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Das ehemals besetzte Haus am Elbhang hat Kristina Wolland lange nicht betreten. Doch jetzt wird sie als Anwältin dorthin gerufen: Ein junger Mann ist verschwunden. Alles deutet auf eine Entführung hin. Ihre Recherchen führen sie in die eigene Vergangenheit. Hat das Verschwinden des Jungen mit dem Geheimnis um seine Zeugung zu tun? Oder hat sich der Schüler tatsächlich in die rechtsradikale Szene verstrickt? Welche Rolle spielt Karl, der ehemalige Leitwolf des Häuserkampfes? Das Geschehen spitzt sich zu, als es zu einer Bluttat in Altona kommt. Gemeinsam mit dem Beamten vom Staatsschutz entdeckt die Anwältin schließlich Zusammenhänge, die bis in die Nazizeit zurückreichen. So beginnt Kristina Wolland nicht nur einen Kriminalfall aufzuklären, sondern auch die Lebenslügen ihrer ehemaligen Kampfgenossen. Irene Stratenwerth hat mit ihrer Protagonistin eine sympathische Figur geschaffen, die sich auf sehr persönliche Art mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzt, Stellung bezieht und dabei auch noch die Zusammenhänge zwischen NS-Kriegsverbrechern und der heutigen Neonazi-Szene aufzeigt.
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Seitenzahl: 262
Irene Stratenwerth
Entführung am Fischmarkt
1
Die hohe Brandschutzmauer, auf die sie aus ihrem Bürofenster blickte, hatte sich im Laufe der Jahre verändert. Früher hatte die Anwältin unter dem abblätternden Putz immer wieder neue Fragmente von Bildern und Buchstaben entdeckt. Öle und Fette, Kakao und Kathreiner, ein ganzer altmodischer Kaufmannsladen war nach und nach zum Vorschein gekommen. Irgendwann wurde die Wand renoviert und gelackt, und kurze Zeit später gab es hastig hingesprühte Politparolen zu lesen. Und eine Liebeserklärung an eine Frau namens Vera. Es folgten großflächige, grellbunte Graffiti, die sie nicht mochte, die aber umso länger blieben.
Kristina Wolland stand auf, trat ans Fenster und versenkte ihre Hände in den hinteren Taschen ihrer Jeans. Ganz allmählich spürte sie, wie der Druck von ihr abfiel und sie wieder Augen für die Welt da draußen hatte.
An der Rückfront des Gebäudes, das von hier aus in ihr Blickfeld rückte, waren vier kleine Balkone angebracht. Jeder einzelne erzählte vom Leben seiner Bewohner. Bunte Blumen in Zinnkästen, blau gestrichene Eisenmöbel – ganz oben war ein kleines, mediterran angehauchtes Idyll entstanden. Wahrscheinlich saßen sie dort an lauen Sommerabenden zu zweit und tranken ein gutes Glas Wein. Eine Etage tiefer dominierte eine Satellitenschüssel das Geschehen, das Stillleben ergänzten zwei Bierkisten. Sie hatte auf diesem Balkon noch nie jemanden gesehen.
Im zweiten Stock vertrocknete seit einem halben Jahr ein unausgepackter Weihnachtsbaum. Wahrscheinlich wohnten dort solche Verrückten wie sie selbst eine war: Erst kamen sie vor lauter Arbeit nicht zum Feiern und dann verpassten sie auch noch den Termin, um den Baum wieder loszuwerden. In der Wohnung ganz unten hatte es anscheinend Nachwuchs gegeben. Der gesamte Balkon war durch einen Wäscheständer voller winziger Strampelanzüge belegt. Eine kleine eifersüchtige Sekunde lang spürte sie einen Stich in ihrem Herzen.
Links von dem Gebäude schloss sich ein Stück Brachland an, wie es in dieser Gegend immer seltener wurde. Wahrscheinlich hatte sich dort eines jener Zinshäuser aus der Gründerzeit angeschlossen, die für diesen Stadtteil so typisch waren. Ob es im Zweiten Weltkrieg durch eine Bombe zerstört worden war? Und warum war das Grundstück nicht längst wieder neu bebaut? Immerhin bescherte die Häuserlücke ihr etwas Licht in ihrem Büro. Und sie konnte ein Stück vom Himmel sehen. Er war blau. Es hatte endlich aufgehört zu regnen. Ein langer, kühler und viel zu nasser Frühsommer ging zu Ende.
