Es war einmal in Italien - Luca Di Fulvio - E-Book
SONDERANGEBOT

Es war einmal in Italien E-Book

Luca Di Fulvio

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In Rom setzen drei Menschen für einen großen Traum alles aufs Spiel: Ein Waisenjunge, der mit seiner Kamera den Blick auf die Welt verändern will. Ein Zirkusmädchen, das für die Politik brennt. Eine Gräfin, die anderen die Freiheit schenkt. Drei Menschen, die das Schicksal im Jahr 1870 nach Rom führt, das pulsierende Herzstück Italiens auf dem Weg zum Nationalstaat. Inmitten dieser Stadt der Verheißungen kreuzen sich ihre Wege, und ihre Träume scheinen wie durch ein magisches Band miteinander verwoben. Doch das schillernde Rom stellt die drei vor ungeahnte Herausforderungen. Als eines Tages ein dramatisches Ereignis die Ewige Stadt erschüttert, drohen sie alles zu verlieren, was ihnen kostbar ist ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 886

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt
CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmungZitateErster Teil1234567891011Zweiter Teil121314151617181920212223242526272829303132333435363738394041Dritter Teil42434445464748495051525354555657DanksagungAnmerkungen des Autors
Über dieses Buch

In Rom setzen drei Menschen für einen großen Traum alles aufs Spiel: Ein Waisenjunge, der mit seiner Kamera den Blick auf die Welt verändern will. Ein Zirkusmädchen, das für die Politik brennt. Eine Gräfin, die anderen die Freiheit schenkt. Drei Menschen, die das Schicksal im Jahr 1870 nach Rom führt, das pulsierende Herzstück Italiens auf dem Weg zum Nationalstaat. Inmitten dieser Stadt der Verheißungen kreuzen sich ihre Wege, und ihre Träume scheinen wie durch ein magisches Band miteinander verwoben. Doch das schillernde Rom stellt die drei vor ungeahnte Herausforderungen. Als eines Tages ein dramatisches Ereignis die Ewige Stadt erschüttert, drohen sie alles zu verlieren, was ihnen kostbar ist …

Über den Autor

Luca Di Fulvio, geb. 1957, lebt und arbeitet als freier Schriftsteller in Rom. Bevor er sich dem Schreiben widmete, studierte er Dramaturgie bei Andrea Camilleri an der Accademia Nazionale d’Arte Drammatica Silvio D’Amico. Seine Romane Der Junge, der Träume schenkte und Das Mädchen, das den Himmel berührte standen monatelang auf den ersten Plätzen der Spiegel-Bestsellerliste.

Luca Di Fulvio

Es wareinmal inItalien

Roman

Aus dem Italienischen vonElisa Harnischmacher

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2020/2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Unter Verwendung von Motiven von © Elisabeth Ansley/Trevillion Images; © vvoe/shutterstock.com; Gosteva/shutterstock.com

Kartenillustration: © Christl Glatz, Guter Punkt München

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-9474-0

luebbe.de

lesejury.de

Für meine Frau Elisa

Die Geschichte sind wir

Wir sind Väter und Söhne

Und Menschen

Denn Geschichte wird von Menschen gemacht

Und wenn es darauf ankommt

Dann sind sie hellwach

Und wissen genau, was zu tun ist

»La Storia siamo noi« – Francesco De Gregori

Die Glühwürmchen sind wieder in Rom

Die Stadtparks duften nach Sommer schon

Deine wahre Natur,

die Welt bestraft nur

die, die Flügel haben

und das Fliegen nicht wagen

»Baciami ancora« – Jovanotti

Erster Teil

1

5. März 1870

Königreich Italien – Olengo, Provinz Novara

Eine elendige Schar. Verwahrlost. Mager. Erbärmlich. Ausgemergelte, wachsfarbene Gesichter. Quaddeln an Wangen, Händen und Füßen, die von Heerscharen an Bettwanzen in ihren Lagern zeugten.

Alle trugen das Gleiche, eine verschlissene, mit unzähligen Flicken versehene Uniform. Wären sie nicht so jung, hätte man ihnen nicht mehr viel Zeit auf Erden vorausgesagt. Aber sie waren zwischen vier und siebzehn Jahre alt. Einhundert heruntergekommene, elendige Jungen, aufgereiht am morastigen Hofrand des Königlichen Waisenhauses Erzengel San Michele in Olengo, schwach auf der Lunge und zitternd vor Kälte, Hunger und an diesem Tag auch Aufregung.

Tief über ihnen lastete der Himmel drohend wie ein Fluch, von so dichtem Grau, dass man ihn hätte in Scheiben schneiden können. Ein Gewicht, viel zu schwer, um es je wieder abstreifen zu können.

Aber einer von ihnen würde heute das große Los ziehen.

Und deshalb murmelten sie alle eine endlose Litanei, bewegten die rissigen Lippen zu einem Wiegenlied ohne Hoffnung, einem Gebet ohne Glauben. Teilnahmslos, wie nur die sind, in deren Welt das Wort »Glück« keine Bedeutung hat, wandten sie sich flüsternd an einen Gott, der noch nie etwas für sie getan hatte: »Mach, dass ich es bin … mach, dass ich es bin … mach, dass ich es bin …«

Mach, dass ich der Eine bin.

Am Hofeingang, wo träge die Trikolore des frisch gegründeten Königreichs Italien im Wind flatterte, erschien eine vornehme Dame um die dreißig: die Contessa Silvia di Boccamara, diesen Namen kannten sie alle.

