Erste Liebe – letzte Riten - Ian McEwan - E-Book

Erste Liebe – letzte Riten E-Book

Ian McEwan

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Beschreibung

»Die Mehrzahl dieser Geschichten handelt von Jugendlichen und davon, wie sie von der Welt der Erwachsenen verdorben werden. Die Unschuld der Pubertät wird weniger verloren als zerschmettert ... Nichts für Zimperliche, aber dieser Stil hat eine lakonische Brillanz, die Bände ­ andeutet. Nichts wird ausgesprochen, alles wird angetippt.«

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Seitenzahl: 272

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Ian McEwan

Erste Liebe–letzte Riten

Erzählungen

Aus dem Englischen vonHarry Rowohlt

Titel der 1975

bei Jonathan Cape Ltd., London,

erschienenen Originalausgabe:

›First Love, Last Rites‹

Copyright ©1975 by Ian McEwan

Die deutsche Erstausgabe

erschien 1980 im Diogenes Verlag

Last Day of Summer (Letzter Sommertag)

und Disguises (Verkleidungen)

erschienen zuerst in ›American Review‹;

Homemade (Das Hausmittel) in ›New American Review‹;

Conversations with a Cupboard Man

(Gespräch mit einem Schrankmenschen) in

›Transatlantic Review‹; Cocker at the Theatre

(Cocker im Theater) in ›Time Out‹;

Butterflies (Schmetterlinge) in ›New Review‹;

Solid Geometry (Geometrie der räumlichen Gebilde)

in ›Amazing Stories‹ und ›New Review‹

An dieser Stelle möchte der Autor auch dem

›Arts Council of Great Britain‹ für seine freundliche

Unterstützung danken

Umschlagillustration:

David Hockney, ›Man in Shower in Beverly Hills‹, 1964 (Ausschnitt)

Acrylic on canvas 65½ x 65½"

Copyright ©David Hockney

Foto: Copyright ©Tate, London 2015

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright ©2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 20964 8 (12.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60635 5

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

Für Elaine

[7]Inhalt

Das Hausmittel  [9]

Homemade

Geometrie der räumlichen Gebilde  [45]

Solid Geometry

Letzter Sommertag  [81]

Last Day of Summer

Cocker im Theater  [113]

Cocker at the Theatre

Schmetterlinge  [123]

Butterflies

Gespräch mit einem Schrankmenschen  [153]

Conversation with a Cupboard Man

Erste Liebe, letzte Riten  [183]

First Love, Last Rites

Verkleidungen  [209]

[9]Das Hausmittel

Ich sehe es wieder vor mir, unser vollgestopftes, viel zu helles Badezimmer, und Connie, die, ein Handtuch um ihre Schultern gelegt, weinend auf dem Rand der Badewanne saß, während ich warmes Wasser ins Waschbecken laufen ließ und – so hochgestimmt war ich – ›Teddy Bear‹ von Elvis Presley pfiff, ich kann mich erinnern, ich konnte mich immer erinnern, wie Wollmäuse vom Überbett auf der Wasseroberfläche strudelten, aber erst kürzlich wurde mir vollends klar, daß, wenn dies das Ende einer bestimmten Episode war – falls man von Episoden, die sich im wirklichen Leben abspielen, sagen kann, daß sie überhaupt ein Ende haben, es Raymond war, der, sozusagen, Beginn und Mitte beherrschte, und falls es, was menschliche Belange betrifft, so etwas wie Episoden nicht gibt, sollte ich darauf bestehen, daß es in dieser Geschichte um Raymond geht und nicht um Jungfräulichkeit, Koitus, Inzest und Selbstbefleckung. Also lassen Sie mich damit anfangen, daß ironischerweise, und zwar aus Gründen, die erst sehr viel später einleuchten werden, und etwas [10]Geduld müssen Sie schon aufbringen, daß es, wie gesagt, ironischerweise ausgerechnet Raymond war, der mich auf meine Jungfräulichkeit aufmerksam machte. Eines Tages trat Raymond im Finsbury-Park an mich heran, und, indem er mich zu einigen Lorbeerbüschen lenkte, krümmte er seinen Finger und streckte ihn dann wieder, das alles äußerst geheimnisvoll und vor meinem Gesicht, wobei er mich ständig wachsam beobachtete. Ich sah mir das dumpf an. Dann krümmte und streckte ich meinen Finger ebenfalls und sah, daß ich das Richtige gemacht hatte, denn Raymond strahlte.

»Kapiert?« sagte er. »Kapiert!« Von seinem Überschwang beflügelt, sagte ich »ja«, und zwar in der Hoffnung, daß Raymond mich dann zufrieden lassen würde, so daß ich wieder in Einsamkeit meinen Zeigefinger krümmen und strecken konnte, um so zu einem gewissen Verständnis seiner verwirrenden digitalen Allegorie zu finden. Raymond packte mich mit ungewohnter Intensität am Rockaufschlag.

»Na, was ist denn nun?« keuchte er. Um Zeit zu gewinnen, bog ich noch einmal meinen Zeigefinger und streckte ihn langsam wieder, ganz gelassen und selbstsicher, und zwar so gelassen und selbstsicher, daß Raymond den Atem anhielt und ob der Bewegung erstarrte. Ich betrachtete meinen aufgerichteten Finger und sagte:

[11]»Kommt ganz drauf an«, wobei ich mich fragte, ob ich wohl noch am selben Tag erfahren würde, worüber wir eigentlich sprachen.

