aus. Tatsächlich hatte sie an jedem der vergangenen Tage mit der Feder in der Hand vor einem Bogen guten Papiers gesessen, stets ohne Ergebnis. Es war längst beschlossen, dass Emma so bald wie möglich nach Amsterdam reisen würde. Jedenfalls hatte Friedrich Ostendorf als Stiefvater so entschieden. Er war in dieser Sache einig mit dem Ratsherren Jacobus Engelbach, Emmas Paten und seit dem Tod ihres Vaters ihr Vormund.
Nur Flora schwankte noch. Jeder Mensch sollte seine Familie kennen und sich auf ihren Schutz verlassen dürfen. Emma hatte sich mit der Familie ihrer Mutter begnügen müssen. Die bestand nur aus Floras Eltern, die viele Tagesreisen entfernt im Osten lebten, seit ihr Vater, Professor Reuter, an die Universität Königsberg berufen worden war. Der Brief aus Amsterdam bedeutete für Emma ein großes Glück. Ein Geschenk des Schicksals. Und doch … Eine Mutter sorgte sich immer um ihr Kind, das war ein Gebot der Liebe, aber da war noch ein anderes, ein schwarzes Gefühl in ihr, etwas Bedrohliches, das über die Sorge, Emma könne auf der langen Reise etwas zustoßen, hinausging.
Auch an diesem Tag, sonnig und freundlich wie jener, an dem der Brief angekommen war, drehte sie wieder die Feder in den Händen und haderte mit ihrer Unentschlossenheit. Heute musste sie es tun, sie hatte es versprochen, Ostendorf, ebenso dem lieben Engelbach, der sie und Emma während ihrer langen Witwenschaft stets umsichtig und freundlich beschützt hatte, und nicht zuletzt Emma. Emma wollte unbedingt nach Amsterdam reisen, sie brannte darauf, die Familie ihres Vaters kennenzulernen, und sie brannte darauf, endlich einmal die schützenden Mauern der Stadt hinter sich zu lassen. Seit Pate Engelbach ihr auf seinem Globus und seiner kleinen Sammlung kostbarer Landkarten die Welt gezeigt hatte, blickte sie den Schiffen mit anderen Blicken nach, wenn sie den Hafen verließen und die Elbe hinab- und in die Welt hinausfuhren.
Margret trat ein, ohne auch nur flüchtig anzuklopfen, was für gewöhnlich auf Turbulenzen im Haushalt schließen ließ, manchmal auch nur in Margrets Kopf. So wie heute.
«Und wenn er gar nicht echt ist?», platzte sie gleich heraus. «Wie könnt Ihr so sicher sein?»
Margrets Stimme klang patzig, ganz und gar unpassend für eine Magd. Allerdings war sie schon lange mehr als das, und wenn sie ungebührlich klang, verriet das nur ihre Sorge. Sie war vor etwa zwei Jahrzehnten dem Inferno der Zerstörung Magdeburgs entkommen und hatte es als Flüchtling nach Hamburg geschafft. Bei den jungen van Haarens hatte sie als Mädchen fürs Grobe so etwas wie ein neues Zuhause gefunden. Es hatte lange gedauert, bis ihre Albträume, ihre Schreie in der Nacht aufhörten. Nach Hanns van Haarens Tod war sie als Einzige der Dienstboten geblieben, und sie hatte den plötzlich bescheidenen Haushalt besser geführt, als Flora van Haaren es je gekonnt hätte.
Margret war es, die in all den Jahren den gebührenden Abstand zwischen Herrin und Dienstbotin gewahrt hatte. Dennoch war sie Floras Vertraute geworden und Emmas Erzieherin und Ratgeberin in Alltagsdingen, wobei Letzteres auch hieß, das Mädchen mit beiden Füßen auf der Erde zu halten. Sie hatte sie auch den Sinn fürs Praktische gelehrt, der Flora, der zarten Witwe mit einer Neigung zur Melancholie, bisweilen fehlte.
In diesem lebendigen Sinn fürs Praktische steckte eine tüchtige Prise Misstrauen; Margret hielt das für eine unabdingbare weibliche Tugend, die im Fall dieses Briefes besonders angebracht war.
Flora klopfte auf den zweiten Stuhl an ihrem Tisch, und Margret setzte sich kerzengerade auf die Kante.
«Ihr seid zu arglos», erklärte sie mit nur wenig ruhigerer Stimme. «Da bringt ein Bote, den man nicht kennt, ein Schreiben von Leuten, die man nicht kennt, und diese Leute verlangen, das Fräulein Emma van Haaren möge sich auf die lange gefahrvolle Reise nach Amsterdam begeben. Plötzlich, nach so vielen Jahren? Diese Verwandtschaft ist doch steinreich, und Steinreiche teilen ungern, das ist allgemein bekannt. Wozu sollten die sich ein Mädchen ins Haus holen, das womöglich Erbansprüche stellt?»
«Da mag es viele Gründe geben.» Flora klang geduldig, nahezu die gleichen Bedenken hatte sie selbst Ostendorf und Emmas Paten entgegengehalten. «Aber mit dem Alter wird mancher milde. Und vergiss nicht, von ihrem jüngsten Sohn ist ihr nichts als Emma geblieben. Es ist doch ganz natürlich, wenn …»
«So einen Brief kann jeder schreiben, der das Alphabet kennt und eine Feder halten kann», unterbrach Margret ihre Herrin aufgeregt. «Man kann ihn auch überall einem gekauften Boten übergeben, der dann behauptet, er komme von weit her.»
Der Brief war nicht im Gepäck eines der ihnen bekannten reisenden Kaufleute gekommen, wie es zumeist geschah, sondern mit einem der Reitposten, die neuerdings in nur sechs Tagen zwischen Hamburg und Amsterdam ritten – niemand war schneller.
Flora lächelte tapfer. Sie hätte Margret gerne zugestimmt, aber das durfte sie nicht. «Du hast in den Kriegszeiten zu viel Böses erlebt und gehört. Warum sollte jemand so etwas tun? Nein, Margret, dieser Brief ist echt. Ich erkenne die Unterschrift, sie ist nur ein wenig krakeliger als früher. Mevrouw van Haaren leidet an der Gicht, wie sie selbst schreibt, da mag die Hand zittern. Außerdem ist das einer der Bögen, wie sie nur für die van Haarens geschöpft werden.» Sie tippte mit der Fingerspitze auf das steife Papier. «Sieh her, das Wasserzeichen zeigt das Familienwappen, ich habe es oft bei meinem Mann gesehen, auch auf seinen Briefen an mich. Ich meine, bei meinem ersten Mann.»
Hastig hatte sich Flora verbessert. Ihr zweiter Ehemann galt als freundlich, und es hieß, Friedrich Ostendorf sei diese Ehe weniger aus Vernunft denn aus Neigung eingegangen. Auch für ihn war es die zweite Heirat nach etlichen Witwerjahren gewesen, er sprach jedoch nie von seiner ersten Frau. Obwohl er ihr den Grundstock seines Wohlstandes zu verdanken hatte – wie böse Zungen raunten.
