Erbin des Chaos - K. K. Summer - E-Book

Erbin des Chaos E-Book

K. K. Summer

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Beschreibung

Mitten im Wald führt Raik mit seinem Vater ein zurückgezogenes Leben, bis er eines Nachts ein verletztes Mädchen findet und es bei sich aufnimmt. Ihm wird schnell klar, dass Fenni kein gewöhnliches Mädchen ist und erfährt schließlich ihr Geheimnis: Sie ist der Fenriswolf, die älteste Tochter Lokis und somit die Erbin des Chaos. All die Geschichten, die er in seiner Kindheit über die nordische Mythologie gelesen hat, sind also wahr … Um ihrem Schicksal zu entgehen, wurde Fenni in der Menschenwelt versteckt. Aber als die notwendigen Gegenstände zur Einleitung des Weltuntergangs verschwinden, ruft Loki sie zurück in die Welt der Götter, nach Asgard. Nun liegt es an Fenni und Raik, die Gegenstände wieder zu beschaffen und so das Ende aller Welten zu verhindern.

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Seitenzahl: 379

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K. K. Summer

Erbin des Chaos

Erbin

Des

Chaos

K. K. Summer

IMPRESSUM1. Auflage 2020© Wortschatten VerlagIn der Verlagsgruppe MainzAlle Rechte vorbehaltenPrinted in GermanyWortschatten VerlagVerlagsgruppe MainzSüsterfeldstraße 8352072 [email protected] (0)241 87343413www.wortschatten.deGestaltung, Druck und Vertrieb: Druckerei und Verlagshaus MainzSüsterfeldstraße 8352072 Aachenwww.verlag-mainz.deLektorat:Lena Christine SchulteIllustrationen von Maja KöllingerUmschlaggestaltung:Nicole GanserAbbildungsnachweise:https://cdn.pixabay.com/photo/2018/03/05/09/36/snow-3200329_960_720.jpghttps://cdn.pixabay.com/photo/2017/09/12/02/30/wolf-2741085_960_720.jpgPrint:ISBN-10: 3-96964-000-8ISBN-13: 978-3-96964-000-5E-Book:ISBN-10: 3-96964-001-6ISBN-13: 978-3-96964-001-2

Prolog

Raik und die Wölfe

Raik

Raik liebte den Winter. Er liebte, wie alles nach und nach von einer weißen Schicht überzogen wurde. Auch liebte er, wie die Kälte in seine Nase und Wangen biss und diese rot färbte. Er liebte Schneeballschlachten, Schlittenfahrten und gemütliche Abende vor dem Kamin ihrer Holzhütte. Seit Raik denken konnte, hatte er hier mit seinem Vater Alvar gelebt, in einem Wald, tief in Norwegen. Alvar war ein Jäger und Wildhüter, der sich um die Flora und Fauna kümmerte. Als kleiner Junge hatte er seinen Vater gerne auf den Touren begleitet und so hatte er früh gelernt, was es heißt, sich um den Wald und die dort lebenden Tiere zu kümmern.

Genau wie sein alter Herr war er gern draußen in der Natur unterwegs und wollte einmal in seine Fußstapfen treten, aber noch war er ein Junge von kaum mehr als zehn Jahren – zu jung, um zu arbeiten. Er ging zur Schule und versuchte, so viel zu lernen wie möglich. Mathematik, Chemie, Physik. Nichts von alledem fesselte Raiks Interesse. Einzig Geschichte und Biologie vermochten dies. Es war ihm am liebsten, wenn sie in den Geschichtsstunden über die Göttersagen sprachen. Odin, Thor, Mjöllnir und Fenrir waren Namen, welche er wie seinen eigenen kannte. In der Freizeit begleiteten ihn die nordischen Gottheiten wie alte Freunde. Seinem Vater entlockte es jedes Mal ein Lächeln, wenn Raik ihn einmal mehr bat, ihm eine der Geschichten vorzulesen.

»Raik, du weißt, dass diese Sagen nicht wahr sind, oder? Die Götter mögen über uns wachen, aber sind so weit von uns entfernt, dass wir niemals etwas mit ihnen zu schaffen haben. Außerdem ist es so sicherer für uns.«

Er sah Raik streng an, bis dieser nickte.

»Ich weiß, Vater, aber ich würde sie so gerne treffen! Thor und Odin, vor allem Fenrir! Ein riesiger Wolf – ich wäre der beliebteste Junge der Schule!«

Raiks Augen strahlten vor kindlichem Übermut. Raiks Vater seufzte.

»Na gut. Komm, ich lese dir eine Geschichte vor.«

Raik klatschte begeistert in die Hände und ließ sich in die Welt der Asen entführen. Viel zu schnell war die Geschichte zu Ende und Alvar klappte das Buch zu.

»So, Raik, das war die versprochene Geschichte und ich muss nun los – es gibt Vieles, worum ich mich heute Abend kümmern muss.«

Enttäuscht blickte Raik seinen Vater an und zog eine Schnute.

»Aber du warst kaum hier! Ich wollte doch …«

Sein Vater allerdings ließ ihn nicht ausreden und schüttelte einfach nur den Kopf.

»Nein, Raik. Ich kann heute Abend nicht zuhause bleiben, es tut mir leid.«

Da leuchteten die Augen des Jungen mit einem Mal auf – er hatte eine Idee.

»Darf ich mitkommen? Dann wäre ich nicht alleine und könnte dir helfen!«

Sofort schüttelte Alvar den Kopf.

»Nein, das ist ausgeschlossen. Du bist viel zu jung, Raik. Sei ein braver Junge und bleib zuhause, ja? So wie sonst auch.«

Die Worte beruhigten Raik kein bisschen und er schaute noch finsterer drein.

»Das ist so gemein! Nie darf ich mitkommen!«

Sein Vater lachte.

»Bald, versprochen. Du musst nur ein bisschen Geduld haben«, versuchte Alvar den Jungen zu besänftigen.

Dieser schaute sogleich weniger böse drein und fragte: »Versprochen?«

»Versprochen. Und jetzt muss ich wirklich gehen – ich bin bald zurück, das verspreche ich dir.«

Mit diesen Worten stand der Alte von der Couch auf, zog seinen Wintermantel an und verließ die kleine Hütte.

Kaum dass er zur Tür hinaus verschwunden war, kam Leben in den kleinen Jungen. Langsam ging er vor dem Kamin im Wohnzimmer auf und ab, bis Raiks Blick auf das Buch fiel, aus welchem ihm sein Vater vor wenigen Stunden noch vorgelesen hatte. »Alte Sagen – nordische Götter und Helden« war der Titel. Er hob es auf und blätterte zu seinem liebsten Kapitel. Das über den Fenriswolf.

Nachdem er es einmal mehr gelesen hatte, senkte sich eine gespenstige Stille über das Haus. Nur das Knistern des Kamins war im Hintergrund zu hören. Raik blickte aus dem Fenster und bemerkte, dass erneut dicke, weiße Flocken vom Himmel fielen und die Erde unter sich begruben. Als er das Buch zur Seite legen und sich etwas zu essen holen wollte, erscholl ein unheilvolles Heulen aus dem angrenzenden Wald. Raiks Atem beschleunigte sich und sein Herz schlug schneller.