Raymond war damals fünfzehn, ein Jahr älter als ich, und obwohl ich mich ihm intellektuell überlegen fühlte – weshalb ich auch so tun mußte, als verstünde ich die Bedeutung seines Fingers–, war es Raymond, der Bescheid wußte, war es Raymond, der meine Erziehung lenkte. Raymond weihte mich in die Geheimnisse des Erwachsenwerdens ein, und das waren Geheimnisse, die er intuitiv ahnte, aber nie gründlich durchschaute. Die Welt, die er mir zeigte, all ihre faszinierenden Einzelheiten, Lehren und Sünden, die Welt, für die er so etwas wie ein fest engagierter Zeremonienmeister war, paßte eigentlich gar nicht zu Raymond. Er kannte diese Welt hinlänglich gut, aber sie wollte ihn – sozusagen – nicht näher kennenlernen. Wenn Raymond also Zigaretten hervorzog, war ich es, der es lernte, den Rauch tief zu inhalieren, Ringe zu blasen und wie ein Filmstar die Hände um das Streichholz zu wölben, während Raymond keuchte und fahrig hantierte; und später, als Raymond zum erstenmal in den Besitz von etwas Marihuana gelangte, wovon ich noch nie gehört hatte, war ich es, der stoned war bis zur Euphorie, während Raymond zugab – etwas, das ich nie getan hätte–, daß er überhaupt [12]nichts verspürte. Dann wieder war es Raymond mit seiner tiefen Stimme und seinem Bartflaum, dem es gelang, uns Zutritt zu Gruselfilmen zu verschaffen, welche er überstand, indem er sich die Finger in die Ohren steckte und die Augen geschlossen hielt. Und das war bemerkenswert, wenn man bedenkt, daß wir uns in einem einzigen Monat zweiundzwanzig Gruselfilme ansahen. Als Raymond in einem Supermarkt eine Flasche Whisky gestohlen hatte, um mich an den Alkohol heranzuführen, kicherte ich zwei Stunden lang bezecht über Raymonds krampfhafte Anfälle von Erbrechen. Meine erste lange Hose hatte Raymond gehört, er schenkte sie mir zu meinem dreizehnten Geburtstag. Wenn Raymond sie angehabt hatte, hatte sie – wie alle Kleidungsstücke, die er besaß–, siebeneinhalb Zentimeter über seinen Fußknöcheln aufgehört, sich an den Oberschenkeln gewölbt, um die Leistengegend geschlabbert, aber jetzt, als sei dies eine Parabel für unsere Freundschaft, paßte sie mir wie maßgeschneidert, sie paßte mir sogar so gut, fühlte sich so behaglich an, daß ich ein Jahr lang keine andere Hose anzog. Und dann die Freuden des Ladendiebstahls. Die Idee, von Raymond vorgetragen und erläutert, war denkbar einfach. Man ging in Foyle’s Buchhandlung, stopfte sich die Taschen mit Büchern voll und trug sie zu einem Händler in der Mile End Road, welcher [13]einem mit Vergnügen den halben Ladenpreis dafür zahlte. Für unseren allerersten Raubzug borgte ich mir den Mantel meines Vaters, und dieser Mantel schleifte großartig auf dem Pflaster hinterher, während ich durch die Straßen rauschte. Ich traf Raymond vor dem Laden. Er war in Hemdsärmeln, weil er seinen Mantel in der U-Bahn vergessen hatte, aber er war überzeugt, er könne es auch ohne Mantel schaffen, und so betraten wir das Geschäft. Während ich mir meine vielen Taschen mit einer Auswahl schmaler Bändchen mit anspruchsvoller Lyrik vollstopfte, verbarg Raymond an seinem Leibe die sieben Bände der Variorum-Ausgabe der Werke von Edmund Spenser. Jeder andere hätte bei dieser Kühnheit des Vorgehens vielleicht eine Erfolgschance gehabt, aber Raymonds Kühnheit war von eher bedenklicher Natur, kam sie doch in Wahrheit einer völligen Verkennung der wahren Sachverhalte näher. Der Zweite Sortimenter stand hinter Raymond, als dieser die Bücher vom Regal pflückte. Die beiden standen bei der Tür, als ich mit meiner Fracht vorbeihuschte, ich bedachte Raymond, der die betreffenden Bände immer noch umklammert hielt, mit einem verschwörerischen Lächeln, und dankte dem Zweiten Sortimenter, der mir automatisch die Tür aufhielt. Glücklicherweise war Raymonds versuchter Ladendiebstahl so hoffnungslos, waren [14]seine Entschuldigungen so idiotisch und leicht durchschaubar, daß der Buchhändler ihn schließlich laufen ließ, da er ihn, wie ich vermute, großzügigerweise für geistesgestört hielt.