«Wer sonst sollte Emma nach Amsterdam einladen, wenn nicht die Familie ihres Vaters», fuhr Flora fort. «Ostendorf hat dort Geschäftsverbindungen, wie die meisten hanseatischen Kaufleute. Darüber hinaus kennen wir dort jedoch niemanden. Es ist nur recht und billig, wenn Mevrouw van Haaren sich endlich bequemt, ihre Enkeltochter kennenzulernen. Nach beinahe zwei Jahrzehnten!»
Ganz anders als ihre Tochter war Flora die Sanftmut in Person, nun ließ ihre Stimme aber doch die jahrelang hingenommene Kränkung erahnen. Hanns van Haarens Amsterdamer Familie hatte sich stets geweigert, seine Ehefrau und Tochter anzuerkennen. Schon bald nachdem der junge Kaufmann die Hamburger Dependance des Handelshauses seiner Familie übernommen hatte, hatte er Flora Reuter getroffen und sich sogleich heftig verliebt. Sie war nur eine sehr junge Professorentochter ohne Beziehungen, die den Handelsgeschäften förderlich wären – von einer lohnenden Mitgift ganz zu schweigen. Sie war nicht einmal Calvinistin, wie es für einen van Haaren unabdingbar war, sondern Lutheranerin. So eine Liebe war für ihn nicht vorgesehen, die Familie hatte längst um eine passendere Braut verhandelt.
Das hatte ihn wenig gekümmert, er hatte Flora geheiratet und war dennoch auf seinem Posten an der Elbe gelassen worden. Hamburg war in jenen Jahren der bedeutendste Umschlagplatz für Waren und Nachrichten jeder Art, wie sie im Kriegsgeschehen verlangt wurden. Die verbündeten wie die einander bekriegenden Parteien gingen durch die großen Tore in den neu und als uneinnehmbar errichteten Festungswällen ein und aus. Alle machten in der sicheren neutralen Stadt Geschäfte, miteinander oder gegeneinander, und immer auch solche, die den Krieg aufrechterhielten und immense Gewinnspannen boten. Nirgends wurde so viel und so profitabel mit Rüstungsgütern gehandelt wie in Amsterdam und Hamburg, mit Pulver und Kugeln, Messern, Säbeln, Lanzen, Piken, Feuerwaffen oder großen Kanonen.
Es hieß, die Geschäfte mit den für die Herstellung von Waffen und Munition nötigen Materialien wie Salpeter, Kupfer und anderen Metallen seien noch profitabler. Ein großer Teil des Kriegsmaterials wurde in den Pulver- und Kupfermühlen nordöstlich von Hamburg produziert, aber zahllose Fuhren dieser Waren kamen auch von weither zum neutralen Handelsplatz an der Elbe; verursachte der Krieg irgendwo eine Blockade von Gruben oder Städten mit ihren Lagerhäusern, von Häfen oder ganzen Handelsstraßen, mussten die Rohstoffe anderswo beschafft werden. Dazu bedurfte es eines so großen wie eng geknüpften Netzes von Handelsbeziehungen in ganz Europa und darüber hinaus, und niemand verfügte über bessere als die Fernhandelskaufleute in den bedeutendsten Hafenstädten des Kontinents.
Hanns van Haaren war trotz seiner jungen Jahre ein erfolgreicher Kaufmann gewesen, das hatte seine Familie stets geachtet. Er war auch fröhlich und selbstgewiss gewesen, keinesfalls ein Feigling. Hätte er nach Gottes Plan länger leben dürfen, hätte er seiner Amsterdamer Familie womöglich noch mehr getrotzt und Flora und Emma mit an die Amstel genommen.
«Was für eine Zumutung», rief Margret. «Plötzlich taucht sie auf wie ein tückischer Wels aus dem Schlamm und tut süß. Was heißt überhaupt ‹unglücklicher Sohn›? So lange er hier gelebt hat, war er sehr glücklich. Diese dicke Amsterdamerin ist die Überheblichkeit selbst. Wo bleibt ihre christliche Demut? Was sollte Emma dort überhaupt wollen? Wo kann sie glücklicher leben als hier?»
In diesem Moment fand Emma es an der Zeit, sich einzumischen, sie hatte lange genug in der Diele gestanden und gelauscht, ohne den geringsten Anflug von Scham. Schließlich ging es um sie, um ihre Reise, um ihre Großmutter, um ihren Vater – alles in dieser Angelegenheit ging letztlich nur sie etwas an. Emma liebte ihre Mutter sehr, die lange Zweisamkeit hatte sie beide besonders eng verbunden. Wenn Flora nun aber versuchen sollte, diese Reise zu verhindern, würde sie alle Tochterliebe vergessen und durchbrennen. Das hatte sich Emma versprochen.
Sie war es gewohnt, dass andere für sie Entscheidungen trafen, aber hier ging es um viel mehr als um Alltägliches. Es ging um den Weg in die Welt, hinaus aus der Enge der Stadtbefestigung und zu dieser unbekannten holländischen Familie, nach der sie sich heimlich immer gesehnt hatte. Sei es auch vor allem aus Neugier gewesen, wie sie sich in ehrlichen Momenten eingestand. Wenn ihr Vater zu ihnen gehört hatte, mussten sie trotz des jahrelangen Schweigens großartige Menschen sein. Jedenfalls einige von ihnen.
Leider trat gleich nach seiner Stieftochter auch Friedrich Ostendorf ein. Er hatte schon in der Halle die Stimmen gehört und sich mit besonders schnellem Schritt genähert. Floras zweiter Ehemann war schlank und hochgewachsen, sein Haar ergraut, doch noch voll und üppig, die Gesichtszüge erstaunlich glatt. Obwohl sorgfältig gestutzt erinnerte sein Bart an den des Königs Gustav II. Adolf; in seinen jungen Jahren hatte Ostendorf den anno 1632 zu Lützen für die gute Sache gefallenen König der Schweden heimlich verehrt. Ansonsten kleidete er sich in der vornehmen Schlichtheit, die den wohlhabenden Bürgern in den großen Städten des Nordens gut anstand. Manche sagten, Ostendorf sei auch in diesen reifen Jahren noch ein schöner Mann.
«Es gibt eine ganze Reihe von exzellenten Gründen, warum Emma nach Amsterdam will und auch fahren wird», beantwortete er Margrets rein rhetorische Frage, die Klinke noch in der Hand, und bevor er sich zu seiner Frau hinunterbeugte, um ihren Scheitel zu küssen. «Die meisten Gründe sind vernünftig. Sehr vernünftig sogar. Wir haben doch darüber gesprochen, meine Liebe, und waren uns längst einig. Hast du dich immer noch nicht entschieden?»
Flora errötete, aber sie senkte nicht den Blick, was durchaus angemessen gewesen wäre. «Nun», sagte sie, «nun. Es ist schwierig. Der Krieg ist noch nicht lange vorbei und …»
«Noch nicht lange? Ich bitte dich, Flora. Zwei Jahre.»
«Seit dem Friedensschluss, ja. Die letzten Unterschriften sind aber erst jetzt in Nürnberg geleistet worden, du hast selbst davon gesprochen. Wenn man bedenkt, wie viele Jahre dieser Krieg gedauert und welche grausamen Verwüstungen er hinterlassen hat – man hört noch immer Furchtbares vom Volk, das sich auf den Straßen herumtreibt, entlassene Söldner, falsche Priester, Heimatlose, Räuber, Hexen, Vaganten, alle hungrig und an das Kriegshandwerk gewöhnt. Ich will nicht, dass Emma sich einer solchen Gefahr aussetzt.»
