Erdbeereis ist auch keine Lösung - Kerstin Kropac - E-Book

Erdbeereis ist auch keine Lösung E-Book

Kerstin Kropac

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Beschreibung

Cosi ist am Boden zerstört. Lenni, ihre große Liebe, hat mit ihr Schluss gemacht! Da findet ihre beste Freundin Klara Hilfe: Ihre Lieblings-YouTuberin postet täglich einen todsicheren "Ex zurück"-Tipp! Was dort so leicht klingt, macht die Sache jedoch erst recht kompliziert. Durch einen blöden Zufall kriecht Cosi direkt vor seinen Augen aus einer Mülltonne - ist das jetzt geheimnisvoll oder einfach nur total peinlich? Und soll sie wirklich mit dem Klassen-Nerd flirten, um Lenni eifersüchtig zu machen? Da ist Chaos vorprogrammiert! Zum Glück kann Cosi auf ihre beste Freundin zählen - und auf ihr Herz.

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Seitenzahl: 283

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Kerstin und Noa Kropac

Erdbeereis ist auch keine Lösung

Kerstin Kropac,Jahrgang 1973, arbeitet als freie Fernsehjournalistin für WDR, ZDF und MDR. Sie hat bereits zahlreiche Sachbücher veröffentlicht und schreibt für Jugendliche in der Arena-Reihe »Mein Leben«. Noa Kropacist 2001 geboren und schreibt, seit sie einen Stift in der Hand halten kann. Sie hat bereits den Schreibwettbewerb AbraPalabra gewonnen.

Die beiden sind ein schreibendes Mutter-Tochter-Duo und legen mit Erdbeereis ist auch keine Lösung ihren zweiten gemeinsamen Roman vor. Sie leben in Hamburg.

1. Auflage 2017 © 2017 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Isabelle Metzen Vignetten im Innenteil: Carolynn Yoe/Shutterstock ISBN 978-3-401-80662-4

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Inhaltsverzeichnis

1 Sonntag

2 Sonntag bis Montag

3 Montag bis Dienstag

4 Dienstag bis Mittwoch

5 Donnerstag

6 Donnerstag bis Freitag

7 Freitag bis Samstag

8 Sonntag

9 Zwei Wochen später

1 Sonntag

Mein liebster Lenni, seit wir uns getrennt haben, geht’s mir schrecklich. Jeden Tag rieche ich an dem Pulli, den du mir geliehen hast. (Deshalb kann ich ihn dir auch leider nicht zurückgeben.) Ich kann ohne dich nicht leben. Du bist meine große Liebe …«

»Sag mal, bist du verrückt?« Klara starrt mich entsetzt an. Nicht nur ein bisschen entsetzt. Sondern ungefähr so, als hätte ich meinen WhatsApp-Status gerade in »Ich habe meine Tage« umgeändert.

Ertappt zucke ich zusammen. »Was denn?«

»Das kannst du ihm auf gar keinen Fall schreiben!«, bestimmt meine beste Freundin und schnappt sich mein Telefon – vermutlich, damit ich nicht auf »Senden« drücke. Schmollend schiebe ich meine Unterlippe vor. Dabei rutschen meine Mundwinkel so weit nach unten, dass Klara meint: »Jetzt siehst du wie dieses Jammer-Emoji aus. Bloß weniger gelb im Gesicht.«

Ich hoffe, auch weniger rund. Manchmal kann ich es nicht leiden, dass Klara so direkt ist! In meinem jetzigen Zustand bräuchte ich viel mehr Liebe, Verständnis und Samtpfötchen-Behandlung von meiner besten Freundin. Also: Noch mehr Liebe, Verständnis und Samtpfötchen-Behandlung als sonst.

Stattdessen sieht Klara mich streng an. Zumindest kurz, denn dann guckt sie wieder ganz lieb und seufzt: »Ach, Cosi …«

Jaja, ich weiß schon, dass Klara mir nur helfen will. Schließlich ist sie meine herzallerliebste Lieblingsfreundin. Das hat sie erst gestern wieder bewiesen. Da ist sie nämlich sofort zu mir gerast, als ich in den Hörer geheult habe, dass Lenni mit mir Schluss gemacht hat. (Sprechen ging nicht – ich musste ihr erst eine WhatsApp-Nachricht schicken, damit sie wusste, was überhaupt los war.) Heute hat Klara sogar ihr Basketballspiel (ein Spiel! Kein Training …) abgesagt, um mit mir in die Eisdiele zu gehen, weil ich die Erdbeerbecher hier liebe und Klara meint, dass Eis der beste Seelentröster ist. Nur was meine Nachricht an Lenni angeht, da bleibt sie knallhart. Sie umklammert mein Telefon, als hätten ihre Eltern ihr gerade Handy-Verbot bis zum Abi erteilt …

»Und warum bitte kann ich ihm das nicht schreiben?« Meine Unterlippe fängt schon wieder verdächtig zu zittern an – mein nächster Heulanfall kündigt sich an.

Klara erkennt das natürlich sofort und rutscht auf der schwarzen Lederbank blitzschnell ganz dicht an mich heran, um behutsam ihren Arm um mich zu legen und mit ihrer watteweichsten Stimme zu erklären: »Du kannst ihm das nicht schreiben, weil Jungs da nicht drauf stehen.«

Das war’s! Jetzt kann ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sofort kullern sie über meine Wangen und landen in den rosa Resten meines Erdbeereisbechers.