Und schließlich, und das war vielleicht das Bezeichnendste, machte mich Raymond mit den zweifelhaften Freuden der Masturbation bekannt. Zu der Zeit war ich zwölf Jahre alt, erlebte das Morgengrauen meines sexuellen Tages. Wir erkundeten den Keller auf einem Bombentrümmergrundstück, stocherten herum, um zu sehen, was die Stadtstreicher zurückgelassen haben mochten, als Raymond, der die Hose wie zum Pissen heruntergelassen hatte, seinen Pimmel mit einer Hingabe zu reiben begann, als wolle er ihn auf Hochglanz polieren, wobei er mir bedeutete, ich solle ein gleiches tun. Ich tat, wie mir geheißen, und bald durchflutete mich ein warmer, unbestimmter Genuß, als wollten meine Eingeweide jederzeit ins Nichts davontreiben. Und die ganze Zeit pumpten unsere Hände voller Ingrimm. Ich war dabei, Raymond dazu zu gratulieren, daß er so einen einfachen, gar nicht teuren, aber angenehmen Zeitvertreib entdeckt hatte, und fragte mich gleichzeitig, ob ich nicht mein ganzes Leben diesem herrlichen Gefühl widmen sollte – und wenn ich jetzt zurückblicke, habe ich das tatsächlich in vieler Hinsicht getan –; ich war gerade dabei, eine [15]ganze Reihe von Dingen auszudrücken, als ich beim Genick gepackt wurde, meine Arme, Beine, Eingeweide gezerrt, verrenkt, gemartert wurden und als Lohn all dessen zwei winzige Portionen Sperma hervorbrachten, die auf Raymonds Sonntagsjackett schnellten – es war Sonntag – und in seine Brusttasche tröpfelten.

»Hey«, sagte er und brach seine Anstrengungen ab, »mußte das sein?« Da ich mich immer noch von dieser umwerfenden Erfahrung erholte, sagte ich nichts, konnte nichts sagen.

»Da zeige ich dir, wie’s gemacht wird«, erklärte Raymond feierlich und betupfte geziert den funkelnden kalten Bauern auf seinem dunklen Jackett, »und du hast nichts besseres zu tun, als rumzuspucken.«

Und so hatte ich mir im Alter von vierzehn Jahren unter Raymonds Anleitung eine Auswahl von Genüssen angeeignet, die ich zu Recht mit der Welt der Erwachsenen in Verbindung brachte. Ich rauchte etwa zehn Zigaretten pro Tag, ich trank Whisky, wenn es welchen gab, mein Geschmack, was Gewalt und Obszönität betraf, war der eines Kenners, ich hatte das berauschende Harz von cannabis sativa geraucht, und ich war mir meiner sexuellen Frühreife bewußt, obwohl es mir merkwürdigerweise nie in den Sinn kam, irgendeinen Gebrauch von ihr zu machen, da meine Phantasie [16]bisher weder von Sehnsüchten noch von privaten Traumgebilden gespeist wurde. Und all dieser Zeitvertreib wurde von jenem Buchhändler in der Mile End Road finanziert. Beim Aneignen dieser Neigungen war Raymond mein Mephisto, mir, dem Dante, ein unbeholfener Vergil, der mir den Weg in ein Paradiso wies, das ihm zu betreten verwehrt war. Er konnte nicht rauchen, weil er dann husten mußte, von Whisky wurde ihm schlecht, die Filme verängstigten oder langweilten ihn, das Cannabis hatte keine Wirkung auf ihn, und während ich Stalaktiten an die Decke des Kellers auf dem Bombentrümmergrundstück brachte, brachte er gar nichts.

»Vielleicht«, sagte er klagend, als wir eines Nachmittags den Schauplatz verließen, »vielleicht bin ich zu alt für solche Sachen.«

Als also Raymond nun vor mir stand und eifrig seinen Finger bog und streckte, spürte ich, daß es in jenem unendlichen, finsteren und ergötzlichen hochherrschaftlichen Gebäude des Erwachsenseins eine weitere mit Pelz ausgeschlagene Kammer gab, und daß Raymond, wenn ich mich nur ein wenig zurückhielt und, um meinen Stolz zu wahren, meine Unwissenheit verbarg, sich in Bälde offenbaren würde, so daß ich in Bälde glänzen könnte.

»Kommt ganz drauf an.« Wir gingen durch den Finsbury-Park, in dem Raymond einst, in [17]seinen früheren, kriminellen Tagen die Tauben mit Glassplittern gefüttert hatte, wo wir gemeinsam in unschuldiger, des ›Prelude‹’s würdiger Wonne Sheila Harcourts Wellensittich bei lebendigem Leib geröstet hatten, während sie daneben ohnmächtig auf den Rasen sank; wo wir als Knaben hinter Büsche gekrochen waren, um mit Steinen nach den Paaren zu schmeißen, die in der Laube fickten; durch diesen Finsbury-Park also gingen wir, und Raymond sagte:

»Wen kennst du denn?« Wen kannte ich denn? Ich tappte immer noch im dunkeln, und es konnte sich ebensogut auch um einen Themawechsel handeln, denn Raymond neigte zu Abschweifungen. Also sagte ich: »Wen kennst du denn?«, worauf Raymond antwortete: »Lulu Smith«, und damit alles klarstellte – oder doch zumindest das Generalthema, denn meine Unschuld war bemerkenswert. Lulu Smith! Die Luluputzel! Allein schon der Name bewirkt, daß sich eine kalte Hand um meine Eier schließt. Lulu Lamour, von der es hieß, sie würde alles tun und hätte es auch schon getan. Es gab Judenwitze, Elefantenwitze, und es gab Lulu-Witze, und diese waren für die extravagante Legende hauptverantwortlich. Lulu Slim – mir wird ganz schwindlig beim bloßen Gedanken–, deren physische Enormität nur von der Enormität ihres berühmten sexuellen Appetits und [18]ihres berühmten sexuellen Tatendrangs erreicht wurde, deren Unflätigkeit nur mit den Unflätigkeiten verglichen werden konnte, die sie inspirierte, deren Legende nur durch die Wirklichkeit noch übertroffen wurde. Zulu-Lulu! Die auf ihrem Weg durch Nord-London, so wollte es ihr Ruf, eine Fährte von schaumschlagenden Idioten zurückließ, eine Spur der Verwüstung aus gebrochenen Seelen und Pimmeln, von Shepherds Bush nach Holloway, von Ongar bis Islington reichend. Lulu! Ihr schwabbelnder Leibesumfang und ihre lachenden Schweinsäuglein, ihr blühender Hintern und die Grübchen ihrer Fingergelenke, diese wogende, dampfende Ladung von Schulmädchenfleisch, unter der die Beine fast versagten, welche es – darauf bestand die Sage – mit einer Giraffe getrieben hatte, einem Kolibri, einem Mann in der Eisernen Lunge (der daraufhin gestorben war), einem Yak, mit Cassius Clay, einem Seidenäffchen, einem Riegel »Mars« und dem Schaltknüppel im Morris Minor ihres Großvaters (und daraufhin mit einem Verkehrspolizisten).

Der Finsbury-Park war vom Geiste Lulu Smiths erfüllt, und ich fühlte zum erstenmal sowohl nicht eben klar bestimmte Sehnsüchte als auch schiere Neugier. Ich wußte annähernd, was man tun mußte, denn hatte ich nicht in allen Ecken des Parks während der langen Sommerabende [19]übereinandergestülpte Paare gesehen, und hatte ich nicht Steine und Wasserbomben geschmissen? – etwas, das ich nun abergläubisch bereute. Und plötzlich, dort im Finsbury-Park, als wir uns einen Weg durch die kecken Haufen Hundescheiße bahnten, wurde mir meine Jungfräulichkeit bewußt und gleichzeitig zum Ärgernis; ich wußte, sie war die letzte Kammer in der Prunkvilla, ich wußte mit Sicherheit, daß sie den meisten Luxus barg, daß sie erlesener ausgestattet war als jedes andere Zimmer, daß ihre Attraktionen tödlicher waren, und die Tatsache, daß ich es nie gehabt hatte, geschafft hatte, getan hatte, lastete als allumfassender Fluch auf mir, war mein übelriechender Albatros, und ich sah Raymond an, der seinen Zeigefinger steif ausgestreckt hatte, auf daß er mir enthülle, was ich zu tun habe. Raymond mußte es wissen…

Nach der Schule gingen Raymond und ich in ein Café in der Nähe vom Finsbury Park Odeon. Während andere unseres Alters über ihren Briefmarkensammlungen oder Schularbeiten in der Nase bohrten, verbrachten Raymond und ich hier viele Stunden, erörterten meist, wie man am leichtesten zu Geld kommt, und tranken viel Tee aus großen Tassen. Manchmal sprachen wir mit den Arbeitern, die hier verkehrten. Millais hätte da sein sollen, um uns zu malen, wie wir gebannt ihren unverständlichen Phantasien und Großtaten [20]lauschten, von Geschäften mit Fernfahrern, Blei von Kirchendächern, von Benzin, das dem Tiefbauamt abhanden gekommen war, und dann von Mösen, Nummern, Röcken, vom Auspeitschen, Vertrimmen, Ficken, Blasen, von Ärschen und Titten, von hinten, von oben, von unten, von vorn, mit, ohne, vom Kratzen und Reißen, Lecken und Scheißen, von triefend saftigen Fotzen, warm und nicht endenwollend, von anderen Fotzen, kalt und ausgedörrt, aber einen Versuch wert, von Pimmeln, alt und schlaff, oder von jungen sprudelnden, und vom Kommen, zu früh, zu spät oder überhaupt nicht, davon, wie oft am Tag, von Folgeerkrankungen, von Eiter und Schwellungen, Krebsgeschwür und Reue, von vergifteten Eierstöcken und freihängenden Hoden; wir hörten, wen und wie die Müllmänner fickten, wie die Coop-Milchmänner einschenkten, was die Kohlenmänner alles auf sich nahmen, was die Fliesenleger legen konnten, was die Maurer hochbekamen, was der Stromableser inspizieren konnte, was der Brotmann bringen, der Gasmann beschnuppern, der Klempner dichtmachen, der Elektriker kurzschließen, der Arzt spritzen, der Anwalt beantragen, der Tischler verfugen konnte, und so weiter, in einem unwirklichen Komplex aus Kalauern, vom Zahn der Zeit benagt, aus versteckten Anzüglichkeiten, Formeln, Slogans, [21]folkloristischen Beiträgen und Prahlereien. Ich lauschte ohne zu verstehen, merkte mir Anekdoten, die ich eines Tages selbst verwenden wollte, und tat sie in die Ablage, häufte Geschichten über Perversionen und sexuelle Verhaltensweisen an – tatsächlich eine gesamte sexuelle Sittenlehre, so daß ich, als ich endlich aus eigener Erfahrung zu verstehen begann, was es mit alledem auf sich hatte, mit einer abgeschlossenen Ausbildung dienen konnte, welche, durch die schnelle Lektüre der interessanteren Stellen von Havelock Ellis und Henry Miller vermehrt, mir den Ruf einbrachte, ein minderjähriger Connaisseur koitaler Zusammenhänge zu sein, an den sich Dutzende von Männern – und glücklicherweise auch Frauen – ratsuchend wandten. Und all dies, ein Ruf, der mich bis auf die Kunsthochschule verfolgte und meine dortige Laufbahn beflügelte, all dies nach einem einzigen Fick – dem Thema dieser Geschichte.

