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„Die Frau, die mit den Engeln spricht!“ Die Welt
Bereits als Kind erkennt Lorna Byrne, dass sie über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügt: Sie kann Engel und Lichtwesen wahrnehmen. Ihr Leben lang begleiten sie diese Wesen von großer Schönheit, unter ihnen auch Erzengel und der Prophet Elija. Ihre Umgebung hält sie für zurückgeblieben, und Lorna lernt, dass sie ihr Wissen sorgsam hüten muss, um von anderen ernst genommen zu werden. In diesem Buch öffnet sie sich erstmals und erzählt die berührende Geschichte ihres Lebens, in dem Glück und Tragik oft nah beieinander liegen: Aufgewachsen im Irland der 60er Jahre, erfährt sie Armut, Ausgrenzung und persönliches Leid, aber auch Freundschaft, Familienglück und die große Liebe. Und es sind immer wieder die Engel, die ihr nach Schicksalsschlägen neuen Mut schenken und ihr helfen, ihrem Leben eine positive Wende zu geben. Mehr und mehr beginnt sie, zu ihrer Gabe zu stehen und sie für das Wohl anderer Menschen zu verwenden. Heute ist Lorna Byrne eine bekannte Heilerin und Mystikerin, die von zahlreichen Menschen aufgesucht wird, um bei ihr Rat und Heilung zu suchen. Wie keine andere versteht sie es, ihren Lesern das große Vertrauen in die Kraft der Engel zu vermitteln, das auch ihren eigenen Weg prägte.
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Seitenzahl: 617
Lorna Byrne
Engel in meinem Haar
Die wahre Geschichte einer irischen Mystikerin
Aus dem Englischenvon Claudia Fritzsche
Goldmann
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Die englische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel »Angels in my Hair« bei Century, einem Unternehmen von Random House, Inc., London.
© 2009 der deutschsprachigen Ausgabe Kailash Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. © 2008 Lorna Byrne Lektorat: Birgit Groll, München Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering
Covergestaltung: UNO Werbeagentur Coverfoto: Getty Images/Tia Magallon
ISBN 978-3-641-06889-9V005
www.goldmann-verlag.de
Meinen Kindern, die mich immer mit beiden Beinen auf der Erde gehalten haben
Meiner Mutter fiel auf, dass ich schon als Baby ganz in meiner eigenen Welt zu leben schien. Und ich war gerade zwei Jahre alt, da nannte der Kinderarzt mich »retardiert«, »zurückgeblieben«. Ich selbst kann mich noch gut daran erinnern, wie ich in meinem Bettchen – einem großen Korb – lag und meine Mutter sich über mich beugte. Um sie herum sah ich wunderschöne, lichtvolle, in allen Regenbogenfarben strahlende Wesen. Deutlich größer als ich, doch wesentlich kleiner als Mam, hatten sie etwa die Größe dreijähriger Kinder und schwebten – Federn gleich – frei in der Luft. Ich weiß noch, wie ich die Händchen nach ihnen ausstreckte, sie berühren wollte, was mir jedoch nicht gelang. Ich war völlig fasziniert von diesen Geschöpfen und ihrem herrlichen Leuchten. Damals wusste ich noch nicht, wie sehr meine Wahrnehmung sich von der anderer Menschen unterschied. Es ging noch viel Zeit ins Land, bis die Wesen sich mir gegenüber als Engel zu erkennen gaben.
Im Verlauf der nächsten Monate bemerkte meine Mutter, dass ich immerzu woandershin blickte oder gar starrte, ganz gleich, was auch immer sie unternahm, um meine Aufmerksamkeit zu fesseln. Tatsächlich war ich ganz woanders: Immer bei den Engeln und in deren Beobachtung versunken, aber auch im Gespräch und Spiel mit ihnen – ich verspürte grenzenloses Entzücken.
Zwar habe ich erst spät zu sprechen begonnen, doch mit den Engeln unterhielt ich mich schon in meinen jüngsten Tagen. Manchmal benutzten wir dabei das gewöhnliche menschliche Vokabular, dann wieder bedurfte es keiner Worte, weil wir wechselseitig unsere Gedanken lesen konnten. Zu jener Zeit glaubte ich, jedermann sähe, was ich sah: Doch die Engel hielten mich dazu an, niemandem zu erzählen, dass ich sie sehen konnte, und dieses Geheimnis zwischen uns zu bewahren. Und wirklich lauschte ich den Engeln Jahr um Jahr, ohne ein Wort davon preiszugeben. Erst jetzt, in diesem meinem Buch, werde ich vieles von dem enthüllen, was ich damals zum ersten Mal gesehen habe.
Das Verdikt des Arztes über die gerade einmal zweijährige Lorna sollte eine tief greifende Wirkung auf mein Leben haben: Mir wurde bewusst, dass Menschen grausam sein können. Seinerzeit lebten wir in Old Kilmainham, unweit der Dubliner Innenstadt. Mein Vater hatte dort einen kleinen Fahrradladen mit Reparaturwerkstatt und dazugehörigem Wohnhäuschen gemietet. Durchquerte man den Laden und wandte sich dann nach links, fand man sich vor einem kleinen und ziemlich heruntergekommenen Haus wieder. Es hatte seinen Platz in einer ganzen Reihe solcher cottages mit Geschäften, doch standen die meisten davon leer oder waren aufgrund ihres trostlosen Zustands schon ganz aufgegeben worden. Unser Leben spielte sich hauptsächlich in dem kleinen Raum im Erdgeschoss ab: Hier wurde gekocht, hier aßen wir, unterhielten uns oder spielten miteinander, ja sogar die Wäsche wurde hier gewaschen – in einem großen Metall-Zuber vor dem Herd. Das Haus besaß weder Bad noch WC, ein kleiner Pfad führte zu einem Verschlag im Hinterhof – unserer Außentoilette. Das obere Stockwerk enthielt zwei Schlafzimmer, zu Beginn teilte ich das eine – und das Bett – mit meiner älteren Schwester Emer. Damals nahm ich nicht nur die Engel wahr – diese sah ich, wenn ich morgens die Augen aufschlug bis abends, wenn ich wieder einschlief – sondern auch die Geister Verstorbener. So etwa meinen Bruder Christopher, der längst vor mir geboren, aber schon im zarten Alter von etwa zehn Wochen wieder gegangen war. Obwohl ich ihn nie lebendig zu Gesicht bekommen hatte, konnte ich ihn visualisieren und auf der geistigen Ebene mit ihm spielen. Im Gegensatz zu meiner Schwester und mir, die wir beide blond waren, hatte er dunkles Haar.
Zunächst fand ich nichts Seltsames dabei; für mich war er wie jedes andere Kind, nur sein Erscheinungsbild wirkte auf mich ein wenig heller, leuchtender. Einer der ersten Umstände, die mich dann doch auf sein Anderssein aufmerksam werden ließen, war die Tatsache, dass er sein Alter wechseln konnte. Einmal erschien er als Baby, dann wieder gleich alt mit mir und wackelte unsicheren Schrittes über den Fußboden; auch war er nicht immer da – er kam und ging.
Am Spätnachmittag eines kalten Wintertages, die Dunkelheit brach gerade herein, war ich allein in dem kleinen Wohnzimmer unseres Hauses in Old Kilmainham. Nur das offene Kaminfeuer erhellte flackernd den Raum. Ich hockte in seinem Schein auf dem Fußboden, beschäftigt mit den Holzklötzchen, die mein Vater uns zurechtgesägt hatte, als Christopher auftauchte, um mit mir zu spielen. Er setzte sich direkt vors Feuer und sagte mir, dort sei es zu heiß für mich, aber ihm mache das nichts aus, denn er spüre die Hitze nicht. Indem wir abwechselnd Klötzchen auf Klötzchen stapelten, errichteten wir gemeinsam einen Turm. Dieser hatte schon eine beachtliche Höhe erreicht, da trafen sich plötzlich unsere Hände. Ich war verblüfft, weil Christopher sich so ganz anders anfühlte als alle anderen Menschen, die ich kannte. Die Berührung erzeugte bei ihm Funken – wie ein kleiner Sternenregen. Im selben Augenblick ging ich in ihn über (vielleicht auch er in mich); es war, als verschmölzen wir miteinander und würden eins. Vor lauter Schreck stieß ich unseren schönen Holzturm um!
Ich brach in Gelächter aus und fasste ihn von neuem an. In diesem Augenblick habe ich wohl zum ersten Mal wirklich begriffen, dass Christopher nicht aus Fleisch und Blut bestand.
Doch habe ich ihn nie irrtümlich für einen Engel gehalten – denn die Engel um mich herum trugen zwar gelegentlich menschliche Züge, aber selbst dann besaßen die meisten von ihnen Flügel. Ihre Füße berührten den Boden nicht und aus ihrem Inneren drang ein helles Leuchten. Gelegentlich fehlte »meinen« Engeln jegliche Menschenähnlichkeit, dafür erschienen sie in Form scharf umrissener glühender Lichter.