Bei ihrem Anblick hielten die Jungen in ihrem Gebet kurz inne, um es dann noch inbrünstiger fortzusetzen: »Mach, dass ich es bin …«

Hinter ihr tauchte ihr Mann auf, Ippolito Odìn. Er war etwa vierzig Jahre alt und äußerst wohlhabend. Neben ihm lief unterwürfig der Direktor der Einrichtung, gefolgt von drei schwarz gekleideten korpulenten Frauen. Eine von ihnen war die Frau des Direktors, die anderen beiden waren Vinzentinerinnen aus der Basilica San Gaudenzio in Novara – Schwestern der Genossenschaft der Töchter der christlichen Liebe vom heiligen Vinzenz von Paul.

Die Jungen versuchten, einen Blick auf die heranschreitende Contessa zu erhaschen, worauf die unbarmherzigen Erzieher ihre Weidenpeitschen knallen ließen, um sie in Reih und Glied zu halten.

Nur einer von ihnen reckte nicht den Hals, sondern blickte starr vor sich hin und fuhr in seiner Litanei fort, die Hände so fest zu Fäusten geballt, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Er zählte gut sechzehn Jahre, und sein Gebet war nicht wie das der anderen. Denn er wandte sich nicht an Gott. In seinem Kopf sprach er direkt zur Contessa, denn sie war der einzige Gott an diesem Tag: »Nimm mich … nimm mich … nimm mich …«

Die Contessa schritt an den aufgereihten Waisen vorbei, ohne auf ihre Seidenschuhe oder den Saum ihres Kleides zu achten. Sie sah jeden einzeln an, kurz und konzentriert – dann ging sie zügig weiter, und die Zurückgelassenen waren aussortiert.

Als sie nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, dachte der Junge noch flehentlicher: Nimm mich … nimm mich … nimm mich …

Die Contessa sah den Jungen neben ihm an. Unmerklich schüttelte sie den Kopf und ging einen Schritt weiter.

Kurz bevor sie ihn ansah, bereute der Junge inständig, sich nicht ordentlich gekämmt zu haben, er hasste die widerspenstige blonde Strähne, die ihm immerzu ins Gesicht fiel. Er bereute, sich nicht das Gesicht gewaschen zu haben, aber auch an diesem Morgen war das Wasser eisig gewesen, und so klebte auf seiner linken Wange ein nunmehr getrockneter Schmutzfleck wie eine Kruste. Er schämte sich für die Jacke und die graue Hose, beide ausgebeult und verschlissen, zusammengenäht aus dem verfilzten Flanell einer Ladung alter Militärdecken. Vor allem aber wäre er gern weniger mager und hochgewachsen. Denn deshalb hatte man ihn schon oft aussortiert: Nur Jungen, die stark genug für die harte Feldarbeit waren, wurden adoptiert. Es ging mehr um Arbeitskräfte als um Söhne.

Dann richtete die Contessa ihren Blick auf ihn. Ihre Augen waren von kräftigem Veilchenblau, das mauvefarbene Kleid hätte nicht besser dazu passen können.

Die Zeit blieb stehen. Der Junge spürte, wie sein ganzer Körper unter der Spannung zu zittern begann. In seinem Inneren bebte es. Sollte er lächeln oder ernst schauen, steif oder entspannt stehen? Sollte er ihr zeigen, was er sehnlichst wünschte, und gelang es ihm zumindest halbwegs, seine Panik zu verbergen?

Nimm mich, dachte er.

»Den nehmen wir«, sagte die Contessa in diesem Moment.

Sein Herz setzte einen Schlag aus. Er reckte den mageren Brustkorb vor, stand nun kerzengerade, als steckte er in einem Schraubstock. Dann brach ein kurzes heftiges Lachen aus ihm hervor. So kurz, dass es klang wie ein kräftiges Aufstoßen. Sein Herzschlag setzte wieder ein, aber so heftig und schnell wie bei einem wild gewordenen Tier, so übermächtig, dass seine Rippen ihn kaum zu halten vermochten. Niemand außer einem Waisenkind konnte sich wohl vorstellen, was es hieß, ein Leben lang eingesperrt zu sein. Und niemand, der nicht ein Leben lang eingesperrt gewesen war, allein, ohne Familie, konnte fühlen, was er jetzt fühlte.

Heiße Tränen schossen ihm in die Augen, so plötzlich, dass es fast wehtat, aber er kniff kurz und hart die Lider zusammen und biss sich auf die Lippen, um sie zurückzuhalten.

Er wollte schreien, losrennen oder lachen, war aber wie gelähmt von den drei Worten der Contessa. Denn was sie gerade gesagt hatte, wünschte er sich jeden Tag von morgens bis abends. Von ganzem Herzen.

Er öffnete die Augen, und die Contessa trat einen Schritt auf ihn zu.

Er hielt ihrem Blick stand, denn er war ein mutiger und stolzer Junge.

Aber eben noch kein Mann. Wieder setzte sein Herz einen Schlag aus und begann dann wild zu hämmern. Wieder spürte er die Tränen, wieder hielt er sie zurück. Wieder musste er lachen, blieb jedoch regungslos stehen.