Sie öffnete das Fenster. Ausnahmsweise war niemand da, der sich über die Zugluft beschweren konnte. Ceyda war zu ihren Verwandten in die Türkei gefahren. Für einmal blieb Kristina also die immer gleiche Litanei erspart: Dass sie sich als Büro ausgerechnet diesen ehemaligen Gemüseladen hatte aussuchen müssen; wo es fußkalt war und ständig zog; wo Ceyda, die doch immerhin eine voll ausgebildete Anwaltsgehilfin war, quasi im Schaufenster saß. Wo sie auch dann, wenn sie sich auf Schriftsätze oder Rechnungen konzentrieren musste, den Blicken und Anliegen aller, die von der Straße ins Büro hereingespült wurden, direkt ausgeliefert war.
Sie könnten sich längst etwas Besseres leisten, pflegte Ceyda dann oft noch zu sagen. Wenn Kristina Wolland, Fachanwältin für Mietrecht und Strafsachen, nicht die fatale Neigung hätte, immer genau die Mandate auf sich zu laden, die am wenigsten einbrachten.
Kristina schob sich mit einer mürrischen Geste eine ihrer dicken blonden Strähnen aus der Stirn. Sie würde Ceyda beim nächsten Mal ein für allemal erklären, dass sie sich gar nichts Besseres leisten wollte. Dass es ihr wichtig war, mit ihrer Kanzlei genau dort zu sein, wo die Leute sie brauchten. Kleine Handwerker, Studenten, Asylbewerber oder Kioskbesitzer. Leute, die Ärger mit ihren Vermietern hatten oder aus irgendwelchen Gründen mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren. Kristina war begeistert gewesen, als man ihr den Laden mit der großen Fensterfront zur Straße angeboten hatte. Das würde ihren Mandanten die Angst nehmen, eine Anwältin aufzusuchen. Und sie war froh, dass Ceyda für sie arbeitete, eine junge Frau aus dem Stadtteil, die mit ihren Landsleuten türkisch sprechen konnte.
Zwar hatte sich dieser Teil von Altona inzwischen verändert. Die kleinen Läden, Bäcker, Fleischer und Gemüsehändler hatten aufgegeben oder waren ins Einkaufszentrum gezogen. Sie hatten Geschäften Platz gemacht, in denen es Klamotten, schicke Wohnaccessoires oder Designermöbel für Hunde gab. Immer mehr der alten Mietshäuser wurden nicht mehr von Studenten-WGs und türkischen Großfamilien bevölkert, sondern waren frisch renoviert und in Eigentum umgewandelt. Die Leute, die dort einzogen, brauchten natürlich auch Anwälte. Aber in erster Linie, um sich gegenseitig das Leben schwer zu machen.
Ceyda hatte schon recht. Dass jemand aufgeregt durch die Ladentür hereinschneite, mit einem Brief vom Hausbesitzer oder einer Vorladung zur Polizei in der Hand, das kam immer seltener vor.
Nachdenklich zog sie sich eine ihrer Haarsträhnen über die Augen. Zum Friseur musste sie auch mal wieder. In einer Woche würde Michel kommen. Zum ersten Mal wurde ihr jetzt etwas flau bei diesem Gedanken.
Michel. Nach so langer Zeit kam er nach Hamburg zurück. Und sie wusste nicht einmal, wie lange er bleiben wollte. Aber an den Abschied, damals am Flughafen, erinnerte sie sich, als wäre es gestern gewesen.
Bis zuletzt hatten sie nächtelang diskutiert. War es richtig zu gehen? Oder musste man gerade jetzt, wo sich in diesem Land alles noch einmal veränderte, bleiben? Schließlich hatte er einfach gebucht. Und sie an jenem Tag auf dem Flughafen ein letztes Mal lässig in seine Arme geschlossen. „No pasarán!“, hatte er ihr ins Ohr geflüstert. Um dann so schnell wie möglich durch die Sperre zu verschwinden. In seinem bunten Wollpullover, den abgewetzten Leinenrucksack über der Schulter.
Damals wussten sie beide nicht, wann sie sich wiedersehen würden. Sie hätten nicht den Mut gehabt, sich vorzustellen, dass es ein Abschied für fast zwanzig Jahre würde.