Christopher tauchte häufig im direkten Umkreis meiner Mutter auf. Mitunter hielt sie in einem Stuhl am Feuer ihr Nickerchen, da lag er dann in ihren Armen und sie wiegte ihn. Ich hatte keine Ahnung, ob sie sich seiner Anwesenheit bewusst war, also fragte ich ihn: »Soll ich Mam erzählen, dass du hier bist?«
»Nein, das geht nicht«, gab er zurück, »weil sie es nicht verstehen würde. Aber manchmal kann sie mich fühlen. «
Eines Wintermorgens, die Sonne ging gerade auf, schwebten die Engel an mein Bett. Ich lag noch eingerollt unter der Decke, während meine Schwester Emer, mit der ich das Bett teilte, bereits aufgestanden und hinausgelaufen war. An ihrer Stelle hatte Christopher sich neben mir zusammengekuschelt. Er kitzelte mich und sagte: »Schau mal, Lorna, schau mal, da drüben am Fenster.«
Wie schon gesagt: Engel können verschiedene Formen und Gestalten annehmen – diesen Morgen kamen sie als Schneeflocken! Die Fensterscheiben schienen sich in Dampfschwaden zu verwandeln und jede Schneeflocke verwandelte sich darin ihrerseits in einen Engel von der Größe eines Babys. Dann glitten die Engel auf einem Sonnenstrahl durch das Fenster in den Raum, jeder von ihnen wirkte wie in weiß glitzernde Schneeflocken gehüllt. Als die Engel mich berührten, stoben die Schneeflocken auf mich herunter: Sie kitzelten und fühlten sich seltsamerweise nicht kalt, sondern warm an.
»Wäre es nicht wundervoll«, rief Christopher aus, »wenn alle Menschen wüssten, dass sie ihre Taschen mit Engeln füllen könnten? Dass in einer einzigen Tasche Tausende von Engeln Platz hätten, so wie Schneeflocken, und dass sie sie andauernd mit sich herumtragen könnten und deshalb nie mehr alleine wären?«
Ich drehte mich nach ihm um: »Und was ist, wenn sie in den Taschen schmelzen?«
Christopher kicherte: »Nichts! Engel schmelzen nämlich nie!«
»Ach, Christopher, wenn du doch bloß in Mams Tasche hineinpassen würdest, wie eine Schneeflocke, und dann immer hier sein könntest!«, sagte ich ganz traurig.
Er wandte sich mir zu und sah mich an, so wie wir beide da aneinander geschmiegt im Bett lagen: »Aber du weißt doch, ich bin immer da.«
Erst als ich schon erwachsen war, erzählte mir meine Mutter, sie habe ein Jahr vor meiner Geburt einen kleinen Sohn mit dem Namen Christopher zur Welt gebracht, der jedoch nur zehn Wochen am Leben geblieben sei. Ich reagierte mit einem Lächeln und fragte sie dann, wo Christopher denn beerdigt worden sei, und erfuhr, sie hätten ihn – nach damaligem Brauch – anonym auf einem Dubliner Friedhof für Kleinkinder bestattet.
Schade, dass es keine Grabstelle mit Christophers Namen gibt, die ich besuchen könnte, aber er ist auch so unvergessen. Sogar noch heute, nach all den Jahren, fühle ich Christophers Hand in meiner Tasche, er tut, als forme er Schneeflocken, um mich daran zu erinnern, dass ich nicht alleine bin.
Eines Tages, ich war damals etwa vier oder fünf Jahre alt, brachte ich mehr über Christopher und meine Mutter in Erfahrung. Ich saß am Tisch, baumelte mit den Beinen und verspeiste mein Frühstück, als ich aus den Augenwinkeln einen kurzen Blick auf Christopher erhaschte, der an diesem Tag das Aussehen eines etwa Zwölfjährigen hatte. Er lief quer durch den Raum Richtung Ladentür, während meine Mutter gerade mit ein paar Scheiben Toast hereinkam. Sie strahlte über das ganze Gesicht und sagte: »Lorna, in der hinteren Werkstatt, unter Vaters Arbeitsbank, wartet eine Überraschung auf dich!«
Aufgeregt hopste ich vom Stuhl und folgte Christopher. Er hielt geradewegs durch den Laden auf die dunkle Werkstatt zu. Dort drinnen war es derart finster, dass ich erst innehalten und meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen musste. Doch war Christopher so etwas wie eine Lichtquelle für mich, denn er verbreitete ein sanft schimmerndes Leuchten, das mir den Weg durch die mit allem Möglichen vollgestellte Werkstatt wies. Er rief: »Die Katze hat Junge bekommen!« Und tatsächlich konnte ich – dank Christophers Licht – unter der Werkbank vier winzige Katzenbabys ausmachen. Drei davon kohlrabenschwarz, das vierte schwarz-weiß, sie waren einfach allerliebst, so weich und zart. Katzenmutter Blackie kletterte aus der Kiste, streckte sich und sprang durch das kleine Fenster hinaus in den Garten. Ich rannte hinter ihr her und rief Christopher zu, er solle auch hinauskommen, doch er blieb drinnen – wie immer.
Ich ging zurück in die Werkstatt und fragte Christopher: »Weshalb kommst du nie mit raus?«
Mit einer Geste, als wolle er mich trösten, ergriff er meine Hand – eine Berührung, die ich liebte – und unsere Hände verschmolzen wieder. Es wirkte wie ein geheimer Zauber: Ich fühlte mich geborgen und glücklich.
»Lorna, wenn Babys sterben, bleiben ihre Seelen bei ihren Müttern, so lange, wie sie dort gebraucht werden. Deshalb bleibe ich hier bei Mam. Wenn ich mit dir hinausginge, zerrisse ich all die Bänder der Erinnerung – und das werde ich nicht tun!«
Ich wusste, wovon er sprach. Meine Mutter hatte ihm so viel Liebe geschenkt: All die Erinnerungen an ihre Schwangerschaft, als sie ihn in sich getragen hatte, die Geburt, das Glück und die Freude, ihn in ihren Armen zu halten und ihn dann mit nach Hause zu nehmen – obgleich sie damals bereits gespürt hatte, dass etwas mit ihm nicht in Ordnung war, ganz gleich, was die Ärzte ihr gesagt hatten. Mam verbrachte zu Hause ein paar kostbare Wochen mit Christopher, bevor er starb, und er erzählte mir von der Liebe, die sie ihm so reichlich geschenkt hatte und die er ihr nun zurückgab.
Deshalb blieb der Geist meines Bruders im Haus, er verließ es nicht ein einziges Mal, bis wir dem kleinen Fahrradladen in Old Kilmainham für immer Lebewohl sagten. Zu diesem Zeitpunkt war meine Mutter bereit, meinen Bruder loszulassen und fühlte sich stark genug, auf ihrem Lebensweg weiterzugehen.
Immer wenn ich einen Engel sehe, habe ich den Wunsch innezuhalten, ihn genau zu betrachten und das Gefühl der Gegenwart einer ungeheuren Kraft. In der Jugend erschienen mir die Engel immer in Menschengestalt, was mir den Umgang mit ihnen erleichterte – doch das ist heute längst nicht mehr notwendig. Die Engel, die ich sehe, tragen nicht immer Flügel, doch wenn, verblüffen mich oftmals deren Formen: Mitunter gleichen sie Flammen, haben aber dennoch eine klare Kontur und Festigkeit; manche sind gefiedert. Die Flügel eines »meiner« Engel waren derart lang, schmal und spitz, dass ich ihn gerne gebeten hätte, sie einmal auszubreiten.
Erscheinen Engel in Menschengestalt – mit oder ohne Flügel –, bilden die Augen eines ihrer faszinierendsten Merkmale, denn Engelsaugen unterscheiden sich stark von den unseren: Sie sind so bewusst, so voller Leben, Licht und Liebe – als enthielten sie die Essenz des Lebens selbst –, ihr Strahlen erfüllt einen ganz und gar.
Niemals habe ich den Fuß eines Engels den Boden berühren sehen: Wenn ein Engel auf mich zukommt, nehme ich eine Art »Energiepuffer« zwischen dem Boden und seinen Füßen wahr. Manchmal ist er nur fadendünn, dann wieder bauscht er sich kissenförmig zwischen der Erde und dem Engel auf und kann sogar in die Erde hineinreichen.
Schon in meiner frühen Jugend gab es einen bestimmten Engel, der mir viele, viele Male erschien. Zum ersten Mal begegnete ich ihm im Schlafzimmer: Er stand in einer Ecke und sagte nur: »Lorna.« Einerseits sah er aus wie die anderen Engel auch, andererseits unterschied er sich zugleich deutlich: So leuchtete er stärker als die anderen und war von einer sehr bestimmenden Präsenz, macht- und kraftvoll, ein Abbild männlicher Stärke. Vom ersten Augenblick an hatte ich das Empfinden, er sei zu meinem Schutz bereit, gleich einem Schild. Seitdem kehrte er immer wieder, und allmählich schloss ich Freundschaft mit ihm. Sein Name sei Michael, ließ er mich wissen.