«Aber ich bin …», begann Emma heftig. Ostendorf hob gebietend die Hand, und sie presste seufzend die Lippen aufeinander. Sie hätte es mit ihrem Stiefvater schlechter treffen können, wenn er nur endlich aufhörte, sie wie ein Kind zu behandeln.
«Selbst wenn es bisher über den Namen hinaus keine Rolle gespielt hat», fuhr der fort und betonte nachdrücklich jedes Wort, «ist deine Tochter ein Familienmitglied der Amsterdamer van Haarens. Das ist einen Gedanken wert, meinst du nicht? Die van Haarens gehören zu den wohlhabenden, ich würde sogar sagen zu den wohlhabendsten Familien und Handelshäusern im Holländischen. Und im Holländischen finden sich wiederum die wohlhabendsten Familien Europas, wahrscheinlich der Welt. Ich habe es dir mehrfach erläutert: Man darf Emma nicht daran hindern, ihre Familie zu besuchen – die Mutter ihres Vaters, ihre Cousins, Onkel und andere Verwandte – und ihr Erbe einzufordern.»
«Genau das möchte ich nicht. Auf keinen Fall.» Flora saß ganz aufrecht, ihre Unterlippe zitterte verdächtig. «Wir wollen nichts von Leuten, die uns zwei Jahrzehnte lang nur verachtet haben, wegen unserer Religion, wegen meiner Herkunft, was weiß ich? Nur weil Hanns’ Mutter jetzt alt ist und sich plötzlich fürchtet, ihr Herrgott könne ihre Hartherzigkeit bestrafen? Das wäre schmutziges Geld, Friedrich. Denkst du, ich hätte keinen Stolz? Emma hätte keinen Stolz?»
«Liebste Flora, wer wüsste besser als ich um deinen Stolz?» Er strich sanft über ihre Hand. «Es widerspricht keineswegs deiner oder Emmas Würde, wenn ihr euch um etwas bemüht, das euch nach allem Recht der Welt zusteht und so viele Jahre vorenthalten wurde. Natürlich wird man das mit Diplomatie und Höflichkeit vorbringen, nach den guten bürgerlichen Spielregeln. Und niemand erwartet, Emma werde das selbst tun, das wäre tatsächlich unpassend. Ein würdiger Vertreter wird für sie sprechen, ein Mann, der vor dem Gesetz und auch in der Kaufmannschaft etwas gilt. Glaube mir, Mevrouw van Haaren erwartet nichts anderes. Es sei denn, sie hält dich für sehr einfältig, was ich nicht glaube. Du kannst sicher sein, obwohl die van Haarens die Ehe ihres jüngsten Sohnes missbilligt haben, wissen sie sehr genau, wen er geheiratet hat, wie es um seine Ehe stand, was für Menschen seine Witwe und Tochter sind, auch heute sind.»
Margret hatte sich bei Ostendorfs Eintreten gleich erhoben und war zurück in den Schatten getreten. Emmas beschwörende Blicke musste sie ignorieren. Sie war dem Mädchen stets ein Schutzschild und eine Fürsprecherin gewesen, gegenüber dem Herrn dieses Hauses war sie machtlos. Er hatte ihr von Anfang an deutlich gezeigt, wo ihr Platz nun war, und sie musste sich fügen, wenn sie mit Flora und Emma nicht auch ihr Zuhause verlieren wollte.
Als Flora beharrlich schwieg, fuhr Ostendorf fort: «Wäre der Mevrouw sonst dein jetziger Name und unsere Wohnung bekannt gewesen? Die van Haarens sind Großkaufleute, ihre Schiffe gehen in die Welt bis nach Amerikas Küsten und nach Ostasien. Sie würden sich niemals dem Risiko aussetzen, billige Weiber – verzeih den Ausdruck, aber darum geht es oft – in ihr Haus zu holen. Diese Reise wird deiner Tochter eine exzellente Mitgift einbringen, und eine gute Mitgift bedeutet eine gute Partie, also ein zufriedenes wohlsituiertes Leben. Die Mühen der Reise werden von Emmas zukünftigem Glück leicht aufgewogen.»
Ostendorf setzte sich endlich und bedeutete Emma mit einer Handbewegung, auf der Bank in der Fensternische Platz zu nehmen. Dieser Besuch sei in der Tat ein großes Unternehmen für eine junge Person wie Emma, erklärte er weiter, mit einer guten Vorbereitung und Planung jedoch leicht zu bewerkstelligen.
«Das Wichtigste ist die gute Wahl der Reisebegleitung. Ich denke, da sind wir uns einig. Sicher ist es bedauerlich, dass du deine Tochter nicht selbst begleiten kannst, andererseits ist es womöglich von Vorteil, wenn …»
«Von Vorteil?» Floras zartes Gesicht rötete sich schlagartig, ihre Augen wurden dunkel. «Von Vorteil für wen? Du meinst, weil ich nicht eingeladen bin, könnte die, die, die – könnte es Frau van Haaren brüskieren? Auf wessen Seite stellst du dich?»
«Beruhige dich, Flora, ich bitte sehr. Du darfst dich in deinem Zustand nicht so erhitzen. Natürlich bin ich an deiner Seite, und an der Seite deiner Tochter, meiner Familie. Wie kannst du daran zweifeln? Ich meine etwas anderes.» Beide wussten, dass er notgedrungen zumindest ein wenig log. «Ein unbestreitbarer Vorteil wäre ein Reisebegleiter, der sich auf Angelegenheiten des Rechts versteht. Des niederländischen wie des unsrigen, darin stimmst du mir sicher zu. Dazu habe ich einen sehr vernünftigen Vorschlag, wirklich sehr vernünftig.» Er lehnte sich zufrieden die Hände reibend zurück. Dann lachte er, es klang freundlich versöhnt.
Flora zitterte beim Gedanken an das, was ihrem stets auf das Gute vertrauenden Kind unterwegs und erst recht am Ziel zustoßen mochte. Konnte. Würde? Obwohl sie nicht eingeladen war – in dem Brief war nur von Emma, der Enkelin, die Rede –, hätte sie natürlich viel darum gegeben, ihre Tochter zu begleiten. Niemand hätte sie aufhalten können, wäre sie nicht schwanger, nicht einmal Ostendorf, der jedes Recht dazu hatte. Schon eine Kutschfahrt bis Altona könne ihr Kind gefährden, hatte Dr. Feldmeister erst vor wenigen Tagen mit aller Strenge erklärt, mehr gebe es dazu nicht zu sagen. Flüchtig hatte Flora daran gedacht, welch seltsamer Zufall es sei, dass die Mevrouw in Amsterdam sich just an ihre unbekannte Enkelin erinnerte, als Flora wieder verheiratet und nun auch guter Hoffnung war, weshalb sie ihr sicheres Haus in ihrer sicheren Stadt nicht verlassen konnte.