»Seit wann sind die Wölfe denn so nahe? Nie haben sie sich an unser Haus gewagt«, schoss es Raik durch den Kopf. »Da, schon wieder!«

Dieses Mal erklang das Heulen um einiges lauter und wesentlich näher als beim letzten Mal. Angst machte sich in Raik breit. Zwar brachen Wölfe keine Türen auf und normalerweise griffen sie auch nicht einfach an, wenn man sie in Ruhe ließ, aber ihr Verhalten war mehr als furchteinflößend. Vorsichtig ging er zum Fenster und spähte in die Dunkelheit hinaus. Gerade einmal ein paar Meter weit konnte er sehen, dann war da nur noch gähnende Schwärze. Der Schneefall hatte sich mittlerweile zu einem regelrechten Schneesturm entwickelt.

»Was soll ich tun?«, überlegte er verzweifelt. »Ich kann Vater nicht mit den Wölfen alleine lassen! Was, wenn ihm etwas geschieht?«

Die Angst schlich sich langsam an ihn heran und entließ ihn nicht mehr aus ihren Klauen. Er wusste, dass er nicht viel ausrichten würde, doch er musste wissen, ob sein Vater unversehrt war. Von einer grimmigen Entschlossenheit getrieben, rannte er, so schnell er konnte, zum Haken im Gang, wo sein Mantel hing. Er wickelte sich einen gestrickten Schal um den Hals und zog flugs die Winterstiefel an. Zum Schluss folgten die Handschuhe und die Mütze. Er war schon fast zur Tür hinaus, da kehrte er noch einmal um. Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn:

»Da hätte ich um ein Haar die Taschenlampe vergessen!«

Er beeilte sich, die Maglite aus dem Schrank zu holen. Nach kurzem Suchen fand er sie, steckte sie in eine dafür angedachte Schlaufe an seinem Gürtel und genoss das sichere Gewicht an der Seite.

»Solange sie die Wölfe von mir fernhält, ist mir alles recht.«

Raik durchfuhr ein Schauer. Sollte er das wirklich tun? Er biss entschlossen die Zähne zusammen, öffnete die Haustür und trat hinaus in das Schneetreiben.

Eiseskälte empfing ihn, als er auf den Wald zu stapfte. Der Schnee verhinderte, dass er weiter als ein paar Meter in die Ferne blicken konnte, und das machte dieses Unterfangen deutlich schwieriger. Zwar hörte er das beständig näherkommende Heulen der Wölfe, hatte aber bisher keinen zu Gesicht bekommen. Hatte er überreagiert und sie waren gar nicht so nahe, wie er vermutet hatte? Er schalt sich selbst einen Dummkopf. Was hatte er denn erwartet? Dass ein zehnjähriger Junge den Vater vor wilden Tieren schützen könnte? Er schüttelte den Kopf. Gerade als er umkehren und nach Hause gehen wollte, erkannte er es.

Schnee, so rot wie Blut.

Dunkle Sprenkel im sonst reinen Weiß.

Ihm stockte der Atem und sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Oft genug hatte er auf einem Jagdausflug das Blut eines verwundeten Tieres gesehen. Das war es nicht, was ihn so verängstigte, sondern eher, dass die Spur den Anschein erweckte, als wäre jemand verletzt und würde durch den Wald irren.

»Vater!«, schoss es ihm durch den Kopf.

Ohne weiter darüber nachzudenken, rannte er los, immer der Blutspur hinterher. Die kalte Luft schnitt in Raiks Lunge und sein Gesicht brannte. Er versuchte, den Schal über den Mund zu legen, aber dies verschaffte nur bedingt Linderung, da der Wind schneidend vor Kälte war. Immer mehr Blutspuren wurden sichtbar und mit jedem Tropfen stieg Raiks Angst. Kam er noch rechtzeitig?

Plötzlich lichtete sich der Wald um ihn herum. Zwar kannte er dieses Gebiet wie seine Westentasche, doch diese Lichtung kam ihm unbekannt vor. Hektisch blickte er sich um und suchte den Waldboden nach dem Verletzten ab.

Da! Dort vorn, in der Mitte der Schneise, sah er etwas Rotes. Um das Bündel hatte sich ein Blutfleck gebildet, der unablässig auf den umliegenden Schnee übergriff. Raik kam nicht umhin festzustellen, dass der rot gefärbte Schnee auf groteske Weise hübsch aussah. Er schlug sich diesen Gedanken schnell wieder aus dem Kopf und eilte in die Mitte der Lichtung. Als er erkannte, um wen es sich handelte, hielt er inne. Es war, Thor sei Dank, nicht Vater. Es war ein Mädchen. Es musste in etwa in Raiks Alter sein, vielleicht jünger. Ihre Lider waren geschlossen, aber Raik bemerkte, dass sie atmete. Erleichtert stieß er Luft aus.

»Ich muss mich schnellstens um sie kümmern, solange die Wölfe, oder was auch immer sie angegriffen hat, nicht hier sind!«, dachte er.

Er nahm allen Mut zusammen und beugte sich über das Mädchen. Unter der Kapuze des hellroten Umhangs konnte er erkennen, dass sie aschblondes Haar hatte und eher von zierlicher Gestalt war. Ihre Hände hatte sie an die Seite gepresst und zwischen den Fingern quoll langsam, aber beständig Blut hervor. Wenn er ihr nicht half, würde sie sterben. So kniete er sich neben das Mädchen und versuchte herauszufinden, wie er die Blutung stillen konnte. Natürlich hatte er kein Verbandszeug dabei, dumm wie er war. So vorsichtig wie möglich näherte sich seine Hand der ihren, welche über der Wunde lag. Er würde sie von dort entfernen müssen, doch er wollte ihr unter keinen Umständen wehtun. Kaum, dass er ihre Hand gestreift hatte, öffneten sich ihre Lider blitzschnell und sie hatte keine Sekunde später Raiks Handgelenke fest im Griff. Die Augen des Mädchens funkelten angriffslustig. Sie hatten eine sonderbare Farbe: wie ein Bernstein. Nie hatte Raik eine solche Augenfarbe gesehen, doch sonderbarerweise passte sie zu dem Mädchen.

»Was denke ich hier bloß? Los, sag etwas!«, ging es ihm durch den Kopf.

Die Fremde blickte ihn an, als wüsste sie nicht genau, was sie von ihm halten sollte. Für ein normales Mädchen war sie ungewöhnlich stark und die Wunde schien sie kaum zu spüren, obwohl stetig Blut herausfloss und sowohl die Kleidung als auch den Waldboden besudelte. Sie fing an zu sprechen, und die Worte, die aus ihrem Mund kamen, klangen andersartig und fremd in seinen Ohren. Es war eine Sprache, die er nicht sprach. Kam sie gar nicht von hier? Wie sollte ein ausländisches Mädchen allein in die Wälder kommen? Hatte sie ihre Familie verloren und sich dann verlaufen? Das war mehr als unwahrscheinlich.