In der Schule hatte ich Schwierigkeiten, da die meisten Lehrer mich wie ein Dummerchen behandelten. Meine heilige Erstkommunion erhielt ich mit sechs Jahren von der Schule aus und es war einfach schrecklich. Dabei hätte es ein ganz besonderer Tag werden sollen – wie für die meisten irischen Kinder. Als wir uns im Klassenzimmer auf die Erstkommunion vorbereiteten, stellten die Lehrer allen Kindern Fragen zum Katechismus, nur mich übergingen sie einfach. Stattdessen bekam ich zu hören: »Es hat ja doch keinen Zweck, dich etwas zu fragen!« Und als alle anderen Kinder sich in Reihe aufstellten und etwas zur heiligen Kommunion sagten, wollte ich mich dazustellen, wurde jedoch abgedrängt, zum Wegtreten und Hinsetzen aufgefordert. Eine tiefe Verletzung für ein Kind …
Während ich dann hinten im Klassenzimmer oder in einer Ecke auf der Bank saß, fragte ich meine Engel: »Wissen die denn nicht, dass ich meinen Katechismus auch kenne? Sie geben mir ja nicht einmal eine Chance.«
Als ich dann am Tag meiner Erstkommunion gemeinsam mit den anderen Kindern durch die Kirche zum Altar schreiten wollte, wurde ich am Arm gepackt und aus der Reihe gezerrt, denn nach der Entscheidung des Lehrers sollten die besseren Schülerinnen vorangehen.
Doch es gab auch ein paar liebenswürdige Menschen! Als ich etwa vier Jahre alt war, hatten wir eine Nonne als Lehrerin; meiner Erinnerung nach hieß sie Mutter Moderini. Man hatte ihr zwar gesagt, ich sei langsam und zurückgeblieben, doch fühlte ich, dass sie es besser wusste. Wenn wir bei ihr Unterricht hatten, kam sie stets zu mir und stellte mir knappe, einfache Fragen, die ich immer richtig beantworten konnte, woraufhin sie mir lächelnd über den Kopf strich.
Doch abgesehen von diesen gelegentlichen Freundlichkeitsbezeugungen einiger Weniger wuchs ich als Außenseiterin heran. Die Menschen um mich herum konnten mein Anderssein zwar erkennen, es aber nicht verstehen. Dieser Aspekt meines Lebens brachte viele Probleme mit sich – und so ist es bis heute geblieben. Ich bekomme immer zu hören, ich sei zu offen, zu vertrauensvoll, zu geradeheraus für diese Welt – aber ich kann nun einmal nicht anders! Seltsamerweise gestaltet es sich nicht nur schwierig, in jeder Hinsicht – in Gedanken und Worten – aufrichtig und seinen Mitmenschen gegenüber ehrlich zu sein, es macht auch einsam.
Die Art und Weise, in der andere Menschen von mir denken oder mich betrachten, trifft mich auch heute noch oftmals tief. Selbst wenn sie nicht die geringste Ahnung haben, wer ich bin oder was ich tue, so spüren sie doch immerhin, dass ich mich auf irgendeiner Ebene von ihnen unterscheide. Gehe ich mit Freunden aus und lerne dabei neue Leute kennen, solche, die überhaupt nichts von mir wissen, so kommt doch meistens die Rückmeldung, sie hätten irgendetwas Ungewöhnliches an mir bemerkt, könnten es aber nicht näher benennen. Damit zu leben, ist nicht immer einfach!
Mein Dasein als Schülerin ließ sich von dem Augenblick an leichter ertragen, als der Engel Hosus in mein Leben trat. Das geschah eines Morgens auf dem Schulweg. Ich ging zusammen mit einem älteren Mädchen und beeilte mich, Schritt zu halten, als mein Blick auf einen wunderschönen Engel fiel, der sich hinter einem Laternenpfahl verbarg und mir eine Grimasse schnitt. Von diesem Tag an erschien Hosus beinahe allmorgendlich auf meinem Schulweg. Und noch heute treffe ich ihn regelmäßig.
Hosus hatte – und hat – das Erscheinungsbild eines altmodisch gekleideten Schullehrers: Er trägt einen flatternden Umhang, meist in Blau, wobei die Farbe jedoch wechseln kann, einen ulkig geformten Hut und eine Papierrolle in der Hand. Seine Augen leuchten und funkeln sternengleich, er ähnelt einem jungen Gelehrten – ein Mann mit der Ausstrahlung von Energie, großer Autorität und Weisheit. Im Gegensatz zu den anderen Engeln in meiner Umgebung bleibt Hosus sich immer gleich. Michael beispielsweise erscheint meistens in Menschengestalt – ich hatte ihn darum gebeten, weil ich damit besser zurechtkomme –, doch verändert er diese laufend, je nach den äußeren Gegebenheiten oder der Botschaft, die er mir zu überbringen hat.
Hosus repräsentiert für mich das Wissen: Er wirkt sehr ernsthaft und kann es auch sein, aber zugleich versteht er es großartig, mich aufzuheitern, wenn mich etwas bedrückt. Er tröstete mich immer und riet mir damals auch, die anderen Kinder einfach zu ignorieren, wenn sie mich in der Schule wieder verspottet hatten oder wenn ein Grüppchen Erwachsener miteinander tuschelte und sich dann nach mir umdrehte. In solchen Fällen pflegte er anzumerken: »Die haben doch überhaupt keine Ahnung.«
Zu Anfang kannte ich seinen Namen noch nicht und er redete auch nicht direkt mit mir, vielmehr tauchte er einfach im Klassenzimmer auf, imitierte den Lehrer oder eines der anderen Kinder und stellte irgendetwas Komisches an, um mir ein Lächeln zu entlocken. Mitunter erwartete er mich auf dem Heimweg am Schultor oder auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ich erinnere mich noch gut an das erste Mal, als ich ihn ansprach: An diesem besonderen Tag hatte ich niemanden zur Gesellschaft für den Nachhauseweg. Meine Schwester war wegen ihrer Tanzstunde schon früher gegangen, also ließ ich mir Zeit mit dem Heimkommen und trödelte noch über den Spielplatz. Langsam hielt ich auf das große Eingangstor zu, in der Hoffnung, Hosus zu begegnen und endlich ein Wort mit ihm wechseln zu können. Deswegen war ich begeistert, ihn verstohlen hinter einem Pfeiler hervorlugen zu sehen. Er rief mir zu, ich solle mich beeilen: »Du musst vor dem Regen zu Hause sein!« Ich blieb am Tor stehen und blickte mich um. Da niemand sonst zu sehen war, fragte ich den Engel nach seinem Namen.
»Hosus«, erwiderte er. Ich kicherte zur Antwort. Auf dem Nachhauseweg sprang und hüpfte ich und er mit mir, und sonst kann ich mich nur noch daran erinnern, dass ich die meiste Zeit gelacht habe.
Unser Vater verdiente nur wenig mit seiner Werkstatt, weil sich niemand leisten konnte, viel Geld für Fahrradreparaturen auszugeben. So wurde er zwar ständig von allen möglichen Leuten um Hilfe gebeten, bezahlen wollten sie dann aber erst »nächstes Mal«. Vaters übergroße Gutmütigkeit ließ uns oftmals hungern; nicht selten mussten wir uns mit Margarine- oder Marmeladebroten begnügen. Ich klagte nie über mein Bauchweh, schließlich hatten die Eltern schon genug Sorgen. Doch eines Tages nahmen die Schmerzen überhand und ich musste heraus mit der Sprache. Meine Eltern brachten mich zum Kinderarzt, der einen Vitaminmangel feststellte und ihnen auftrug, mich täglich mit frischem Obst und Gemüse zu versorgen. Doch die ständige Geldnot führte dazu, dass ich nur selten frisches Obst und Gemüse bekam, es sei denn unser Nachbar, Besitzer eines großen Gartens, schenkte uns welches. Bei Kleidung waren wir sehr auf die Großzügigkeit unserer amerikanischen Verwandten angewiesen: Jedes Mal, wenn ein Paket von ihnen ankam, gab das Anlass zu großer Freude. Wir machten damals harte Zeiten durch – so wie viele andere Menschen auch.
Der Laden meines Vaters war klein und dunkel. Der Anbau dahinter hatte ein Blechdach und diente ihm – vollgestopft mit Werkbänken und Werkzeug aller Art – als Werkstatt. Hier roch es immer nach Öl und Schmierfett. Manchmal rief er mich vor dem Fünf-Uhr-Tee hierher, ich sollte ihm die Dose mit dem Fett halten, das er zum Reinigen seiner Hände benutzte. Das Zeug war schwarz und klebrig, es stank gewaltig, doch ich hielt eisern durch.