Die Contessa musterte ihn ruhig, wie einen Gegenstand. Die Augen des Jungen waren dunkel, aber lebhaft, die Lippen voll, fast mädchenhaft, ohne ihm jedoch etwas Weichliches zu verleihen. Der Kiefer markant. Die Nase war gerade, dabei aber so ausdrucksstark, dass sie Charakter erkennen ließ. Dichte geschwungene Augenbrauen, pechschwarz, bildeten einen schönen Kontrast zu der blonden Strähne, die ihm ins Gesicht fiel.

»Lass mal deine Stimme hören«, verlangte sie.

»Was soll ich denn sagen?«, wollte der Junge wissen.

»Das reicht schon«, antwortete die Contessa.

Dem Alter entsprechend war seine Stimme ein wenig heiser und brüchig, aber es war schon zu hören, dass sie einmal einen schönen Bariton abgeben würde, weder zu hoch noch zu tief.

»Zeig mal die Zähne«, forderte die Contessa.

Und plötzlich, ohne dass er es kontrollieren konnte, ging es mit ihm durch. Vorwitz und Übermut ließen sich einfach nicht zurückhalten, sosehr er es auch versuchte.

»Wie ein Pferd?«, fragte er geradeheraus und schalt sich sofort: Idiot! Warum kannst du deinen Mund nicht halten? Und gleich noch einmal: Idiot, warum nur musst du immer alles kaputtmachen?

»Wie kannst du es wagen!«, rief einer der Erzieher.

Die Contessa verzog keine Miene. »Genau, wie ein Pferd, ein Cavallo«, gab sie zurück. Und fügte hinzu: »Bitte.«

Der Junge wusste, dass er jetzt aufhören musste. Aber wenn er einmal anfing, kam er nicht mehr dagegen an, es war wie ein Zwang. Immer wieder brachte seine Vorwitzigkeit ihm Ärger ein, mit den Erziehern und auch mit sonst jedem, der seinen Weg kreuzte. Ein Teil von ihm wusste, dass es jetzt genug war, aber wie immer gewann der andere: Er bleckte sowohl die obere als auch die untere Zahnreihe, beide schön gerade und blendend weiß – und wieherte. Laut und deutlich.

Die anderen Waisen brachen in lautes Gelächter aus.

»Ruhe!«, bellte der Direktor.

Die Contessa neigte den Kopf zur Seite und runzelte leicht die Stirn. Offensichtlich dachte sie nach.

Ohne den Blick ihrer veilchenblauen Augen von dem Jungen abzuwenden, fragte sie: »Wenn dieser hier nichts taugt, können wir ihn dann zurückgeben?«

Die Menschen hinter ihr erstarrten, entsetzt, nicht nur von der Frage an sich, sondern von der Kaltblütigkeit, mit der sie gestellt worden war.

»Natürlich nicht, meine Liebe«, mischte sich jetzt ihr Ehemann ein. »Er ist doch kein Welpe aus dem Tierheim.«

»Immerhin ist er ein Welpe aus dem Waisenhaus«, gab sie sogleich zurück. Und dann lachte sie leise über ihren Witz, aber so vornehm, wie der Junge sich ein Lachen nie hatte vorstellen können.

Die vinzentinischen Schwestern von San Gaudenzio wussten nicht, wohin mit sich. Mit ihren schwarz gewandeten, ausladenden Hinterteilen wedelten sie hier- und dorthin, wie eine Schar verlorengegangener Hühner.

»Sicher«, meldete sich nun der Direktor zu Wort. »Sollte er Euch arge Probleme bereiten, die mit Strafen, auch körperlicher Art, nicht zu beheben sind, können wir uns natürlich nicht weigern, ihn zurückzunehmen.«

»Und Ihr würdet ihn gegen ein … zahmeres Exemplar umtauschen?«, fragte die Contessa in ihrer unnachgiebigen Art.

Der Junge blickte sie an. Und verstand sofort, was sie damit sagen wollte, denn dumm war er ganz und gar nicht: Sie wollte wissen, ob er zahm werden könnte. Und das wollte sie nicht etwa vom Direktor wissen, sondern von ihm. Von ihm, einem stinkenden Stück Dreck in einer grauen verfilzten Uniform.

»Verzeiht …«, murmelte er, ohne ihrem Blick auszuweichen.

Die Contessa musterte ihn. »Von Pferden verstehe ich etwas«, sagte sie schließlich und fügte etwas versöhnlicher hinzu: »Und du bist ein Rassepferdchen, ein Cavallino.« Damit wandte sie sich zum Direktor und bestätigte noch einmal: »Ja, den nehmen wir.«

Du hast mich genommen!, dachte der Junge, und dieser Gedanke hallte wie ein Donnerschlag in ihm wider.

Auf einen Wink des Direktors trat der nächststehende Erzieher mit einem Register in der Hand vor.

»19/03«, sagte er, nachdem er die auf die Jackentasche des Jungen aufgestickte Nummer kontrolliert hatte. Er blätterte im Register, räusperte sich und las vor: »19/03. Alter: sechzehn, in etwa. Das Geburtsdatum ist etwas unklar. Keine Krankheiten. Körperliche Beschaffenheit: mager, aber zäh. Willensstark. Intelligent, aber faul. Kann lesen, schreiben und rechnen. Zuweilen findet man ihn in der Bibliothek, wo er freiwillig liest, meistens aber Romane, die nicht für sein Alter bestimmt sind.« Hier folgte eine kurze Pause. »Anpassungsfähigkeit und Gehorsam …«, seine Stimme schwankte unsicher. Er blickte zum Direktor, der ihm unmerklich zu verstehen gab, die Bewertung ein wenig nach oben zu korrigieren.