In jenem Café also, in dem ich zugehört, mir alles gemerkt und nichts verstanden hatte, geschah es, daß Raymond schließlich seinen Zeigefinger entspannte, um ihn um den Henkel seiner Tasse zu krümmen und zu sagen:

»Lulu Smith läßt es dich für einen Shilling sehen.« Ich war froh darüber. Ich war froh, daß wir die Dinge nicht überstürzten, froh, daß man mich nicht mit Zulu-Lulu einlassen und von mir [22]erwarten würde, daß ich das erschreckend Ungewisse vollzöge, froh, daß sich die erste Begegnung mit diesem notwendigen Abenteuer auf reine Erkundung beschränken sollte. Und außerdem hatte ich in meinem Leben erst zwei nackte Frauen gesehen. Die obszönen Filme, zu deren Publikum wir damals gehörten, waren nirgends auch nur annähernd obszön genug, da sie nur die Beine, Rücken und ekstatischen Gesichter glücklicher Paare zeigten, alles übrige aber unserer schwellenden Phantasie überließen und nichts klärten. Was die beiden nackten Frauen betrifft, so war meine Mutter ausladend und grotesk, die Haut hing an ihr herunter wie bei einer sezierten Kröte, und meine zehnjährige Schwester war ein häßliches Balg, das ich als Kind kaum hatte ansehen, geschweige in ein und derselben Badewanne ertragen können. Und letztlich war ein Shilling gar keine echte Ausgabe, wenn man bedachte, daß Raymond und ich wohlhabender waren als die meisten Arbeiter im Café. Ich war tatsächlich reicher als jeder meiner vielen Onkels oder mein armer überarbeiteter Vater oder sonst jemand, den ich in meiner Familie kannte. Ich lachte, wenn ich an die Zwölf-Stunden-Schicht dachte, die mein Vater in der Getreidemühle abarbeitete, an sein erschöpftes, gebleichtes, schlechtgelauntes Gesicht, wenn er abends nach Hause kam, und ich lachte noch ein bißchen lauter, wenn [23]ich an die Tausende dachte, die jeden Morgen aus den Flachdachhäusern wie unserem strömten, um sich durch die Woche zu schuften, am Sonntag zu rasten und am Montag zurück in die Walzwerke, Fabriken, Sägewerke und Docks von London zu gehen, um sich abzurackern und jeden Abend älter, müder und kein bißchen reicher heimzukehren; über unseren Teetassen lachten Raymond und ich über diesen stillschweigenden Verrat an einem ganzen Leben, das aus Schleppen, Buddeln, Schieben, Packen, Prüfen, Ächzen und Schwitzen für den Profit anderer bestand, lachten darüber, wie sie, um sich bei der Stange zu halten, aus dieser lebenslangen Kriecherei eine Tugend machten, wie sie sich etwas darauf einbildeten, an keinem der Tage im Inferno krankgefeiert zu haben; und am heftigsten lachte ich, wenn Onkel Bob oder Onkel Ted oder mein Vater mir einen ihrer schwerverdienten Shillings als Geschenk überreichten – zu besonderen Anlässen einen Zehn-Shilling-Schein–, ich lachte, weil ich wußte, daß an einem guten Nachmittag die Arbeit in der Buchhandlung mehr einbrachte, als sie in einer Woche zusammenkratzten. Ich durfte natürlich nur ganz diskret lachen, denn es ging nicht, so ein Geschenk zu verpatzen, zumal sie solchen Genuß daraus zogen. Ich sehe sie vor mir, einen Onkel oder meinen Vater, wie sie unsere winzige Gute Stube mit langen [24]Schritten durchmaßen, Münze oder Geldschein in der Hand, mir Erinnerungen, Anekdoten und Ratschläge, das Leben betreffend, zuteil werden lassend, sich aufbauend für die Wollust des Schenkens, und sie fühlten sich richtig wohl dabei, so wohl, daß es eine Freude war, sie zu beobachten. Sie empfanden sich – und in dieser kurzen Zeitspanne waren sie das auch – als große Herren, weise Männer, tiefe Denker, Wohltäter, geübte Redner und, wer weiß, vielleicht als ein wenig göttlich; Patrizier, die ihren Sohn oder Neffen auf die klügste, großzügigste Weise an den Früchten ihres Scharfsinns und ihres Wohlstands teilhaben ließen–; sie waren Götter in ihrem eigenen Tempel, und wer war ich, daß ich ihr Geschenk hätte ablehnen dürfen? Nachdem sie in der Fabrik fünfzig Stunden die Woche in den Arsch getreten worden waren, brauchten sie diese Mysterienspiele in der Guten Stube, diese mythischen Konfrontationen zwischen Vater und Sohn, und ich, der ich für alle Nuancen der Situation empfänglich war und sie zu würdigen wußte, nahm ihr Geld an und das Risiko, mich möglicherweise zu langweilen, auf mich, spielte ein Weilchen mit, meine Belustigung unterdrückend, bis ich mich, wenn alles vorbei war, lauthals und unter Tränen schlapplachte. Lange, bevor ich es wußte, war ich ein Student, ein vielversprechender Student der Ironie.