Nachdem er seine Hände ausgiebig mit dem Fett bearbeitet hatte, rubbelte er sie mit einem schmutzigen alten Lappen kräftig ab. Anschließend ging er in die Küche und wusch sich die Hände noch gründlich mit kaltem Wasser – warmes hätte er erst im Kessel auf dem Herd bereiten müssen –, doch die Prozedur reichte aus, um seine Hände restlos sauber zu bekommen. Ich ging meinem Vater gerne zur Hand, selbst mit der stinkenden Fettdose; manchmal bat er mich auch, ihn während seiner Teepause mit Mam im Laden zu vertreten, für den Fall, dass Kundschaft käme.
Hosus nahm gelegentlich gerne den Platz des Lehrers hinter dem Pult ein, wenn dieser gerade in der Klasse umherging. Als ich den Engel zum ersten Mal dort im Klassenzimmer erblickte, war ich so überrascht, dass ich laut fragte: »Was machst du denn da?« Der Lehrer wandte sich um und starrte in meine Richtung. Und ich musste mir hinter vorgehaltener Hand das Lachen verbeißen.
Ich war deshalb so überrascht, weil der Engel Hosus sich von den immer in der Klasse anwesenden Schutzengeln so deutlich unterschied, denn er war keiner: Von den Schutzengeln der Kinder ging ein ungewöhnlich strahlendes, ungewöhnlich starkes Leuchten aus, sie schienen wie sehr helle Lichter. Hosus dagegen besaß viel größere Ähnlichkeit mit einem Menschen, sein Umhang streifte sogar das Pult. Er sah deshalb so anders aus, damit ich ihn – wie auch die anderen Engel, die mich in meinem Leben begleiteten – nicht mit den Schutzengeln verwechselte. Schon als Kind musste ich lernen, die einzelnen Arten von Engeln auseinanderzuhalten.
Unterschiedliche Engel haben auch unterschiedliche Fähigkeiten. So wie ich selbst und jedes andere Kind zu lernen hatte, einen Lehrer nicht mit einem Arzt zu verwechseln, so musste ich lernen, die einzelnen Engelstypen zu erkennen.
Hosus brachte mich oft zum Lachen und einmal fragte ich ihn: »Was glaubst du, halten die mich hier für beschränkt oder ›zurückgeblieben‹ – das Wort habe ich nämlich aufgeschnappt –, weil sie mich so viel kichern und lachen sehen, aber nicht wissen, weshalb? Was meinst du, was würden sie denken, wenn sie wüssten, dass du hier am Lehrerpult sitzt, gekleidet wie ein Lehrer? «
Hosus lachte: »Sie würden hinausrennen und laut schreien: ›Hier spukt es!‹«
»Würden sie dich denn nicht als Engel erkennen?«
»Nein. Sie sehen uns nicht in derselben Weise wie du.«
Wie schon gesagt, ich hatte immer gedacht, die anderen Kinder könnten die Engel genauso wahrnehmen und mit ihnen sprechen wie ich. Und erst damals, ich war ungefähr sechs Jahre alt, begann mir klar zu werden, dass es sich keineswegs grundsätzlich so verhielt.
»Hosus, du weißt, dass ich weiß, dass manche Kinder Engel sehen können.«
Er gab mir zur Antwort: »Ja sicher können sie das – aber nur solange sie noch sehr klein sind! Dann werden sie größer, und in deinem Alter nehmen uns die meisten Kinder nicht mehr wahr; bei manchen hört das sogar schon mit drei Jahren auf.«
Tatsächlich sehen alle Babys Engel und Geister, doch wenn ein Kind sprechen lernt, wird ihm allmählich beigebracht, was real und was nicht real ist. Und dass es sich bei Dingen, die nicht stabil und zum Anfassen sind, um Täuschungen handelt. So werden Kinder schon in frühen Jahren konditioniert und verlieren ihre Fähigkeit, mehr zu sehen und zu erfahren. Weil die Erziehung heutzutage schon so früh einsetzt, sprechen immer weniger Menschen mit Engeln. Und das ist einer der Gründe – sagten die Engel, als sie mich damit beauftragten –, weshalb ich dieses Buch schreiben soll. Ich habe mich kaum an dieses Thema herangewagt, weil ich keinen Spott auf mich ziehen will, aber ich weiß, dass ich es tun muss. Ich mache – letztlich – immer, was die Engel von mir verlangen. Es gibt Millionen von Engeln – es sind unzählige, wie Schneeflocken –, doch viele von ihnen haben keine Arbeit. Sie geben ihr Bestes, um zu den Menschen durchzudringen, eine Verbindung herzustellen, aber es gelingt ihnen nicht immer. Stellen Sie sich jetzt einmal Millionen beschäftigungslos herumschwebender Flügelwesen vor! Sie haben deshalb nichts zu tun, weil die meisten Menschen hart darum kämpfen, ihr Leben irgendwie zu meistern und sich nicht bewusst werden, dass diese Engel da sind, um ihnen beizustehen, und dass sie überall gegenwärtig sind.
Nach Gottes eigenem Willen sollen wir glücklich sein und uns am Leben freuen – deshalb schickt er uns Engel zu Hilfe! Um uns herum wartet so viel spirituelle Unterstützung nur darauf, dass wir danach greifen – manche tun es, viele von uns jedoch nicht. Engel begleiten uns, gehen neben uns her, wollen uns wissen lassen, dass sie da sind, doch hören wir ihnen nicht zu: Oft wollen wir gar nicht zuhören. Wir bilden uns ein, alles selbst zu können. Wir haben unsere Seelen vergessen, meinen ausschließlich aus Fleisch und Blut zu bestehen. Wir glauben, das wäre alles und es gäbe weder ein Leben nach dem Tod, noch einen Gott, noch Engel. Kein Wunder, dass wir so materialistisch und egoistisch geworden sind! In dem Moment, wo Sie sich dessen wirklich bewusst werden, dass es mehr gibt als Ihren Körper, und beginnen, an die Existenz Ihrer Seele zu glauben, wird sich die Verbindung zu Ihrem Engel ganz von selbst herstellen.
Ob Sie es glauben oder nicht, auch während Sie jetzt dasitzen und meine Worte lesen, steht ein Engel an Ihrer Seite: Ihr Schutzengel, der Sie niemals verlässt. Wir alle haben ein Geschenk erhalten: einen Schutzschild aus Licht-Energie. Und es gehört zu den Aufgaben des Schutzengels, diesen Schild vor uns zu halten. Für Gott und die Engel sind wir alle gleich; verdienen wir alle im selben Maß Schutz, Fürsorge und Liebe, völlig gleich, ob andere gut oder schlecht von uns denken. Wenn ich einen Menschen betrachte, so sehe ich diesen Schutzschild leibhaftig um ihn herum.
Ihr Schutzengel ist der Hüter des Tores zu Ihrem Körper und Ihrer Seele. Er war Ihnen schon vor der mütterlichen Empfängnis zugeordnet, und als Sie im Mutterleib heranwuchsen, war er jeden Augenblick bei Ihnen, um Sie zu beschützen. Seit Sie auf der Welt sind, ist er nicht einen Sekundenbruchteil von Ihrer Seite gewichen: Er ist da, während Sie schlafen, während Sie sich im Bad aufhalten, immer – Sie sind niemals allein. Und auch wenn Sie einmal sterben, wird Ihr Schutzengel bei Ihnen sein – um Ihnen beim Übergang zu helfen. Ihr Schutzengel gewährt auch anderen Engeln Zutritt zu Ihrem Leben, um Sie bei den unterschiedlichsten Dingen zu unterstützen – diese Engel kommen und gehen. Ich bezeichne sie als Lehrer.
Vielleicht fällt es Ihnen schwer, das alles zu glauben; wenn Sie es gar nicht glauben können, stellen Sie Ihren Skeptizismus in Frage. Sind Sie eher ein Zyniker, dann hinterfragen Sie Ihren Zynismus. Was haben Sie denn zu verlieren, wenn Sie sich dem Gedanken öffnen, dass es Engel gibt? Wenn Sie sich Ihrem Höheren Selbst, Ihrer Spiritualität öffnen und etwas über Ihre eigene Seele erfahren? Bitten Sie die Engel, Ihnen jetzt gleich dabei zu helfen. Engel sind wundervolle Lehrmeister.
Als Kind war ich froh, etliche Stunden am Tag auf mich allein gestellt zu sein, denn ich hatte die meiste Zeit die Engel um mich: Sie zeigten mir so viele Dinge, brachten mir so vieles bei. Einer meiner Lieblingsplätze war das gemütliche Schlafzimmer, das ich mit meiner Schwester Emer gemeinsam bewohnte. Ein kleiner, niedriger Raum mit einer Dachschräge, dessen Fenster so weit nach unten reichte, dass ich davor kniend oder in der Hocke sitzend all das Treiben auf der Straße beobachten konnte. Ich sah unsere Nachbarn unten vorbeigehen und manchmal erspähte ich wunderschöne, strahlende Wesen an ihrer Seite. Heute weiß ich: Das waren ihre Schutzengel. Mitunter schienen sie zu schweben, in anderen Situationen liefen sie ganz einfach nebenher. Gelegentlich schien ein Schutzengel sogar mit »seinem« Menschen verschmolzen zu sein, war Teil von dessen Person, oder er hielt sich hinter ihr, die Flügel in schützender Umarmung um sie gebreitet.