»Anpassungsfähigkeit und Gehorsam …«, setzte der Erzieher noch einmal an, »vier von zehn.«

Der Direktor warf ihm einen wütenden Blick zu.

»Eigentlich fünf«, verbesserte sich der Erzieher. »Fast sechs.«

»In Ordnung, das reicht«, unterbrach ihn die Contessa. »Wenn Ihr so weitermacht, sind es gleich zehn.«

Der Erzieher senkte den Kopf.

»Bei allem Respekt, Signora Contessa«, wandte sich eine der Schwestern in priesterlichem Singsang an sie, »darf ich fragen, warum Ihr ausgerechnet eine von diesen unglückseligen Kreaturen hier adoptieren möchtet?«

Mit einem kurzen Blick gab die Contessa ihr zu verstehen, dass sie eine Antwort für reine Zeitverschwendung hielt. »Ich kann keine Kinder bekommen. Für mich würde es auch ein Hund oder eine Katze tun, aber mein Mann besteht auf einem Zweifüßler«, antwortete sie mit der gleichen, für die Betschwestern unverständlichen Brutalität wie zuvor. »Und so sei es nun: Wir nehmen einen Zweifüßler mit. Wichtig ist, dass er alt genug ist, um seine Bedürfnisse selbst zu verrichten, und dass er versteht, was man ihm sagt. Außerdem muss erkennbar sein, dass aus ihm einmal ein hübscher Mann wird.« Sie verzog das Gesicht. »Denn einen hässlichen Ziehsohn könnte ich nicht ertragen.«

Wie zufällig senkte sie den Blick auf den schweren Rockstoff der Schwester, um noch einmal klarzustellen, dass allein die rein äußerliche Kluft zwischen ihnen unüberbrückbar war. Dann musterte sie wieder den Jungen, während sie den Direktor ansprach:

»Hat 19/03 auch einen Namen?«

»Aber sicher!«, beeilte sich der Direktor. »Er heißt … äh, Moment, er heißt …« Hilfesuchend blickte er zum Erzieher.

Dieser blätterte eifrig in dem zerfledderten Register, um dann triumphierend, als wäre es eine Meisterleistung, herauszuplatzen: »Pietro Diotallevi.«

Die Contessa nickte. »Das klingt schon mal besser als 19/03, oder nicht?«, sagte sie in Richtung der vinzentinischen Schwestern. »Auch diese – wie habt Ihr sie doch gleich genannt? Ah, ja, diese unglückseligen Kreaturen –, auch sie sollten das Recht auf einen Namen haben und nicht auf eine Nummer reduziert werden.«

Die Schwester wusste darauf nichts zu sagen. »Die Regeln …«, wand sie sich unglücklich, »und die Archive …«, stammelte sie, ehe ihr die Worte endgültig im Halse steckenblieben.

Die Contessa drehte sich zu dem Jungen um, auf dessen Wangen jetzt Tränen ihre Spuren hinterlassen hatten.

»Du bist wohl doch nicht so stark, wie du tust, Cavallino?«, merkte sie mit einem leichten Lächeln an. »Aber bevor du einen Fuß in unser Haus setzt, müssen wir dir erstmal die Wanzen austreiben.«

Der Junge nickte. »Sehr gerne, Signora.« Aber er musste versuchen, wieder Oberwasser zu gewinnen, und am besten konnte er das mit seinem losen Mundwerk. Vielleicht würde er so auch aufhören können zu weinen, und vielleicht musste er dann nicht mit einem Freudensprung laut ausrufen: »Du hast mich genommen! Mich!« Vielleicht würde sein Herz dann nicht in tausend Stücke zerspringen. Also stieß er hervor: »Ihr habt mich Cavallino genannt, aber so viel, wie wir uns hier jucken müssen, sind wir eher Schimpansen.«

Wieder brachen die anderen Waisenkinder in Gelächter aus.

Der nächststehende Erzieher setzte an, ihm einen Hieb mit der Peitsche zu versetzen.

»Wage es nicht!«, funkelte die Contessa ihn an, riss ihm die Peitsche aus der Hand, brach sie entzwei und warf sie auf den Boden. Dann flüsterte sie drohend: »Er gehört jetzt mir. Wage nicht, ihn zu berühren!«

Der Erzieher zuckte zurück, als hätte er selbst den Peitschenhieb kassiert. Der Junge spürte, wie ihm die Sinne schwanden. Er hatte schon fest mit dem Hieb gerechnet, aber diese Frau mit dem himmlischen Duft war mutig genug und konnte es sich offensichtlich leisten, die Peitsche einfach entzweizubrechen.

Dann verkündete die Contessa ernst: »Ab jetzt ist dein Name Pietro Odìn.« Und mit einem fröhlichen Lachen fügte sie hinzu: »Und mit deiner blonden Strähne wirst du einmal allen Frauen den Kopf verdrehen.«

Der Junge sah, wie sie sich umdrehte und mit festen Schritten davonging. Auf seine Brust legte sich ein tonnenschweres Gewicht, das ihm fast den Atem nahm, und ihm war, als würde alles Licht vergehen.

Und während ihn die Dunkelheit umfing, fiel er wie ein nasser Sack in den Morast.

Jetzt bin ich kein Waisenkind mehr, war sein letzter Gedanke, bevor er ohnmächtig wurde.