»Nicht weinen, Cosi! Das wird schon wieder.« Hilflos versucht Klara mit diesen superdünnen Eisdielen-Servietten wenigstens ein paar meiner Tränen aufzufangen. Lächerlich – da müsste sie schon mit einem Handtuch kommen! Ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht so viel geheult wie in den vergangenen 24 Stunden, seit Lenni Schluss gemacht hat. (Genau genommen sind es noch gar keine 24 Stunden, sondern erst 23 Stunden und 41 Minuten. Allerdings die schlimmsten 23 Stunden und 41 Minuten meines ganzen dreizehn Jahre dauernden Lebens!)

Mein Lenni. Meine große Liebe! Nie wieder werde ich mich so verlieben. Das mit uns, das ist wie bei Romeo und Julia. Wie bei Bibi und Julienco. Eine unzertrennliche Liebe fürs Leben. Und jetzt? Jetzt ist es wie Romeo und Julia – ohne Romeo. Eine totale Katastrophe!

Dabei hat es mit Lenni und mir total süß angefangen – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Es war der erste Tag nach den Herbstferien. Die Jungs hatten sich so ein bescheuertes Spiel ausgedacht: Sie haben Wasserbomben mit einem Cola-Wasser-Gemisch gefüllt und sie dann durch die Gegend geworfen. Dabei ging es natürlich darum, die Wasserbomben zu fangen, damit sie nicht platzen. Klara und ich saßen gerade auf einer Bank auf dem Schulhof und haben den Jungs dabei zugesehen. Plötzlich drehte sich Lennard zu uns um und feuerte die Wasserbombe genau in meine Richtung. Da ich leider nicht so gut fangen kann, klatschte mir die Bombe an die Stirn, platzte und begoss mich von oben bis unten mit klebrigem Cola-Wasser. Sogar Klara neben mir ist noch halb nass geworden. Die Jungs haben sich weggeschmissen vor Lachen. Außer Lenni. Der hat ganz zerknirscht geguckt und kam mir sofort mit einer Packung Taschentücher zu Hilfe. Denn er ist zwar immer vorne mit dabei, wenn die Jungs Blödsinn machen, aber eigentlich ist er ganz lieb. (Die anderen Jungs haben erst betroffen geguckt, als es einen Riesenärger von unserer Klassenlehrerin gab.)

Frau Döring war noch nicht ganz fertig mit ihrer Standpauke, da hat Lenni schon wieder neue Wasserbomben aus seiner Tasche gezogen und mich dabei ganz schelmisch angegrinst und mir zugezwinkert. Ich habe mich irgendwie gefreut, schließlich ist Lenni der mit Abstand witzigste, sportlichste und netteste Junge aus unserer Klasse. Und er hätte die Cola-Wasserbombe schließlich auch jedem anderen Mädchen ins Gesicht werfen können. In der nächsten Pause hat er sich dann mit einem Schokoriegel bei mir entschuldigt und geschworen, nie wieder eine Cola-Wasserbombe auch nur ansatzweise in meine Richtung zu schmeißen.

Und so bin ich nach Schulschluss in allerbester Laune nach Hause zu Mama geflitzt und habe ihr mit leuchtenden Augen berichtet: »Ich glaube, Lenni ist verliebt in mich – er hat mich heute mit einer Cola-Bombe beworfen!«

Mama hat das Ganze natürlich nicht ganz so rosarot gesehen und kam sofort mit ihrer Kernseife angerannt, um mir die Flecken aus dem Parka zu waschen. Aber ich war mir von diesem Moment an sicher: Ich werde nie einen anderen lieben als Lennard. Meinen Lenni! (Mit dieser Wasserbomben-Geschichte zieht Mama mich übrigens noch heute auf. Schon deshalb konnte ich Lenni nie mit zu mir nach Hause nehmen. Die Story hätte Mama ihm glatt noch vor dem ersten »Hallo!« aufs Brot geschmiert!) Auf jeden Fall habe ich seitdem unsere Anfangsbuchstaben in jeden Schultisch geritzt, sie mit Edding an unsere Klotür geschrieben (in der Schule – nicht zu Hause) und auf Schmierblättern heimlich meine Unterschrift mit seinem Nachnamen geübt (zu Hause – nicht in der Schule). Drei Monate lang. Bis er mir vor vier Monaten am Valentinstag (endlich!) eine Karte an mein Fahrrad geklemmt hat. »Will you be my valentine?«, hat darauf gestanden: Willst du mein Valentinsschatz sein? Total romantisch. (Auch wenn es danach noch ein paar Tage gedauert hat, bis wir endlich zusammengekommen sind.)

Und jetzt ist es vorbei.

Ganz unromantisch.

Direkt neben der Skaterrampe hat er mich eiskalt abserviert, als ich ihn gerade mit einem Mini-Picknick überraschen wollte. »Ich kann ja keinen Schritt mehr ohne dich gehen«, hat er mich angemotzt. »Ständig willst du mich überraschen. Das ist überhaupt nicht mehr überraschend!« Und dann hat er tief Luft geholt und gesagt: »Ich habe keine Lust mehr, Cosi. Ehrlich. Mir reicht’s, du bist mir viel zu anhänglich. Tut mir leid, aber wir lassen’s!«

Daraufhin hat er sein Skateboard geschnappt und ist zu seinen Jungs abgedampft und ich stand da – zwischen den Rampen, völlig verlassen mit meinem Überraschungspicknickkorb in der Hand. Wenn ich daran denke, muss ich gleich noch mal doller heulen. »Aber wenn ich es ihm nicht schreibe, weiß er doch gar nicht, dass ich ihn trotz allem noch liebe«, schluchze ich und setze meine Brille ab, um sie an meinem T-Shirt trocken zu reiben.