Wenn es kein Zufall war, konnte es nur bedeuten, dass die Dank Gottes Gnade erfahrene Einsicht und Milde tatsächlich nur Emma galt, dem einzigen Kind ihres jüngsten Sohnes, ihrem eigenen Blut.
Sie wollte ihr Emma stehlen. Dieser Gedanke war in der Nacht aus dem Dunkel herangekrochen, quälend und scharf, wie es nur die Dämonen der Nacht können. Mit dem ersten Licht des Tages war er nicht verschwunden, doch Flora war wieder stark genug gewesen, auf ihr Gefühl zu vertrauen. Mochte die einsame alte Frau – sie musste doch einsam sein, wenn sie plötzlich Emmas Besuch wünschte? –, mochte sie sich Emma für einige Wochen ausleihen. Stehlen konnte sie sie nicht. Das würde Emma nie erlauben.
Margret hätte Emma begleiten können, ebenso Ostendorf, der als Stiefvater neben dem Ratsherrn Engelbach nun ein rechtmäßiger Fürsprecher war. Er hätte sich gerne des Vertrauens würdig gezeigt, hatte er nach kurzem Überlegen erklärt, doch könne er seine Gattin in diesen Monaten guter Hoffnung und bis nach der Niederkunft nicht allein lassen. Margret sei ebenfalls unabkömmlich, eine vertraute Hilfe gerade in dieser Zeit unverzichtbar.
Das hatte Flora erstaunt. Es wäre eine günstige Gelegenheit, Margret zumindest für einige Monate loszuwerden. Ostendorf mochte Margret nicht, und Flora wusste, dass es sich umgekehrt genauso verhielt.
«Dr. Hannelütt», erklärte Friedrich Ostendorf mit Triumph in der Stimme. «Konrad Hannelütt hat sich heute Morgen bereit erklärt, Emma als Beschützer, Ratgeber und Vertreter des Vormunds auf ihrer Reise zu begleiten. Es hat ihn einige Mühe gekostet, sich von seinen Verpflichtungen für so viele Wochen frei zu machen, aber der gute Engelbach hat einige wichtige Briefe nach Amsterdam zu schicken, so kann Hannelütt das Private mit dem Dienstlichen verbinden. Was könnte vorteilhafter sein? Ich bin sehr glücklich über diese Fügung. Einen verlässlicheren und geeigneteren Mann könnten wir nicht finden. Was sagst du, meine Liebe? Und du, Emma? Was sagt ihr dazu?»
«Nun …» Flora lächelte, es sah eher bemüht als glücklich aus. «Das ist eine vernünftige Entscheidung. Ein Doktor beider Rechte. Ja, vernünftig, obwohl – nun, wir müssen Herrn Engelbachs Zustimmung einholen. Womöglich wird der liebe Dr. Hannelütt zur selben Zeit im Rathaus gebraucht, ohne dass er es schon weiß. Er betont doch gern, wie unentbehrlich er dem Syndicus ist. Wirklich unentbehrlich. Dann kann er keinesfalls mit Emma reisen. Nicht wahr, Emma?»
«Da sei unbesorgt.» Ostendorf lächelte nachsichtig; obwohl er es selten zeigte, hatte er Verständnis für Floras stete Sorge um ihre Tochter. «Natürlich habe ich mich mit dem Ratsherrn abgesprochen. Dr. Hannelütt kann reisen. Der gute Rat Engelbach findet meine Wahl vorzüglich und hat verspochen, eines der älteren Mädchen aus seinem Haus mitzuschicken, damit Emma eine angemessene Bedienung hat.» So werde die Reisegesellschaft komplett und entspreche allen Geboten der Schicklichkeit.
Emmas Schultern sanken herab. Konrad Hannelütt. Womöglich war es doch besser, sie brannte durch. Gleich morgen bei Sonnenaufgang.
Die Hunde hoben witternd die Schnauzen und spitzten die Ohren, endlich richteten sie sich auf, langsam, wie es zu einem trägen Sonntagnachmittag im Juli passte. Es waren große kräftige Tiere, schön anzusehen mit ihrem schwarz glänzenden Fell an Kopf und Rücken, sandfarben die Läufe und der Bauch, auf der Brust schmückte alle drei die gleiche Blesse. Es waren auch freundliche Tiere – bis sie den Befehl hörten, auf den sie warteten, sprungbereit, die dunklen Augen starr auf die von Waldreben überwachsene mannshohe Einfriedung gerichtet. Ihr Knurren kam tief aus den Kehlen, noch ganz leise.
Obwohl der Wind an diesem Tag ruhte, war Bewegung im dichten Blattwerk. Dünne schmutzige Finger bogen die Ranken auseinander, gerade weit genug für einen Blick in den Engelbach’schen Garten. Wer aufmerksam hinsah, entdeckte auch zwei Gesichter.
Droste war immer aufmerksam, sobald er durch die große Pforte trat und den Kies der Wege unter den Stiefeln spürte. Sein Pfiff gellte kurz genug, um die in den Laubengängen flanierenden Besucher nicht zu stören, doch die Hunde schossen davon wie drei schwarze Pfeile, sprangen mit Wucht gegen die hölzerne Wand, aufjaulend vor Wut, als sie diese nicht überspringen und ihre Beute stellen konnten. Erst der zweite Pfiff rief sie zur Ordnung, sie blieben mit zitternden Flanken stehen.
Dem Schreckensschrei von jenseits der hohen Bretterwand, die den gesamten Garten umschloss und zugleich dem Spalierobst Schutz und Halt bot, folgten der dumpfe Ton eines aufprallenden Körpers und heftiges Fluchen in einem fremden Idiom.
Dann war es still, bis auf das erregte Hecheln der um ihre Beute betrogenen Hunde. Plötzlich begann eine Schar Schwalben hoch über dem nahen Festungswall zu zwitschern, als kommentierten sie die erschreckte Flucht der Bettler auf der einen, die geifernden Wachhunde auf der anderen Seite des Zauns. Es klang nach herzlos-fröhlichem Spott.
Droste lehnte am Pflanztisch, rieb Erde von den Händen und nickte seinen vierbeinigen Wächtern wohlgefällig zu.
«Schon wieder diebisches Gesindel», murmelte er und fuhr lauter fort: «Die Kerle werden sich gut überlegen, ob sie es hier wieder versuchen. Beim nächsten Mal lass ich die Hunde aus dem Tor.»
Emma van Haaren musterte ihn irritiert. Solche Töne kannte sie von ihm nicht. Droste war ein ruhiger Mann, bedächtig in der Rede und besonnen im Handeln. Er war von kräftiger Statur, Gesicht und Hände gebräunt, aber ohne jene Grobheit, die den in der freien Natur arbeitenden Männern und Frauen gewöhnlich eigen ist. Noch jung für einen Obergärtner galt er dennoch als der beste in der Stadt.
Neben seinen alltäglichen Pflichten hatte er den Auftrag, die Patentochter des Ratsherrn Jacobus Engelbach, Besitzer dieses herrlichen Gartens, ein wenig in Botanik zu unterrichten. Das Fräulein wünschte allerdings ‹viel, möglichst alles› insbesondere über die Arzneipflanzen zu erfahren.