2

Anfang März 1870

Königreich Italien – Nibbia, Provinz Novara

Auf dem Weg zu ihrem Gut in Nibbia, im Nordwesten der Provinz Novara, schlug Ippolito Odìn in der Kutsche die Beine übereinander.

»Warum macht es dir so großen Spaß, diese armen Frauen zu ärgern?«, fragte er seine Frau.

»Sie sind ganz und gar nicht arm«, gab die Contessa zurück. »Sie halten große Predigten, rufen einen Jungen aber beim Namen 19/03. Das ist doch unglaublich!«

»Man könnte meinen, du wärst Sozialistin, nicht Contessa«, meinte der Mann.

»Bevor ich dich kennenlernte, war ich eine Contessa ohne eine einzige Lira, das weißt du«, sagte sie. »Wenn Sozialismus bedeutet, dass man sich einiger Ungerechtigkeiten bewusst ist und dass es Heuchelei ist, so zu tun, als gäbe es diese Ungerechtigkeiten nicht, dann hat mir das Leben tatsächlich eine ordentliche Prise Sozialismus verpasst.«

»Ja, ich glaube, das kann man Sozialismus nennen«, sagte Ippolito Odìn. »Oder wenigstens Sozialismus à la manière der Contessa Silvia di Boccamara.«

»Du bist auf jeden Fall auch ein Heuchler.«

Ippolito zuckte zusammen. »Ich? Wieso?«

Die Contessa lächelte ihn an, der Blick aus ihren veilchenblauen Augen war jetzt sanfter. Zum ersten Mal seit dem Besuch im Waisenhaus schlich sich etwas Weiches, Menschliches in ihre Züge, was ihre Schönheit noch unterstrich. »Du bist ein unglaublicher Heuchler. Du hast doch am meisten Spaß von allen, wenn ich diese Betschwestern ein wenig aufziehe.«

Ippolito entspannte sich und lächelte ebenfalls. »Du bist furchtbar«, sagte er, dann lachte er. »Hast du ihre Gesichter gesehen? Ich dachte, gleich trifft sie der Schlag.«

»Und diese riesigen Hinterteile!«, gluckste seine Frau.

Laut lachend schüttelte der Mann den Kopf.

»Es tut mir leid, dass ich dir keinen Erben geboren habe«, sagte die Contessa, und in ihrer Stimme war ein alter, aufrichtiger Schmerz zu hören.

»Lass uns nicht mehr darüber sprechen.« Ippolito Odìn winkte ab. »Ich verstehe nur nicht, warum du ausgerechnet an einem so furchtbaren Ort einen holen musstest.«

»Glaubst du etwa, es gibt schöne Waisenhäuser?«, fragte sie spöttisch.

»Nein, aber … hast du gesehen, wie verdreckt es dort war? Wie verwahrlost diese Jungen sind? Und dann diese Erzieher und der Direktor …«

»Du glaubst also, dass es Waisenhäuser für wohlhabende Waisen gibt?« Die Contessa lachte.

»Nein, das nicht, ich meine nur … Warum ausgerechnet dieses Waisenhaus?«

»Weil ich dem Erzengel Michele treu ergeben bin. Und das Waisenhaus trägt seinen Namen.«

Ippolito Odìn sah seine Frau überrascht an. »Ergeben? Du bist doch nicht einmal gläubig. Ich schwitze jeden Sonntag Blut und Wasser, um dich in die Messe zu bewegen!«

»Messe und Religion haben damit überhaupt nichts zu tun«, antwortete die Frau schulterzuckend. »Ich bin dem Erzengel Michele treu ergeben, basta.«

»Ist ja gut. Aber warum?«

Die Contessa streckte ihre zarte, alabasterne Hand aus und strich sanft über das Gesicht ihres Mannes. »Es ist einfach so.«

Er sagte nichts, lächelte nur und küsste ihre Hand, wohl wissend, dass er nicht mehr aus ihr herausbekommen würde.

»Ein hübscher Junge«, meinte die Contessa. »Und klug ist er auch.« Sie schmunzelte, als sie an sein Wiehern dachte. »Ein kluges, charakterstarkes Cavallino.«

Ippolito Odìn sah sie an. »Silvia«, murmelte er, »sei nicht zu streng mit ihm.«

»Bis gerade war er noch Nummer 19/03, ein schicksalsloser Niemand. Das hier ist seine große Chance. Wir werden sehen, ob er sie zu nutzen weiß«, gab die Contessa zurück. »Einen kleinen Preis für seine Zivilisierung wird er vermutlich zahlen müssen.«

»Und deine sozialistischen Vorstellungen?« Ihr Mann lächelte.

»Sind Sozialisten etwa Wilde?«

Ippolito legte eine Hand auf ihr Knie und drückte es sanft. »Sei nicht so streng«, wiederholte er.

»Ich habe dir keinen Sohn geboren, ich werde dir nun einen großziehen«, antwortete sie trocken. Ihre Worte waren eindeutig, ließen keinen Spielraum. Alles war, wie sie es aussprach, ohne die Möglichkeit einer Beschönigung. Hart, aber ehrlich. Endgültig wie ein Urteilsspruch.