[25]So war ein Shilling nicht zuviel für einen Blick auf das Unaussprechliche, auf das Herz des Mysteriums, den Fleischesgral, die Muschi von Luluputzel, und ich beschwor Raymond, sobald wie möglich eine Inaugenscheinnahme zu arrangieren. Raymond schlüpfte bereits in seine Rolle als Bühneninspizient, bedeutungsvoll furchte er die Stirn, summte Termine, Uhrzeiten, Lokalitäten, Zahlungsmodalitäten vor sich hin und malte Ziffern auf die Rückseite eines Briefumschlags. Raymond gehörte zu diesen seltenen Menschen, denen es nicht nur großes Vergnügen bereitet, Veranstaltungen zu organisieren, sondern die in dieser Hinsicht auch noch erbarmungswürdig unfähig sind. Es war sehr gut möglich, daß wir am falschen Tag zur falschen Zeit kommen würden, daß Verwirrung herrschen würde, was Preis und Dauer der Besichtigung betraf, aber da war etwas, das letzten Endes sicherer war als alles andere, sicherer als der nächste Sonnenaufgang: Wir würden die exquisite Möse zu sehen bekommen. Denn das Leben meinte es unbestreitbar gut mit Raymond; obwohl ich damals meine Gefühle nicht mit diesen Worten hätte ausdrücken können, spürte ich, daß innerhalb der kosmischen Anordnung individueller Schicksale Raymonds Schicksal dem meinen diametral entgegengesetzt war. Fortuna spielte Raymond zwar manchen Streich, [26]vielleicht kickte sie ihm sogar hin und wieder Sand in die Augen, aber sie spuckte ihm nie ins Gesicht oder trat ihm mit Absicht auf seine existentiellen Hühneraugen–; Raymonds Fehleinschätzungen, Niederlagen, all die Male, da er sitzengelassen, verletzt worden war, das alles war, wenn man Bilanz zog, eher komisch als tragisch. Ich entsinne mich einer Gelegenheit, als Raymond siebzehn Pfund für einen Zwei-Unzen-Klumpen Haschisch bezahlte, der, wie sich herausstellte, keineswegs aus Haschisch bestand. Um seine Verluste so gering wie möglich zu halten, trug Raymond den Klumpen zu einem wohlbekannten Ort in Soho und versuchte, ihn einem Herrn von der Zivilstreife zu verkaufen, der glücklicherweise nicht Anzeige erstattete. Schließlich gab es, zumindest damals, kein Gesetz, das den Verkauf pulverisierten Pferdedungs unter Strafe stellte, nicht einmal, wenn dieser in Alu-Folie verpackt war. Und dann gab es noch den Querfeldeinlauf. Raymond war ein mittelmäßiger Läufer, er war einer von zehn Schülern, die ihre Schule beim Stadtteilsportfest vertreten sollten. Ich ging immer zu diesen Sportfesten. Es gab keinen anderen Sport, bei dem ich so hochgestimmt, so amüsiert und innerlich erhoben zusah, wie bei einem guten Querfeldeinlauf. Ich liebte die eingefallenen, verzerrten Gesichter der Läufer, wenn sie durch den Tunnel [27]aus Fahnen heraufkamen und die Zielgerade überquerten; besonders interessant fand ich die Läufer, die nach den ersten fünfzig eintrafen, die angestrengter liefen als die anderen Teilnehmer und wie besessen untereinander um den hundertdreizehnten Platz kämpften. Ich beobachtete, wie sie durch den Flaggentunnel heranstolperten, ihre Kehle umklammerten, würgten, mit den Armen ruderten und ins Gras sanken; ich war überzeugt, eine Vision der Sinnlosigkeit menschlichen Strebens vor mir zu haben. Nur die ersten dreißig Läufer zählten überhaupt irgendwie bei diesem Wettbewerb, und sobald der letzte von ihnen eingetroffen war, begannen sich die Zuschauer zu zerstreuen und überließen die übrigen ihren privaten Schlachten–, und an diesem Punkt erwachte mein Interesse. Lange nachdem die Preisrichter, Ordner und Zeitnehmer nach Hause gegangen waren, blieb ich an der Zielgeraden in der herabsinkenden Finsternis eines späten Winternachmittags stehen, um zu sehen, wie der letzte Läufer über die Zielmarkierung kroch. Den Gestürzten half ich auf die Beine, blutige Nasen versorgte ich mit Taschentüchern, denen, die sich erbrachen, drosch ich auf den Rücken, ich massierte verkrampfte Waden und Zehen: fürwahr eine echte Florence Nightingale, nur mit dem Unterschied, daß ich dabei eine Hochstimmung empfand, eine [28]frohe Faszination angesichts des triumphierenden Willens menschlicher Versager, die sich für nichts und wieder nichts zu Tode gelaufen hatten. Wie meine Seele sich in die Höhe schwang, wie mir die Augen schwammen, wenn, nachdem ich zehn, fünfzehn, sogar zwanzig Minuten lang auf diesem riesigen, düsteren Platz, umgeben von Fabriken, Hochspannungsmasten, dumpfen Häusern und Garagen, gewartet hatte, und ein kalter Wind kam auf, der einen beginnenden bitteren Nieselregen mit sich brachte, wenn ich da in der lastenden Dunkelheit wartete – und dann plötzlich am anderen Ende des Platzes ein schlaffes, weißes Klümpchen ausmachte, das sich langsam bis zum Tunnel vorkämpfte, langsam mit empfindungslosen Füßen auf dem nassen Gras seine Mikro-Bestimmung völliger Sinnlosigkeit abmessend. Und dort, unter dem brütenden Himmel der Metropole nahm das winzige amöbische Klümpchen am anderen Ende des Platzes, als wolle es in sich als komplexe Totalität die Evolution des Organischen mit der menschlichen Zielstrebigkeit vereinen und mir begreifbar nahebringen, Menschengestalt an, blieb aber bei seiner Zielstrebigkeit und wankte in seiner sinnlosen Anstrengung, die Fahnen zu erreichen, entschlossen weiter: so ganz das Leben, das gesichtslose, sich stets erneuernde Leben, an dem, wenn die Gestalt auf der Zielgeraden wie [29]ein Taschenmesser zusammenklappte, mein Herz sich erwärmte, und mein Geist begann im Überschwang der Absage an die morbide und tödliche Identifikation mit dem kosmischen Lebensprozeß – dem Logos – frei zu schweben.