Klara guckt mich skeptisch an und kratzt sich nachdenklich am Kinn. (Jetzt sieht sie selbst aus wie ein Emoji!) Dabei fällt ihr Blick auf mein T-Shirt. »Keep calm because I love you«, steht dadrauf. Reflexartig ziehe ich den Reißverschluss meiner Sweatshirtjacke bis zu meinem Kinn. Klara zieht ihre Nase kraus und meint: »Ich bin mir ziemlich sicher, dass er es weiß.«

Betreten sehe ich auf meine Hände, die nervös die Bügel meiner schwarzen Brille auf und zu klappen. Klara hat ja recht. Schließlich habe ich es ihm nach unserer Trennung bereits elf Mal geschrieben. In verschiedenen Varianten. Dazu noch das eine oder andere Herz-, Kussoder Heul-Emoji. Aber das behalte ich jetzt besser für mich. Meine Freundin scheint gerade nicht in der Stimmung für emotionale WhatsApp-Nachrichten zu sein. Zumindest nicht, wenn ich sie an Lenni schreibe.

Ich schniefe, setze meine Brille zurück auf die Nase und schiebe mir das letzte große Stück Erdbeereis in den Mund, das inzwischen allerdings leider ein wenig salzig schmeckt. Klara streicht mir weiter tröstend über den Rücken. »Meinst du, er vermisst mich wenigstens ein bisschen?«, nuschele ich, weil es immer so wehtut, wenn das kalte Eis an meine Zähne kommt.

»Ihr habt euch doch erst gestern getrennt.«

»Ja, eben!«, wimmere ich und bräuchte schon wieder ein Handtuch. Ich will meinen Lenni zurück! Sofort! Ich werde nie wieder einen Jungen finden, der gleichzeitig so lieb und so lustig ist. Ich kann mir mein Leben ohne ihn nicht vorstellen. Die letzten 23 Stunden und 48 Minuten waren schon der Horror. Da möchte ich mir gar nicht ausmalen, wie trostlos ein ganzes Leben ohne ihn wäre! Von Schluchzern geschüttelt, frage ich meine Freundin zum bestimmt hunderttausendsten Mal: »Was mache ich denn nun?«

Klara weiß es auch nicht. Aber sie ist überzeugt, dass meine Nachrichten alles bloß schlimmer machen. »›Willst du was gelten, mach dich selten‹, sagt meine Tante Vero immer.«

Ich sehe Klara unbeeindruckt an. »Als deine Tante jung war, gab es ja auch noch kein WhatsApp!« Damals hatte wahrscheinlich noch nicht einmal jeder ein Telefon. Ganz zu schweigen von Instagram. Oder Snapchat. Da hat man sich ja ganz automatisch selten gemacht. Vermutlich musste man sich sogar noch Briefe schreiben, wenn man sich etwas sagen wollte. Oder man musste den anderen besuchen …

Ich stutze. Besuch! Daran habe ich ja noch gar nicht gedacht. Unsere französischen Austauschschüler! Entsetzt starre ich Klara an. »In zwei Wochen kommen ja unsere Austauschschüler!«

Klara nickt und sieht mich fragend an.

Wegen dieses Austauschs war ich schon die ganze Zeit ein bisschen nervös. Aber jetzt macht mich der Gedanke an unsere französischen Gäste beinahe wahnsinnig. Ich bin nämlich nicht die Einzige, die wegen des Austauschs aufgeregt ist. Die Jungs aus unserer Klasse (abgesehen von Lenni – zumindest bislang!) reden seit Wochen über nichts anderes als über die französischen Mädels. Ich meine: Gerade den Französinnen eilt ja ein gewisser Ruf voraus … Die sind très charmant und très jolie. Also insgesamt très unerfreulich – erst recht, wenn sie bald in unsere Klasse kommen und Lenni kennenlernen. Denn um ihn werden sich die Französinnen garantiert reißen. Und um Ben vielleicht. Wir nennen ihn immer »Mr Cooligalinski«, weil er schon zwei Jahre älter ist als wir und sich überhaupt nicht für uns interessiert. Mit keinem wechselt er auch nur ein Wort. Dabei hat Lenni es eine Zeit lang mehrmals versucht, weil Ben genau wie er skateboardet. Aber Ben hat alles abgeblockt. Nur mit Gregor redet er manchmal. Ausgerechnet mit unserem absoluten Außenseiter-Freak Gregor. Echt merkwürdig. Sobald es nach dem Unterricht zur Pause klingelt, ist Ben – zack! – verschwunden. Deshalb zählt Ben auch nicht – bleibt eben nur Lenni. »Hoffentlich verliebt sich Lenni nicht in eine französische Austauschschülerin!«, jammere ich. Dann stocke ich. »Und hoffentlich verliebt sich auch keine französische Austauschschülerin in Lenni. Das wäre das Schlimmste!«

Klara schaut mich mitleidig an. Dann schlägt sie plötzlich ihre Hand auf den Mund – Klaras typische Reaktion auf brenzlige Situationen aller Art. Allerdings macht sie das nicht wegen meines Austauschschülerinnen-Problems, sondern weil sie gerade auf die Uhr geguckt hat: »Mist! Ich müsste längst zu Hause sein.«