In der Sicherheit eines bürgerlichen Haushalts aufgewachsene junge Damen neigen zur Schwärmerei, Emma bildete darin keine Ausnahme. In Droste hatte sie bisher nur Gutes vereinigt gesehen, sogar Sanftmut – ein Mann, der alle Tage Gottes schönste Schöpfungen hegte und pflegte, musste doch eine empfindsame Seele haben. Emma bewunderte ihn, natürlich nicht wegen seiner abendhimmelblauen Augen, sondern wegen seines Wissens und der Zartheit im Umgang mit seinen Zöglingen. Und nun wollte er seine Hunde auf arme, heimatlose Menschen hetzen.
«Diebisches Gesindel», wiederholte Emma zögernd. «Womöglich haben die Leute nur Hunger.»
Droste zuckte die Schultern. «Dann sollen sie arbeiten. Wer arbeitet, hat zu essen. Noch besser gehen sie alle wieder nach Hause. Der Krieg ist vorbei und die Stadt wahrhaft voll genug, auch an Fremden. Noch mehr …» Er räusperte sich, das waren schon zu viele unpassende Worte für die Ohren eines Fräuleins gewesen. «Ich bin nur ein Gärtner», erklärte er mit der vertrauten Sanftheit. Er habe sich nicht um solche Angelegenheiten zu kümmern, nur um das Gedeihen des Gartens. «Dieser Muskateller-Salbei ist übrigens besonders würzig», fuhr er in beiläufigem Ton fort, während er ein von einer Staude abgeteiltes Pflänzchen aufnahm und ins Licht hielt. «Ihr solltet für Frau Ostendorf den Topf mitnehmen. Die Sorte wächst selbst im Juli gut an.»
«Das wird meine Mutter freuen.» Emma wandte sich noch einmal nach den Hunden um. Die lagen wieder in akkurater Linie nebeneinander im warmen Sand, die Köpfe auf den Vorderpfoten, scheinbar schläfrig, tatsächlich sprungbereit. Später in diesem langen Sommer würde sie sich an das Bild erinnern. «Es heißt, viele der Flüchtlinge sind längst bei uns zu Hause, auch weil sie kein anderes mehr haben. Ich meine», erklärte sie, obwohl sich Drostes Miene verschloss, «so viele Städte und Dörfer sind zerstört oder niedergebrannt, weite Landstriche verödet, Felder liegen brach, da wuchern überall Unkraut, Disteln und Buschwerk. Viele, wirklich sehr viele Familien sind», sie strich sich mit einer unsicheren Bewegung über die Stirn, ihre Fingerspitzen hinterließen einen erdigen Streifen, «sind nicht mehr unter den Lebenden, ganze Dorfgemeinschaften. So hört man doch? Ich verstehe natürlich nichts von diesen Dingen, aber als gute Christen sollten wir …»
Als sie nicht weitersprach, sah Droste von seinen Töpfen und Pflänzchen auf, hub an zu sprechen, schwieg dann jedoch ebenfalls.
«Sprecht es ruhig aus. Ich weiß schon, was Ihr sagen wollt.» Emma zupfte ein kleines Blatt vom Salbei und zerrieb es zwischen den Fingern. «Dasselbe wie mein Pate. Er ist sehr großherzig, das weiß jeder, aber er sagt, zu viel Mildtätigkeit mache die Menschen faul, im Übrigen müssten sich die Kirchen und Hospitäler der armen Leute annehmen, bis sie wieder selbst für sich sorgen können. Die, die mit ihren Familien die Stadt wieder verlassen, bekommen sogar einen Zehrpfennig für die Reise. Das stimmt sicher, natürlich stimmt es. Wenn ich aber durch die Straßen und über die Märkte gehe», setzte sie nach kurzem Überlegen hinzu, «scheint mir trotzdem, das reicht nicht aus.»
«Ihr habt ein weiches Herz, Fräulein Emma, das schmückt Euch. Ich sollte nicht über diese Dinge sprechen, nur über die heilsamen Pflanzen. Allerdings wüsste ich gerne …» Er warf einen prüfenden Blick nach dem alten Fräulein Möhle. Emmas Anstandsdame saß auf der Bank im Schatten des Walnussbaumes und war heute ein ziemlich schläfriger Zerberus – selbst der aufgeregte Lärm der Hunde hatte sie nicht geweckt, die Haube war ihr über die Stirn auf die Nase gerutscht. «Darf ich fragen, ob Ihr wirklich reisen werdet?»
«O ja, und ob ich das werde. Alles ist entschieden, und die Schiffsplätze sind reserviert.» Drostes Frage war klug gewählt, nichts lenkte Emma in diesen Tagen leichter von allem anderen ab. «Meine Mutter ist über die Maßen besorgt, wie immer, aber dazu besteht kein Anlass. Andere Leute reisen viel weiter, der Bruder unserer Köchin fährt sogar monatelang auf einem holländischen Schiff nach Batavia am anderen Ende der Welt. Nach Amsterdam ist es dagegen nur ein Katzensprung. Herr Ostendorf ist entschieden dafür, mein Pate auch – was könnte mich bei so viel Unterstützung aufhalten?»
«Ihr habt es selbst gesagt: Weite Landstriche sind verwüstet und öde, viele Leute sind hungrig und heimatlos. In solchen Zeiten ist besonders gefährliches Volk unterwegs.»
«Wir reisen doch mit dem Schiff. Was sollte da passieren? Die Korsaren sind weit, im August drohen keine Stürme, man segelt immer nahe der Küste. Es wird die reinste Lustpartie. Nur der liebe Hannelütt fürchtet üble Anfälle von Seekrankheit.» Sie kicherte in ein frisch eingetopftes Asternpflänzchen. «Schon der Gedanke lässt ihn grünlich aussehen. Ach, ich sollte respektvoller sein, er ist alle Tage mit Wichtigem beschäftigt und wird in der Stadt gebraucht, trotzdem nimmt er für mich diese große Last auf seine Schultern.»
Mit dieser Ansicht war Emma ziemlich allein. Es wurde geflüstert, der kluge Dr. Hannelütt trage die Last der Reise vor allem für sich und seine glänzende Zukunft. Eine Verlobung mit Fräulein van Haaren würde bei diesen neuen Aussichten nur noch eine Frage der Zeit sein.
Bisher war allgemein angenommen worden, Hannelütt zögere, weil Emma nur aus einer Gelehrtenfamilie stamme. Ihr Pate war zwar ein angesehener und einflussreicher Mann, auch wohlhabend, wenn er sich mit seiner kostspieligen Gartenleidenschaft nicht doch noch ruinierte. Er würde sie kaum ohne kostbaren Brautschmuck zum Altar gehen lassen, aber es gab bessere Partien für einen jungen Mann wie Hannelütt. Selbst die wortführenden Herren der Stadt sahen eine rosige Zukunft für ihn, zumindest als Syndicus des Rates.
Es herrschte auch keine Einigkeit darüber, ob das Fräulein van Haaren als hübsch zu bezeichnen war. Ihr Mund wirkte ein wenig groß, die Nase leider auch, die Farbe ihres Haares erinnerte mehr an Flachs als an Honig. Immerhin gab es an den Ohren nichts auszusetzen, keine Blatternnarbe verunzierte ihr Gesicht, und die wachen grauen Augen galten vielen eben doch als schön, selbst wenn sie in einem Ausbruch von Zorn ins Grüne changierten. Es hieß, das deute auf eine Neigung zur Magie hin, ein gefährlicher Verdacht. Man sprach besser nicht darüber.