»Es … es tut mir leid, ich verstehe nicht …«, stotterte er.

Das Mädchen legte den Kopf schief und blickte ihn einen Moment fragend an und dann begriff sie, was er meinte. Als sie wieder den Mund öffnete, verstand Raik jedes Wort.

»Was tust du denn hier? Für Menschen ist es in diesem Wald zu gefährlich! Die Wölfe hätten dich erwischen können. Oder Schlimmeres …«

Hektisch sah sie sich um und atmete auf, als sie nichts Ungewöhnliches entdeckte.

»Antworte!«

Als er keinen Ton von sich gab und sie weiter anstarrte, wurde das Mädchen wütend.

»Oder bist du nicht in der Lage zu sprechen?«

»Raik.«

»Mh, was?«, fragte das Mädchen verwundert.

»So heiße ich: Raik. Und … wie heißt du?«

Das Mädchen lachte bitter und schien eine Sekunde über die Frage nachzudenken.

»Ich habe viele Namen. Meine Familie nennt mich allerdings Fenni.«

Sie lächelte ihn an und er konnte nicht anders, als es gleich zu tun.

»Fenni, das ist ein ungewöhnlicher Name. Er gefällt mir. Du bist verletzt. Bitte, lass mich dich mit zu unserer Hütte nehmen. Dort bist du sicher. Wo hast du dich so verletzt?«

Gerade als Raik auf die Verletzung deuten wollte, bemerkte er, dass nichts mehr zu sehen war. Das Blut konnte man noch erkennen, aber es trocknete bereits und verklebte Fennis Kleidung.

»Was zum …?«

Fenni grinste ihn entschuldigend an.

»Halb so schlimm. Es sieht schlimmer aus, als es ist. Ich glaube, ich würde gerne mit dir kommen, hier draußen sind wir nicht sicher.«

Raik nickte, sprachlos und über alle Maßen verwirrt. Hatte er sich so getäuscht? Nein, Fenni war definitiv schwer verletzt gewesen. Nun schien die Wunde jedoch geheilt zu sein, auch wenn Raik sich nicht erklären konnte, wie das zustande kam. Sein Blick wanderte wieder zu Fenni, die sich gehetzt umsah, als würde sie einen Hinterhalt oder Ähnliches erwarten.

»Bitte, Raik, hör mir zu. Wir müssen fort von hier! Sie sind nahe, ich kann es spüren! Die Wölfe können sie eine Weile aufhalten, allerdings nicht lange genug …«, flehte sie.

Raik wusste nicht, was Fenni solch eine Angst einjagte, doch er erkannte in ihren Augen, dass sie sich fürchtete. Ohne darüber nachzudenken, griff er nach ihrer Hand.

»Los, komm, ich bringe dich zu uns nach Hause. Wenn Vater wieder zurück ist, kann er dir helfen, deine Familie wiederzufinden, ja?«

Er wartete nicht auf eine Antwort und lief los, in Richtung seines Zuhauses und zog eine erstaunte Fenni hinter sich her. Sie beide rannten, als wäre ihnen der Schneemensch höchst persönlich auf den Fersen. Schon bald stach Raik die kalte Luft in die Lunge und er musste sich zwingen, weiter zu atmen, auch wenn es ihm Schmerzen bereitete. Fenni an seiner Seite schien nicht einmal außer Atem zu sein.

Kurze Zeit später kam die Blockhütte in Sicht. Raik wollte aufatmen, da brach ein riesiger Wolf aus dem Waldstück zu seiner Rechten hervor. Das Tier war viermal so groß wie ein normaler Wolf und er überragte Raik um mehrere Köpfe.

»Nur keine ruckartigen Bewegungen. Vielleicht lässt er uns in Ruhe, wenn wir nur …«

Er merkte, wie seine Hand, die immer noch die des Mädchens umklammert hielt, zu zittern begann. Es war ihm peinlich, immerhin sollte er Fenni beschützen. Sie schien das alles nicht zu beunruhigen. Sie zeigte keinerlei Zeichen von Angst, im Gegenteil. Ihre Augen begannen zu leuchten und ein leises Lächeln breitete sich auf ihren Zügen aus.

»Was soll das? Wieso lächelt sie?«, dachte er entsetzt.

Als er sie danach fragen wollte, ließ sie Raiks Hand los und bewegte sich langsam auf den enormen, grau-schwarzen Wolf zu.

»Fenni, bist du noch ganz bei Trost?! Geh sofort von dem Wolf weg!«, zischte Raik panisch.

Er war wie angewurzelt stehen geblieben und konnte nicht anders, als das Tier anzustarren, welches ihn und Fenni aus intelligenten Augen betrachtete. Die Zähne gefletscht sah der Wolf schnell zu Fenni, die immer weiter auf ihn zuging. Die Hand ausgestreckt, sodass der Wolf daran riechen konnte. Sie drehte sich zu Raik um.

»Mach dir keine Sorgen, ich kenne ihn. Das ist nur Freki. Auch wenn der Name ›Der Gefräßige‹ bedeutet, so isst er keine Menschen. Wo hast du denn deinen Bruder gelassen? Geri? Bist du hier?«

Sie schaute sich suchend um und wie durch Zauberhand erschien ein weiterer Wolf. Er war dem ersten ebenbürtig, was Größe und Bedrohlichkeit anging. Sein Fell hatte eine etwas hellere Farbe, eher ein schmutziges Grau. Dieses Tier schien Raik nicht als Gefahr wahrzunehmen. Der Wolf hob die Nase und witterte. Kurz darauf stieß er ein hohes Winseln aus und stupste Fennis ausgestreckte Hand mit der Schnauze an.

Raik hatte alles mit angehaltenem Atem beobachtet und er dachte, sein Herz würde in dem Moment aufhören zu schlagen, da der Wolf Fenni berührte. Zu seiner großen Verwunderung biss der Wolf nicht zu, sondern schmiegte die Schnauze in die kleine Hand. Raiks Puls beruhigte sich dennoch nicht, er traute dem Frieden einfach nicht.

»Geri, Freki, was tut ihr denn? Euer Herr wird nicht erfreut sein, wenn ihr euch hier herumtreibt. Wie seid ihr über den Baum hierhergekommen? Seid ihr einmal mehr davongelaufen? Wie oft habe ich euch denn schon gesagt, dass ich nicht spielen darf? Ihr dürft ihm nichts davon sagen, versprecht es mir!«

Zuerst war Fennis Stimme voll sanfter Strenge gewesen, doch nun klang sie panisch und ängstlich, so als würde sie sich um das Wohlergehen der beiden sorgen. Raiks Gehirn konnte das alles einfach nicht verarbeiten und so starrte er weiter die Tiere und Fenni an, die sich mit ihnen unterhielt und Raik vergessen zu haben schien.