Mit dem Zipfel meines Ärmels wische ich mir ein paar Tränen aus den brennenden Augen, um an der Wand über dem Tresen die Uhr entziffern zu können – an mein Handy lässt Klara mich ja nicht. 18:15 Uhr. Im Augenwinkel sehe ich, wie Klara mich erst mustert und sich dann lächelnd auf die Unterlippe beißt. »Du erinnerst mich gerade ein bisschen an Abigail.« Abigail ist Klaras Ratte. Sie ist ziemlich hässlich und hat knallrote Glupschaugen. Prompt startet in meinem Kopfkino ein Faceswap: Meine langen dunklen Haare verwandeln sich in weißes Fell, meine blasse Haut wird heller, meine Nase rosa, meine Brille verschwindet und meine dunklen Augen glühen feuerrot. Hoffentlich begegnen wir jetzt keinem! Klara grinst mich schief an, so als hätte sie die Bilder in meinem Kopf gerade mitgeguckt. (Ich habe häufig das Gefühl, dass Klara direkt in mein Innerstes gucken kann. Mama meint, Klara sei bestimmt mein Seelenzwilling. Meine Mutter redet zwar viel Blödsinn, aber in diesem Punkt könnte sie tatsächlich mal recht haben.) Klara kramt das Portemonnaie aus ihrer coolen grauen Converse-Tasche. »Ich zahl schnell!«

Ausnahmsweise will meine Freundin mich heute nämlich von dem Geburtstagsgeld ihrer Oma zum Eis einladen – als Tröstmaßnahme. Allerdings fühle ich mich trotz ausgiebigen Tröstens und einem riesigen Erdbeerbecher kein bisschen besser. Klara drückt mich noch einmal fest an sich und springt dann auf. Dabei bleibt sie mit der Hand am Tisch hängen, mein Handy flutscht aus ihrer Umklammerung und scheppert auf den Fliesenboden. Klara zuckt entsetzt zusammen und schlägt sich schon wieder die Hand vor den Mund: »Oh nein! Dein Handy!«

Ich zucke gleichgültig mit den Schultern. Was soll’s? Wenn ich Lenni nicht schreiben darf, brauche ich es eh nicht mehr. Trotzdem bückt sich Klara sofort. Als Rechtsanwaltstochter hat sie vermutlich sofort sämtliche Schadensersatzansprüche im Kopf. Dementsprechend erleichtert schnauft sie: »Alles in Ordnung!«, nachdem sie mein Telefon ausgiebig von allen Seiten begutachtet hat. Dann wird ihr Blick wieder streng. »Aber keine Nachricht an Lenni!« Widerwillig legt sie das Gerät auf den Tisch.

Ich schaue sie unschuldig an, aber kaum hat Klara mir den Rücken zugedreht, wandert meine Hand wie ferngesteuert zu meinem Smartphone. Keine Nachricht an Lenni! – jaja, schon klar. Allerdings könnte ich ja mal schauen, ob er mir vielleicht geschrieben hat …? Wäre immerhin möglich, dass er auf eine meiner elf Nachrichten geantwortet hat: »Warum???«, »Ist diese Trennung für immer?«, »Können wir nicht noch einmal reden?«, »Wollen wir am Wochenende trotzdem zusammen ins Kino gehen?«, »Oder einfach eine DVD schauen?«, »Oder ins Schwimmbad?«, »Ich würde auch den Kletterpark gut finden«, »Können wir nicht wenigstens Freunde bleiben?« – und noch ein paar mehr. Elf. Wie gesagt. Plus Emojis. Und einige besonders schöne Selfies von uns.

Während ich WhatsApp aufrufe, höre ich, wie Cro aus dem Lautsprecher über meinem Kopf singt, wie leicht man die Liebe seines Lebens verpasst. Bye Bye!

Wie das passt!, denke ich und schwelge prompt wieder in Erinnerungen. Cro haben Lenni und ich immer zusammen gehört, wenn ich bei ihm war. Und wenn Cro gesungen hat, dass wir für immer zusammengehören, hat Lenni mir grinsend direkt in die Augen geschaut und mit meiner Hand auf sein Herz geklopft. Nun muss ich schon wieder schlucken. Sogar gleich doppelt. Wegen des Liedes und weil Lenni sich leider nicht gemeldet hat. Passend dazu singt Cro aus dem Lautsprecher, dass man sich zwar manchmal ein zweites Mal begegnet, dass es dann aber meist zu spät ist. Ist das traurig! Ich lasse den Kopf fast bis zur Tischplatte sinken. Dabei ändere ich meinen WhatsApp-Status in: »Bye Bye, Liebe meines Lebens!« Für den Fall, dass Lenni mir zwar nicht schreibt, aber zumindest ab und zu meinen Status checkt. Dann schiebe ich mein Handy schnell in die Jackentasche. Denn den WhatsApp-Status zu ändern, würde für Klara wahrscheinlich auch irgendwie in die Kategorie »Nachricht an Lenni« fallen.

Allerdings ist meine Freundin gerade eh abgelenkt. »Auweia! Ich sollte um 18 Uhr zu Hause sein! Pünktlich! Zum gemeinsamen Familienabendessen …« Sie stöhnt neben mir auf, während wir unsere Hauptstraße entlanglaufen und ich kaum mit ihr mithalten kann. Klara ist immerhin einen Kopf größer als ich mit entsprechend längeren Beinen. Ich muss mindestens zwei Schritte bei jedem Klara-Schritt machen, um mit ihr Schritt halten zu können. Aber ich will natürlich nicht, dass Klara wegen mir Ärger kriegt. Ihr Papa kann nämlich ziemlich ungemütlich werden, vor allem, wenn es um verpasste gemeinsame Familienabendessen geht! Klara pustet sich eine blonde Haarsträhne aus ihrem geröteten Gesicht. »Papa wollte heute extra mal früher nach Hause kommen. Er muss sonst neuerdings immer länger arbeiten. Wegen irgendeines heftigen Falls.« Sie schaut noch einmal auf ihr Handy und jammert: »Zwanzig nach!«

Die Arme! So ein Stress – nur weil sie mit mir in der Eisdiele war. Da bin ich ganz froh: Solche Ansagen bekomme ich nie von meinen Eltern. Denen ist es beinahe egal, wann ich nach Hause komme. Sie nennen das antiautoritäre Erziehung – damit ich mich frei entfalten kann. Ich nutze meine Freiheit vor allem dafür, möglichst spät nach Hause zu kommen, um unseren gemeinsamen Abendessen zu entgehen. Schon bei dem Gedanken daran schnürt sich schlagartig meine Speiseröhre zu – und zwar mit einem extrafesten doppelten Seemannsknoten. »Also ich esse heute nichts mehr. Mir ist, seit es mit Lenni vorbei ist, der Appetit vergangen«, erkläre ich Klara schnaufend.

