Entführt in Florida - Birgit Schmidt - E-Book

Entführt in Florida E-Book

Birgit Schmidt

0,0

Beschreibung

Eine unerklärliche Entführung, eine gefährliche Jagd, ein dunkles Geheimnis... Die deutsche Ärztin Anna Behringer und der Wildtierbiologe Bill Miles arbeiten im Yellowstone an einem Wolfsforschungsprojekt. Als Annas Schwester Julia mit ihrem Mann Thomas nach Florida reist, um die beiden zu treffen, wird Julia entführt. Da die Polizei und Thomas ihnen keine Hilfe sind, suchen Anna und Bill auf eigene Faust nach Julia. Bei der Verfolgung der Kidnapper werden sie von einem Hurrikan überrascht, der Freund und Feind in Lebensgefahr bringt. Auf der mörderischen Verfolgungsjagd durch die Sümpfe der Everglades und die Inselwelt der Florida-Keys geraten sie in ein tödliches Duell mit dem gewissenlosen Entführer, dessen wahres Motiv lange im Dunkeln bleibt....

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für die Manatis und den Florida-Panther, die in Gefahr sind.

Look deep into nature,

and then you will understand everything better.

(Schau tief in die Natur hinein,

dann wirst du alles besser verstehen)

Albert Einstein

Inhaltsverzeichnis

DER PLAN

EIN ANRUF

IN FLORIDA

ENTFÜHRT

SCHLAFLOSE NACHT

JOHN HORSE

UM EIN HAAR

PARTNER

DER SCHWARZE SEMINOLE

DER PUPPENSPIELER

IN DEN SÜMPFEN

WO IST JOHN?

ZWISCHEN DEN INSELN

VERGANGENHEIT

NACH KEY WEST

BEI DEN MANATIS

WO IST JULIA?

FREUND ODER FEIND

DAS CONCH-HAUS

WIE GEWONNEN, SO ZERRONNEN

DIE GEHEIME INSEL

GEFANGEN

DAS TRIBUNAL

DER HURRIKAN

ALLES VERLOREN

IN DEN RIFFEN

ANNAS ENTSCHLUSS

DAS URTEIL WIRD VOLLSTRECKT

DAS DUELL

DER HURRIKAN KEHRT ZURÜCK

EINE HÖLLISCHE NACHT

DURCH DIE EVERGLADES

EINE RETTUNGSTAT

ZURÜCK IN DIE ZIVILISATION

ANMERKUNGEN DER AUTORIN

DER PLAN

Trotz der warmen Sonnenstrahlen hatte Jorge die Kapuze seines roten Hoodies tief ins Gesicht gezogen. Das abbruchreife Haus, an dem er lehnte, bot insoweit Schutz, als dass ihm niemand von hinten unbemerkt eine Kugel verpassen konnte. Man wusste nie, wer von den Los Lordes mit jemandem in Little Havana eine Rechnung offen hatte.

Seit dem Tag seiner Geburt vor 23 Jahren hatte er den Stadtteil selten verlassen, es sei denn, der Chef hatte ihn mit einem Auftrag losgeschickt. Und was Rico befahl, führte man aus, ohne zu diskutieren. Wie viele Menschen vor ihnen waren auch seine Eltern einstmals mit großen Hoffnungen aus Kuba in die USA gekommen. In dem Viertel westlich von Downtown Miami fanden sie eine neue Heimat, die alsbald aufgrund der zahlreichen Einwanderer nach der kubanischen Hauptstadt Havanna benannt wurde. Zwischen dem Miami River im Norden, der 11th Street im Süden, der 22nd Avenue im Westen und der Interstate 95 im Osten lag sein Jagdgebiet. Hier war er zu Hause, kannte alle Winkel und jedes Schlupfloch.

Das war wichtig, um den nächsten Tag zu erleben.

Argwöhnisch überprüfte er die Gestalten auf der Straße. Manche schlenderten lässig, das Gesicht hinter einer der angesagten Sonnenbrillen versteckt, andere huschten oder eilten die Gasse hinab, weil jede Minute zählte oder irgendwer hinter ihnen her war. Da draußen drohte einem ständig Gefahr, von den Cops, anderen Gangs, meistens aber von beiden. Besser, man war jederzeit bereit, abzuhauen und unterzutauchen.

Abwechselnd schwitzte und zitterte er.

Die nächste Nase White Dove war längst überfällig. Er schaute auf die protzige Golduhr an seinem knochigen Handgelenk, die er vor drei Tagen einem weißen Fettwanst hinter dem Puff zwei Straßen weiter abgenommen hatte. Sein Cousin Mario kam mal wieder zu spät. Andererseits lieferte er zuverlässig. Auch mal einen oder zwei Extrabeutel. Er schob die schwarze Sonnenbrille, die wie ein Relikt der Blues Brothers aussah, zurück an die Nasenwurzel und beugte sich leicht vor, um die Straße besser zu übersehen.

Endlich bog der rote Ford Thunderbird um die Ecke und rollte langsam auf ihn zu. Im letzten Moment stieß er sich von der Mauer ab und riss die Beifahrertür auf.

»Wurde aber auch Zeit. Hast du was dabei?«

Mario hielt ihm zwei Tütchen mit einem weißen Pulver entgegen. »Mach dich mal locker, Jorge.«

Er glitt auf den Beifahrersitz und zog die Tür zu. Einen Beutel stopfte er in die Hosentasche, den zweiten behielt er in der Hand und legte sein Smartphone auf den spindeldürren Oberschenkel.

Mario warf ihm einen Seitenblick zu.

»Bevor du dir was reinziehst, müssen wir was besprechen.«

»Mit dem Zeug höre ich besser zu.«

Vorsichtig klopfte Jorge die Hälfte des weißen Pulvers aus dem zweiten Tütchen auf das Display und zog ein metallenes Röhrchen hervor. Binnen Sekunden hatte er die Droge geschnupft. »So, jetzt bin ich ganz Ohr.«

Mario rümpfte die Nase und ließ den Thunderbird langsam anfahren. Keinen Moment hatte er Rück- und Seitenspiegel aus den Augen gelassen. »Halte dich mit dem Stoff ein bisschen zurück. Rico hat einen neuen Job für uns.«

»Wo ist das Problem?«

»Du musst voll da sein.«

»Bin ich immer.«

»Einen Scheiß bist du. Rico hat gesagt, das ist eine große Nummer, die darf auf keinen Fall in die Hose gehen.«

»Konnte er sich nicht immer auf uns verlassen? Also, sag schon, was steht an?«

»Wir sollen eine Chica schnappen.«

»Wie viele Riesen lässt er springen?«

»Fünf.« Kunstpause. »Für jeden.«

Jorge pfiff durch die Zähne. Trotz seines jungen Alters war sein Gebiss durch den jahrelangen Drogenkonsum lückenhaft.

»Muss ja ‘ne Wahnsinnsbraut sein.«

In einer Seitenstraße stoppte Mario den Thunderbird am Straßenrand und zog sein Smartphone hervor. Nach ein paar Klicks hielt er Jorge ein Bild unter die Nase.