Etwas in ihr begann zu flattern. Sie nahm sich vor, dieses Gefühl vollständig zu ignorieren. Es sollte nun wirklich nicht noch einmal mehr daraus werden als der Besuch eines alten Freundes. Michel hatte sich bei seinem Bruder einquartiert – so hatte sie ihn jedenfalls verstanden. Oder wollte er etwa bei ihr …?
Sie würde sich auf jeden Fall Zeit für ihn nehmen. Sie wollte ihm gern erzählen, was in ihrem Leben inzwischen alles passiert war. Und sie würde ihm zeigen, wie sehr sich die Stadt seit damals verändert hatte. Und irgendwann, früher oder später, würde Michel wahrscheinlich einfach wieder abreisen.
Sie setzte sich zurück an ihren Schreibtisch. Die Akten stapelten sich hier. Aber in den nächsten beiden Monaten wurde in den Gerichten nur noch das Nötigste verhandelt. Ihre Robe konnte sie erst einmal weghängen, vielleicht sogar in die Reinigung bringen.
Das Flattern war immer noch da. Michel. Wenn sie ihm die Stadt zeigen wollte, von der sie in den letzten Mails fast geschwärmt hatte … die kleinen Straßencafés, die Paddler, die an lauen Sommerabenden über die Fleete glitten, das südliche Flair, das mit dem Geruch von gegrilltem Fisch abends durch das Portugiesenviertel zog … Ehrlich gesagt, hatte sie in den letzten Monaten selbst wenig davon gesehen. Sie hatte ihre Abende nicht beim Galão oder Vinho Verde in den Straßencafés verbracht. Sondern wieder und wieder allein über den Akten.
Die Anwältin verschränkte die Arme hinter dem Kopf und streckte ihren Rücken durch. Keine schlechte Idee, ihr Büro heute mal etwas früher hinter sich abzuschließen und auf Erkundungstour zu gehen. Vielleicht erst einmal zu den Orten, an denen sie damals so viel unterwegs gewesen waren? In den Hafen, zum Fischmarkt, ins Schanzenviertel, zum alten Schlachthof? Sie schloss das Fenster, warf einen letzten Blick in ihren Terminkalender und schaltete den Anrufbeantworter ein. Ein paar Sekunden zu spät. Das Telefon hatte schon angefangen zu läuten. Und die Nummer, die im Display erschien, kam ihr nur allzu bekannt vor.
2
„Ich bin es“, sagte die noch immer vertraute Stimme. „Hella. Ich brauche deine Hilfe. Als Anwältin. Kannst du gleich zu mir kommen?“
Kristina schluckte. Sie spürte, wie Ärger in ihr aufstieg. Wie lange hatten sie sich nicht gesprochen? Fünf Jahre oder mehr? Ging Hella davon aus, dass sie gute Freundinnen waren? Gab es keine anderen Anwälte in dieser Stadt? Und konnte sie sich nicht wenigstens einen Termin geben lassen?
„Bitte“, setzte die Frau am anderen Ende der Leitung nach und klang für einen Augenblick ziemlich kläglich. „Es ist wirklich sehr dringend.“
„In Ordnung. Ich wollte sowieso gerade los. Ich komm dann mal kurz bei euch vorbei.“
Mit dem Fahrrad war Kristina in weniger als zehn Minuten dort. Sie hatte den Weg, der durch die etwas schäbig wirkende Parkanlage am Elbhang führte, in den letzten Jahren eher gemieden. Der Grünstreifen trennte die Stadt vom Fischereihafen. Eigentlich schade, dass sie in letzter Zeit so selten dort unten gewesen war, dachte Kristina. Sie mochte diesen Teil des Elbufers mit seinen Kühlhäusern, Räuchereien, Großhändlern und improvisierten Fischbratküchen. Früher hatten sie dort manchmal einen ganzen gefrorenen Lachs erstanden. Oder sie waren sonntags frühmorgens über den Fischmarkt gezogen und hatten fürs Frühstück eingekauft.
Und dann war sie auch schon angekommen. Das Haus, das auf halber Höhe über dem Fluss klebte, hatte sich ganz schön herausgemacht.
Auf dem lehmigen Vorplatz hatten sie damals stundenlang auf Bierbänken gesessen und diskutiert. Jetzt war dort ein liebevoll gestalteter Garten entstanden. Natursteine fassten Beete ein, in denen Sommerblumen blühten. Es gab mehrere kleine Sitzplätze mit Gartenmöbeln in bunten Farben.