»Ach so?« Meine Freundin schaut mich belustigt von der Seite an.

Ich weiß schon, was sie denkt. Deshalb rechtfertige ich sofort meinen Riesen-Erdbeerbecher von eben: »Eis ist etwas anderes. Das flutscht ja quasi von selbst. Aber ansonsten bekomme ich jetzt keinen Bissen runter.«

Nun muss Klara kichern: »Bei dir zu Hause würde ich auch keinen Bissen runterkriegen.«

Ganz automatisch presse ich meine Lippen fest aufeinander. Meine Eltern kochen neuerdings tatsächlich gewöhnungsbedürftig – zumindest habe ich mich da bisher noch nicht dran gewöhnt. Oder noch besser: Ich hoffe, dass ich mich gar nicht daran gewöhnen muss. Klara behauptet, meine Eltern kochen für die Biotonne. Sie hält unser Essen für organischen Abfall. Fleisch haben meine Eltern ja noch nie gegessen, aber bislang gab es wenigstens leckere vegetarische Gerichte: Vollkornnudeln mit Nussbolognese, Blumenkohl mit Kartoffelgratin. Alles halbwegs normal. Aber seit Neuestem bekommt bei uns jedes Salatblatt einen Namen – nur weil Mama mit Papa so einen Achtsamkeits-Koch-Workshop besucht hat. Seitdem gibt’s Quinoa, Chia, Goji, Matchi, Moringa-Blätter und andere Sachen, von denen ich vorher noch nie gehört habe.

Klara schüttelt sich kurz (wahrscheinlich hat sie sich gerade an die Tofu-Klößchen in Algen-Kapernsoße erinnert, zu denen meine Mutter sie neulich eingeladen hat). Dann schaut sie noch einmal auf ihr Handy: »Dreiundzwanzig Minuten zu spät. Das gibt Ärger!« Gut, dass wir gleich da sind. Klara wohnt nämlich nicht weit von der Eisdiele entfernt. Sie wohnt eigentlich von nichts weit entfernt. Denn das alte gemütliche Backsteinhaus, in das sie vor fast zwei Jahren mit ihren Eltern eingezogen ist, steht mitten im Zentrum – genau neben unserem Dorfteich. Wir sagen immer Dorfteich, obwohl wir eigentlich in einer Kleinstadt leben. Ich wohne etwas außerhalb – sozusagen am Dorf- beziehungsweise Stadtrand. Von Klara bis zu mir dauert es mit dem Rad maximal acht Minuten, so klein ist unsere Stadt.

Mein Fahrrad wartet in Klaras Garage auf mich, so wie früher. Wobei früher bedeutet: vor Lenni. Denn in den vergangenen vier Monaten stand es häufig bei ihm. In seiner Garage. Oder bei seinem Tennistraining. Oder neben dem Skaterpark. Oder vor der Musikschule, in der er Schlagzeugunterricht nimmt. Wenn ich daran denke, drohen meine brennenden Augen schon wieder überzulaufen. »Wie kriege ich ihn bloß zurück?«

Klara nimmt mich noch einmal in den Arm. »Uns fällt schon was ein. Aber du darfst ihm nicht schreiben! Sonst denkt er, er kann machen, was er will.« Das leuchtet mir ein. Vorsichtig schiebe ich mein selbst bemaltes Uralt-Rad am nagelneuen Mini von Klaras Mutter vorbei aus der Garage. In dem Moment hupt es auf der Straße. Vor lauter Schreck lasse ich fast mein Fahrrad fallen. Denn es ist kein normales Autohupen. Es ist eher etwas zwischen Röcheln und Tröten. Ganz klar: meine Eltern in ihrer »I fly bleifrei«-Ente.

»Juchhuuu!«, jubelt Mama quer über die Straße. »Wir fahren noch an den See!«

Ich verdrehe die Augen. »Och, Mama, echt? Jetzt noch?«

»Keine Widerrede – du kommst mit.« So viel zur antiautoritären Erziehung und freien Entwicklung! »Das wird dir guttun!«, versucht meine Mutter mich zu überzeugen, während sie aussteigt und schon mal die hintere Tür öffnet. Mit meinen Eltern an den überfüllten Badesee – klingt nicht gerade verlockend, wo ich mich doch am liebsten einfach nur vor aller Welt verkriechen möchte!

Mama lacht mich an und macht dabei eine scheuchende Handbewegung. »Nun los, Cosi! Ein Bad im See wird deine Lebensgeister wecken. So ein lauer Frühsommerabend ist Balsam für deine geschundene Seele.«

Das hat mir noch gefehlt: ein Tröstprogramm von meinen Eltern! Schicksalsergeben schiebe ich mein Rad zurück in Klaras Garage. Mein Seelenzwilling drückt mich noch ein zweites Mal zum Abschied. »Du schaffst das!«, muntert sie mich auf. Wobei ich mich frage, ob sie den Liebeskummer meint oder das Baden mit meinen Eltern. Aber bevor ich nachfragen kann, hat Mama mich bereits ins Auto bugsiert und wir knattern los.