»Das ist sie. Das Foto schick ich dir.«

Jorge zoomte die Aufnahme größer und verzog den Mund. »Was will er denn mit der? Ich kann ihm eine Bessere besorgen.«

»Darum geht’s nicht.«

»Worum dann?«

»Weiß nicht, aber ich glaube, es ist was Persönliches. Er will die und keine andere, hat er gesagt.«

Jorge schniefte und rieb sich die gerötete Nase. »Wenn er meint. Wo finden wir sie?«

»Sagt er uns noch.«

»Wann soll’s losgehen?«

»Bald.«

EIN ANRUF

»Ich habe eine Überraschung für dich, Schwesterherz!«

Anna grinste. Das war unverkennbar Julia. Keine langen Vorreden oder Floskeln, nicht einmal die Standardfrage nach dem Befinden. Nein, hatte ihre Schwester etwas auf dem Herzen, platzte sie so direkt damit heraus, dass man unbewusst zurückwich. Was hatte sie jetzt wieder ausgeheckt?

»Das errätst du niemals!«

Geduld zählte ebenfalls nicht zu Julias Stärken. Um sie ein wenig zu ärgern, zögerte Anna ein paar Sekunden, bevor sie die Frage stellte, auf die ihre Schwester sehnsüchtig wartete.

»Sag schon, was ist es?«

»Wir kommen zu Besuch!«

Hatte sie sich verhört?

»Nach Yellowstone?«

»Ach was, nach Amerika, genauer gesagt nach Florida.«

Das klang, als rede sie von der Nachbarstadt. Anna schüttelte den Kopf. Was sollte sie Julia antworten? Dass zwischen Yellowstone und Florida schlappe 2500 Meilen lagen, war ihrer Schwester offenbar nicht bewusst – oder schlicht egal.

»Anna? Bist noch dran? Freust du dich denn gar nicht?«

Die dritte Frage kam eine Oktave tiefer. Und Julia nannte sie beim Namen, was selten genug der Fall war. Nur, wenn es ernst wurde. Oder unangenehm. Mehr Vorwurf ging nicht.

»Klar freue ich mich, aber was erwartest du?«

»Dass du dich über das Wiedersehen ebenso freust wie ich! Thomas muss beruflich nach Miami, da haben wir uns gedacht, ich begleite ihn, wir hängen ein paar Tage Urlaub dran und wir vier könnten uns doch einfach dort treffen. Dann lerne ich auch endlich deinen Bill kennen.«

Wieder typisch Julia. Drei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Und selbstverständlich wurmte es ihre Schwester gewaltig, dass sie noch immer nicht dem Mann begegnet war, dessentwegen Anna Deutschland und ihrem Beruf als Ärztin den Rücken gekehrt, nach Yellowstone geflogen und dort geblieben war.

»Ich weiß nicht, ob das klappt, wir arbeiten hier zurzeit noch an unserem Wolfsprojekt.«

»Jetzt sag bloß, ihr beide seid da so unentbehrlich, dass ihr nicht mal eben ein paar Tage rüberkommen könnt.«

»Mal eben rüberkommen? Es ist dir vielleicht nicht aufgefallen, aber Miami liegt nicht um die Ecke, sondern rund viertausend Kilometer von uns entfernt.«

Sie biss sich auf die Unterlippe. Julia hatte eine fixe Idee und alle mussten sofort davon begeistert sein.

»Wie wäre es, wenn ihr nach Thomas’ Termin stattdessen zu uns in den Yellowstone kommt?«

»Waaas? In die Wildnis? Zu Grizzlys, Wölfen und Vulkanen? Auf gar keinen Fall! Erinnerst du dich nicht, was ich dir damals bei deiner Abreise gesagt habe?«

Die warnenden Worte ihrer Schwester hatte Anna nicht vergessen. Und ihr tränenüberströmtes Gesicht beim Abschied ebenfalls nicht.

Sie schwieg.

»Habe ich nicht recht behalten?«

»Wer immer unkt, hat irgendwann auch einmal recht.«

»Ich hab dir sofort prophezeit, dass es dort mordsgefährlich ist. Es hätte nicht viel gefehlt und wir könnten uns noch nicht einmal mehr am Telefon streiten, sondern ich müsste dein Grab besuchen, um dir meine Meinung zu geigen.«

Anna sagte nichts. Was sollte sie auch darauf erwidern? Bei ihrem Abschied aus Deutschland hatte sich Julia ernsthaft Sorgen gemacht. Und ja, sie war in große Gefahr geraten, doch was ihr und Bill dann in Yellowstone zugestoßen war, hätte niemand vorhersehen können, nicht einmal ihre notorisch pessimistische Schwester.

»Falls überhaupt noch etwas von dir übrig geblieben wäre, was man in ein Grab hätte legen können.«

Julia musste immer noch einen draufsetzten.

»Aber …«

»Nix aber. Wenn du unbedingt dort leben willst, okay, deine Entscheidung, aber mich kriegen keine zehn Pferde dahin. Ich bin doch nicht lebensmüde. Außerdem haben wir nur zwei Wochen Zeit, da ist es praktischer, wenn ihr nach Florida kommt. Das könnt ihr doch wohl einrichten! Schließlich haben wir uns schon so lange nicht mehr gesehen. Im Übrigen ist das Wetter in Florida viel schöner, da gibt es Sonne, Sand und Meer. Und ich wollte schon immer Miami Beach und die Florida Keys sehen und natürlich auch das Hemingway-Haus auf Key West.«

Anna atmete tief durch. Es war, als ob sie ein Bus überrollt hätte. Ihre Schwester bequatschte einen so lange, bis man entnervt die Waffen streckte. Reg dich nicht auf, womöglich wird es ja gar nicht so schlimm, sagte sie sich, bevor sie das Gespräch fortsetzte.

»Wann wollt ihr denn kommen?«

»Anfang bis Mitte Juli.«

Im Geiste schlug Anna die Hände über dem Kopf zusammen. Glücklicherweise sah Julia ihr Gesicht nicht. Manchmal hatte Telefonieren ohne Videoschalte Vorteile.

»Da werdet ihr in Miami und auf den Florida Keys eine wahnsinnige Hitze erleben. Im Sommer steigen die Temperaturen auf deutlich über 30 Grad, doch durch die hohe Luftfeuchtigkeit fühlt sich das noch weitaus höher an. Zudem ist Hurrikansaison. Glaub mir, jede andere Reisezeit wäre besser. Wie wäre es im Herbst oder Winter?«

»Ausgeschlossen, Thomas muss jetzt rüber. Wird schon nicht so wild werden. Du weißt, ich hab es sowieso lieber warm und sonnig. Ich könnte niemals in dieser Eiseskälte in Yellowstone leben.«

»Hier im Lamar Valley ist es im Sommer angenehm warm.«

»Und im Winter saukalt. Nein, danke. Also, ich gebe dir noch unsere Ankunftsdaten und unser Hotel durch, und dann sehen wir uns schon in zwei Monaten. Ich muss jetzt Schluss machen. Ciao, bis bald, Schwesterchen!«

Es klackte. Julia hatte das Gespräch beendet, ohne auf ihre Antwort zu warten. Seufzend legte Anna das Smartphone neben den aufgeklappten Laptop, an dem sie zuvor gearbeitet hatte. Nichts hatte sich geändert; dass Julia in ihrem Einfamilienhaus in Gießen und sie auf der Lamar-Buffalo-Ranch im Nordwesten des Yellowstone-Nationalparks lebte, spielte keine Rolle. Sie würde immer die kleine Schwester bleiben, der von der älteren gesagt wurde, was sie zu tun und zu lassen hatte. Wie alt musste sie werden, bis das endlich aufhörte?