Das Gebäude war vor über hundert Jahren erbaut worden, damals vermutlich als einfache Unterkunft für die Männer und Frauen, die im Fischereihafen arbeiteten. Jetzt hatte es an der Vorderfront großzügige Balkons bekommen, neue Holzfenster und einen Anstrich in einem Farbton, den man in letzter Zeit überall sah. Apricot, dachte Kristina. Das hätte uns damals jemand erzählen sollen. Aus dem autonomen Hausprojekt am Elbhang war eine stilvolle Wohnanlage geworden. Es gab sogar richtige Namensschilder mit Klingeln. „Karl Polaske“ stand auf einem Schild und auf einem anderen „Hella, Martin und Anton Stehr“.
Sie klingelte. Hella machte sofort auf. Mit ihrem langen roten Haar und den leuchtend grünen Augen war sie noch immer eine beeindruckende Erscheinung. Sie trug auch noch dieselbe Art Kleidung: wallend, vielschichtig und irgendwie raffiniert. Kein Wunder, dass die Männer damals reihenweise in sie verknallt waren, dachte Kristina. Hella hatte sich eben schon immer getraut, bunt und schillernd herumzulaufen. Während Kristina und ihre anderen Mitbewohnerinnen sich damals meist in verwaschenen blaugrauen oder grauschwarzen Kapuzenpullis und Jeans versteckten. Auch daran, so stellte Kristina mit einem kurzen selbstkritischen Blick auf ihre abgewetzte, schlammfarbene Cordjacke fest, hatte sich seitdem nicht viel geändert. Sie nahm sich vor, sich noch was zum Anziehen zu kaufen, bevor Michel kam. Endlich mal wieder etwas richtig Buntes.
„Komm rein“, sagte Hella. Wie selbstverständlich folgte die Anwältin ihr in die Küche. Seit ihrem Auszug war sie kein einziges Mal mehr hier gewesen.
Der Raum war kaum wiederzuerkennen. Die ausgemusterten Haushaltsgeräte, die sie damals vom Sperrmüll organisiert hatten, waren ebenso verschwunden wie die übrigen Möbelstücke, an die sie sich plötzlich leicht angeekelt erinnerte. Dort an der Wand hatten sie drei alte Oberschränke übereinandergestapelt, deren Plastikfurniere sich von den aufquellenden Spanplatten abhoben.
Jetzt gab es hier geschmackvolle Schrankelemente aus Vollholz. Der sechsflammige Gasherd signalisierte, dass man gern und gut kochte. An einer schlichten Metallstange hing professionell wirkendes Kochwerkzeug. In großen Gläsern wurden verschiedene Sorten Nudeln aufbewahrt. Keine Frage, in den Elbhang war Lebensart eingezogen.
Nur der große Tisch, den sie damals von Hellas Oma geerbt hatten, war immer noch da. Er stand wie eh und je in der Mitte des Raumes. Und auch Hella schien ihren Stammplatz über zwei Jahrzehnte hinweg erfolgreich verteidigt zu haben. Früher hatte sie stets neben dem Fenster gesessen, das einen weiten Blick auf die Elbe eröffnete. Inzwischen gab es an derselben Stelle eine zweiflügelige Balkontür.
Auf dem Tisch stand eine Kanne Tee, vor Hella eine große blaue Tasse. Sie könnte mir auch etwas davon anbieten, dachte Kristina. Aber sie wird es wahrscheinlich nicht tun.
„Es geht um Anton“, erklärte Hella, ohne sich um irgendeine Einleitung zu bemühen. „Er ist verschwunden.“
An der Pinnwand hinter ihr waren Fotos von einem lachenden jungen Mann mit halblangem rotblondem Haar zu sehen. Die Bilder waren irgendwo an einem Strand aufgenommen, der Junge hatte nur eine Badehose an.
„Wie alt ist er?“, fragte Kristina erstaunt.