Diese Engel hatten alle möglichen Gestalten: Einmal erschienen sie als Funken, um dann rasch an Größe zuzunehmen, bis sie »ausgewachsen« waren, ein andermal waren sie schon von Haus aus sehr kräftig und wesentlich größer als ihre Schutzbefohlenen. Die Schutzengel leuchteten von innen, ihre Gewänder gleißten in Gold, Silber oder Blau, konnten aber auch in lebhaft bunten Farben gehalten sein.
Dann wieder entdeckte ich einen Geist – von der Art, wie ich meinen Bruder Christopher wahrnahm. Unsere Nachbarin kam oft unter meinem Fenster vorbei, manchmal mit allen vier Kindern: Das Baby und das Nächstkleinere schob sie in einem riesigen alten Kinderwagen, die anderen beiden, ebenfalls noch recht klein, hingen an ihren Kleiderzipfeln. Und ich sah einen alten Mann die kleine Gruppe begleiten. Eines Tages bekam ich zufällig in unserem Laden ein Gespräch zwischen meiner Mutter und dieser Nachbarin mit. Sie erzählte, wie sehr sie ihren jüngst verstorbenen Vater vermisse. Ich wusste, der alte Mann, den ich gesehen hatte, war ihr Vater und Großvater der Kinder. Ich lächelte still, denn obwohl sie ihn so sehr vermisste, war ihr Vater doch noch bei ihr – sie konnte ihn bloß nicht mehr sehen. Er liebte seine Tochter so sehr, dass sein Geist in ihrer Nähe blieb, um ihr Hilfe anzubieten und Trost zu spenden. Und er würde so lange bleiben, bis sie in der Lage war, ihn loszulassen.
Anfänglich waren diese Geister ihrem Erscheinungsbild nach leicht mit menschlichen Wesen zu verwechseln – so wie es mir selbst mit Christopher passiert war –, doch mit der Zeit lernte ich von den Engeln, den Unterschied zwischen einem Geist und einer realen Person auszumachen. Wobei dieser sich allerdings nicht ganz einfach beschreiben lässt: Ein Geist sieht aus wie einer von uns, ist aber viel heller, leuchtender, als brenne ein Licht in seinem Inneren. Die Geister können ihre »Lichtstärke« selbst einstellen, je höher, desto durchscheinender, durchsichtiger sind sie. In jenen Momenten, wo sie ihr Licht sozusagen ausschalten (was sie gelegentlich tun, um weniger aufzufallen), wirken sie tatsächlich wie Wesen aus Fleisch und Blut. Es kann also passieren, dass Sie einen Nachbarn auf der anderen Straßenseite grüßen und nach ein paar Minuten dämmert Ihnen plötzlich: Das war Johnny – aber der ist doch schon seit sechs Monaten tot! Und vielleicht kommt Ihnen dann erst zu Bewusstsein, dass an Johnny etwas Helleres, Leuchtenderes war als an den »normalen« Menschen.
Und noch etwas beobachtete ich von meinem Posten am Fenster aus besonders gerne: Das Energiefeld, das die Menschen umgibt! Gelegentlich tauchte die Mutter einer Freundin unten in der Straße auf und ich sah Lichtspiralen an ihr, in glitzerndem, funkelndem Mauve, Purpur, Rot, Grün und Türkis, die wirbelwindartig alle von einem einzigen Punkt ausgingen. Diese Energie unterschied sich sehr von der übrigen Energie dieser Frau, und ich war völlig fasziniert. Zu einem späteren Zeitpunkt hörte ich meine Mutter sagen, die Frau erwarte ein Baby – und schmunzelte still vor mich hin. Auf dieselbe Weise teilte sich mir auch mit, wenn ein Mensch krank war, auch wenn ich nicht verstand, was ich sah. In solchen Fällen umfloss ein dunkler Schatten den Körper des Betreffenden, ein Signal für mich, dass etwas mit seinem Blut nicht in Ordnung war. Blinkte dagegen in einem Menschen ein Knochen auf, konnte ich erkennen, dass er gebrochen oder deformiert war und wusste instinktiv, es stimmte etwas nicht mit dem Körper dieser Person, obwohl mir die erklärenden Worte dazu fehlten.
Eines Tages kauerte ich wieder vor dem Fenster und sah einen Mann auf einem großen schwarzen Fahrrad die Straße entlangfahren, seine kleine Tochter saß auf dem Gepäckträger. Die Engel hießen mich die beiden zu beobachten und den Blick nicht von ihnen zu wenden, wenn sie an meinem Fenster vorbeifuhren. Ich forschte nicht nach dem Grund; als Kind tat ich alles, was die Engel mir auftrugen, ohne jemals Rückfragen zu stellen. Ich fühlte mich angehalten, Vater und Tochter zu beschützen, deshalb betete ich für sie, während sie in Richtung meines Fensters fuhren. Ich hatte keine Ahnung, was geschehen würde, bat aber darum, es möge nicht zu übel ausfallen.
Als der Mann mit seinem Kind auf meiner Höhe anlangte, schien sich das ganze Geschehen mit einem Mal zu verlangsamen, wie ein Film in Zeitlupe: Das Fahrrad fuhr vorbei, plötzlich überholte ein riesiger Doppeldeckerbus die beiden, im nächsten Augenblick stieß das Kind einen Schrei aus und der Mann begann zu fallen. Das kleine Mädchen kam jedoch nicht vom Rad los – sein Füßchen hatte sich in den Speichen verfangen. Ich beobachtete, wie der Vater behutsam den kleinen Fuß aus dem völlig verbogenen Hinterrad befreite – seine Hände zitterten. Er trug das Kind auf den Bürgersteig direkt unter meinem Fenster, die Kleine weinte, das heißt, es war eher ein leises Schluchzen als ein Schreien. Hilfsbereite Erwachsene eilten hinzu, darunter auch meine Mutter. Ich stürzte die Treppe hinunter und zur Tür hinaus, um zu sehen, ob dem kleinen Mädchen etwas fehlte. Wie üblich nahm niemand Notiz von mir. Als man der Kleinen den Schuh auszog, kam das Füßchen zum Vorschein: Völlig zerschunden und blutig, von der Sohle hing die Haut herab, aber es war nichts gebrochen. Ich betete zu Gott und den Engeln, sie mögen das Kind auch weiter behüten.
Schon damals, im Alter von fünf oder sechs Jahren, hatte ich das Empfinden, anderen Menschen Beistand leisten zu sollen. Meiner Überzeugung nach war Vater und Tochter bei dem Unfall deshalb nichts Schlimmeres passiert, weil ich sie nicht aus den Augen gelassen und für sie gebetet hatte. Das kleine Mädchen hätte beispielsweise unter den Doppeldeckerbus geraten oder vom Rad fallen und sich den Kopf schlimm aufschlagen können, und so war das Ganze mit dem verletzten Fuß noch glimpflich abgegangen, denn ansonsten fehlte der Kleinen – Gott sei Dank! – nichts. Seit damals habe ich mich bei zahlreichen Gelegenheiten in der Beschützer-Rolle wiedergefunden, sei es, um Ereignisse überhaupt zu verhindern oder wenigstens deren Auswirkungen abzumildern. Das war ein Teil des von den Engeln für mich veranstalteten »Übungsprogramms«. Mochte ich auch in der Schule Lernschwierigkeiten haben – im Kontakt mit den Himmelswesen gab es so etwas nie.
Eines Tages profitierte sogar der Vater meiner besten Freundin von meiner Helfer-Gabe. Josie wohnte nicht weit von uns in derselben Straße und war auch »anders«: Sie stotterte. Und sie stotterte tatsächlich heftig, doch wenn sie mit mir spielte, verschwand der Sprachfehler praktisch völlig, um erst dann wieder aufzutreten, wenn eine andere Person dazukam. Sie hatte langes, glattes, rötliches Haar und grüne Augen, war größer als ich und sehr dünn. Ihr Vater besaß eine Garage weiter unten in der Straße – nicht im Sinne einer Tankstelle oder der Garagen von heute –, es war vielmehr ein riesiger Schrottplatz, übersät mit Unmengen von Fahrzeugwracks und Autoteilen. Ihr Vater schärfte uns immer wieder ein, nicht auf dem Areal zu spielen, doch gab es auf dem Gelände rechts vom Eingangstor eine kleine, fast freigeräumte Ecke, die er uns zu guter Letzt doch überließ, unter der Bedingung, dass wir uns ausschließlich an diesem Ort aufhielten.