Sie schwiegen, während die Kutsche an den Reisfeldern vorbeifuhr, die, so weit das Auge reichte, Ippolito Odìn gehörten. Normalerweise war deren Anblick um diese Jahreszeit eine Freude. Bewässerung und Breitsaat waren gerade erledigt, und alle, Herren wie Bauern, stellten sich lebhaft vor, wie die üppigen Pflanzen um das Sonnenlicht wetteifern und reifen würden. Aber schon seit dem vergangenen Jahr war es anders. Die großen sumpfigen Quadrate, umrandet von Be- und Entwässerungsgräben, waren nahezu ausgetrocknet. Seit September letzten Jahres hatten nur wenige Pflanzen den Parasiten überlebt, gegen den die Bauern machtlos gewesen waren. Die Aussaat war dürftig gewesen und der Parasit vermutlich noch in der Erde. Kein einziger Trieb war zu sehen auf dem niedrigen, stehenden Wasserspiegel, durchbrochen nur hier und da von einem Frosch auf der Flucht vor den Reihern mit ihren spitzen Schnäbeln, die zuschnappen konnten wie Mausefallen. Auch in diesem Jahr würde es eine Hungersnot geben.

»Eine Katastrophe«, murmelte Ippolito Odìn.

Der Contessa entging die düstere Miene ihres Mannes nicht. »Machst du dir Sorgen?«

»Viele arme Familien hatten schon im letzten Jahr nicht genug zu essen«, antwortete er. »Und das wird sich in diesem Jahr nicht ändern.«

»Es gibt mehr italienische Flaggen als Reisähren«, bestätigte die Contessa in schneidendem Ton. »Wenn die Armen die Flaggen essen könnten, gäbe es kein Problem.«

Ippolito hörte den Groll in der Stimme seiner Frau. »Was hat das Königreich Italien dir getan? Für viele ist mit der Gründung ein Traum wahr geworden. Mein Großvater und mein Vater haben davon geträumt und es nicht mehr erleben dürfen. Und all die Märtyrer, die ihr Leben für ihre Ideale geopfert haben …«

»Nichts hat das Königreich mir getan«, unterbrach ihn seine Frau. Dann warf sie ihm einen stechenden Blick zu. »Und dir? Was tut es dir an?«

Ippolito senkte den Blick.

»Glaubst du vielleicht, ich bin blind? Oder dumm?«

Er schwieg weiter.

»Glaubst du vielleicht, ich wüsste nicht, dass du den Bediensteten keinen Lohn mehr zahlst? Ich sähe die ganzen Unterlagen über deine Besitztümer auf deinem Schreibtisch nicht? Glaubst du, ich merke nicht, wie du nachts über Rechnungen schwitzt? Und das alles, nachdem dein geliebtes Königreich Italien Abgesandte und Minister zu dir geschickt hat.« Sie musterte ihn. »Was verheimlichst du mir?«

»Nichts«, gab Ippolito zurück, wagte aber nicht, sie anzusehen.

»Du lügst, sobald du den Mund aufmachst.« Die Stimme der Contessa war eisig.

»Eine dunkle Wolke hat sich über uns geschoben«, sagte er leise.

»Wird es gewittern?«

Ippolito schwieg.

»Vielleicht sogar hageln?«

Immer noch keine Antwort.

»Stille«, sagte die Contessa, »ist auch ein Geräusch.«

»Es wird sich alles klären.«

Die Edelfrau ließ ihren Blick über die trostlosen Felder gleiten. »Was auch immer geschieht, vergiss nicht, dass ich dich nicht wegen deines Geldes geheiratet habe.«

»Ich weiß.«

Ippolito schwieg, ihm fehlte der Mut, ihre Hand zu nehmen. Schließlich drückte er sie doch. »In den nächsten Tagen muss ich nach Turin reisen.«

Die Contessa entzog ihm ihre Hand.

Die Kutsche erreichte nun die kleine Brücke über den Cavour-Kanal, die zum Gut führte. Hohe, kerzengerade Pappeln säumten einen grünen Weg, an dessen Ende der schöne, vornehme Bau aus rotem Stein mit weißen Fensterrahmen zu sehen war, eingefasst von zwei anmutigen runden Türmen. Die Kutschräder knirschten über den Schotterweg.

Die Augen der Contessa fixierten starr das näher kommende Haus. Noch bevor der Kutscher hielt, öffnete sie die Tür, lüpfte den mauvefarbenen Rock und sprang hinaus.

»Silvia!«, rief ihr Mann vorwurfsvoll, aber er wusste, wie viel Freude es ihr bereitete, Regeln zu brechen. Und er dachte, dass dieses rebellische Cavallino als Sohn perfekt zu ihr passte.

Er selbst wartete geduldig, bis Paride, der Kutscher, anhielt, abstieg und ihm die Tür öffnete.

Noch beim Aussteigen bemerkte er, dass sein Haushofmeister ihn an der von zwei schlanken, hellen Marmorsäulen eingefassten Eingangstreppe erwartete, allerdings noch steifer als sonst. Als ihm der Grund dafür aufging, spürte er eine tonnenschwere Last auf den Schultern, wie ein böses Omen.

Die Contessa hakte sich bei ihm ein, und gemeinsam schritten sie die Stufen hinauf.

Der Diener verbeugte sich leicht und gab seinem Herrn ein Zeichen.

Doch Ippolito Odìn wusste auch so Bescheid.

»Wolltest du nicht ausreiten?«, fragte er seine Frau.