Mechanisch klickte Anna auf das nächste Bild in dem Dateiordner, den Bill mit »Canyon Pack« betitelt hatte. Ein wunderschönes Foto von White Lady, der ehemaligen Leitwölfin einer der berühmtesten Wolfsfamilien im Nationalpark, poppte auf. Was hatte sie seinerzeit für ein Glück gehabt, auf einer ihrer ersten Erkundungstouren mit Bill im Yellowstone dieses majestätische Tier zu erleben, wie es seine Familie furchtlos gegen einen Grizzly verteidigte! Versonnen sah Anna auf das dicke weiße Winterfell, auf dem Schneekristalle im Sonnenlicht glitzerten, und gleichzeitig überkam sie eine Schwermut, als sie an das tragische Ende der liebevollen Wolfsmutter dachte. Nachdem skrupellose Jäger White Lady angeschossen und lebensgefährlich verletzt hatten, mussten Anna und Bill die Wölfin von ihrem Leiden erlösen. Bei diesem Gedanken fühlte sie einen schmerzhaften Stich ins Herz. Sie hörte wieder den Gnadenschuss und sah das letzte Zucken der White Lady, deren kleine Familie in jenem Winter beinahe gänzlich ausgelöscht worden war.

Niemals werde ich dich vergessen, White Lady, dich nicht und deine Familie auch nicht.

Mit dem Ärmel wischte Anna die Tränen weg, die ihre Wangen hinabliefen. Sie druckte das Foto aus und fuhr zärtlich mit den Fingerspitzen über den Umriss der prachtvollen Wölfin. Eine Träne fiel auf das Bild und verwässerte die noch nicht getrocknete Farbe just an jener Stelle, an der White Lady angeschossen worden war.

Deiner Tochter verdanke ich, dass ich noch lebe.

Anna zuckte zusammen, als jemand sanft ihre Schulter berührte. Bill hatte wohl schon eine Weile hinter ihr gestanden und sie still beobachtet. Seine warmen Hände fuhren über ihre Schultern und massierten ihre verspannten Muskeln.

Sie legte den Kopf in den Nacken, streckte die Arme und lächelte ihn an.

»Lass uns rausgehen. Ich brauche frische Luft.«

Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

»Von der Absaroka Range streicht noch ein kühler Wind ins Tal«, sagte er und reichte ihr eine Trekkingjacke. »Zieh die über.«

Sie schlüpfte in die Goretex-Jacke mit der Aufschrift »Yellowstone Wolf Projekt« und verzog das Gesicht.

»Tut deine Schulter noch weh?«

»Ab und an.«

Eine glatte Untertreibung. Kaum ein Tag verging, an dem sie die Schulter nicht schmerzte. Das verdankte sie Roy Hunter, der auch White Lady auf dem Gewissen hatte. Aber lieber biss sich Anna auf die Lippen, als einen Schmerzenslaut zu äußern. Auch wenn Bill als Indigener sie deshalb sicher nicht verachtet hätte, wollte sie sich ihm gegenüber nicht wehleidig zeigen.

Trotz der Maisonne, die vom strahlendblauen Himmel schien, war die Luft angenehm frisch. Es roch nach den ersten Blüten im Tal, und nicht weit entfernt, auf der anderen Seite der Straße, sprangen viele Bisonkälber übermütig im Spiel über die Grasebene. Pure Lebensfreude!

Anna lächelte. Sie zog den Reißverschluss der Jacke höher und zuckte zusammen, da der Schmerz der Schussverletzung wieder in ihre Schulter fuhr und sie daran erinnerte, dass in den vergangenen Monaten nicht alles großartig in Yellowstone gewesen war. Im vorletzten Winter waren sie mit Wilderen aneinandergeraten, und diese Begegnung hätte sie fast das Leben gekostet. Nur durch Bills beherztes Eingreifen und glückliche Umstände hatte sie überlebt. Seltsam weit entfernt kamen ihr die Ereignisse jener Tage vor, als ob sie eine fremde Person beträfen. Lag es daran, dass sie durch die lebensgefährliche Verletzung schon zwischen den Welten geschwebt hatte?

In der Ferne heulte ein Wolf und holte sie in Gegenwart und Wirklichkeit zurück. Neben ihr stand Bill, der mit seinem Fernglas ein kleines Espenwäldchen beobachtete. Seine schwarzen Haare, die er bei ihrer ersten Begegnung in Oregon als Ranger kurz geschnitten getragen hatte, fielen jetzt über die Schulter und glänzten im Sonnenschein. Er war nur wenig größer als sie und die lockere und bequeme Trekkingkleidung verriet seine für sein Alter bemerkenswerten sportlichen Fähigkeiten nicht. Immer wieder war sie überrascht, wie lange er auf Wanderungen ohne Essen und Trinken durchhielt und dabei, auch wenn es über Stock und Stein ging, ein Tempo anschlug, das jedem Marathonläufer zur Ehre gereicht hätte. Gewiss lag es an der seit frühester Kindheit genossenen Erziehung in der Tradition des Stammes der Nez Percé, auf die sein Vater Grey Owl großen Wert gelegt hatte.

»Dahinten.«

Bill reichte ihr den Feldstecher und wies mit dem Arm in südöstlicher Richtung.

»Siehst du die fünf Espen? Daneben kommt eine kleine Lücke und dann ein abgestorbener, zweigeteilter Baum, der aussieht wie ein Ypsilon.«

»Ja, den hab ich im Blick.« Angestrengt betrachtete Anna die Baumgruppe. »Neben dem toten Baum bewegt sich etwas.«

»Richtig. Im Gras spielen Wolfswelpen.«

Anna korrigierte die Schärfe im Glas und starrte gebannt auf die Stelle. »Da, ein graues Büschel. Und ein schwarzes!«

»Vermutlich die Sprösslinge des Junction-Butte-Packs. Die gebären traditionell immer zuerst ihren Nachwuchs, also schon Anfang April. Vielleicht haben sie heute das erste Mal die Wurfhöhle verlassen.«

»Könnten wir doch nur ein wenig näher ran.«

Bill schüttelte den Kopf. »Lieber nicht. Stehen wir mit Fernglas oder Spektiv auf der Straße, werden sofort Trauben von Touristen anhalten. Wir müssen die Tiere vor zu vielen Menschen schützen. Besser, wir beobachten sie von hier aus.«

Er verschwand im Haus und kam kurz darauf mit dem Stativ zurück, auf das er ein Spektiv montierte. Mit wenigen Handgriffen hatte er es eingerichtet, spähte prüfend hindurch und trat beiseite, um sie vorzulassen.