Während meine Eltern ausgerechnet zu ihrer »All you need is love«-Kassette laut mitsingen, starre ich missmutig aus dem Fenster. Draußen springt die Welt vorbei – was allerdings an der Ente und nicht an der Welt liegt: So eine Ente alias »Citroën 2CV« hoppelt selbst auf normalen Straßen wie ein Pingpongball und müsste deswegen eigentlich Hase und nicht Ente heißen. Oder zumindest Canard, das heißt Ente nämlich auf Französisch. Schließlich ist Papas Straßenhüpfer ein französisches Auto. (Ausgerechnet! Da fallen mir sofort wieder die Austauschschülerinnen ein …) Während ich also von diesem alten Franzosen komplett durchgeschüttelt werde, überlege ich, wie ich es anstellen könnte, Lenni zurückzukriegen. Und zwar ganz schnell. Doch eigentlich fällt mir – mal abgesehen davon, dass ich mich ab morgen natürlich extracool anziehen werde – nichts anderes ein, als ihm zu schreiben. Aber das darf ich nicht – das habe ich Klara versprochen. Ich könnte mir noch besonders viel Mühe mit meiner Frisur geben und mich sogar ein bisschen mehr schminken als sonst. Dazu gibt’s von der YouTuberin Laubird unzählige Tutorials.

Aber ich glaube kaum, dass Lenni dann denkt: Wow, Cosi hat sich ihre Wimpern aber hübsch getuscht – jetzt möchte ich unbedingt wieder mit ihr zusammen sein! So funktioniert das nicht. Wenn ich morgen plötzlich Supermodel oder Hollywood-Schauspielerin wäre, fliegen oder zaubern könnte oder schlagartig ein Skateboard-Star wäre – dann würde er vielleicht noch einmal darüber nachdenken. Aber so … Mein ratloser Blick fällt auf Mamas Hand, die gerade Papas rotblonden Lockenkopf krault, während er verliebt ihr Knie tätschelt. Ich verstehe das nicht. Lenni hat mir gesagt, ich sei wie eine Klette – deshalb hätte er keine Lust mehr auf unsere Beziehung. Aber Mama ist doch auch anhänglich. (Gerade lacht sie laut über einen lahmen Witz, den Papa gemacht hat.) Lenni hätte mir doch einfach sagen können: »Sei nicht mehr so anhänglich!« Dann wäre ich eben nicht mehr mit zum Tennistraining gegangen.

Und zum Skaterpark.

Und zum Schlagzeugunterricht.

Ich schnaufe. Papa nimmt Mamas Hand und gibt ihr einen Kuss. Dieser Anblick ist unerträglich.

Pling! Eine Nachricht. Sie ist von Klärchen. Sie schreibt: »Schau mal! Deine Rettung!« Dazu ein Link zu »Laubirds Channel«.

Laubird ist unsere absolute Lieblings-YouTuberin. Sie ist total cool. Immer lustig – sogar als ihr Freund Nickelback, ebenfalls ein YouTuber, sich von ihr getrennt hat, hat sie noch Scherze drüber gemacht. So nach dem Motto: »Nun kann ich wenigstens wieder diagonal im Bett schlafen.« Sobald ich achtzehn bin, werde ich auch You-Tuberin. Klara will lieber Rechtsanwältin werden wie ihr Papa. Verstehe ich nicht. Ich habe neulich gelesen, dass die YouTuber sogar ständig irgendwelche Kosmetik zum Testen geschenkt kriegen und obendrein noch superviel Geld verdienen. Das klingt doch supereasy.

Aber leider erlaubt mir Mama keinen eigenen Kanal – so frei darf ich mich dann doch nicht entwickeln … Sie meint, ich sei noch zu jung und könnte es vielleicht später bereuen. Blödsinn! Vielleicht fehlt mir in manchen Bereichen tatsächlich noch ein bisschen Lebenserfahrung. Laubird plaudert in ihren Videos nämlich über alles Mögliche und hat immer kluge Antworten auf so simple, aber wichtige Fragen wie: Wie kaut man cool ein Kaugummi? Was ziehe ich zu einem Date an? Wohin mit den Händen, wenn ich neben meinem Schwarm stehe? Wie küsst man richtig?

Lauter Fragen, die Klara und ich (noch) nicht zuverlässig beantworten können und die man Müttern nicht (mehr) stellen möchte. Außerdem gibt Laubird natürlich auch Tipps zum Thema Schminken und Styling. Sie selbst versteckt ihre langen blonden Haare meist unter irgendwelchen Beanies. Am coolsten finde ich so eine graue Eulenmütze von ihr. Früher hat Laubird auch Videos von sich mit ihrem Freund Nickelback eingestellt. Aber das ist ja nun auch vorbei. Seitdem fühle ich mich ihr noch näher. Fast wie eine Verbündete – obwohl ich sie noch nie getroffen habe. Und nun meint Klara, Laubird könnte meine Rettung sein? Neugierig klicke ich auf Klaras Link und bin schlagartig wie elektrisiert. Denn da steht: »So kriegt ihr euren Ex zurück. GARANTIERT!« Darunter sieht man ein Bild, auf dem Laubird ihrem Ex Nickelback zwinkernd einen Kuss auf die Wange drückt. Das Bild kenne ich noch nicht. Nanu? Bedeutet das etwa, dass die beiden wieder zusammen sind? Mein Herz hopst schlagartig doppelt so wild wie Papas Ente. Außerdem fühlt es sich an, als hätte mir jemand wohlig süßen, warmen Schokopudding direkt in meinen Bauch gekippt, so warm wird mir plötzlich. Den Ex zurück! Das ist genau das, was ich mir wünsche! Da steht sogar: »Garantiert!« Ich könnte Laubird küssen! Und natürlich Klara, weil sie es mir sofort geschrieben hat. Sogar meine Eltern könnte ich gerade vor Glück küssen!