»Ihr müsst schnell zurück, hier in Midgard habt ihr nichts verloren! Wenn mein Onkel das herausfindet … bald werden seine Raben kommen und dann sind wir alle geliefert – ich allen voran!«

Die Wölfe sahen sie wissend an und die Augen wurden traurig. Beide stupsten Fenni ein letztes Mal an, drehten sich um und verschwanden so flink, wie sie gekommen waren, zwischen den Bäumen. Raiks Knie zitterten, und er war wie am Boden festgewachsen. Fenni riss ihn aus den Tagträumen:

»Raik, los. Ich habe schon zu viel Zeit vergeudet. Wir müssen uns verstecken!«

Sie schnappte sich Raiks Hand und zog ihn weiter. Widerstrebend löste er den Blick von der Stelle, an denen die Wölfe verschwunden waren, und stolperte hinter Fenni her. Nach wenigen Minuten lichtete sich der Wald und Raiks Heim kam in Sicht. Endlich! Er sandte ein Stoßgebet an die Götter und dankte ihnen. Mit zittrigen Fingern öffnete er die Tür und stürzte mit Fenni ins Innere. Raik schloss die Tür hinter sich und schob den schweren Riegel vor. Was immer da draußen war, konnte hoffentlich nicht nach drinnen zu ihnen gelangen. Zumindest hoffte er das inständig. Er ließ sich an der Tür hinabgleiten und sah das Mädchen, welches im kleinen Flur der Hütte stand, unverwandt an. Etwas an Fenni war seltsam. Sie schien zwar genauso alt zu sein wie Raik selbst, aber in ihrem Tun und ihrer Sprechweise unterschied sie sich von allen Kindern und auch Erwachsenen, die er kannte. Wer war bloß hinter ihr her? Und aus welchem Grund? Raik verstand die Welt nicht mehr. Als sich sein Puls und Atem wieder beruhigt hatten, sprach er Fenni an, die mit leerem Blick vor sich hinstarrte.

»Fenni, was …? Was sollte das alles? Wieso sind diese Wölfe so riesig? Das … das ist unmöglich! Das muss eine Täuschung gewesen sein! Und wieso hast du mit ihnen geredet, als würden sie dich verstehen? Wer ist dein Onkel und warum ist er hinter dir – was soll das alles? Fenni, rede mit mir!«, rief er.

Sie schenkte ihm keine Beachtung. Stand sie etwa unter Schock? Leicht berührte er sie am Arm.

»Fenni? Komm.«

Er nahm sie an der Hand und führte sie ins Wohnzimmer, wo er sie auf die Couch setzte und ihr ein altes Fell um die Schultern legte.

»Ich werde das Feuer im Kamin schüren – dann wird es gleich wärmer werden. Nur keine Angst.«

Als er gehen wollte, packte ihn plötzlich etwas am Handgelenk. Es war Fenni, die ihn mit großen Augen anstarrte.

»Ich … ich weiß, dass du viele Fragen hast, doch ich kann sie nicht beantworten. Nicht, ohne dich und alle Menschen in Gefahr zu bringen.«

Traurig sah sie zu Boden.

»Bitte, du musst mir glauben. Ich bin nicht böse und ich habe nichts Böses getan. Das einzige Verbrechen, dessen ich ohne Zweifel schuldig bin, ist, geboren worden zu sein. Ich weiß selbst, dass ich viel Unheil bringen soll, doch das, was ich mir wünsche, ist ein Freund. Eines Tages wirst du es verstehen, Raik Alvasson. Eines Tages werde ich dir alles zeigen können. Allerdings nicht hier und nicht jetzt. Du wärst nicht bereit dazu. Verstehst du das?«

Sie schaute Raik durchdringend an und er nickte automatisch. Bevor er noch etwas hinzufügen konnte, sprach Fenni weiter. Dieses Mal deutlich leiser und zaghafter:

»Aber … wäre es nicht möglich, dass ich bleibe?«

Was hatte sie da gerade gesagt? Nein, das war doch nicht möglich, oder? Das alles kam ihm zwar nur wie ein seltsamer Traum vor, aber trotzdem glaubte er Fenni. Er selbst hätte niemals gedacht, dass sie böse sei, immerhin war sie nur ein kleines Mädchen.

»Aber … werden deine Eltern nicht nach dir suchen? Sie vermissen dich sicher sehr und machen sich große Sorgen.« Fenni lachte auf.

»Glaube mir, sie wissen, wo ich mich aufhalte. Egal, wann oder wo. Sie können sehen, dass ich hier in Sicherheit bin, und ich denke, sie würden sich freuen, wenn ich bei euch bleibe. Nur für ein Weilchen, ja?«

Sie blickte ihn so liebenswürdig an, dass er gar nicht anders konnte, als ja zu sagen.

»Ja, wenn Vater nach Hause kommt, werden wir ihm alles erzählen. Ich bin mir sicher, dass wir ein Plätzchen für dich finden können.«

Ein breites Grinsen breitete sich zuerst auf Raiks und dann auf Fennis Gesicht aus.

»Willkommen in unserem Heim, Fenni, Freundin der Wölfe.«

1. Kapitel – Die Schrecken des Waldes

Neun Jahre später

Raik

»Raik, Fenni! Wo steckt ihr? Diese nutzlosen Kinder, wo treiben sie sich schon wieder herum, das darf nicht wahr sein! Neunzehn Jahre alt und immer nur Flausen im Kopf!«, hörte Raik Alvar vor sich hin schimpfen.

Er und Fenni dachten gar nicht daran, aus dem Versteck zu kommen und sich zu zeigen. Raiks Vater, Alvar, hatte zwar nicht Unrecht damit, dass sie sich oft wie Kinder benahmen, doch das störte die beiden nicht im Geringsten. Sich vor der Arbeit rund um die kleine Blockhaushütte zur drücken, war eine der leichtesten Aufgaben.

»Glaubst du, er ist weg?«, flüsterte Fenni nah an Raiks linkem Ohr.

Unwillkürlich durchfuhr ihn ein Schauer. Wenn sie ihm nah war, fühlte er sich gut und so, als könnte nichts und niemand ihm etwas anhaben. Er blickte sie an und schüttelte den Kopf.

»Ich bin mir sicher, er wird warten, um zu prüfen, ob das schlechte Gewissen uns aus unserem Versteck treibt.«

Ein schelmisches Grinsen erschien auf Fennis Gesicht, ebenso wie auf Raiks.

»Vielleicht sollten wir deinen Vater nicht so lange warten lassen«, schloss Fenni. »Irgendwann zieht er uns das Fell über die Ohren.«

Raik lachte leise.

»Du bist sonderbar, Fenni. Ich bin froh, dass du bei uns wohnst.«

Ihr Lächeln ließ sein Herz schneller schlagen.