»Sie sind es. Schau selbst.«

Als Anna durch das Spektiv sah, trollten sich die Fellbüschel und verschwanden zwischen den Bäumen.

»Sie sind weg. Pech.«

»Mach dir nichts draus«, beruhigte sie Bill. »In den nächsten Wochen und Monaten werden wir reichlich Gelegenheit haben, sie ausgiebig zu beobachten.«

Anna schwieg und blickte auf den Boden.

Er sah sie von der Seite an. »Was bedrückt dich?«

»Ich hatte vorhin einen Anruf. Von meiner Schwester.«

Sie schaute in Bills ernstes, aber offenes Gesicht. Wie ein unsichtbares, geheimnisvolles Band flutete eine Welle der Gelassenheit von ihm zu ihr.

»Julia und mein Schwager Thomas kommen in die USA.«

Bill nickte und wartete, dass sie weitersprach. Geduldig ließ er seinen Gesprächspartnern Raum und Zeit zu erzählen, unterbrach sie nicht und erging sich nicht in vorschnellen Urteilen, sondern sah sie aufmerksam an, keine Gemütsregung bei seinem Gegenüber entging ihm. Seinen Namen Black Wolf trug er nicht zu Unrecht, so sensibel wie dieses Tier registrierte er die feinsten Schwingungen um sich herum.

»Warum freust du dich nicht darüber?«

Anna berichtete ihm von Julias Vorschlag. »Ausgerechnet jetzt, wo wir den Wolfsnachwuchs der verschiedenen Rudel beobachten können und hier noch so viel zu tun haben.«

Sacht legte ihr Bill den Arm um die Schultern.

»Wer weiß, wann du sie wieder sehen kannst. Du nimmst dir vierzehn Tage frei und fliegst nach Florida. Auf mich müsst ihr allerdings verzichten. Während der Hauptreisezeit wird es hier im Yellowstone vor Touristen nur so wimmeln.«

Sie sah lange in seine dunklen, warmen Augen, die so sanft im Sonnenlicht schimmerten. »Aber ich möchte mit dir zusammen sein.« Der Gedanke, von ihm getrennt zu sein, drückte ihr einen Kloß in den Hals. Nach den grausamen Erfahrungen mit ihrem verstorbenen Ehemann Paul hätte sie nicht erwartet, sich wieder einem Mann so anvertrauen und öffnen zu können.

»Komm doch bitte mit.«

Bill dachte eine Weile nach. »Ich spreche gleich mal mit Jeff. Er muss einverstanden sein, schließlich steht er als Projektleiter für alles gerade, besonders für die Finanzierung und die Ergebnisse. Vielleicht kann ich ihn überzeugen, indem ich in Florida Informationen für unser Pumaprojekt sammle.«

»Pumaprojekt? Davon habe ich noch nichts gehört.«

»Das wundert mich nicht, denn es liegt seit einiger Zeit auf Eis. Wir sammeln Daten über die Zahl der Tiere in den verschiedenen nordamerikanischen Habitaten. Über das Projekt wird jedoch nicht so viel gesprochen, weil sich im Yellowstone immer alles um die Wölfe dreht. Darüber hinaus sind Pumas im Vergleich zu den Wölfen äußerst schwer zu sichten, meist bekommen wir lediglich durch die Wildtierkameras Informationen über ihre Aufenthaltsorte.«

Fasziniert hört Anna seinen Ausführungen zu. Ein Gedanke schoss durch ihren Kopf. »Dann muss es ein unglaublicher Zufall gewesen sein, dass ich im Mount-Rainier-Nationalpark ein Pumaweibchen mit ihrem Jungen getroffen habe.«

Bill sah sie erstaunt an. »Wann war das?«

»Ein paar Tage, bevor wir uns damals in Oregon im Rogue River National Forest begegnet sind.«

Sie berichtete ihm von ihrer Wanderung, auf der sie den Pumanachwuchs aus einer tiefen Grube befreit hatte.

»Das war etwas ganz und gar Außergewöhnliches, geradezu Einmaliges, was du da erlebt hast.« Er nahm sie in die Arme und küsste sie. »Bereits bei unserer ersten Begegnung wusste ich, dass dein Herz genauso für Tiere schlägt wie meines.«

Einen Moment hielt er inne, dann nickte er, als ob er eine Entscheidung getroffen hätte.

»Ich werde Jeff vorschlagen, in Florida das Pumaprojekt aufzugreifen. Es gibt eine Verbindung von dir zu dieser Spezies, die uns helfen wird.«

Irritiert sah Anna ihn an. Manchmal war es für sie schwierig, seinen spirituell geprägten Gedankengängen zu folgen. Was meinte er mit einer Verbindung? Und wie kamen Pumas nach Florida?

»Pumas sind doch Berglöwen. Was willst du über sie in Florida erfahren?«

»Viele Menschen wissen nicht, dass an der Südspitze Floridas eine kleine Gruppe existiert. Sie werden auch Florida-Panther genannt. Beinahe ausgerottet, haben nur wenige in den Sümpfen überlebt. In den 70er-Jahren haben etwa zwanzig Tiere die Jagd überstanden, jetzt erholt sich ihr Bestand langsam wieder. Aber es ist noch ein langer Weg und wir wissen nicht viel über sie. Jede Information, die wir Biologen über sie sammeln können, kann für ihr Überleben von großer Bedeutung sein. Und wir bemühen uns auch immer, Quervergleiche herzustellen zu Populationen, die anderswo leben.«

Die Idee, das Pumaprojekt wiederaufleben zu lassen, hatte ein Feuer in ihm entfacht. Kein Zweifel, er würde alles versuchen, um sie nach Florida begleiten zu können. Ihre anfängliche Abneigung gegen den Vorschlag ihrer Schwester erlosch. Mit Bill an ihrer Seite war jeder neue Tag kostbar, egal, wo sie ihn verbrachten.

IN FLORIDA

Größer hätte der Kontrast nicht sein können. Von der Ruhe und Beschaulichkeit der Serengeti Nordamerikas, wie das Lamar Valley, das tierreichste Tal des Yellowstone, auch genannt wurde, tauchten sie in das quirlige Miami ein. Vom gleißenden Sonnenlicht, der drückenden Schwüle und der Fülle der Farben fühlte sich Anna vom ersten Moment an erschlagen, als sie die klimatisierten Innenräume des Flughafens verließen. Die Luft vibrierte von der allgegenwärtigen Musik, in deren Takt sich die meisten Menschen fortbewegten. Auch ohne Salsa und Co. gewahrte Anna nach wenigen Minuten ein stetes Grundrauschen, eine Lautuntermalung bei jeder Tätigkeit. Als ob man sie mit einer Raumkapsel in eine andere Welt katapultiert hätte.