Die Contessa sah ihn an und verstand sofort, worauf er hinauswollte. »Warum willst du, dass ich gehe?«

Ippolito seufzte. »Ich glaube, hier wartet ein sehr wichtiger Besucher auf mich«, antwortete er und wandte sich an seinen Diener: »So ist es doch, oder?«

»Ja, Signore. Seine Exzellenz Minister Minghetti erwartet Euch.«

»Du wolltest doch nach Turin«, sagte die Contessa. »Und siehe da: Turin kommt zu dir.« Sie lächelte sarkastisch. »Das ist zweifellos nicht nur eine dunkle Wolke. Und auch kein einfaches Gewitter. Das hier ist mit Hagel und allem Drum und Dran.«

»Silvia«, setzte Ippolito an. »Das Königreich hat fünfundvierzig Millionen Lire für den Bau des Cavour-Kanals ausgegeben, und dann war da noch der Krieg, um Venetien und Venedig zurückzuerobern …«

Die Contessa sah ihn an.

Er wand sich. »Diejenigen von uns, die … wie soll ich sagen … ein wenig mehr besitzen als andere, also … Wir haben uns selbst besteuert, und jetzt müssen wir besprechen …«

»Die Zahlungsart, ich verstehe.«

»Die Bedingungen.«

»Hinter verschlossen Türen?«

»Ja, hinter verschlossenen Türen.«

»Warum sollte man so etwas hinter verschlossenen Türen besprechen?«

»Silvia, das ist alles sehr schwierig. Italien als Nation wurde gerade erst aus der Wiege gehoben.«

»Und irgendwer muss diesem kleinen Neugeborenen offenbar die Aussteuer bezahlen. Und außerdem muss es gestillt werden, und man muss es noch saubermachen am … Ich denke, wir haben uns verstanden.«

»Ich muss jetzt gehen.«

»Mach dir nicht die Mühe, den Minister von mir zu grüßen. Sag ihm einfach, dass ich Besseres zu tun hatte«, murmelte die Contessa. Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging wutentbrannt zu den Stallungen, wo sie Bersagliere, ihren geliebten Schimmel, satteln ließ.

Ippolito Odìn sah ihr nach, wie sie davonstapfte. Normalerweise brachte ihn ein solches Verhalten zum Lachen, aber heute war sein Herz schwer. Sehr schwer.

Er brachte eine Grimasse zustande, die ein Lächeln sein sollte, als er dem Diener freundschaftlich auf die Schulter klopfte, und wunderte sich selbst über diese so vertraute Geste.

»Sie werden mich schon nicht umbringen«, scherzte er. »Mach dir keine Sorgen.«

Aber sein schweres Herz mahnte ihn, dass es in dieser Hinsicht nichts zu scherzen gab.

3

Anfang März 1870

Königreich Italien – Pomposa, im Delta des Po

Im Zirkus Callari gab es weder Tiger noch Löwen, geschweige denn bärtige Frauen oder dreibeinige Männer. Aber Trapezkünstler, Akrobaten, Clowns, Zwerge, Jongleure, Zauberer, Messerwerfer und Feuerspucker, die gab es.

Vor allem aber gab es Pferde. Anmutige, pfeilschnelle Araberpferde. Dazu große nordische Pferde mit bis über die Hufe reichendem zotteligem Fell, die mühelos schwerste Lasten ziehen konnten. Außerdem ungarische Pferde, die mit zu Zöpfen geflochtener Mähne auf den Hinterbeinen nebeneinander herliefen wie feine Herrschaften beim Spaziergang. Und Pferde, so klein, dass man sie für große Hunde hätte halten können, die bereitwillig durch Feuerreifen sprangen. Wollte man Pferde sehen, welcher Art auch immer, wurde man im Zirkus Callari fündig.

Der Zirkus war von jeher durch Italien gereist. Auch zu den Zeiten, als die großen europäischen Tyrannen das Land unter sich aufgeteilt und beherrscht hatten. Im Piemont hatten die Callari-Artisten schon ihre Vorstellung gegeben, als es noch zu Savoyen gehörte, in der Lombardei und in Venetien, als diese – je nach Tageslage – noch Frankreich oder Österreich unterstanden, in der Toskana, als diese noch ein Großfürstentum war, in Umbrien, den Marken und Latium, als diese noch zum Kirchenreich des Papstes gehörten und von Bonapartes Truppen beschützt wurden, in den südlichen Gegenden, als diese noch von den Bourbonen besetzt waren und dort mehr Spanisch als Italienisch zu hören war. Nahezu überall hatten sie schon ihr großes Zelt aufgestellt, ob während des Zuges der Tausend unter Garibaldis Führung, mit dem Italien Stück für Stück zurückerobert wurde, um schlussendlich zu einer einzigen Nation zu reifen, oder danach, als die Savoyen sich zum Herrscher erklärten über ein Reich, das es seit den alten Römern nicht mehr gegeben hatte.

Keine Revolution dieser Welt schien dem Zirkus etwas anhaben zu können – er war eine eigene Nation.

Gerade erreichte der lange Zug aus leuchtend bunten Wagen eine Region, die erst seit drei Jahren zu Italien gehörte. Flaches, morastiges Malariagebiet, in dem es von Mücken nur so wimmelte. Träge floss der Po in seinem Bett, teilte von Osten nach Westen ganz Norditalien in zwei Hälften und ließ sich alle Zeit der Welt, seine süßen Wasser in die Arme des Meeres zu tragen.

Der Zug kam ähnlich langsam voran.

Auf dem Kutschbock des letzten Wagens saß ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen von eigener Schönheit, ihre Nase war ein wenig zu markant, ihre Lippen rot wie reife Kirschen.