»Ich auch. Du warst immer wie ein Bruder für mich. Du bist für mich da und hast mir geholfen, mich hier in dieser Welt zurechtzufinden.«

Für einen kurzen Moment huschte Enttäuschung über Raiks Gesicht. Er hatte sich, als er klein war, zwar eine Schwester gewünscht, doch mit den Jahren war Fenni etwas anderes für ihn geworden. Seine Gefühle für sie gingen tiefer, als sie für eine Schwester jemals gehen könnten. Über die Jahre hatte er das seltsame Mädchen mit den bernsteinfarbenen Augen kennen und lieben gelernt. Ja, er liebte Fenni, allerdings nicht wie ein Bruder seine Schwester. Nie hatte er so etwas bei einer anderen jungen Frau gespürt und war sich unsicher, wie er es ihr gestehen sollte. Wollte er das überhaupt? Denn sie schien Raiks Gefühle nicht zu erwidern.

Raik versuchte, sich nichts von der Enttäuschung anmerken zu lassen. Schließlich wollte er Fenni nicht als Freundin verlieren. Sie war die Einzige, der er alles anvertrauen konnte. Egal, ob seine Ängste und Sorgen oder das, was ihm Freude breitete. Das wollte er nicht missen, um keinen Preis. Auch wenn es wirklich seltsam war, dass sie niemals abgeholt worden war und auch nie jemand nach ihr gefragt hatte. Auch Raiks Vater hatte sich auf diese Tatsache keinen Reim machen können, doch Fenni schien es nicht weiter zu stören. Sie sprach niemals über ihre leiblichen Eltern und wenn sie sich an sie erinnerte, so behielt sie ihre Geheimnisse stets für sich.

»Raik? Wo bist du nur mit deinen Gedanken?«, fragte Fenni und rüttelte an seiner Schulter.

Er winkte ab. »Entschuldige, ist schon gut. Komm, wir sollten Vater nicht zu lange warten lassen. Sonst hast du mit deinen Befürchtungen recht.«

Er sprang aus dem Versteck auf dem Holzwagen und Fenni folgte ihm auf dem Fuße. Ihre Landung war auch um einiges graziler und leiser als seine eigene. Bereits seit sie klein waren, hatte er ihre Geschmeidigkeit bewundert. Sie erinnerte ihn an die Wölfe des Waldes. Immer wieder musste er an die seltsame Begegnung vor neun Jahren denken. Bereits damals hatte er gewusst, dass Fenni jemand Besonderes war, aber was genau sie so andersartig machte, hatte er bis heute nicht herausgefunden. Jedes Mal, wenn er sie darauf ansprach, wechselte sie abrupt das Thema. Es war zum Verrücktwerden! Sein Vater hatte dem Gebrabbel kleiner Kinder keine Beachtung geschenkt. Eine Tracht Prügel hatte Raik bezogen, da er sich solch einen Unsinn ausgedacht hatte. Ein Mädchen, das mit Wölfen sprach und Wunden wie durch Zauberhand heilen konnte – so etwas gab es nicht. Je öfter er beteuerte, dass es der Wahrheit entsprach, desto schlimmer wurde es. Irgendwann hatte er es aufgegeben, Vater zu erzählen, was damals passiert war. Auch Fenni war keine große Hilfe gewesen. Denn wann immer er sie in seine Argumentation hatte einbeziehen wollen, war sie bleich wie eine Wand geworden und hatte nichts weiter gesagt. Das hatte auch nicht gerade dazu beigetragen, dass Alvar ihm geglaubt hatte.

»Wölfe werden nicht groß wie Bäume und sie können auch keine Menschen verstehen. Außerdem haben kleine Mädchen keine besonderen Heilkräfte und hören wie von Geisterhand auf zu bluten. Du liest eindeutig zu viele Geschichten, deine Fantasie geht mit dir durch. Dieser Unsinn muss aufhören, Raik. Fenni wird nicht für immer bei uns bleiben. Ihre Eltern suchen sicher schon nach ihr und wenn sie die Kleine finden, dann wird sie gehen müssen. Häng dein Herz besser nicht an sie. Du weißt nicht, wie lange sie wirklich bei uns sein wird.«

Das waren seine Worte gewesen.

Raik hatte ihnen keine Beachtung geschenkt, denn als Fenni nach drei Jahren immer noch in der Hütte lebte, hatte selbst der alte Alvar aufgegeben. Niemand würde sie holen kommen. Keiner vermisste sie. Fenni schien diese Tatsache keineswegs zu stören – sie akzeptierte Alvar und Raik als ihre neue Familie und fügte sich schnell den täglichen Aufgaben. Trotz des Alltages merkte man ihr an, dass sie nicht in Raiks Welt gehörte und sich deutlich von ihm unterschied – manchmal benahm sie sich wie ein kleines Mädchen, doch in ihrer Weitsicht glich sie eher einer alten Frau. Vielleicht war es diese Mischung, die Raik wie magisch zu ihr hinzog. Eines wusste er genau: So einfach würde er sie nicht mehr aus seinem Leben verschwinden lassen.

»Raik, du träumst ja! Komm endlich!« Fenni nahm Raiks Hand, zog ihn auf die Füße und rannte so schnell, dass er ins Stolpern kam.

Sein Vater entdeckte Fenni zuerst.

»Mein liebes Kind …«, seufzte Alvar. »Was hast du denn dieses Mal angestellt? Ich kenne den Ausdruck in deinen Augen, das hat nichts Gutes zu bedeuten.«

Er legte den Kopf schräg und sah Fenni durchdringend an. Raik knickte unter diesem Blick immer ein, da ihm der Alte leidtat, der die meisten Aufgaben alleine stemmen musste. Seine Ziehschwester allerdings schien wenig Skrupel zu haben ihn zu belügen.

»Ich? Wie kommst du darauf, Alvar? Ich habe gar nichts angestellt!«, rief Fenni entrüstet aus und warf die Arme in die Luft. »Wieso bekomme ich immer alles zugeschoben? Glaubst du nicht, dass es dieses Mal Raik war?«

Sie zeigte anklagend mit dem Finger auf ihn. Er verstand nicht, warum sie so eine Szene daraus machte. Vielleicht lag es einfach daran, dass sie eine Frau und er ein Mann war. Da gab es einiges, was ihm nicht in den Kopf wollte. Im gleichen Moment lachte Alvar.

»Du denkst nicht, dass ich glaube, Raik würde etwas anstellen? Schon als kleiner Junge war er zu besonnen, um mir oder anderen Streiche zu spielen. Du hingegen …«

Er ließ den Satz unbeendet, denn er musste nichts weiter sagen. Sie wussten auch so, was er sagen wollte. Alvar schüttelte nur den Kopf und seufzte tief.

»Fenni, was soll nur aus dir werden? Mir ist klar, dass du keinen Mann brauchst, der auf dich aufpasst, das kannst du wunderbar allein.«

Fennis Grinsen wurde bei diesen Worten noch breiter.