An einem freundlichen, sonnigen Sonntag saßen wir dort mit unseren Puppen, wir trugen saubere Kleider und bemühten uns nach Kräften, sie nicht allzu schmutzig zu machen. Wir lachten und alberten herum. Ich weiß noch, dass die Engel die ganze Zeit über zu mir sprachen und mich zum Hinhören aufforderten. Ich dachte noch, ich sollte ihnen zuhören, doch war das dieses Mal gar nicht gemeint. Schließlich berührten sie mich, um meine Aufmerksamkeit zu erringen. Ich weiß noch, wie ich beim Spielen innehielt und lauschte. Ich glaubte etwas zu vernehmen, war mir aber nicht sicher. Ich fragte Josie, aber sie hörte gar nichts. So kehrten wir zu unseren Puppen zurück, doch die Engel drängten mich wieder: »Hör zu!« Ich hielt erneut inne, lauschte und hatte dabei eine seltsame, unbeschreibliche Empfindung: Es war, als wechselte ich Zeit und Raum. Ich fühlte mich orientierungslos. Als ich noch einmal angestrengt hinhörte, drangen aus der Ferne schwache Hilferufe an mein Ohr – von Josies Vater! Josie hörte wieder nichts.
Weil uns das strikt verboten war, hatten wir Angst, unseren Spielplatz zu verlassen und zwischen den hoch aufgestapelten Fahrzeugwracks herumzulaufen, doch ich entschied, mich dennoch auf die Suche zu machen und Josie folgte mir. Ich erinnere mich daran, von einem Engel den Weg durch die Schrotthaufen geführt worden zu sein und dabei immer wieder vor mich hin gesagt zu haben: »Bitte lieber Gott, bitte ihr Engel, bitte macht, dass Josies Vater nichts zugestoßen ist!«
Wir fanden Josies Vater; ein Auto war auf ihn heruntergestürzt, überall war Blut, aber er lebte. Ich weiß noch, wie ich losrannte, um Hilfe zu holen, während Josie, glaube ich, bei ihrem Vater blieb. Wohin ich lief, weiß ich allerdings nicht mehr, ob zu Josies Familie oder heim zu uns. Jedenfalls eilten von allen Seiten Menschen an den Unglücksort. Uns Kinder schickten sie weg, wir sollten nicht dabei sein, als das Fahrzeugwrack von Josies Vater heruntergehoben wurde. Dann fuhr der Rettungswagen vor und brachte den Verletzten ins unmittelbar nahe gelegene St.-James-Krankenhaus. Dort erholte er sich, kam auch wieder ganz in Ordnung.
Ich dankte Gott und den Engeln für seine Genesung. Wieder hatten meine Engel mir dabei geholfen, einem anderen Menschen beizustehen.
Wie schon gesagt: Ihre Engel sind bei Ihnen – zu Ihrer Unterstützung. Und in dem Moment, wo Sie deren Existenz anerkennen, werden Sie die Anwesenheit der Engel in Ihrem Leben spüren. Tatsächlich waren sie schon die ganze Zeit um Sie herum, warteten darauf, von Ihnen wahrgenommen zu werden. Ihre Engel möchten Sie wissen lassen, dass Leben weit mehr ist als es den Anschein haben mag. Wir sind im Leben nicht auf uns allein gestellt. Zwar stecken wir alle in menschlichen Körpern, doch hat jeder von uns eine Seele – und die ist mit Gott verbunden. Die Engel stehen ebenfalls in Verbindung zu Gott: Sobald wir Gott anrufen, verleihen wir den Engeln Kraft.
Anders ausgedrückt: Wir verleihen ihnen Kraft, damit sie uns stärken. Gott hat uns den freien Willen gegeben und die Engel werden sich nicht darüber hinwegsetzen. Wenn wir sie nicht bei uns haben wollen, ihnen sagen, wir verzichten auf ihren Beistand, werden Gott und seine Engel zur Seite treten. Doch werden sie sich nicht ganz entfernen, sondern irgendwo in der Nähe bleiben und warten.
Haben Sie jemals etwas in dieser Art erlebt: Sie waren irgendwohin unterwegs und sind plötzlich statt nach links nach rechts abgebogen – während Sie tief in Ihrem Inneren wussten, dass links richtig gewesen wäre? Später haben Sie sich dann vielleicht über sich selbst geärgert. Die Eingebung »du musst nach links« kam von Ihrem Engel, der Ihnen das ins Ohr geflüstert hatte. Engel sind überall um uns, ungesehen warten sie darauf, uns zu helfen. Doch eines ist wichtig: Wir müssen die Engel um ihre Hilfe bitten. Dadurch erst ermöglichen wir ihnen, uns zu helfen, und das stärkt die Beziehung zwischen einem Menschen und seinen Engeln.
Heute, nach all diesen Jahren, wird mir oft bewusst, dass ich die Dolmetscherrolle zwischen Menschen und Engeln innehabe. In dieser Eigenschaft werde ich häufig zurate gezogen und soll vermitteln. Damit nehme ich eine Sonderstellung ein, denn jeder Mensch kann zu jeder Zeit die Engel um ihren Beistand bitten.
Ich selbst habe die Engel oftmals um Unterstützung für meine Familie gebeten. Denn ich wuchs in schwierigen Verhältnissen auf. Bis ich sechs Jahre alt war, hatte meine Mutter noch drei weiteren Kindern das Leben geschenkt: zwei Mädchen, Helen und Aoife, und einem Jungen mit Namen Barry – damit waren wir zu fünft. Zu allem Überfluss fühlte sich meine Mutter oft nicht gut und musste immer wieder ins Krankenhaus. Für diese Zeit wurden wir Kinder voneinander getrennt und zu verschiedenen Verwandten geschickt.
Ich war vier, als Emer und ich zum ersten Mal zu Tante Mary kamen. Zwar wohnte sie mit ihrem Mann und den drei Kindern in nicht allzu großer Entfernung von uns, es lagen nur ein paar Kilometer dazwischen, doch mir eröffnete sich dort eine andere Welt. Als ich ihr Haus das erste Mal sah, hielt ich es für einen Palast, denn im Vergleich zu unserem kleinen cottage erschien es mir riesengroß. Und alles in seinem Inneren war so luxuriös und schön – und es war warm, ganz anders als bei uns zu Hause, wo meistens Feuchtigkeit und Kälte herrschten. Hier gab es weiche Teppiche, auf denen ich sogar barfuß herumlaufen konnte. Und die Mahlzeiten waren geradezu unglaublich: Wahre Essensberge türmten sich auf dem mit zusammenpassenden Tassen und Tellern gedeckten Tisch. Das Geschirr wirkte so zerbrechlich, dass ich es, aus Angst etwas kaputtzumachen, kaum anzufassen wagte. Mit einer üppigen Auswahl an Speisen gestaltete sich hier jede Mahlzeit zum Fest. Eines Morgens wurde ich gefragt, ob ich etwas Gebratenes zum Frühstück haben wollte, und ich traute meinen Augen kaum, als ich sah, was mir aufgetischt wurde: Würstchen, Spiegeleier, Speckscheiben, Blutwurst, Grilltomaten, Toast – und all diese Herrlichkeiten für mich allein! Nichts musste halbiert oder sonst wie geteilt werden wie zu Hause. Doch die Krönung war das Badezimmer – ich lag in einer Wanne randvoll mit heißem Wasser und fühlte mich wie eine Prinzessin.
Auf dieser Reise wurde mir zum ersten Mal wirklich klar, wie bitter arm wir waren.
Während unseres Aufenthalts bei Tante Mary kamen die Eltern meiner Mutter zu Besuch und ich sollte mein gutes Kleid tragen, es war graublau und hatte ein gesmoktes Oberteil. Ich habe Kleider schon immer sehr gemocht und dieses war eines meiner liebsten, also zog ich es mit Freude an. Meinen Großeltern war ich bisher nur selten begegnet, weshalb ich große Scheu vor ihnen empfand. Hochgewachsen wie sie beide waren, wirkten sie wie Riesen auf mich. Meine Großmutter war außerdem noch ziemlich dick und brauchte seit ihrem Schlaganfall ein paar Jahre zuvor einen Gehstock.
Wenn meine Mutter sich gut fühlte, gingen wir bei schönem Wetter manchmal zum Picknicken in den Phönix-Park, eine riesige offene Anlage am Stadtrand von Dublin, mit Wildtieren und allen möglichen anderen Wunderdingen. Der Park lag nur knapp drei Kilometer von unserem Haus entfernt, so dass wir ihn ohne große Schwierigkeiten zu Fuß erreichen konnten. Eines Sonntags, ich war damals sieben Jahre alt, machten wir uns alle gemeinsam auf den Weg. Mein Vater schob ein Fahrrad mit dem Picknick-Korb auf dem Gepäckträger und meine Mutter den Kinderwagen mit meinem kleinen Bruder Barry. Emer und ich gingen zu Fuß, während unsere jüngeren Schwestern Helen und Aoife sich abwechselnd auf den Kinderwagen setzten oder auch liefen.