»Pech gehabt, Raymond«, sagte ich dann munter und überreichte ihm seinen Pullover, »nächstes Jahr hast du mehr Glück.« Und müde lächelnd, sich des Arlecchino, des Feste stark und trauervoll bewußt, wohl wissend, daß von den beiden der Komödiant es ist, nicht der Tragöde, der den Trumpf hält, das zweiundzwanzigste Arcanum, dessen Buchstabe Than ist, dessen Symbol Sol ist, lächelnd sagte Raymond, als wir den nun fast dunklen Platz verließen:

»Naja, ist ja schließlich nur ein Querfeldeinrennen, nur ein Spiel, weißt du.«

Raymond versprach, die göttliche Lulu Smith am folgenden Tag nach der Schule mit unserem Antrag zu konfrontieren, und da ich mich verpflichtet hatte, an jenem Abend auf meine Schwester aufzupassen, während meine Eltern in Walthamstow zum Hunderennen waren, verabschiedete ich mich dort im Café von Raymond. Auf dem ganzen Heimweg dachte ich an Möse. Ich sah sie im Lächeln der Schaffnerin, ich hörte sie im Verkehrsgetöse, ich roch sie in den Dämpfen der Schuhkremfabrik, ich reimte sie mir unter den [30]Röcken vorbeihastender Hausfrauen zusammen, fühlte sie an den Fingerspitzen, spürte sie in der Luft, saugte sie in meine Seele, und beim Abendessen, es gab Wurst im Schlafrock, verzehrte ich wie in einem unaussprechlichen Ritus Genitalien aus Teig und Wurst. Und dabei wußte ich noch nicht einmal genau, was eine Möse war. Ich äugte über den Tisch zu meiner Schwester hinüber. Ich habe ein wenig übertrieben, als ich sagte, sie sei ein häßliches Balg–; ich befreundete mich mit dem Gedanken, daß sie am Ende doch so häßlich nicht war. Sie hatte vorstehende Zähne, daran gab es nichts zu deuteln, und falls ihre Wangen ein wenig zu stark eingefallen waren, dann doch nicht so schlimm, als daß man es im Dunkeln hätte sehen können. Und wenn ihr Haar frisch gewaschen war, und das war gerade der Fall, mochte sie fast als ganz normal aussehend durchgehen. So kann es nicht überraschen, daß ich über meiner Wurst im Schlafrock zu der Überzeugung gelangte, Connie könne, wenn auch nur für wenige Minuten, mit etwas Schmeichelei und vielleicht einem bißchen ehrlichen Betrugs dazu gebracht werden, in sich etwas mehr als eine Schwester zu sehen, sondern eher eine, sagen wir mal, wunderschöne junge Dame, einen Filmstar, und vielleicht, Connie, könnten wir eben mal ins Bett steigen und diese ziemlich zu Herzen gehende Szene proben, zieh [31]dir nur schon mal diesen blöden Pyjama aus, ich kümmere mich solange um das Licht… Und mit dieser so bequem erlangten Gewißheit gewappnet, konnte ich dann der schrecklichen Lulu voll Eifer und Ausgelassenheit gegenübertreten, die ganze erschreckende Prüfung würde zur Bedeutungslosigkeit verblassen, und wer weiß, vielleicht konnte ich sie gleich dort und dann flachlegen, wenn die Peepshow erst zur Hälfte gelaufen war.

Ich paßte nie gern auf Connie auf. Sie war launenhaft, verlangte immer irgendwas, sie war verwöhnt und wollte ständig Spiele spielen, anstatt fernzusehen. Gewöhnlich gelang es mir, sie eine Stunde früher ins Bett zu kriegen, indem ich die Uhr vorstellte. Heute abend stellte ich sie zurück. Sobald meine Mutter und mein Vater zum Hunderennen aufgebrochen waren, fragte ich Connie, welche Spiele sie gern spielen würde, sie könne es sich aussuchen, egal, was.