»Es würde mir weniger graue Haare bescheren, wenn du dich einfach nur einmal wie ein normales Mädchen benehmen würdest, ja? Tu mir den Gefallen. Die Götter wissen, wieso ich dich als Ziehtochter verdient habe, und ich nahm die Herausforderung gerne an. Doch ich bin alt und mehr denn je auf euer beider Hilfe angewiesen. Hast du mich verstanden? Auch wenn ich dich wie eine eigene Tochter liebe, so glaube ich manchmal, dass der Trickster, Loki persönlich, dich zu mir geschickt hat, um mich auf die Probe zu stellen.«

Erneut entfuhr Raiks Vater ein Seufzer, so, als wäre er diese ewigen Predigten leid. Schnell huschte Raiks Blick zu Fenni neben ihm und zu seinem Erstaunen musste er feststellen, dass so etwas wie Furcht, aber auch Traurigkeit in ihren Augen zu erkennen war. Raik war verwirrt. Schon immer hatte Fenni sensibel auf die Erwähnung der Götter reagiert und trotzdem wusste er nicht wieso. Ist ihr Glaube an die alten Götter so tief verwurzelt, dass sie nicht so mit Loki in Verbindung gebracht werden möchte? Allerdings wusste sie, dass Alvar dies niemals mit bösem Hintergedanken sagen würde.

»Es tut mir leid, Alvar. Ich möchte dir nicht zur Last fallen. Immerhin hast du mich bei euch aufgenommen«, antwortete Fenni schuldbewusst.

Der Alte winkte ab. »Ach, ist in Ordnung. Es ist ja nichts passiert. Du bist und bleibst eben ein Wildfang, habe ich recht?«

Er strich ihr über den Kopf, wie er es gemacht hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war und wie damals schmiegte Fenni sich in die Berührung.

»Sie hat sich nicht verändert«, dachte Raik.

Auch ihr Kleidungsstil hatte sich zu damals nicht geändert. Sie liebte Kleidung, die man eher im Mittelalter vermutet hätte und sie wollte weder Kleider noch sonst etwas anderes Weibliches tragen. Eine Hose und eine Tunika, über der sie einen Taillengürtel trug, reichten ihr vollkommen. Sie weigerte sich ebenfalls, ihr rotes Cape abzulegen. Solange Raik zurückdenken konnte, hatte sie es stets getragen, selbst wenn sie schlafen ging. Auch erinnerte er sich nicht daran, dass sie sich jemals ein neues genäht hätte und trotzdem schien es ihr immer wie angegossen zu passen. Er schob es auf den Umstand, dass um Fenni herum ohnehin so oft komische Dinge geschahen, dass er diesen schon gar keine Beachtung mehr schenkte.

»Seltsam. Ich habe nie sonderlich viel darüber nachgedacht, aber jetzt …«

»Würdet ihr beiden mir einen Gefallen tun? Meine alten Knochen sind nicht mehr geeignet, um in den Wald zu gehen und Holz zu holen. Ihr seid jung und voller Energie. Tut ihr mir den Gefallen?«, riss Alvar Raik aus seinen Tagträumen.

Er musste sich kurz orientieren und stellte fest, dass sowohl sein Vater, als auch Fenni ihn amüsiert ansahen.

»Ähm, ja natürlich. Ich hole schnell die Axt und den Karren. Fenni, kommst du?«

Sie nickte. »Klar.«

Keine Stunde später war Raik mit Fenni im Schlepptau unterwegs durch den winterlichen Wald. Zwar war es nicht bitterkalt, aber die Null-Grad-Marke hatten sie in jedem Fall unterschritten. Raik zog den Kopf zwischen die Schultern, um die Ohren vor dem schneidenden Nordwind zu schützen. Seine Nase war inzwischen so rot wie die Christbaumkugeln zur Weihnachtszeit. Fenni neben ihm schien das, wie immer, nichts auszumachen. Als sie ihm einen Seitenblick zuwarf, begann sie leise, »Rudolph, the red-nosed reindeer« vor sich hinzusummen.

»Das ist nicht komisch«, knurrte Raik schlecht gelaunt.

»Und ob es das ist, du machst ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter. Dabei kann der Winter so herrlich sein«, antwortete sie fröhlich.

Ein unbestimmtes Brummen von Raik verriet, dass er davon nicht sonderlich viel hielt, aber er sagte nichts weiter.

»Sieh mal, da vorn ist schon die Stelle, an der dein Vater immer Holz holen geht. Es ist jetzt nicht mehr weit.«

Fenni schnappte sich die Axt vom Schlitten und machte sich sogleich ans Werk.

Zwei Stunden später war der Schlitten mit Feuerholz gefüllt und sogar Fenni außer Puste.

»So, ich glaube, das sollte erst einmal genügen. Komm, lass uns zurückgehen. Ich bin mir sicher, dass es bald dunkel wird«, beschloss Raik.

Seit dem Abend vor neun Jahren hatte er keine Lust länger als notwendig draußen zu bleiben, sobald die Sonne untergegangen war. Wer weiß, wann diese verfluchten Wölfe sich entscheiden würden wiederzukommen. Er erinnerte sich an diese Nacht, als wäre es gestern gewesen. Und auch wenn Alvar versucht hatte, ihm etwas anderes einzureden, so war er sich sicher, dass das, was er glaubte, gesehen zu haben, tatsächlich passiert war. Fenni wich seinen Fragen zu dieser Nacht stets aus und behauptete, dass sie sich an nichts dergleichen erinnern würde. Doch aus irgendeinem Grund glaube Raik ihr nicht.

»Da muss mehr dahinterstecken, als sie mir sagen möchte, so viel ist sicher. Mit logischem Menschenverstand ist es nicht zu erklären«, dachte er.

Zwar waren die Wölfe seit diesem Abend nie wieder aufgetaucht, aber Raik hatte immer das Gefühl beobachtet zu werden, sobald er den Wald betrat. Daher mied er ihn weitestgehend, doch wenn sein Vater ihn bat, war er nicht im Stande, abzulehnen. Bevor Raik das Seil, mit welchem der Schlitten gezogen wurde, wieder in die Hand nehmen konnte, fasste Fenni ihn am Arm.

Er blickte sie an und in ihren Augen blitzte der Schalk. Das konnte nichts Gutes bedeuten.

»Fenni, was zum …« Weiter kam er nicht.

Sie hielt Raiks Mund mit der Hand zu. »Pssst. Ich werde dir alles erklären. Ich weiß, dass du schon seit langem eine Antwort darauf suchst, was in den letzten Jahren passiert ist. Bisher warst du nicht bereit, aber ich glaube, jetzt bist du es. Oder bin ich es? Jedenfalls kann ich nicht länger warten. Es … schon vor ein paar Tagen ist etwas geschehen und ich – ich will dich nicht länger belügen. Ich musste dich hier in den Wald bringen. Doch du fürchtest dich viel zu sehr, niemals wärst du mir freiwillig hierher gefolgt.«

Wo sie recht hatte, da hatte sie nun einmal recht. Raik war sich nicht sicher, ob er nach dieser Ankündigung hören wollte, was sie zu sagen hatte. Er fürchtete sich vor dem Wald. Aber nun, da er Antworten auf seine Fragen bekommen konnte, sollte, nein, musste er zuhören – oder? Sie wollte ihn hinter sich herziehen, immer tiefer in den Wald. Raik allerdings stemmte die Füße in den Boden und wehrte sich gegen den Griff. Sie sah ihn direkt an und ihre Iriden schienen zu pulsieren.