War es erst zweieinhalb Jahre her, dass sie mit ihrem Mann einen Winterurlaub in Florida verbracht hatte? Und hatte sie damals nicht dieses pulsierende Leben genossen? Hätte Paul sie in jener Zeit nicht ständig schikaniert, wäre es ein perfekter Urlaub gewesen. Doch jetzt schrak sie zurück vor den Menschenmassen, der hektischen Betriebsamkeit und der Lautstärke. War sie durch ihr abgeschiedenes Leben im Yellowstone zu einer Einsiedlerin mutiert? Wann immer sie die Möglichkeit hatte, wanderte sie allein oder mit Bill in die Wildnis, lauschte den Vögeln, beobachtete Hirsche und Grizzlys, Kojoten und Wölfe. In jeder Jahreszeit folgte sie dem Herzschlag und Rhythmus der Natur, Städte und Menschenansammlungen stießen sie zunehmend ab. Schon bereute sie es, Julias Drängen nachgegeben und sich auf die Reise in das immer lebhafte und rastlose Florida begeben zu haben. Insgeheim hatte sie vor Reiseantritt befürchtet, dass sie sich hier fremd fühlen würde.

Sie sah zu Bill, der mit ausdruckslosem Gesicht stoisch das Gedränge um sie herum ertrug. Ihre Blicke trafen sich und ein geheimes Einverständnis umhüllte sie wie ein schützender Kokon. Nein, das war nicht mehr ihre Welt und gewiss nicht die seine.

»In den Everglades wirst du dich besser fühlen.«

Als hätte er ihre Gedanken gelesen. Wie eine unsichtbare Sänfte trug sie sein schlichter Satz durch die drängende, stoßende und in allen möglichen Sprachen schnatternde Menge.

Nachdem sie ihr Gepäck in Empfang genommen hatten, holten sie den reservierten Mietwagen ab, einen Nissan Pathfinder.

Pfadfinder, das passt, dachte Anna. Ob sie den Pfad des Florida-Panthers entdeckten?

Unkompliziert und schnell waren alle Formalitäten erledigt, sodass sie kurze Zeit darauf losfahren und die quirlige Metropole hinter sich lassen konnten. Bill hatte eine Unterkunft in dem ruhigeren Florida City reserviert, etwa 35 Meilen südlich von Miami. Über den Ronald Reagan Turnpike erreichten sie in einer Dreiviertelstunde eine Travel Lodge, die in den nächsten zwei Wochen ihre Unterkunft sein würde. Sie lag nur knapp zehn Meilen vom Everglades-Nationalpark entfernt und war so der perfekte Ausgangspunkt, um von dort in die Wildnis Floridas vorzustoßen.

Das schlichte, aber saubere und geräumige Zimmer mit zwei Kingsize-Betten wirkte einladend und Anna ließ sich mit einem Seufzer auf ihres fallen.

»Gute Matratze«, sagte sie und streckte sich aus. »Ich mache erst einmal ein Nickerchen.«

Bill verstaute ihre Kleidung im Schrank.

»Wann landen deine Schwester und ihr Mann in Miami?«

»Um 16.10 Uhr.«

»Holen wir sie vom Flughafen ab?«

»Hatte ich vorgeschlagen, aber Julia meinte, dass sie mit dem Taxi direkt zum Hotel fahren und sich erst mal ausruhen wollen. Thomas hat morgen tagsüber Termine, und Julia hat es offenbar nicht eilig, mich in ihre Arme zu schließen. Sie will den Tag am Pool und mit Shopping verbringen. Wir treffen uns dann alle morgen zum Abendessen. Thomas reserviert einen Tisch in einem Restaurant.«

»Was macht dein Schwager beruflich?«

Anna zögerte mit der Antwort. »Das kann ich dir nicht exakt beantworten. Auf jeden Fall ist er bei der Polizei.«

»Und was hat er hier in Florida zu tun?«

»Das hat mich auch gewundert. Aber ich habe Julia nicht gefragt, denn sie ist mir schon häufiger ausgewichen, wenn ich mehr über seinen Job erfahren wollte. Ich kann dir nicht einmal sagen, ob sie es selber nicht so genau weiß oder nicht darüber sprechen darf.«

Bill überlegte. »Viele Möglichkeiten gibt es nicht. Entweder handelt es sich um länderübergreifende Straftaten wie zum Beispiel organisierte Kriminalität oder Drogenhandel. Oder er ist beim Geheimdienst.«

»Thomas ein James Bond?« Anna lachte kurz auf und schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Du würdest dich wundern, wer dort alles arbeitet. Man sieht es den Menschen nicht an, und oftmals wissen nicht einmal die engsten Familienmitglieder darüber Bescheid.«

»Kennst du so jemanden?«

Bill schüttelte den Kopf. »Aber ich habe davon gehört. Mein Tipp geht eher in Richtung Drogenkriminalität. Dazu passt, dass er nach Miami kommen musste. Hier ist immer noch der Umschlagplatz Nummer eins für alle möglichen Drogen aus Mittel- und Südamerika.«

»Die dann nach Europa gebracht werden?«

»Und in die ganze Welt.«

»Ein gefährlicher Job.«

»Du sagst es.«

Das dritte Mal in fünf Minuten zog er sein Smartphone aus der Hosentasche und warf einen Blick auf das Foto.

Sorgfältig überprüfte er die Gesichter der weiblichen Fluggäste, die das Terminal verließen und die Zone für Taxis und Shuttlebusse betraten. Nicht, dass die geplante Aktion hier stattfinden sollte, zu viele Cops lungerten herum. Aber er vergewisserte sich lieber, ob die Zielperson überhaupt ankam. Alles war möglich. Flug verpasst, Notlandung wegen eines medizinischen Notfalls, selbst ein Flugzeugabsturz war denkbar. Er hatte immer gut daran getan, jede Eventualität in Betracht zu ziehen. Fremden Informationen traute er nur, wenn er sie selbst überprüfen konnte.

Er stutzte. Lief dort nicht die gesuchte Frau? Hinter einem Hünen, der über zwei Meter maß und unter Garantie satte dreihundert Pfund wog, passierte ein Paar mittleren Alters die automatische Glastür. Wieder checkte er das Foto. Kein Zweifel, sie war es, obwohl sie die Haare etwas länger trug und die Brille eine andere Farbe hatte. Das Muttermal neben dem linken Auge war unverkennbar. Der Mann an ihrer Seite sprach den ersten der wartenden Taxifahrer an, der daraufhin den Kofferraum öffnete und zwei riesige Koffer hineinwuchtete. Ohne die beiden aus den Augen zu lassen, eilte Mario zu seinem Auto, das er abseits geparkt hatte. Für diese Aktion hatte er nicht den knallroten Thunderbird genommen, der wäre selbst hier in Miami zu auffällig gewesen. Stattdessen hatte er sich von einem Kumpel, der ihm etwas schuldete, ein älteres Taxi organisiert. Unauffällig nahm er damit die Verfolgung auf.