Okay, das mit meinen Eltern nehme ich zurück. Denn nun biegt Papa in einen holprigen Feldweg ein. Das ruckelt in der alten Ente so doll, dass mir mein Handy fast aus der Hand springt. Ich schaffe es kaum, mit dem Zeigefinger das Video-Start-Pfeilchen anzutippen.

Als ich endlich treffe, stockt mir der Atem. »Nein! Halt!«, schreie ich. »Ihr müsst sofort stehen bleiben!«

Papa macht eine Vollbremsung, Mama dreht sich erschrocken um: »Was ist denn, mein Schatz?«

»Mein Empfang ist weg.«

Mama verzieht ihren rot bemalten Mund und Papa gibt kopfschüttelnd wieder Gas. Tolle Eltern! Danke!

Eine Viertelstunde später kommen wir auf dem überfüllten Parkplatz an, ich springe aus dem Auto und reiße mein Handy in die Höhe. Nichts! Nur ein mickriges Bälkchen lässt sich blicken – damit kann ich niemals ein Video gucken. Panisch sehe ich mich um. Es muss hier doch irgendwo Empfang geben! Sonst wären hier bestimmt nicht so viele Badegäste. Wer kann es sich schon leisten, stundenlang offline zu sein?

Mit ausgestrecktem Arm renne ich quer übers Gelände, stolpere dabei über einige meckernde Sonnenbader, laufe um jeden Busch und umrunde dabei einmal den gesamten Badesee. Nichts! Außer dass mein Arm sich allmählich anfühlt, als würde er gleich absterben. (Da fällt mir ein: Es gibt so einen Inder, der seinen Arm seit 38 Jahren in die Luft hält. Das habe ich in Mamas Yoga-Zeitschrift gelesen. Ich schaffe das nicht mal zwanzig Minuten!)

Mit schlaffen Armen komme ich wieder am Parkplatz an und überlege, ob ich vielleicht zurück zur Hauptstraße laufen könnte. Da hatte ich zwar noch Empfang, allerdings müsste ich dafür ganz schön weit laufen. Vermutlich wäre ich locker eine Stunde unterwegs. Oder so. Kurzer Blick aufs Handy. Weiterhin nur ein einziger Balken. Mist! Verzweifelt sehe ich mich um und entdecke dabei noch etwas viel, viel Schlimmeres als mein Handy ohne Empfangsbalken: meinen Vater! Er brüllt wie Tarzan »UAUA-UA-UAAAAAA!«, nimmt Anlauf und springt – ohne Badehose! – mit einem lauten Platscher ins Wasser. Meine Mama – oben ohne – quietscht vor Freude. Ich wäre am liebsten unsichtbar. Warum muss ausgerechnet ich so peinliche Eltern haben? Als wäre mein Leben im Moment nicht eh schon eine Totalkatastrophe! Aber dann fällt mir ein, dass mich noch keiner der anderen Seebesucher mit den beiden (einzigen Nacktbadern!) in Verbindung bringt. Das ist gut! Ich werde nachher einfach versuchen, unbemerkt in ihr Auto zu steigen. Vielleicht könnte ich sogar schon beim Auto auf sie warten?

Ich schnaufe. Warum habe ich nicht solche Eltern wie Klara? Die sind cool. Ihr Papa fährt auch nicht so eine klapprige Ente, sondern so einen BMW, den die Jungs immer bestaunen, wenn Klaras Vater sie von der Schule abholt. Und Klaras Mama ist Grafikerin und designt Internetseiten. Meine Mama weiß wahrscheinlich nicht mal, was eine Grafikerin ist. Oder eine Internetseite. Mama glaubt bestimmt noch, dass man jedes Bild selber malt. Schließlich malt sie selbst. Mit Naturfarben aus Erde und Pflanzen. Um ihre Gefühle auszudrücken. Ihre fertigen Werke hängt sie dann in unseren Flur, sodass man wirklich nur die allerallerbesten Freunde nach Hause einladen kann. (Ein weiterer Grund, warum Lenni nie zu mir konnte.)

Ansonsten stellt Mama, seit sie ihren eigentlichen Job als Friseurin aufgegeben hat, Bio-Cremes her, die sie am Wochenende auf dem Markt verkauft. Und das erstaunlich erfolgreich. Die Leute kommen sogar extra angereist, um ihre tollen Cremes zu kaufen. (Weil man die eben nicht im Internet bestellen kann.) Die Kräuter dafür werden nur in bestimmten Mondphasen geerntet, die Cremes nur zu bestimmten Tageszeiten gemischt, und wenn Mama ihre Regel hat, produziert sie gar nichts, weil sie glaubt, dass ihr Zyklus die Cremes ungünstig beeinflussen würde. Das sagt sie den Kunden auch wortwörtlich genau so. Ich sterbe dann jedes Mal, denn schließlich wohnen wir in einer Kleinstadt. Dank Mamas Auskünften auf dem Markt weiß vom Bäcker bis zum Postboten jeder ganz genau, wann Mama ihre Tage hat. Ein Albtraum! Vor allem, weil ich ihr an den Wochenenden manchmal beim Verkaufen helfe, wenn Papa keine Zeit hat. Was glücklicherweise selten vorkommt, denn sein Job ist eher nicht so arbeitsintensiv und sein Kundenkreis entsprechend überschaubar. Papa baut nämlich indianische Schamanentrommeln. Die sehen aus wie lederbezogene Eimer mit Federn dran. Damit kann man sich angeblich in Trance trommeln – Mama tanzt zumindest immer ganz wild dazu. Nur kaufen will die Dinger keiner. Abgesehen von den komischen Freunden meiner Eltern.