»Raik, bitte. Vertrau mir einfach, okay? Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas passiert. Du wirst es verstehen, wenn du es siehst. Da bin ich mir sicher.«

Fennis Blick sprach eine andere Sprache als ihre Worte.

Raik zögerte. Sollte er mitgehen? Immerhin wollte er schon seit Jahren das Geheimnis lüften, welches diese seltsame junge Frau umgab. Und trotzdem …

»Was, wenn es gefährlich ist? Was, wenn ich Vater zurücklassen muss und er von nun an auf sich alleine gestellt ist?«, fragte Raik sich mit Schrecken.

Alvar war für sein Alter zwar gut in Form, doch an ihm nagte der Zahn der Zeit und er war nicht mehr in der Lage, die kleineren Gebrechen zu verstecken. Auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte, so war Raiks Vater mehr auf die Hilfe angewiesen, als ihm lieb war. Konnte er dann einfach gehen, ohne zu wissen, was ihn erwarten würde? Eine Antwort auf diese Frage war einfach gefunden: Ja, er konnte und musste. Dies war wohl die einzige Chance herauszufinden, was Fennis Geheimnis war. Raik wusste, dass die Neugierde ihm eines Tages zum Verhängnis werden würde, und trotzdem ignorierte er diese innere Stimme.

»Okay. Ich vertraue dir.«

Er nahm ihre ausgestreckte Hand und mit einem leisen Jauchzen rannte Fenni los. Sie war schnell. Sehr schnell. Wesentlich schneller als Raik und schon bald brannte Raiks Lunge vor Anstrengung und der kalten Novemberluft.

»Können wir … nicht etwas … langsamer laufen?«, japste er.

Fenni wandte ihm kurz das Gesicht zu und grinste. Etwas Wölfisches lag in diesem Ausdruck.

»Wenn wir zu langsam sind, dann kann ich es dir nicht mehr zeigen. Wir müssen uns beeilen, denn bevor der heutige Vollmond am Himmel steht, müssen wir im Herzen des Waldes, welcher ein paar Kilometer von eurem Haus liegt, sein. Sonst ist alles umsonst gewesen.«

Mit diesen kryptischen Worten wandte sie sich wieder ab und rannte weiter, ohne das Tempo zu drosseln. Hatte sie nun vollkommen den Verstand verloren?

»Wenn sie mich so hetzt, werde ich an Atemnot gestorben sein, bis wir dort ankommen«, dachte Raik, aber sparte sich die wenige Luft, die er hatte.

Er fühlte sich, als wären sie tagelang durch den immer dunkler werdenden Wald gerannt. Als er die bedrohlichen, dunklen Tannen vor sich sah, stemmte Raik wieder die Fersen in den Boden, sodass selbst Fennis außergewöhnliche Kraft nicht mehr ausreichte, um ihn zu ziehen. Vollkommen außer Atem beugte er sich vorn über, stützte die Hände auf die Oberschenkel und versuchte keuchend wieder zu Atem zu kommen. Jeder Atemzug schnitt in seine Lunge und er hatte das Gefühl, sie würde zerbersten.

»Was … zum Henker …?«

Allerdings kam er nicht weiter, da ihn ein Hustenkrampf schüttelte. Fenni strich ihm sanft über den Rücken.

»Es tut mir leid, Raik«, flüsterte sie leise. »Ich hatte keine andere Wahl. Mit Menschengeschwindigkeit wären wir zu langsam gewesen …«

Menschengeschwindigkeit? Raik hatte sich schon gewundert, wie sie so schnell hier hergelangt waren. Sein Gehirn konnte nicht verarbeiten, dass sie eine Wegstrecke von mehreren Kilometern innerhalb weniger Minuten zurückgelegt haben sollten. Und doch war genau das passiert, daran gab es keinen Zweifel.

»Schon … okay … sag mir endlich … was hier vor sich geht!«

Es sollte energisch klingen, aber da er außer Puste war, klang es alles andere als eindrucksvoll.

Fenni blickte ihn mitleidig an. »Es tut mir leid, dass ich dich so hetzen musste. Ich hatte ja keine Ahnung, dass ihr dermaßen zerbrechlich seid. Mir war zwar klar, dass ihr sehr leicht zu töten seid, aber das … Sei‘s drum. Komm, ich helfe dir. Wir dürfen nicht trödeln.« So packte Fenni Raik am Arm und legte den Arm um die Schultern. »Ich stütze dich, bis es dir wieder besser geht.«

Er nickte und die beiden setzten ihren Weg fort. Als sie die ersten Baumreihen passierten, überkam Raik eine ungute Vorahnung. Er wusste nicht, woher diese Vorahnung kam, doch das alles war ihm nicht geheuer. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Fenni, die schweigend neben ihm lief. Nie hatte er die junge Frau so ernst und still erlebt. Es machte ihm eine Heidenangst.

»Wenn selbst sie mit ihrem heiteren und sonnigen Gemüt ernst und nachdenklich ist, dann kann es nichts Gutes bedeuten. Was zur Hölle möchte sie mir hier, in diesem finsteren Wald, zeigen? Gehört sie einer geheimen Organisation an? Aber … woher kommen dann die übernatürliche Geschwindigkeit und die Kraft? Experimentiert sie mit Steroiden oder anderen Aufputschmitteln?« All das schoss Raik innerhalb weniger Sekunden durch den Kopf. Aber auf keine dieser Fragen hatte er eine Antwort.

»Fenni …«, sprach er sie nach einer Weile an. »Es geht wieder. Du kannst mich alleine gehen lassen.«

»Bist du dir sicher?«

Raik nickte. »Ja, es ist schon okay.«

Fenni hielt an und er trat einen Schritt nach hinten. Er musterte ihre Gestalt kritisch und konnte trotzdem nichts Außergewöhnliches an ihr feststellen. Bis auf … Nein, das musste er sich einbilden. Bestimmt sah er wegen Sauerstoffmangels Dinge, die gar nicht da waren. Unter Fennis roter Kapuze, welche sie stets aufzog, stachen zwei kleine, rechteckige Spitzen hervor. Zuerst hatte Raik sich keinen Reim darauf machen können, doch bei genauerem beobachten erkannte er, woran es ihn erinnerte: an die Ohren eines Tieres.

»Nein, an die Ohren eines Wolfes«, korrigierte er sich selbst.

Das war unmöglich – oder nicht? Langsam zweifelte er an seinem Verstand.

»Fenni, ich …«

Sie brachte ihn allerdings mit einer Handbewegung zum Schweigen.