Ansonsten war außer munterer Wissbegier nichts Nachteiliges bekannt. Just diese Wissbegier jedoch, das hatte ihr Pate, der Ratsherr Engelbach versichert, mache sie zu einem kenntnisreichen Geschöpf, in Emmas Gesellschaft erlebe man keine langweilige Stunde. Das war ehrlich und gut gemeint gewesen. Hätte Engelbach allerdings darüber nachgedacht, wäre ihm aufgefallen, dass diese Qualitäten einen unbequemen Geist verrieten, was für ein Mädchen im heiratsfähigen Alter von erheblichem Nachteil war. Da der Ratsherr sonst ein freundlicher Mensch, ein verlässlicher Pate und überdies Vater von vier Söhnen war, musste ihm dieser Lapsus nachgesehen werden.
Dr. Hannelütt war trotz seiner Qualitäten und Aussichten kaum ermutigt worden, um Emmas Hand anzuhalten. Natürlich wusste ein vernünftiges Mädchen in einer vernünftigen Handelsstadt, dass die Ehe ein Handel für eine gesicherte Zukunft war, ein Vertrag vor allem zum Wohl der Familien und danach auch der Braut. Doch selbst ein vernünftiges Mädchen hatte bisweilen Träume, und die stimmten selten mit den Prinzipien der Vernunft überein.
Die Sache mit Hannelütt hatte Emma hingenommen wie die Tatsache, dass die Elbe dem Meer zufließt und im Sommer die Tage länger sind als im Winter. Sie kannte unangenehmere Männer. Er war belesen, bisweilen vergaß er seine Steifheit, dann war er recht unterhaltsam, und obwohl ihm die echte Liebe zur Musik fehlte, tanzte er manierlich. Es hieß auch, er sei ein ausgezeichneter Reiter. Sie hatte nicht viel über ihn nachgedacht, bis der Brief aus Amsterdam gekommen war; bis sie sich an den Gedanken gewöhnen musste, eine lange Reihe von Tagen mit ihm zu verbringen, an denen er für sie denken, entscheiden und sprechen würde. Ein unbehaglicher Gedanke.
Emma tastete nach dem Brief in ihrer Rocktasche. Er war oft gelesen, betrachtet und gefaltet worden, nur noch ein kleiner Rest des Siegels haftete daran. Das Familienwappen ließ sich nicht mehr erkennen. Die Zeilen waren in recht gedrechseltem Niederländisch verfasst – Emma kannte sie auswendig. Vielen in der Stadt war das Niederländische vertraut, ihr umso mehr, als sie seit Hanns van Haarens Tod seine Sprache stetig geübt hatte. Es half ihr, den Klang seiner Stimme in der Erinnerung zu bewahren.
Sie hatte sich im immer gleichen Rhythmus ihres städtischen Lebens eingerichtet. Nur manchmal, wenn sie den großen Schiffen oder den hochbepackt aus den Toren rollenden Kutschen nachsah, wenn sich wieder einer der Kaufmannssöhne für eine Lehrzeit irgendwo in Europa verabschiedete oder für einige Jahre an einer Universität, in Rinteln oder Wittenberg, in Leiden, Paris oder gar Bologna, hatte sie eine missmutige Unruhe gespürt. Ein Mädchen blieb im Schutz der Familie bis sich ein passender Ehemann fand, so war der Lauf der Welt.
Der Brief hatte alles verändert.
Emma van Haaren, fast achtzehn Jahre alt, ging auf eine große Reise, nach Amsterdam. War diese Stadt nicht das eigentliche Zentrum des Universums? Wo sonst erreichten und verließen so viele Schiffe aus den entferntesten Winkeln der Erde den Hafen? Das ganz große Tor zur Welt, hatte Ratsherr Engelbach gemurmelt und ausnahmsweise nicht seine geliebte Heimatstadt an der Elbe gemeint.
Das Abschiedskonzert im Engelbach’schen Garten war ein wunderbarer Abschied und eine große Ehre, sie war sehr aufgeregt gewesen. Drostes ruhige Art und die Arbeit – doch, sie nannte es gerne Arbeit – mit den Pflanzen gab ihr für gewöhnlich Gleichmut. So kurz vor einer aufregenden Reise wäre Gleichmut ein bedauernswerter Zustand, das war ihr trotz ihrer Jugend klar. Dieser Zustand passte zu gesetzten Damen, allerdings hatte sie ihn in deren Gegenwart selten gespürt. Wenn sie alt war, das hatte sie sich fest versprochen, wollte sie voller Zufriedenheit auf ein gutes glückliches Leben zurückblicken. War man dann gleichmütig? Vielleicht. Aber ein wenig Aufregung, Ungleichmütiges, wäre doch auch im Alter schön.
Droste sah sich nach einem seiner Gärtner oder Knechte um, aber heute war Sonntag, wer keinen freien Tag hatte, half bei der Vorbereitung des Konzerts.
«Wartet», er rieb seine erdigen Hände mit einem groben Leintuch ab, «ich habe eine Liste mit den wichtigsten Pflanzen für Euch gemacht, mit Hinweisen, wie man sie zum Nutzen der Gesundheit verwendet. Wer weiß, wozu sie bei einer so weiten Reise gut sein kann. Ich hole den Bogen und bringe den Wassereimer für Eure Hände mit. Es ist Zeit, Ihr werdet sicher längst erwartet.»
Emma war mit ihren Gedanken weit fort gewesen. Erst jetzt hörte sie vom anderen Ende des Gartens, wo der mittlere Laubengang in das Rosenrondell mündete, diese seltsame Melange aus Tönen, die beim Stimmen von Instrumenten entsteht. Ratsherr Engelbach war ein großer Liebhaber der Musik und förderte die Konzerte, überhaupt das Musikleben in seiner Stadt nach Kräften. Besonders gern lud er die Hamburger Ratsmusikanten ein, für ihn und seine Gästen zu spielen – sie waren die besten Musiker weit und breit. An milden Sommersonntagen ließ er im Halbschatten der alten Bäume zum Duft der Damaszenerrosen musizieren. In diesem Sommer zählte die Kapelle acht Musikanten, von denen jeder mindestens drei Instrumente beherrschte, das Minimum für Ratsmusikanten. Emma und Flora liebten diese Konzerte und hatten nie eines versäumt.
Aufseufzend betrachtete Emma ihre Hände. Sie war der Versuchung erlegen, eine ganze Reihe von Gewürz- und Heilpflänzchen über das genaue Betrachten hinaus auch selbst einzutopfen. Hin und wieder wurde sie trotz ihrer, wie sie selbst fand, bescheidenen Talente als zweite Lautenspielerin bei den privaten Engelbach’schen Konzerten gebraucht. Heute zum Glück nicht, die Leute hätten mehr auf ihre schwarzen Fingernägel geachtet als auf den Klang ihres Instruments.