Auf der Fahrt vom Flughafen ließ er sicherheitshalber stets ein oder zwei Autos zwischen sich und dem Zielobjekt. Zwar war es unwahrscheinlich, dass die beiden Verdacht schöpften, zu viele der gelben Ford-Taxis kurvten durch Miami, aber er machte es immer so. Bewährte Gewohnheiten änderte man besser nicht, das führte nur zu Fehlern.

Der Verkehr war dicht, er musste höllisch aufpassen, den Wagen nicht an den Kreuzungen zu verlieren. Die Fahrt ging über den Northwest River Drive vorbei am University of Miami Health System in Richtung Town Square, wo er von der 14. Northwest auf die 15. Northeast wechselte. Auf den Brücken über Venetian Island nahm der Verkehr ab und auf der Halbinsel Miami Beach wurde er geradezu spärlich.

Um nicht zu dicht hinter dem Taxi herzufahren, verlangsamte Mario das Tempo und ließ die Fensterscheibe herunter. Er stellte die Klimaanlage ab, inhalierte die salzige Luft, die vom Meer herüberwehte, und rollte entspannt dahin. Gäbe es nicht diesen Auftrag, hätte er die Fahrt auf dem Dade Boulevard genossen. Er überquerte Lake Pancoast und bog links ab. Bald darauf fuhr er durch die Straßenschlucht zwischen den mehr als zehnstöckigen Hotels, die das perfekte Ferienglück am Strand versprachen.

Das Yellow Cab vor ihm blinkte zweimal rechts, fuhr im nächsten Kreisverkehr eine Schleife und hielt vor dem Portal des Miami Beach Edition, einer noblen Fünf-Sterne-Absteige. Vom benachbarten Parkplatz aus beobachtete er, wie das Paar ausstieg, den Fahrer bezahlte und mit dem Gepäck die feudale Eingangshalle betrat. Er nickte zufrieden. All seine Informationen stimmten. Morgen würde er mit seinem Cousin den Plan, den er sich ausgedacht hatte, in die Tat umsetzen und die fünftausend Dollar einsacken.

ENTFÜHRT

Am Vormittag waren Anna und Bill mit dem Wildtierbiologen Sam im Everglades-Nationalpark verabredet. Da die Besprechung zum Pumaprojekt nur eine halbe Stunde dauerte, schlug Bill eine Wanderung auf dem Anhinga Trail vor. Es war der Lehrpfad des kleinen, aber feinen Royal Palm Visitor Centers, das von der ersten Anlaufstelle im Park durch ein Waldstück getrennt lag. Wie befürchtet, umschwirrten sie unzählige Moskitos, die sich nicht im Geringsten von dem Abwehrspray, das Anna auf jeden freien Quadratzentimeter Haut großzügig aufgesprüht hatte, abhalten ließen, sich mit ihrem Blut zu stärken.

Bill grinste, als sie vergeblich versuchte, die Biester mit einem Informationsheftchen zu vertreiben.

»Du bist wichtig für den Erhalt der Tierwelt in den Everglades, zum Beispiel für den Florida-Panther.«

»Wie das?«

»Für Moskitoweibchen ist dein Blut eine feine Mahlzeit.«

»Den Eindruck habe ich auch.«

»Sind sie gesund und kräftig, legen sie viele Eier.«

Beim Anblick der Moskitostiche, die kirschgroße Quaddeln hinterließen, zog Anna eine Grimasse.

»Super. Das bedeutet viele neue Quälgeister.«

»Die dann Vögeln und kleinen Fischen als Nahrung dienen, welche wiederum von Alligatoren und Panthern gefressen werden.«

Anna zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts.

»Du siehst also, mit deinem Blut unterstützt du den seltenen Florida-Panther.«

»Das habe ich mir so noch nicht überlegt.«

Bill lächelte. »So sehe ich es.«

Sie wanderten über einen Brettersteig in den Taylor Slough, einen der großen Wasserzubringer, der zugleich die Everglades drainierte. Dunkelgrün und geheimnisvoll schimmerte das Wasser vor ihren Füßen, kaum merklich war seine Strömung Richtung Süden, und vor ihnen erstreckte sich eine weite, stille Ebene, die von hohen Seggen bewachsen war. In der Nähe des Stegs stolzierten Störche, Ibisse, Silber- und Seidenreiher lautlos an ihnen vorbei. Im Verborgenen zirpte eine Grille, ansonsten war es still um sie herum.

»Siehst du den Schlangenhalsvogel dort? Nach ihm ist dieser Trail benannt, denn er heißt auch Anhinga. Er ist ein großer dunkelgefiederter Fischfresser mit einem sehr langen Hals. Etwa drei Fuß misst er, und seine Flügelspannweite beträgt fünf Fuß.«

In einer Entfernung von wenigen Metern schwamm der Vogel vor ihnen, tauchte plötzlich ab und kam nach ein paar Sekunden wieder an die Wasseroberfläche, einen Fisch am spitzen Schnabel aufgespießt. Mit einem Ruck warf er den Kopf in den Nacken, schleuderte die Beute in die Luft, fing sie geschickt wieder auf und verschluckte sie. Das Ganze mutete wie das Kunststück eines Zirkusartisten an.

Sie kehrten zum Ufer zurück, wo ein Alligator mit halb geöffneten Augen unbeweglich in der Sonne döste. Anna zückte ihre Kamera. Als sie auf den Auslöser drückte, schnappte das Reptil blitzschnell nach einer kleinen Schildkröte, die ihm unvorsichtigerweise zu nahe gekommen war. Mühelos zermalmten die gewaltigen Kiefer das Tier samt Panzer. Anna sah ihm entgeistert zu, in ihrem Hals drückte ein Kloß.

Kurz darauf lag der Alligator wieder träge an derselben Stelle.

»Auch Menschen essen Schildröten«, sagte Bill, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

Der dunkelbraune Van eines landesweiten Paketdienstes parkte unauffällig in der Seitenstraße. Niemand nahm Notiz von ihm, solche Lieferwagen waren bis spät am Abend unterwegs, seit die Menschen mehr denn je im Internet bestellten.

Ungeduldig trommelte Jorge auf das Lenkrad. Dank Cloud Nine war er hellwach und sprühte vor Energie.

Nichts und niemand würde ihm entgehen. Seine Augen sahen alles. Seine Ohren hörten das leiseste Geräusch. Und wenn er das Fenster aufmachte, witterte er wie ein Drogenspürhund. Aber er ließ es geschlossen, ebenso die Tür zur Fahrerkabine.

Das hatte Mario ihm eingeschärft; und der musste es wissen, schließlich hatte er den Plan ausgeheckt, wie sie die Chica schnappen würden. Manchmal schimpfte er über seinen Cousin, aber er machte verdammt gute Pläne. Immer hatte alles geklappt, also würde es auch diesmal glattgehen.

Er sollte auf Marios Anruf warten, dann mit dem Van vorfahren und die Ladung aufnehmen. Sie würden die Chica bei Rico abliefern, die Kohle einstreichen und abtauchen. Fertig.