Wir veranstalteten ein herrliches Picknick mit Tomaten, Schinkensandwiches und Äpfeln aus dem Garten unseres Nachbarn. Auf einem Campingkocher bereitete mein Vater heißen, süßen Tee für uns alle. Nach dem Essen spielte ich mit meinen jüngeren Schwestern Fußball, danach machte ich mich alleine auf und wanderte unter den hohen alten Bäumen umher. Ich liebte es, mich unter diesen Bäumen aufzuhalten; die Energie bestimmter Bäume – nicht aller – zog mich in ihre Nähe. Ich fühlte mich großartig, es war ein Kribbeln, eine Art Magie, die mich zu einem der Bäume zog, als wäre er magnetisch. Auch hatte ich ein Lieblingsspiel mit den Bäumen: Ich rannte so lange um sie herum, bis ich in den Bannkreis der Energie eines besonderen Baumes geriet und daraus wieder zu entkommen versuchte. Auf diese Weise konnte ich Stunden zubringen. Doch an diesem Nachmittag tauchten plötzlich meine Schwestern auf und wollten wissen, was ich da machte. Ich antwortete nur, das sei ein Spiel, denn ich hatte keine Lust zu näheren Erklärungen – sie hätten es ohnedies nicht verstanden.
Am Spätnachmittag waren wir dann müde, freuten uns auf zu Hause und aufs Abendessen. Doch schon bevor wir um die Ecke bogen, in die Old Kilmainham Road, wo wir wohnten, spürte ich ganz deutlich, dass etwas nicht stimmte: Zwei große Engel schritten die Straße entlang auf mich zu und die Art ihres Näherkommens bedeutete mir, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Als sie bei mir angelangt waren, legte jeder von ihnen einen Arm um mich und während wir weiter die Straße hinuntergingen, sagten sie mir, der Dachstuhl unseres Hauses sei zusammengebrochen. Ich war geschockt.
Als wir uns dem Haus näherten, bot sich ein entsetzlicher Anblick, von dem ich meine Augen nicht abwenden konnte: Ein großer Teil des Dachs war eingestürzt. Mein Vater versuchte vergeblich, die Tür zu öffnen; als er sie schließlich mit der Schulter eindrückte, kam uns eine Staubwolke entgegen. Im Inneren konnte man außer Schutt nichts mehr erkennen. Als das Dach einstürzte, hatte es die Zimmerdecken mitgerissen, für meine kindlichen Augen lag das ganze Haus in Trümmern. Wir kletterten über die Schutthaufen, für meine kleinen Beine hatte jeder Beton- oder Steinbrocken gigantische Ausmaße. Ringsum stand der Staub in der Luft und alles war in tausend Stücke zerschlagen: das gesamte Mobiliar, unsere Spielsachen und alles, woran Mams Herz hing. Ich sah ihre Tränen, während sie Dinge vom Boden aufsammelte und stand im Schock wie angewurzelt, beobachtete nur, wie unsere Eltern versuchten zu retten, was noch zu retten war. Ich erinnere mich noch, wie meine Mutter ein Milchkännchen aufhob, es war dunkelbraun mit cremefarbenem Streifenmuster, und sagte: »Nur das ist heil geblieben.« Dieses Kännchen war das Einzige ihrer Hochzeitsgeschenke, das die Katastrophe überstanden hatte – wo sie doch ohnehin schon so wenig besaß –, und jetzt war das Wenige auch noch dahin. Ich kann mich an die Tränen in ihren Augen erinnern. Sie brachten auch mich zum Weinen und bis auf meinen Vater weinten wir wirklich alle. Er bat uns damit aufzuhören, sagte, er werde alles wieder in Ordnung bringen. Unsere Eltern machten ein bisschen sauber und Paps stützte das Dach notdürftig ab, so dass wir die Nacht in unserem Haus verbringen konnten – wenn auch unter sehr gefährlichen Umständen. Vor dem Einschlafen zerbrach ich mir noch den Kopf darüber, was wir jetzt nach dem Einsturz des Hauses machen sollten, wie sollte es denn nun mit uns weitergehen?
Wir waren heimatlos und mein Vater hatte auch noch die Basis für unseren Lebensunterhalt verloren.
Glücklicherweise kam uns meine Cousine Nettie zu Hilfe. Obwohl selbst beinahe noch ein Kind, lebte sie alleine in einem großen Haus. Ein oder zwei Jahre zuvor, sie war damals erst 16, waren ihre Eltern gestorben und sie hatte das Haus geerbt. Ich weiß nicht genau, was vereinbart wurde und ob wir Miete bezahlen mussten, auf jeden Fall zogen wir zu ihr ins am Nordrand von Dublin gelegene Ballymun – viele Kilometer entfernt von Old Kilmainham.
Zuerst war mir elend zumute, als ich das geliebte Old Kilmainham verlassen musste, doch als ich das Haus in Ballymun mit seinem großen Garten und den geräumigen Zimmern sah, fühlte ich mich glücklich. Am wichtigsten erschien mir damals seine Stabilität – ich wusste, es würde niemals einstürzen. Im Obergeschoss des Hauses gab es drei Schlafzimmer sowie – ein echter Luxus! – eine Innentoilette und ein Bad. Unten, nach vorne hinaus im ehemaligen Esszimmer, hatte Nettie sich eingerichtet, im rückwärtigen Teil, mit Blick über den Garten, erstreckte sich die schöne Küche.
Der Garten war einfach himmlisch, und mir ist seitdem nie wieder ein Garten so weitläufig erschienen. Was haben wir dort für Abenteuer erlebt! Es gab sogar einen Heuschober, in dem wir bei Geburtstagsfesten Süßigkeiten versteckten. Mein Vater zog in seiner Freizeit Gemüse – in zahllosen Reihen wuchs dort alles, was man sich nur denken konnte; auch Erbsen, deren Schoten wir Kinder immer mit Vergnügen knallen ließen. Zusätzlich legte er riesengroße Erdbeerbeete an.
Damals waren wir fünf Kinder: Ich hatte drei jüngere Geschwister, meinen Bruder Barry, noch ein Baby, sowie Helen und Aoife, und meine ältere Schwester Emer. Doch ich spielte selten mit ihnen, eigentlich nur bei Geburtstagsfesten und ähnlichen Gelegenheiten. Ich denke, das lag wohl an unseren unterschiedlichen Interessen, ich betrachtete die Welt einfach mit anderen Augen als sie.
Zunächst verlief mein Leben in Ballymun ein bisschen einsam, doch schon bald gewann ich neue Freunde. Ich lernte ein kleines Mädchen kennen, Rosaleen, das jenseits der langen Mauer an der Gartenrückseite wohnte. Es war ein wunderbarer großer Wall, der über die gesamte Straßenlänge verlief und alle Gärten nach hinten begrenzte. Mein Vater baute uns eine Leiter, damit wir darüberklettern konnten, ohne dabei unsere Schuhe zu ruinieren. Massiv und breit, wie sie war, eignete sich die Mauer auch sehr gut zum Entlanglaufen, auf diese Weise bewegten wir uns sicher von Haus zu Haus oder zu den unten gelegenen Feldern. Ich liebte die Mauer und alles, was ich von dort oben aus sehen konnte.
Rosaleen wurde meine beste Freundin. Sie lebte jenseits der Mauer, etwa sechs Häuser weiter, in einer großen Nobelvilla, und für gewöhnlich nahmen wir den Weg zueinander über die Mauer, anstatt erst lange außen herum zu laufen. Auch sie kam aus einer kinderreichen Familie, doch waren die meisten Geschwister schon erwachsen und lebten nicht mehr zu Hause. Deshalb kannte ich nur ihre jüngere Schwester Caroline und ihren acht Jahre älteren Bruder Michael. Rosaleen war groß und dünn, ihr Haar dunkel, glatt und lang; sie besaß ein fröhliches Wesen und lachte gerne. Ich verbrachte viel Zeit mit ihr und bei ihrer Familie, deutlich mehr als mit meinen eigenen Leuten.
Rosaleens Vater war Deutscher, ein großer, stattlicher Mann, dessen dunkles Haar zu ergrauen begann. Er war geschäftlich viel unterwegs, doch wenn er heimkam, ging er sehr liebevoll mit Rosaleen und ihren Geschwistern um – und auch mit mir. Sonntags kaufte er seinen Kindern immer kleine Tüten mit Süßigkeiten, und ich war hocherfreut und stolz, dass er mich dabei mit einbezog – so wie er es bei allem tat. In solch einer Tüte mochten gerade mal sechs bis acht Bonbons gewesen sein, doch sie schmeckten phantastisch und ich versuchte, den Genuss nach Kräften in die Länge zu ziehen.
Und noch einen weiteren Sonntagsbrauch bei Rosaleens Familie liebte ich sehr: wenn ihre Mutter uns eine Geschichte vorlas. Dazu versammelten wir uns alle in ihrem Schlafzimmer und nahmen auf dem Bett Platz, meist nur Rosaleen, Caroline und ich, doch gelegentlich gesellten sich Michael oder eine meiner Schwestern dazu. Rosaleens Mutter war eine wundervolle Geschichten-Vorleserin und wir saßen da und lauschten mit Entzücken, bis sie uns nach ungefähr einer Stunde wieder zum Spielen schickte. Manchmal nahm sie sich ein sehr dickes Buch vor und es dauerte Wochen, bis wir damit durch waren. Eines meiner Lieblingsbücher war Ein geheimer Garten von Frances Hodgson Burnett, die auch Der kleine Lord geschrieben hat.