Jetzt ergänzten die Töne der Gambe die helleren von Violine und Viola, die durchdringenderen des Zinken blieben noch aus. Ganz andere Töne, die sich nun hineinmischten, kamen dagegen aus der Nähe – nämlich aus den Kehlen der Hunde.
Das schwarze Trio stand, wo es eben noch im Sand gelegen hatte, akkurat aufgereiht, starr mit hochgezogenen Lefzen, wieder begierig nach dem nächsten Befehl zur Jagd.
«Sitz», zischte Emma, leider ohne Erfolg. Hastig wandte sie sich um und folgte dem stieren Blick der Tiere.
Zwei lange Beine in staubiger, schwarzer Hose und abgewetzten Stiefeln schoben sich über den Zaun, wo die Waldrebenpolster endeten und Haufen von Unrat, Zaunlatten zum Ausbessern, Leitern und ein Verschlag für die Gartengerätschaften ihren Platz hatten. Als von unterdrücktem Fluchen begleitet der Rest des Mannes folgte und seine Füße den Boden berührten, setzten die Hunde sich knurrend in Bewegung, langsam zuerst, geduckt, um plötzlich loszuschießen wie Pfeile.
Doch der Fremde am Zaun war flink und hatte Glück, dass er nur einen Schritt von einer Hainbuche entfernt gelandet war. Blitzschnell schwang er sich hinauf, einer der Hunde erwischte gerade noch seinen rechten Stiefel und zerrte ihn vom Fuß des Eindringlings, schlug ihn sich ein paar Mal wütend um die Ohren, wie es Art der Hunde ist. Schließlich ließ er die Trophäe vor Emmas Füßen in den Staub fallen und setzte eine seiner kräftigen Pfoten darauf. So schnell gab er seine Beute bei allem Drill zum Gehorsam nicht preis.
Der Mann im Baum umklammerte den Stamm, das Gesicht hochrot vor Anstrengung, vielleicht vor Zorn. Jedenfalls sah er nicht angstvoll auf die Hunde hinunter, obwohl er allen Grund dazu hatte.
Emma blickte sich erschreckt nach Droste um. Der Gärtner war nicht zu sehen, überhaupt war niemand als dieser Fremde zu sehen, alle waren schon bei den Musikern am Rondell versammelt.
«Himmel hilf, Mädchen», zischte es aus der Baumkrone, die Stimme klang für einen Mann, der sich gerade über einen Zaun eingeschlichen und vor Wachhunden geflohen war, ungebührlich herrisch. «Guck keine Löcher in die Luft. Ruf endlich diese Höllenhunde zurück. Sperr die Viecher in ihren Zwinger oder binde sie wenigstens irgendwo an, verdammt. Die sehen aus, als hätten sie drei Tage nichts zu fressen gehabt. Wenn das Untier dort unten meinen Stiefel frühstückt, werde ich übrigens sehr ungemütlich, das wird kein Spaß.»
«Hört auf zu schimpfen. Dazu hat einer, der über extra hohe Zäune in einen fremden Garten einsteigt, wahrhaftig kein Recht.»
Emma trat näher heran, die Hunde beachteten sie nicht, sie starrten nur mit angespannten Muskeln auf den Mann im Baum, von dem kaum mehr als die Füße zu sehen war, einer mit, einer ohne Stiefel. Sie fürchtete die Hunde nicht. Die legten ihre Freundlichkeit nur ab, wenn jemand unerlaubt in den Garten eindrang. So hoffte sie.
«Es ist sehr dumm, über den Zaun zu klettern, dazu am hellen Tag. Dachtet Ihr, das merke niemand?» Der Mann im Baum wollte etwas erwidern, doch Emma sprach schon weiter. «Die Hunde hören nicht auf meine Befehle, jedenfalls würde ich mich an Eurer Stelle nicht darauf verlassen. Warum habt Ihr nicht an der Pforte geklopft? Ach, ich verstehe schon, Ihr dachtet, man werde Euch wegjagen.» Sie zögerte. «Womöglich war das nicht ganz falsch gedacht. Sicher habt Ihr Hunger.»
«Meistens», kam es von oben, «aber jetzt gerade nicht so sehr. Der Anblick der Zähne dieses schwarzen Trios dort unten lässt mir den Appetit vergehen. Wenn du vielleicht endlich …»
«Ihr müsst Euch schon gedulden, bis Droste kommt, ihm gehorchen die Hunde aufs Wort. Einfach über anderer Leute Zäune klettern, am hellen Tag – wie kann man so dumm sein?», rief sie. «Da müsst Ihr doch erwischt werden. Wisst Ihr nicht, welche Strafen einen Dieb erwarten?»
Aus dem Baum drang ein seltsames Geräusch, das Emma als erschrecktes Schnaufen deutete, und ihr Mitleid gewann gegen die gerechte Empörung.
«Wenn Ihr schnell wieder verschwindet, könnte ich einfach vergessen, dass Ihr hier wart. Mir scheint, Ihr seid ein recht guter Akrobat. Versucht, von einem der dickeren Äste auf den Schuppen zu springen, mit Glück hält er dem Sprung stand, dann könnt Ihr leicht über den Zaun zurückklettern. Euren Stiefel werfe ich Euch nach, wenn Bodo ihn hergibt. Allerdings ist Bodo …»
Sie sprach nicht weiter, was weniger an Bodo lag, dem kräftigsten der drei Hunde, als an den Männern, die wenige Schritte hinter ihr standen: Ratsherr Jacobus Engelbach, Herr des paradiesischen Gartens, und Johann Schop, der Direktor der Ratsmusiker, mit ihrem gemeinsamen Freund, dem Schöpfer weltlicher Gedichte und geistlicher Lieder Johann Rist, Poet, Gartenliebhaber und Pastor im nahen Landstädtchen Wedel.
In diesem Moment wachte auch das alte Fräulein Möhle auf, schob ihre Haube zurück und blinzelte angestrengt nach der Stimme im Baum. Als arme Verwandte im reichen Hause Engelbach war sie darin geübt, stets im rechten Moment sichtbar oder unsichtbar zu erscheinen.
Emma seufzte ergeben. Sie hatte versucht, dem Mann im Baum aus der Patsche zu helfen, nun war es zu spät. Ratsherr Engelbach, festlich gekleidet und von beachtlichem Umfang, was durch die besondere Breite des mit Klöppelspitze gesäumten weißen Kragens weniger kaschiert als betont wurde, blickte seine Begleiter mit gehobenen Brauen an. Schop sah zur Baumkrone hinauf und schnalzte missbilligend, wenn auch mit mildem Lächeln. Pastor Rist zeigte amüsierte Neugier, womöglich entstand in seinem Kopf schon wieder ein passender Reim.
«Was haben wir da für ein Früchtchen im Baum?», brummte Engelbach und faltete die Hände vor dem Bauch, was Emma verblüfft als gutes Zeichen verstand, nämlich als Hinweis auf Geduld und Nachsicht.