»Nicht jetzt. Du wirst schon erfahren, was das alles zu bedeuten hat.«

Da sie auf keine seiner Fragen reagierte, fand Raik sich irgendwann damit ab und folgte ihr schweigend. Seitdem sie den dunklen Tannenwald oder »Wald der Götter«, wie ihn manche Bewohner der umliegenden Dörfer nannten, betreten hatten, war ihm mulmig zumute. Er hatte die Warnung, welche Alvar vor vielen Jahren ausgesprochen hatte, nicht vergessen. Alvar hatte ihn damals schwören lassen, den Wald niemals zu betreten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er sich dem Wald niemals weiter als ein paar Meter genähert, ganz zu schweigen davon, dass er hineingegangen. Als kleiner Junge hatte er die dunklen, undurchdringlichen Tannen furchteinflößend gefunden und als Jugendlicher hatte er immer noch einen gesunden Respekt vor ihnen.

»Dieser Wald ist mir nicht geheuer. Vater warnte mich, ihn zu betreten, und bis heute habe ich diesen Schwur gehalten. Ich hoffe, dass du einen guten Grund hast, um mich hierher zu locken. Ich muss ehrlich zu dir sein. Seit du bei uns bist, habe ich vermutet, dass etwas mit dir nicht stimmt. Einige Dinge ergeben keinen Sinn und … ich möchte endlich wissen, was es damit auf sich hat. Ich will mich nicht länger für dumm verkaufen lassen!«

Er war immer leiser geworden und hatte die letzten Worte nur geflüstert, aber Fenni schien dies nichts auszumachen. Sie verstand ihn trotzdem.

»Weißt du, Raik, es gibt einiges, das ich dir nie gesagt habe. Ich hatte Angst, es würde mich mehr zum Außenseiter machen als ohnehin schon. Ich wollte einfach nur zu eurer kleinen Familie gehören, aber je älter ich wurde, desto stärker wurde mir bewusst, dass ich meiner Vergangenheit und Zukunft nicht entkommen kann.«

Als Raik etwas erwidern wollte, brachte sie ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.

»Ich weiß, was du sagen willst, aber es stimmt nicht. Ich gehöre nicht zu euch – ich bin etwas Besonderes, allerdings nicht im positiven Sinne. Glaube mir, wenn wir endlich tief genug in den Wald vorgedrungen sind, wirst du es verstehen.«

Ihr Blick wurde traurig.

»Versprichst du mir eine Sache?«, fragte sie zaghaft.

Ohne darüber nachzudenken, sagte Raik: »Alles.«

Fenni fixierte ihn mit den Augen und sie schienen in der aufkommenden Dunkelheit zu glühen wie Fackeln in der Nacht.

»Bitte hab‘ keine Angst und hass‘ mich nicht. Egal was gleich passieren mag, ich bin die Fenni, mit der du die letzten neun Jahre verbracht hast.«

Raik nickte und ein ungutes Gefühl breitete sich in der Magengegend aus. War es wirklich eine gute Idee gewesen, Fenni sein volles Vertrauen zu schenken? Aber was war so schlimm, dass sie dachte, er würde sie anders behandeln? Hatte es vielleicht etwas damit zu tun, dass ihr Wolfsohren wuchsen? Kaum, dass er das gedacht hatte, hätte er sich am liebsten selbst geohrfeigt. Wie kam er denn auf eine solch absurde Idee? Niemandem wuchsen auf einmal Tierohren – das musste eine optische Täuschung gewesen sein. Er wollte nicht glauben, dass etwas mit Fenni nicht stimmte. Das durfte nicht sein, schließlich war sie Raiks Fels in der Brandung. Zu ihr konnte er immer kommen, egal, mit welchen Problemen. Sie hörte ihm zu, beruhigte ihn und half ihm. Was würde er tun, wenn sie nicht mehr da wäre? Raiks Herz zog sich bei dieser Vorstellung zusammen und er schluckte schwer. Raik war so in seiner Welt versunken gewesen, dass er zu spät bemerkte, dass Fenni stehen geblieben war. Er rempelte sie an, sie aber sah einfach nur starr nach vorne.

»Was zum …?«, begann er, doch kam nicht weiter.

Er folgte Fennis Blick, denn Fennis war starr auf einen Punkt vor ihnen gerichtet. Raik zog scharf die Luft ein. Was um alles in der Welt war das? Sollte das ein schlechter Scherz sein? Er rieb sich die Augen und als er sie wieder öffnete, sah er noch immer dasselbe. Es konnte keine Halluzination sein, oder? Sah Fenni das auch?

Er warf ihr einen Seitenblick zu und bemerkte, dass ihre Augen feucht glänzten. Selbst als kleines Mädchen hatte sie kaum eine Träne vergossen, und beim Anblick eines Baumes brachen die Dämme? Raik musste zwar zugeben, dass der Baum, vor welchem sie standen, gewaltig war. Er überragte die umstehenden Nadelbäume um mehrere Meter und der Stamm war so dick, dass es sicher zehn Männer gebraucht hätte, um ihn zu umfassen. Die Blätter erschienen Raik seltsam. Keine blaugrünen Nadeln, sondern leuchtend hellgrüne Blätter zierten die immense Krone. Zwar hatten sie hier im Norden nicht viele Laubbäume, aber im Biologieunterricht hatte er von diesen Bäumen gehört, die in anderen Teilen Europas weit verbreitet waren. Aber wieso wuchs ausgerechnet so ein Baum hier mitten in diesem Wald? Und warum sah er so gesund aus? Hätte ein Baum dieser Größe nicht schon vor langer Zeit jemandem auffallen müssen?

All diese Fragen schossen ihm innerhalb von wenigen Sekunden durch den Kopf, allerdings hatte er auf keine davon eine Antwort. Fenni neben ihm schien nicht gewillt, ihn zu beachten. Ihr Blick ruhte auf diesem sonderbaren Baum. Gerade eben war es Raik nicht aufgefallen, aber nun sah er es: Etwas über Bodenhöhe waren einige schwarze Linien deutlich zu erkennen. Es sah so aus, als würden sie eine Tür bilden. Aber wieso sollte jemand eine Tür in einen Baum ritzen?

Da gab es noch etwas, was Raik auf den ersten Blick nicht aufgefallen war. Der Baum war, trotz der immer dichter werdenden Dunkelheit, gut zu erkennen. Mehr als gut sogar. Es schien fast so, als würde er von innen heraus leuchten. Das konnte nicht stimmen, oder? Bildete er sich das alles nur ein? Denn das war einfach zu verrückt, um wahr zu sein!

»Fenni?«, begann er zaghaft. »Was sollen wir hier? Was willst du mir zeigen, das nur hier möglich ist? Was hat das alles zu bedeuten?«

Er hörte selbst, dass seine Stimme zitterte, doch es war ihm egal. Fenni schloss die Augen und atmete einmal tief durch, bevor sie den durchdringenden Blick auf Raik richtete.

»Raik … ich muss ehrlich sagen, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Vielleicht ist es das Einfachste, wenn ich erst einmal die Kapuze abnehme. Bitte, erschrecke dich nicht …«

Raik nickte und wappnete sich innerlich für das, was jetzt kommen würde. Fast schon provozierend langsam hob Fenni die Arme und zog die Kapuze nach hinten. Raiks Augen weiteten sich mit jedem Zentimeter, den sie unten rutschte, mehr.

»Das kann nicht … nein, das kann nicht …«, entfuhr es ihm.