In unserem Garten stand eine große Holzschaukel, mit der man richtig hoch ausschwingen konnte. Ich verbrachte Stunden auf dieser Schaukel, wiegte mich hin und her, während die Engel mich eine Menge einfache Dinge über das Leben lehrten. Oftmals saß nur mein physischer Körper auf dem Brett, ich selbst befand mich in einer anderen Welt und die Engel zeigten mir wundervolle, wirklich magische Dinge.
Wenn ich so vor mich hinschaukelte und niemand in der Nähe war, konnte es geschehen, dass einer der Engel zu mir sagte: »Lorna, komm, streck deine Hand aus, wir möchten dir etwas zeigen.« Dann legte er irgendetwas Winzigkleines in meine Hand. Sobald das Etwas meine Handfläche berührte, begann es, eine Lichtgestalt anzunehmen. Manchmal glich es zunächst einem kleinen Stern oder einem Gänseblümchen, fing dann aber an zu wachsen, als erwachte es zum Leben. Während es immer größer wurde, trat zugleich ein Leuchten daraus hervor, ein strahlend gelbes Licht. Das Licht hob ab von meiner Hand und bewegte sich aufwärts, erstrahlte dabei immer heller, bis es die Sonne teilweise verdunkelte, was mir ermöglichte, direkt in sie hineinzuschauen, ohne dabei die Augen zusammenkneifen zu müssen oder ihnen Schaden zuzufügen. Und dann erblickte ich in der gelben Lichtkugel, wie auf einen Spiegel reflektiert, etwas Herrliches: ein wundervolles Antlitz, einem menschlichen Gesicht ähnlich, das auf mich herablächelte.
Als sich dies zum ersten Mal ereignete, ließen mich die Engel wissen, das sei die Engelskönigin. Sie verwendeten gerne Begriffe, mit denen ich als Kind etwas anfangen konnte: Sie erinnerten mich an vertraute Märchen und daran, dass die Königin wie eine Mutter war, so wie meine Mam die Königin unserer Familie war. Die Engel erklärten, das Wesen sei die Königin der Engel, die Mutter des Universums, die Mutter der Schöpfung, die Mutter aller Engel. Urplötzlich zerbarst die gelbe Lichtkugel mit dem Gesicht in Millionen winziger Teilchen, die Goldlametta gleich aus der Sonne herabfielen.
Im Lauf der Jahre gewährten die Engel mir immer wieder das Geschenk dieses Anblicks, auch als ich bereits erwachsen war, vor allem dann, wenn ich eine Art Rückbestätigung brauchte.
Der Umzug nach Ballymun brachte natürlich auch eine neue Schule für uns mit sich. Gemeinsam mit meinen drei Schwestern besuchte ich eine kleine staatliche Schule für Mädchen und Jungen, von unserem neuen Zuhause über eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt. Meine Schwestern nahmen den Bus, wohingegen ich in der Regel lieber zu Fuß ging. Morgens musste ich mich dabei ganz schön ranhalten, um nicht zu spät zu kommen und mir keinen Ärger einzuhandeln, doch auf dem Heimweg konnte ich mir Zeit lassen.
Die Schule stand auf demselben Grundstück wie die in der Mitte errichtete Kirche und die jenseits davon gelegene Gemeindehalle. Das Schulgebäude umfasste nur drei Klassenzimmer, die jedoch nicht ausreichten, weshalb zwei Klassen in der Gemeindehalle einquartiert wurden. Gleich in meinem ersten Schuljahr in Ballymun hatte ich dort Unterricht. Die Schüler der beiden Klassen versammelten sich jeweils an den gegenüberliegenden Enden der Halle, eine Trennwand gab es nicht. Unser Lehrer, Mr. Jones, behandelte mich sehr schlecht, seiner Ansicht nach war ich ein Dummchen, und es passte ihm überhaupt nicht, ein Kind wie mich in seiner Klasse zu haben.
Eines Morgens kündigten mir die Engel für diesen Tag ein schulisches Ereignis an, das mich glücklich stimmen würde. Und wie immer behielten sie Recht: Das Ereignis machte mich damals sehr glücklich und es verfehlt bis heute seine Wirkung nicht, wenn ich daran denke!
Wir hatten Irisch-Stunde und Mr. Jones kündigte uns eine Quizfrage an, für deren richtige Beantwortung das betreffende Kind mit einer halben Krone belohnt werden sollte. Er wollte wissen, was das irische Wort crann auf Englisch bedeutete und befragte jedes Kind einzeln, wobei er auf der rechten Seite begann; mich hatte er isoliert, ich saß alleine weit links außen. Er lief durch das ganze Klassenzimmer von Schülerin zu Schüler, doch niemand konnte mit dem Wort crann etwas anfangen. Mich fragte er natürlich nicht – wie üblich. Da hockte ich nun und wusste, ich kannte die Antwort! Außer mir vor Aufregung zappelte ich in meiner Bank herum, beinahe wäre ich aufgesprungen und hätte ihm die Antwort laut entgegengerufen. Die Engel hatten alle Hände voll zu tun, um mich zu bändigen. »Bitte, ihr Engel, lasst ihn zu mir herüberschauen, bitte, macht, dass er mich fragt!« Vor lauter innerer Anspannung war ich den Tränen nahe.
»Keine Sorge, Lorna«, kam es von den Engeln, »er wird dich fragen.«
Mr. Jones war bestürzt über seine Schüler und wiederholte andauernd: »Na, kommt schon! Was habt ihr denn? Das ist doch nicht schwer!« Ich muss heute noch lachen, wenn ich ihn so vor mir sehe – seine Augen immer stärker geweitet und das Gesicht rot angelaufen: Er war einfach fassungslos. Dann wandte er sich an das letzte Kind vor mir, wieder ohne Ergebnis, um dann zu verkünden: »Na, so wie es aussieht, hat sich niemand die halbe Krone verdient.«
Hosus hatte die ganze Zeit über rechts neben Mr. Jones gestanden und in meine Richtung gedeutet, was dieser natürlich nicht sehen konnte. Am liebsten hätte ich Hosus zugerufen, er solle Mr. Jones bei der Hand nehmen und ihn zu mir herüberziehen. In der Klasse war es mucksmäuschenstill, kein Kind gab auch nur einen Laut von sich. Trotz der gegenteiligen Versicherung der Engel sah es nicht danach aus, als würde unser Lehrer mich doch noch mit einbeziehen. Er marschierte auf sein Pult zu. Immer noch herrschte absolute Stille. Plötzlich nahmen Hosus und der Schutzengel von Mr. Jones diesen sanft am Arm, drehten ihn in meine Richtung, und während sie ihm unablässig etwas ins Ohr flüsterten, führten sie ihn auf mich zu. »Ich weiß zwar, dass es zwecklos ist«, sagte Mr. Jones, »aber ich werde dich dennoch fragen!«
Und als er es getan hatte, antwortete ich mit einer Stimme, in der Gewissheit und Glück mitschwangen: »Es heißt Baum.«
Dem Lehrer blieb der Mund offen stehen – meine Antwort war richtig! Die ganze Klasse johlte und klatschte begeistert. Nun musste er ausgerechnet mir die halbe Krone geben. Ich werde den Moment niemals vergessen, als er sie mir in die Hand legte und ich »dankeschön« sagte! Noch nie zuvor hatte ich derart viel Geld besessen – eine ganze halbe Krone.
Die meisten Kinder hatten es eilig, nach der Schule nach Hause zu kommen, doch ich ließ es lieber langsam angehen und verbrachte viel Zeit im Spiel mit den Engeln. Mein Heimweg konnte daher Stunden dauern. Ich trödelte auf der breiten Böschung der Landstraße entlang, von dort aus konnte ich über die Hecke auf der anderen Seite sehen, hatte einen freien Blick auf die Felder und das Grundstück mit dem großen Haus dort. Manchmal hüpfte ich zusammen mit den Engeln auf der Böschung herum, wir lachten miteinander und hatten eine Menge Spaß.
Gelegentlich zeigten sie mir auch etwas: Einmal ließen sie mich beispielsweise unter einem großen Grasbüschel auf der Böschung das in dem Loch darunter versteckte Wespennest sehen. Offenbar durften die Engel das Nest freilegen, denn die Wespen schienen sich nicht gestört zu fühlen und ich konnte sie in aller Ruhe beobachten, ohne Angst vor Angriffen und Stichen haben zu müssen. Später bin ich noch einmal dorthin zurückgekehrt, um nach den Wespen zu sehen, und entdeckte zu meinem Kummer, dass Erwachsene das Nest gefunden und die Wespen vergiftet hatten.