Plötzlich spielt mein Telefon »Lieblingsmensch«. Klara! Wenigstens dafür reicht mein Empfang. »Hast du gesehen? Das ist ja wohl der Hammer«, quatscht sie gleich drauflos.

»Nein!«, jammere ich und halte meinen Arm noch mal kurz in die Höhe. »Ich hab keinen Empfang!«

»Laubird hat einen In-einer-Woche-den-Ex-zurück-Plan, wie man auf jeden Fall seine große Liebe zurückbekommt. Auf jeden Fall! Bei Nickelback hat sie’s auch so gemacht. Stell dir vor! Die beiden sind wieder zusammen!«

»Echt?«, jauchze ich. Ich kann’s gar nicht glauben!

»Cosi!« Klara klingt plötzlich ernst. »Du musst deinen WhatsApp-Status ändern.«

Ups! Das habe ich ja ganz vergessen. »Ich hab aber keinen Empfang«, rede ich mich raus.

Klara lässt nicht locker: »Aber irgendwann hast du wieder Empfang und dann ändere ihn.«

»Ja«, brumme ich. Wir legen auf.

Ein In-einer-Woche-den-Ex-zurück-Plan! Ich kann mein Glück kaum fassen. Das ist genau das, was ich jetzt brauche – und zwar sofort! Noch einmal scanne ich den Badesee, ob ich nicht vielleicht einen Fleck übersehen habe, an dem ich womöglich doch Empfang haben könnte. Vielleicht drängen sich irgendwo auffällig viele Leute mit ihren Handys. Reden die nicht immer von den unzähligen Smartphonesüchtigen? Wo sind sie denn, wenn man sie braucht?

Bei der Suche streift mein Blick meine Mutter, die noch immer mit Papa im See herumtollt. Sie ruft: »Hier sind wir, Schatz!« Dabei hätte ich meine Eltern auch ohne ihre peinlichen Rufe gefunden. Sie sind nämlich weder zu übersehen noch zu überhören!

»Komm doch auch ins Wasser, Cosi! Hier kannst du dich frei fühlen.« Dabei breitet sie ihre Arme aus, als wäre sie die Gallionsfigur der Titanic.

Mist!, denke ich. Jetzt bin ich aufgeflogen – nun wissen alle, dass ich zu ihnen gehöre!

»Im Wasser können deine Nieren auch viel besser entgiften!«, lockt mich meine Mutter.

Ich zucke zusammen und da ist es auch schon passiert: Im Augenwinkel sehe ich, wie einige Badegäste sich neugierig umsehen, wer seine Nieren im Wasser entgiften soll.

Am besten tue ich so, als hätte ich sie nicht gehört. Ich drehe mich mit einem möglichst unbeteiligten Gesichtsausdruck um und stapfe los in Richtung Landstraße. Bloß erst einmal genügend Abstand zwischen mich und meine peinliche Mutter bringen. Dabei fällt mein Blick auf einen Baum: eine hohe Eiche (oder ist es eine Buche?) mit weit verzweigten Ästen.

Das ist die Lösung! Ich habe mich noch nie so gefreut, eine Eiche (oder Buche) zu sehen! Da oben habe ich garantiert Empfang!

Ohne den Empfangsbalken aus den Augen zu lassen, stolpere ich rüber zu dem imposanten Baum. Mama behauptet immer, dass ich als Kleinkind auf jeden Baum geklettert wäre. Dann werde ich das jetzt ja wohl auch noch schaffen!

Ich stecke das Handy in die Hosentasche meiner engen Jeans und lege den Kopf in den Nacken. In etwa zwei Metern Höhe ragt ein dicker Ast aus dem knorrigen Stamm. Mit Springen komme ich da nicht ran. Aber der Stamm ist so wulstig, dass ich an ihm eigentlich hochklettern können müsste – also greife ich mit der linken Hand nach dem Astloch, das links oberhalb von meinem Kopf liegt, und taste mit der rechten Hand um den dicken Stamm, bis ich ein besonders wulstiges Stück Rinde erwische.

»Okay!«, mache ich mir Mut. »Dann mal los!« Ich verdränge halbwegs erfolgreich den Gedanken an die Ameisen – oder noch viel ekliger: Spinnen, die hier vermutlich in sämtlichen Schlitzen und Ritzen lauern, und presse meinen Körper an den warmen, rauen Stamm. Gleichzeitig versuche ich, mit den Füßen irgendwo oberhalb des Bodens Halt zu finden.

Da schreit meine Mama plötzlich begeistert: »Cosi! Wie schön! Du umarmst einen Baum! Das ist gut!«

Überrascht drehe ich meinen Kopf in ihre Richtung und stelle entsetzt fest, dass anscheinend sämtliche Badegäste ihrem Blick gefolgt sind und mich nun neugierig beobachten. Jetzt habe ich Publikum, na, vielen Dank, Mama!

Aber die scheint das gar nicht zu stören. Sie brüllt quer über die Liegewiese: »Spürst du schon die Schwingungen?«

Nun staunen alle Badegäste Mama an.

Welche Schwingungen? Meint sie den Handy-Empfang?