So früh am Morgen waren kaum Menschen unterwegs, schon gar nicht zu Fuß. Hier in Miami Beach fuhr man mit dem Auto, egal, wie kurz die Strecke war. Man zeigte seine Karre, je auffälliger und teurer, desto besser. Ferrari, Lamborghini, Porsche. Marken, von denen er und all seine Kumpel nur träumen konnten. Wobei, Marios Thunderbird war auch nicht von Pappe. Ein karibikblauer Maserati röhrte an seiner verkratzten Paketkutsche vorbei, als sein Smartphone summte und die ersten Takte vom »Girl von Ipanema« erklangen. Endlich.

»Mario?«

»Ich komme mit dem Paket.«

Jorge setzte den Van zurück in die Seitenstraße und stieg aus. In dem braunen Overall sah er aus wie ein echter Paketbote. Als Mario mit einer silbernen Kiste auf einer Sackkarre um die Ecke des Miami Beach Edition bog, hatte er die rückwärtige Tür ganz geöffnet. Zusammen hoben sie den schweren Behälter auf die Ladefläche, verstauten die Karre und sprangen ins Führerhaus. Jorge gab Gas, dass der Motor aufheulte, und der Van schoss vorwärts. Ohne auf den Verkehr zu achten, bog er auf die Florida State Road Richtung Norden ab.

Mario stieß ihn in die Seite. »Pass auf, Alter. Und halt dich an die Geschwindigkeit, ich will nicht von den Cops kontrolliert werden.«

»Stress nicht, Mann. Hat sie sich gewehrt?«

»Bevor die Chica begriffen hat, was abgeht, war sie im Land der Träume. Sie schläft erst mal eine Weile, ich denke, bis wir sie abgeliefert haben. Fahr auf die 41. West.«

»Weiß ich doch.«

»Konzentrier dich.«

»Bin voll da.«

»Nicht so schnell, hab ich gesagt.« Mario warf ihm einen skeptischen Seitenblick zu. »Wie viel hast du eingeworfen?«

»Nerv nicht, ich weiß, was ich tue.«

Missmutig schüttelte Mario den Kopf, schwieg aber.

Jorge schnaubte und zog eine Schnute. Sein Cousin redete schon wie seine Mutter. »Wohin jetzt?«

»Sag ich dir noch. Rico schickt mir gleich eine Nachricht. Erst mal auf die Eins.«

Jorge setzte den Blinker. »Was hat er eigentlich mit der Chica vor?«

»Geht uns nichts an. Besser, wir wissen es nicht.«

»Hast recht«, brummte Jorge und fuhr auf die U.S. Route 1.

Nach knapp dreißig Minuten erreichten sie das Ziel, dessen Koordinaten Mario während der Fahrt von Rico erhalten hatte. Von der Straße aus war das Grundstück nicht einzusehen; das über fünfzig Jahre alte Haus lag versteckt hinter hohen Bäumen.

Mario nickte anerkennend. Der Chef hatte eine perfekte Wahl getroffen. Die Tür war verschlossen, der Schlüssel lag in einem Schlüsseltresor neben dem Eingang. Sie bugsierten die Kiste in einen fensterlosen Raum an der Rückseite, hoben die betäubte Frau heraus und legten sie auf eine Liege. Jorge betrachtete sie eingehend. Sie sah besser aus als auf dem Foto, doch sein Geschmack war sie nicht. Zu wenig Po und vor allem zu wenig Busen. Die Frau stöhnte leicht, schien aber noch völlig benommen.

Mario zog einen Lappen aus der Tasche seines Overalls, träufelte etwas von dem Narkotikum darauf und presste ihn auf ihr Gesicht. Binnen Sekunden gab sie keinen Mucks mehr von sich. Sorgfältig fesselte er ihre Hände und Füße und klebte ihr den Mund zu. Dann schoss er mit dem Smartphone ein Foto von ihr und schickte es Rico. Kurz darauf grinste er breit und hob den Daumen.

»Das Geld liegt im Kühlschrank, schreibt Rico.«

Jorge rannte in die Küche und kam mit einer Papiertüte zurück. Ungeduldig riss er den Klebestreifen ab und zog zwei Bündel Hundertdollarscheine hervor.

»Leicht verdientes Geld!«

»Gib her.« Mario steckte sein Päckchen ein, verriegelte die Tür und legte den Schlüssel wieder in den Tresor.

»Machen wir, dass wir hier wegkommen.«

Den Nachmittag vor dem geplanten abendlichen Treffen mit Julia und Thomas hatten Anna und Bill mit einem Spaziergang durch Miami verbracht. Die Häuserfassaden in Türkis, Pink und Rosa bildeten einen harschen Kontrast zu den sanften Grüntönen der Natur am Vormittag. Unzählige Palmen wiegten sich im leichten Wind, der die tropische Schwüle ein wenig erträglicher machte.

Anna war, als ob sie in eine Filmwelt eintauchten. Eine unterschwellige Vibration und ein Flirren in der Atmosphäre ließen ihr Herz schneller schlagen. Die Ruhe, die sie am Vormittag in den Everglades empfunden hatte, war verflogen. Feudale Villen, umsäumt von prächtigen Blüten in allen Farben, und elegante und teure Straßenflitzer zogen ihre Blicke an. In den Straßencafés herrschte quirliges Treiben, und sonnengebräunte Menschen, die Augen hinter Marken-Sonnenbrillen verborgen, zeigten ihre perfekt gestylten und trainierten Körper. Miami kam ihr vor wie ein gigantischer Werbeprospekt für Mode, Schönheit und Luxusgüter. Garantiert hatte hier jeder zweite regelmäßige Termine bei seinem plastischen Chirurgen oder Personal Coach. Was für eine merkwürdige Welt, eine Verheißung süßen Lebens und Reichtums ohne Anstrengung in dem »Land of Sunshine«.

Unbemerkt von all dem Glamour war die Sonne hinter einem dichten Wolkenvorhang verschwunden. Immer noch gleißend hell streute sie ein Zwielicht, das Annas Augen unangenehm war und sie blinzeln ließ. Einen überraschenden, kurzen, aber heftigen Regenschauer warteten sie in einem kleinen Café am Ocean Drive mit Blick auf den Atlantik ab. In den Bäumen vor dem Strand suchte eine Gruppe brauner Pelikane ebenfalls Schutz vor dem Platzregen.

Nach dem Schauer klarte die Luft auf und roch angenehm frisch. Vor dem Restaurant sah Anna auf die Uhr. Eine Minute vor sieben. Sie waren pünktlich. »Treffen um 19 Uhr, 700 Ocean Drive in Miami Beach. Soll ein Super-Fischrestaurant sein, sagt Thomas«, hatte ihre Schwester per WhatsApp mitgeteilt.