„18. Nächstes Jahr macht er Abi.“
Anton. Das erste Baby, das am Elbhang zur Welt gekommen war. Kristina hatte dieses Kind von Anfang an geliebt. Hella war froh gewesen, wenn ihre Mitbewohnerin den quengelnden Säugling durch die Wohnung schleppte, bis er endlich einschlief. Und Kristina hatte es genossen, diesen kleinen, warmen Menschen auf dem Arm zu halten. Einen, der nicht mit ihr über politische Notwendigkeiten diskutierte und sie auch nicht an ihr juristisches Staatsexamen erinnerte. Sondern lachte oder heulte und Aufmerksamkeit forderte, in die Windel schiss oder seinen Löffel voll Brei quer durch die Küche warf, wenn ihm danach war. Dieser kleine Junge hatte für sie eine Verbindung zu Hella geschaffen, auch dann noch, als alles andere zwischen ihnen schon ziemlich verquer war.
„Meine Güte, er ist ja so gut wie erwachsen. Seit wann vermisst du ihn denn?“
„Seit gestern. Aber du brauchst mir jetzt nicht zu erzählen, dass man in diesem Alter mal frisch verknallt ist oder mit seinen Freunden um die Häuser zieht. Denn vorhin kam diese Mail. Von ihm. Oder wahrscheinlich nicht von ihm.“
Hella schob ihr einen Computerausdruck zu, der auf dem Küchentisch lag.
MEZ 22.06., 15.27
Wir haben Anton.
Sie besorgen 100.000.
Bis Übermorgen.
Schicken Sie seinen Vater.
Keine Polizei. Keine Presse. Keine Tricks.
Es geht um eine gerechte Sache.
Ein harmloses Stück Papier. Eine E-Mail, wie sie millionenfach jeden Tag verschickt wurde. Und doch war der Anwältin der Ernst der Lage sofort klar. Entführer mochten dumm und naiv sein, das wusste man. Aber das machte sie nicht weniger gefährlich.
„Hast du schon überlegt, ob du die Polizei …?“
Hella schüttelte entschieden den Kopf. „Auf keinen Fall. Das ist zu riskant. Wenn wirklich Kriminelle dahinterstecken …“
„Was denkst du denn, was es sonst sein könnte?“
„Na ja, es könnte auch sein, dass er selbst … Du kannst dir ja nicht vorstellen, was die in diesem Alter so veranstalten.“
Nein, kann ich nicht, dachte Kristina, und spürte wieder diesen kleinen eifersüchtigen Stich im Herzen.
„Du meinst, es könnte ein blöder Scherz sein, den er sich selbst mit ein paar Kumpels ausgedacht hat?“
„Eigentlich traue ich meinem Sohn so etwas selbstverständlich nicht zu“, stellte Hella klar. „Aber wenn er doch … wenn das rauskommt und die Polizei schon einen großen Einsatz gestartet hat, hat er eine Anzeige wegen Vortäuschung einer Straftat am Hals. Und ich eine Menge Kosten.“
„Stimmt“, sagte Kristina. „Wer mutwillig einen Polizeieinsatz auslöst, muss dafür zahlen. Und das kann sehr teuer werden.“ Es überraschte sie, dass Hella ihren Sohn einer solchen Herzlosigkeit für fähig hielt.
„Wo ist eigentlich sein Vater, wo ist Martin?“
Hella umklammerte ihre Teetasse mit beiden Händen, so fest, dass ihre Knöchel spitz hervortraten. Eine kurze Irritation huschte über ihr Gesicht. Dann fing sie sich wieder. „Der ist auf einer Trekkingtour in Nepal. Er ist gerade erst losgefahren und wahrscheinlich wochenlang nicht zu erreichen“, erklärte sie und klang dabei etwas vorwurfsvoll. Sie schwieg für einen Moment. Dann setzte sie hinzu: „Wir leben nicht mehr zusammen.“
„Ach so. Tut mir leid. Gibt es jemand anderen, der dich jetzt unterstützen kann?“
„Hier aus dem Haus sind fast alle verreist. Aber Kalle … ich hab ihn gleich angerufen. Er ist in seinem Haus in der Toskana, aber er kommt so schnell wie möglich. Heute noch, wenn er den letzten Flieger in Florenz erwischt. Sonst morgen ganz früh. Er kann auch das Geld besorgen. Hat er jedenfalls am Telefon gesagt.“
Natürlich Kalle. Wer denn sonst.
Im Grunde hatten sie sich alle doch immer ein wenig darüber gewundert, dass Hellas Wahl auf den eher farblosen, soliden Martin gefallen war. Und nicht auf Karl, den sie früher alle nur Kalle genannt hatten. Denn Kalle und Hella waren jahrelang die ungekrönten Regenten des Elbhangs gewesen.