«Er hat sich gewiss verirrt», versicherte sie eilig. «Eigentlich ist er gar nicht in Eurem Garten, er ist nur hereingesprungen, um gleich wieder hinauszuspringen, von der Hainbuche zurück über den Zaun. Er hat kaum den Boden berührt. Eigentlich gar nicht. Fremde Leute kennen sich mit unseren Gepflogenheiten nicht so gut aus. Er dachte wohl, hier sei schon die Stadt zu Ende. So nahe am Wall kann man das leicht denken, und …»
«Falls die Hunde auf Euch hören, Wohlweisheit», wurde sie brüsk von der Stimme aus dem Baum unterbrochen, im Laub zeigte sich nun auch wieder ein Gesicht, «könntet Ihr sie vielleicht bändigen, damit ich auf die Erde zurückkehren kann? Verübelt dem kleinen Fräulein die Nachsicht mit dem Eindringling nicht. Sie musste mich für einen Hungerleider halten, der sich in Eurem Garten satt essen will, ihre Ratschläge waren überaus barmherzig.»
«Barmherzig, aha.» Um Engelbachs Augen bildeten sich verräterische Lachfältchen, und Schop stieß ein schnaubendes Geräusch aus, ein für den weithin berühmten Violinisten erstaunlich unmelodisches Lachen, das seinen aufwärts gebürsteten Schnauzbart unter der Knollennase zittern ließ.
«Steigt nur herab zu uns Sterblichen», rief Engelbach launig. Viele hielten ihn für einen zuweilen strengen, mit einer gewissen hanseatischen Sturheit gesegneten Herren. Diese kleine Episode – er, Rist und Schop hatten sie von Anfang an beobachtet – amüsierte ihn jedoch. «Die anderen Musiker erwarten Euch längst. Eure Laute steht auch bereit, wirklich ein ganz besonderes Instrument, wie Ihr versprochen habt. Und die Hunde sind jetzt lammfromm. Dieses barmherzige Fräulein hier ist übrigens trotz der Schürze tatsächlich ein Fräulein und keine Magd; ich habe die Ehre, ihr Pate zu sein.»
Emmas sonntägliches Gewand war unter der großen, alles andere als reinlichen Gärtnerschürze leicht zu übersehen, ihre erdigen Hände, die in Unordnung geratene Frisur – wer sich auf der Flucht vor drei Hunden blitzschnell auf den nächsten Baum rettete, mochte das Mädchen im Küchengarten leicht für eine Dienstbotin halten. Der Mann im Baum hatte jedoch gute Augen, auch für die Preziosen der Damen, und noch bessere Ohren. Der zierliche Ohrschmuck und die Halskette verrieten ebenso wie die Sprache des Mädchens, dass sie nicht zum Gesinde gehörte.
Lukas Landau, so hieß der behände Besucher, war kein Gemüsedieb, sondern der neue Lautenist der Ratsmusikanten. Er hatte den Körper eines Akrobaten, was für Musiker nicht das Übliche war, in Gegenwart kampflustiger Hunde jedoch vorteilhaft. Sein nussbraunes Haar war frei von Straßenstaub, es glänzte im Sonnenlicht.
Er verbeugte sich vor dem Fräulein mit großer Geste, Schop, Rist und Engelbach schmunzelten, und Emma fühlte sich verspottet wie ein dummes Kind. Sie hätte gerne geflucht, was leider nicht möglich war, weil ein Fräulein nie flucht, es kennt nicht einmal Flüche. Vielleicht hätte es ihr gefallen, dass das in einigen Wochen ganz anders sein würde, was sie an diesem schönen Tag allerdings nicht einmal ahnen konnte.
«Macht Ihr das immer so?», fragte sie mit unverhohlenem Ärger. «Gibt es da, wo Ihr zu Hause seid, keine Türen? Steigt man dort lieber über Zäune und lässt sich von den Hunden hetzen?»
«Eine gute Frage», stimmte Engelbach launig zu. «Wir haben ein besonders schönes Gartentor, durch das wir und unsere Gäste für gewöhnlich hereinkommen. Ihr seid kürzlich erst über den Harz geritten, ach nein, es war der Osning. Als Ihr von Antwerpen und Leiden zurückkamt. Davon müsst Ihr unbedingt bald berichten. Stand Euch nun schon wieder der Sinn nach einer Kletterpartie?»
Emma blickte unwillkürlich auf die Hände des fremden Musikers. Wer viel und lange Strecken ritt, bekam kräftige, ohne Handschuhe auch schwielige, harte Hände. Wie passte das zu einem Lautenisten von Rang?
«Eine Kletterpartie?» Er lachte. «Nein. Ich bitte um Vergebung. Auf dem Weg durch das Haupttor wäre ich zu spät gekommen – Euer Garten ist wahrhaftig groß. Seid Ihr sicher, dass Eure Hunde zwischen Gemüsedieb und Ratsmusikant unterscheiden?»
Das Konzert begann mit Verspätung, was niemanden störte, denn der Gastgeber geizte weder mit kühlem Wein noch mit Konfekt und Gebäck. Der neue Lautenist zeigte seine Kunstfertigkeit zum ersten Mal in diesem Kreis und an diesem Ort, man konnte von einer Premiere sprechen. Sogar von einer gelungenen Premiere, die ebenfalls für die Wartezeit entschädigte.
Emma sah dank Drostes Wasser und Margrets energischen Händen wieder wie ein manierliches Fräulein aus. Sie saß brav neben Flora nahe bei den Rosen, deren Duft durch die Spätnachmittagswärme betörend wurde, und lauschte dem Konzert mit leicht geneigtem Kopf und artigem Lächeln. Heute wurde während des Spiels der Musiker weder geschwatzt noch Konfekt geknabbert, sondern still gelauscht. Nur ab und zu raunten einige Damen einander etwas zu, ihre Blicke verrieten Wohlwollen – stets schien es um den neuen Lautenisten zu gehen. Sein Spiel fügte sich in das der anderen Musiker ein, doch spielte er auf eine ebenso virtuose wie zärtliche Weise, das berührte die Herzen. Zumindest die der Damen.
Auch Emma genoss das Konzert, doch war sie weniger beeindruckt, denn für einen Musiker von geringerer Kunstfertigkeit wäre eine Anstellung als Hamburger Ratsmusikant unerreichbar. Viel mehr beschäftigte sie, dass ein Lautenist ihrem Paten nur dieses bescheidene Maß an Ehrerbietung erwiesen hatte, ohne den Ratsherrn zu brüskieren. Und sein Prinzipal und Dienstherr, der berühmte Kapellmeister Schop, hatte sich wegen der Eskapade am Zaun nur amüsiert im Spitzbart gekratzt?
Zweifellos war Landau Sohn, Neffe, Patenkind oder sonst ein Protegé eines anderen wichtigen Mannes. Pate Engelbach hatte einen Ritt über den Osning erwähnt und es abenteuerlich klingen lassen. Der Herr Musikant reiste also nicht per pedes oder im Kutschwagen wie die meisten seiner Kollegen, sondern hoch zu Ross. Womöglich auf einem eigenen Pferd? Für einen Ritt über die Höhen konnte es kein armseliger Klepper sein. Vielleicht erklärte das auch, warum seine Laute, bei genauem Hinsehen eine kostbar gearbeitete Zister, schon vor ihm hier gewesen war. Dann trug er seine Instrumente nicht einmal selber durch die Stadt? Es war natürlich möglich …
«Emma. Liebes?» Sie spürte Floras Hand sanft auf ihrem Arm.