»Ich will nicht mit dir spielen.«

»Warum nicht?«

»Weil du mich beim Abendessen die ganze Zeit angeglotzt hast.«

»Natürlich, Connie. Ich habe darüber nachgedacht, was du am liebsten spielst, und da habe ich dich eben angesehen, das ist alles.« Schließlich willigte sie ein, Versteck zu spielen, ein Spiel, das ich mit besonderem Nachdruck vorgeschlagen hatte, [32]da unser Haus von einer solchen Größe war, daß es nur zwei Räume aufwies, in denen man sich verstecken konnte, und beide waren Schlafzimmer. Connie sollte sich zuerst verstecken. Ich hielt mir die Augen zu und zählte bis dreißig, wobei ich die ganze Zeit ihren Schritten über mir im Elternschlafzimmer lauschte, hörte mit Befriedigung das Knarren des Bettes–; sie versteckte sich unter der Daunendecke, ihrem zweitliebsten Versteck. Ich rief: »Ich komme«, und begann, die Treppe hinaufzugehen. Unten auf der Treppe hatte ich mich, glaube ich, noch nicht schlüssig entschieden, was ich unternehmen sollte: Vielleicht sollte ich mich lediglich ein wenig umtun, herausfinden, wo sich die Dinger befanden, im Geiste einen Plan zeichnen, auf den ich später zurückgreifen konnte; schließlich würde es überhaupt nichts einbringen, wenn ich meiner kleinen Schwester einen Schreck einjagte, denn sie würde es sofort brühwarm meinem Vater erzählen, und das zöge dann die eine oder andere Szene nach sich, mühsame Lügen wollten erfunden, Schelten, Weinen und ähnliches wollten durchgestanden sein, und das zu einer Zeit, da ich all meine Energie für die fixe Idee brauchte, die gerade in greifbare Nähe zu rücken begann. Als ich jedoch die Treppe erklommen hatte, als mein Blut vom Hirn in die Leistengegend geflossen war, buchstäblich, könnte [33]man sagen, vom Sinnvollen zum Sinnlichen, als ich auf der obersten Stufe nach Atem rang und meine feuchte Hand um die Klinke der Schlafzimmertür schloß, hatte ich beschlossen, meine Schwester zu vergewaltigen. Sanft stieß ich die Tür auf und rief mit Singsang in der Stimme:

»Conniiie, wo bi-hist du denn?« Normalerweise brachte sie das zum Kichern, aber diesmal machte sie keinen Mucks. Ich hielt den Atem an, schlich auf Zehenspitzen zum Bett und sang:

»Ich weiß, wo du bi-hist«, beugte mich über die verräterische Beule unter der Daunendecke und flüsterte:

»Jetzt hab ich dich«, und schickte mich an, die massige Bettdecke abzuschälen, sanft, fast zärtlich, in die dunkle Wärme hinunterspähend. Vor Erwartung ganz benommen, riß ich die Decke fort, und da lagen sie vor mir, hilflos und unschuldig ausgestreckt, die Pyjamas meiner Eltern, und als ich noch überrascht zurücksprang, bekam ich einen Puff ins Kreuz, der mit der unmäßigen Kraftentfaltung geführt wurde, wie sie nur eine Schwester für ihren Bruder aufbringen kann. Und da war Connie, sie führte einen Freudentanz auf, und hinter ihr öffnete sich die Kleiderschranktür vollends.

»Ich habe dich gesehen, ich habe dich gesehen, und du hast mich nicht gesehen!« Um meine [34]Gefühle unter Kontrolle zu bekommen, trat ich ihr gegen die Schienbeine und setzte mich aufs Bett, um den nächsten Schritt zu bedenken, während sich Connie mit voraussehbar übertriebenem Geheul auf den Fußboden setzte und flennte. Irgendwann empfand ich das Geräusch als deprimierend und ging nach unten, um Zeitung zu lesen – in der schönen Gewißheit, daß Connie mir folgen würde. Sie tat es, und sie schmollte.

»Was möchtest du jetzt spielen?« fragte ich sie. Sie saß auf dem Rand des Sofas, hatte die Unterlippe ausgefahren, sie schniefte, und sie haßte mich. Ich war bereits so weit, den ganzen Plan fallenzulassen und statt dessen einen Fernsehabend einzulegen, als ich eine Idee hatte, eine Idee von solcher Einfachheit, Eleganz, Klarheit und augenfälliger Schönheit, eine Idee, auf Erfolg zugeschnitten wie ein Maßanzug. Es gibt ein Spiel, das alle häuslichen, phantasielosen kleinen Mädchen wie Connie unwiderstehlich finden, ein Spiel, das Connie mich bedrängt hatte, mit ihr zu spielen, seit sie die dazu nötigen Worte sprechen konnte, so daß die Jahre meiner Kindheit von der Heimsuchung ihrer flehentlichen Bitten und dem reinigenden Bann meiner unvermeidlichen Weigerungen bestimmt waren; kurz, es war ein Spiel, dazu angetan, mich eher zum Besteigen eines Scheiterhaufens zu bewegen, als zuzulassen, daß [35]mich meine Freunde bei diesem Spiel beobachten. Und nun war es soweit. Wir würden Vati und Mutti spielen.

»Ich weiß was, was du gern spielen würdest, Connie«, sagte ich. Natürlich antwortete sie nicht, aber ich ließ meine Worte wie Köder in der Luft hängen. »Ich weiß ein Spiel, das du gern spielen würdest.« Sie hob den Kopf.

»Welches?«

»Ein Spiel, das du immer spielen willst.«