Seine Position als Kopf der Gruppe war Kalle scheinbar ganz natürlich zugefallen. Er war der Älteste, der Erfahrenste und ohne Zweifel auch der Klügste von ihnen. Karl hatte sein Studium damals schon lange abgeschlossen und sogar promoviert. Und war trotzdem ein radikaler Systemkritiker geblieben. Er war es auch, der das Gebäude am Elbhang für sie ausfindig gemacht hatte: ein Wohnhaus, das seit Jahren leer stand. Ein typisches Spekulationsobjekt in attraktiver Lage. Eigentümer war eine dubiose Erbengemeinschaft, deren Mitglieder zum Teil im Ausland lebten und sich allesamt hinter ihrem Anwalt verschanzten.
In seiner leisen und bestimmten Art, mit seinen scharfsinnigen politischen Analysen hatte Kalle ihnen klargemacht, dass diese Hausbesetzung eine gute und notwendige Sache war. Er betonte dabei immerzu, dass er natürlich niemandem Vorschriften machen wolle. Die Entscheidung zu diesem Schritt musste schon jeder für sich alleine treffen. Schließlich, so pflegte er etwas eitel zu verkünden, brach man ja mit so einer Besetzung einige Brücken zur bürgerlichen Gesellschaft hinter sich ab.
Trotz allem Verständnis für die Gruppenmitglieder, die da noch Ängste oder Widerstände spürten, ließ Kalle aber ganz klar durchblicken, wohin der richtige Weg führte. Und dass man sich im Grunde nur selbst verriet, wenn man jetzt an dieser Sache zweifelte.
Kalle war einer, nach dessen Lob sie alle gehungert hatten.
Hella war anders. Die kühle politische Analyse war nicht ihre Stärke. Aber sie konnte wunderbar laut lachen. Und ebenso ausdrucksvoll in Tränen ausbrechen. Ein strahlendes Lächeln von Hella, beim Plenum neben ihr zu sitzen, gar in ihr Zimmer zum Tee geladen zu werden, das waren Privilegien, die den Begünstigten für ein paar Stunden über den zermürbenden Alltag im besetzten Haus erhoben. Selbst Kalle wirkte irgendwie anders, gelöster und weniger streng, wenn er spätabends noch bei Hella in der Küche saß. Ob die beiden jemals etwas miteinander gehabt hatten? Niemand hätte damals gewagt, direkt danach zu fragen.
Denn Hella konnte auch anders. Sie konnte ihre Missbilligung genauso wirkungsvoll zum Ausdruck bringen, wie sie gelegentlich Aufmerksamkeit und Zuwendung verschenkte. Gegen ihre demonstrativ vorgetragene Enttäuschung, weil es mal wieder niemand für nötig gehalten hatte, den Abwasch zu machen oder den Müll bis zur nächsten öffentlichen Entsorgungsstelle zu schleppen, war keiner von ihnen gewappnet. Hellas Imperium war auf Wärme und kindliche Freude, aber auch auf Wut und frostige Ablehnung gebaut. Und immer wieder auf Schuldgefühle. Als sie dann auch noch schwanger war, wurde sie endgültig zur Königin des Elbhangs.
Kristina versuchte, diese Erinnerungen schnell wieder zu verscheuchen. Vor ihr saß jetzt eine Frau, die in großer Not war und sie schweigend und erwartungsvoll anstarrte.
Nachdenklich erwiderte sie Hellas Blick. „Wenn du schon alles mit Kalle klargemacht hast, was willst du eigentlich noch von mir?“
„Ist doch ganz einfach“, erklärte Hella knapp, als ginge es um die selbstverständlichste Sache der Welt. „Du sollst herausfinden, wer dahintersteckt. Und das bitte so schnell wie möglich.“
3
Am frühen Morgen wurde Kristina von einem seltsam scharrenden Geräusch geweckt. Sie hatte ihr Handy auf stumm geschaltet und neben das Bett gelegt. Nun kreiselte das Gerät knurrend auf dem Holzfußboden herum.
Noch im Halbschlaf dämmerte ihr, dass es wichtig sein könnte. Gerade noch rechtzeitig ging sie dran. Zunächst hörte sie nichts als ein lautes Rauschen, im Hintergrund fremdes Stimmengewirr.
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