Und jetzt? Wer war nicht da? Anna wusste, dass Julia es mit der Pünktlichkeit nicht allzu genau nahm, trotzdem ärgerte sie sich auch nach so vielen Jahren und meilenweit von Gießen oder Frankfurt noch immer darüber. Die Abgeschiedenheit und Stille Yellowstones hatten sie nicht geduldiger und entspannter werden lassen. Merkwürdig nur, dass Julia zu spät kam, obwohl ihr Schwager an ihrer Seite war, denn der hasste ihre Unpünktlichkeit genauso wie Anna.

Ein Kellner führte sie und Bill zum reservierten Tisch und reichte ihnen die Speise- und die Weinkarte.

»Möchten Sie schon Getränke bestellen?«

Bill orderte zunächst nur Wasser und warf Anna einen Blick zu. »Bestimmt sind sie aufgehalten worden.«

Sie zuckte zusammen. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie die ganze Zeit zur Tür gestarrt und den Ober kaum wahrgenommen hatte. »Meinst du?«

»Urteile nicht, bevor du nicht weißt, was passiert ist.«

»Was?«

»In deinem Kopf kreist ein Gewitter.«

Ihr Ärger wuchs. Es war das erste Mal, dass er sie kritisierte. Hatte er das Recht dazu? Sie kannte ihre Schwester nur zu gut, er jedoch nicht. Während sie noch überlegte, ob sie sich vor ihm rechtfertigen sollte, trat Thomas an ihren Tisch.

»Hallo, Anna, schön, dich wiederzusehen. Sorry wegen der kleinen Verspätung.«

Er gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und streckte Bill die Hand entgegen. »Du musst Bill sein.«

Bill stand auf und schüttelte ihm die Hand. »Ich freue mich, dich kennenzulernen, Thomas.«

Unschlüssig blieb ihr Schwager stehen und sah sich nach allen Seiten um. »Ist Julia noch nicht da?«

Anna schüttelte den Kopf. »Ich dachte, ihr kommt zusammen.«

»Nein, wir hatten verabredet, uns hier im Restaurant zu treffen, aber du kennst ja ihr Verhältnis zur Pünktlichkeit.«

Er setzte sich. »Habt ihr schon bestellt?«

Bill schenkte ihm Wasser ein. »Wir wollten auf euch warten.«

Thomas tippte auf sein Smartphone, schüttelte aber nach wenigen Sekunden den Kopf. »Nur die Mailbox.«

»Vielleicht hat sie es nicht gehört?«

»Wahrscheinlich hat sie mal wieder beim Shoppen die Zeit vergessen.« Er griff zur Weinkarte. »Ich bestelle uns schon mal eine Flasche.«

Wie durch ein geheimes Kommando herbeigezaubert stand der Kellner an ihrem Tisch. »Sie wünschen?«

»Wir nehmen den kalifornischen Landmark Vineyards Overlook Chardonnay«, sagte Thomas lässig und nickte ihnen zu. »Ihr seid selbstverständlich eingeladen.«

Bill warf Anna einen kurzen Blick zu und zog minimal die Augenbrauen hoch und sie antwortete mit einem kaum merklichen Schulterzucken. Der Preis von 55 Dollar für die Flasche war auch ihr nicht entgangen.

»Habt ihr den 1955er Oldsmobile Convertible gesehen, der vor dem Restaurant geparkt ist? Der soll einer der am meisten fotografierten Wagen in Amerika sein.«

Das erinnerte Anna unangenehm an Paul. Wie so viele Männer begeisterte sich auch ihr Schwager für Autos.

»Nein«, stellte Bill lapidar fest.

Sie lächelte ihn an. Doch nicht alle, dachte sie beglückt.

Thomas sah ihn irritiert an und verzog das Gesicht.

»Harrison Ford und Gloria Estefan haben schon in diesem Restaurant gegessen.«

»Aha.« Ihr Schwager war mit einem Mal wie ein Fremder für sie. Hatte das ihr Aufenthalt in Yellowstone bewirkt?

»Und bekannte Filme wurden hier gedreht, ich meine, dieses Restaurant hat als Kulisse gedient.« Thomas legte den Kopf schief. »Ihr wisst schon, Miami Vice, Scarface, Bad Boys 3 und noch einige mehr.«

»Aha.« Bill wiederholte Annas Kommentar und zwinkerte ihr zu.

Ihr Ärger über seine Bemerkung von vorhin war vollends verflogen und sie schmunzelte. Sie verstanden sich ohne Worte.

Thomas' Smartphone summte. Anna stutzte – vor langer Zeit hatte sie diese Melodie gehört, aber welche war es? Dann machte es »klick« – passend zum Urlaub hatte ihr Schwager doch tatsächlich Jan Hammers Titelmusik von Miami Vice als Klingelton eingestellt! So eine Spielerei hätte sie ihm gar nicht zugetraut. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er wie einst Don Johnson ein blassblaues T-Shirt unter dem weißen Sakko trug.

»Wo bleibst du denn? Wir sind schon alle im Restaurant.«

Er stockte und lauschte, öffnete den Mund, sprach jedoch kein weiteres Wort. Kurz darauf beendete der Anrufer das Gespräch.

So blass hatte Anna Thomas nie zuvor gesehen. »Was ist los?«

Wie in Zeitlupe schüttelte er den Kopf, als hätte er eine Stimme aus dem Jenseits gehört. »Sie haben sie entführt.«

Hatte sie ihn richtig verstanden? Unmöglich, das konnte nicht wahr sein, sie befanden sich in einem drittklassigen Film.

Anna schaute zu Bill, aber der runzelte nur die Stirn.

»Julia?« Mehr brachte sie nicht raus.

Thomas nickte stumm.

»Wird ein Lösegeld gefordert?«, schaltete sich Bill ein.

Ihr Schwager starrte abwesend auf sein Smartphone.

Anna packte Thomas' Arm. »Was hat er denn gesagt?«

»Dass sie Julia haben.«

»Und was sollst du jetzt tun?«

»Auf den nächsten Anruf warten.«

SCHLAFLOSE NACHT

Bill und Anna hatten bei Thomas im Hotelzimmer übernachtet, und obwohl sie sich abwechselten, fand doch niemand für mehr als ein paar Minuten in einen ruhelosen Dämmerschlaf.

Anna zerbrach sich den Kopf, warum Julia gekidnappt worden war. Handelte es sich womöglich um eine Verwechslung?

Bill vermutete, dass es schlicht um Lösegeld ging. »Sie wäre nicht die erste Touristin, die von einer Bande entführt wird um Lösegeld zu erpressen.«

»Passiert so etwas nicht eher in Mittelamerika?«

»Hier in Florida sind wir gar nicht weit von dort entfernt. Vielleicht schwappt das jetzt auch zu uns herüber.«

»Was meinst du, haben sie Julia nur zufällig ausgewählt? Aber dann müssten sie doch damit rechnen, dass gar kein Lösegeld gezahlt wird, weil nicht alle Touristen superreich sind.«

Sie blickte Thomas an, aber der schwieg.

»Oder ist mir entgangen, dass ihr im Lotto gewonnen habt und jetzt Millionäre seid?«

»Quatsch«, erwiderte er schmallippig und zog die Stirn in Falten, »sind wir nicht.«