Obwohl es nur so langsam vorwärtsging, klammerte sie sich mit aller Kraft an den Kutschbock. Sie hatte keine Angst herunterzufallen, Angst bereitete ihr vielmehr der Aufruhr in ihrem Inneren, der sie seit Tagen umtrieb und den sie weder abschalten noch jemandem mitteilen konnte. Sie wusste nicht damit umzugehen, ihr Herz quoll über vor zornigem Schmerz, der ihr die Tränen in die Augen trieb und sie gleichzeitig schlucken ließ.

Sie hieß Marta, und die einzige Person, der sie vertraute, war der Mann neben ihr auf dem Kutschbock.

Dieser war um die sechzig, wirkte aber älter, denn das Leben hatte ihm übel mitgespielt. Tag um Tag hatte es viele Furchen tief in sein Gesicht gegraben, die fast aussahen wie Narben. Zwischen den Lippen hielt er eine erloschene Zigarre, deren Tabak so stark war und so übel roch, dass nicht einmal die heimischen Mücken etwas mit ihm zu tun haben wollten. Er hieß Melo. Damals, in jungen Jahren, war seine Pferdenummer die Hauptattraktion im Zirkus Callari gewesen. Nie wieder hatte jemand es ihm gleichgetan, man sprach noch heute davon. Aber mittlerweile waren seine Beine steif und zu schwach, das Alter hatte ihn aus dem Sattel gehoben. Doch während die anderen Artisten irgendwann erst zu Clowns wurden, dann zu Bonbonverkäufern und schließlich die Ställe ausmisten mussten, wurde Melo nicht degradiert, er kümmerte sich um die Pferde. »Denn«, so sagte Ascanio, der Zirkusdirektor, der mit seinen achtzig Jahren die Fäden immer noch sicher in der Hand hielt, »mit Pferden reden ist leicht, das kann jeder. Die Pferde aber, die verstehen nur Melo, sonst niemanden.«

Marta blickte starr vor sich hin, die Finger in den Kutschbock gekrallt, angriffslustig und resigniert zugleich. Sie hatte etwas begriffen, das zu groß für sie war. Viel zu groß. Doch sie war mit diesem schrecklichen Geheimnis allein.

Während Marta mit ihren Gedanken kämpfte, drang aus dem gelb-roten Wagen vor ihnen, gedämpft vom Knirschen der Räder und den im Schlick schmatzenden Pferdehufen, leise das Wimmern eines Kindes.

Jetzt kam ein Kirchturm in Sicht. Das bedeutete, dass sie Pomposa erreicht hatten, ein Städtchen, das sich ausschließlich durch seine romanische Abtei und einen stechenden, fauligen Geruch auszeichnete, der bei der Gewinnung von Zucker aus Rüben entstand.

»Was ist eigentlich los mit dir?«, wollte Melo wissen.

»Nichts«, antwortete Marta.

Der Alte zog sanft die Zügel an, um die Pferde zum Stehen zu bringen. Sie würden hier mit den anderen auf einer kahlen Wiese ihr Lager aufschlagen und das Zelt für die Vorstellung aufbauen. »Wirklich?«

»Ja. Lass gut sein«, murmelte Marta und sprang vom Kutschbock, um beim Lageraufbau zu helfen.

Als sie an dem gelb-roten Wagen vorbeikam, in dem sie wie immer mit den anderen Kindern vom Zirkus schlafen würde, verlangsamte sie den Schritt und lauschte. Und wieder hörte sie das Wimmern des Kindes.

»Nicht weinen«, war von drinnen eine weibliche Stimme zu hören. »Willst du einen Keks?«

Das Wimmern erstarb.

Martas Magen krampfte sich zusammen, sie beschleunigte ihren Schritt, und mit den Händen auf den Ohren fing sie fast an zu rennen.

Dann widmete sie sich ihren Aufgaben mit all ihrer Kraft, in der Hoffnung, so den quälenden Gedanken verscheuchen oder wenigsten zum Schweigen bringen zu können.

Aber es half nichts. Stunde um Stunde, Tag um Tag hatte sich dieser Gedanke in ihr eingenistet, im Kopf, im Herzen und in der Seele.

Als das große Zelt fertig aufgebaut war, schlüpften die Schausteller in ihre Kostüme. Sie ersetzten ihre graue Alltagskleidung durch glänzende, enganliegende Anzüge, die Männermuskeln betonten und schöne Frauenkörper hervorhoben, in denen Zwerge noch winziger und Clowns noch lustiger aussahen. Die Gemeinschaft erwachte in Erwartung des Publikums, das am Abend kommen würde, um zu staunen, zu schaudern, zu lachen und Fantastisches zu erleben.

Marta hatte schon alles im Zirkus versucht. Doch ihr fehlte das akrobatische Gleichgewicht, die Dehnbarkeit der Schlangenmenschen, die Koordination der Jongleure und die Kaltblütigkeit der Messerwerfer. Auch hatte sie nie verstanden, mit den Pferden zu reden. Sie konnte nichts Besonderes, hatte weder Talent noch Leidenschaft.

So war sie in der Wurfbude gelandet. Außerhalb des Zeltes, wo die Vorstellung gegeben wurde. Ausgeschlossen. Sie war ein Fremdkörper in dieser talentierten Gemeinschaft. Sie musste nur die Dosen aufstellen und den Kunden, die für drei Würfe bezahlten, die Stoffbälle reichen, das war alles.

Während sie wartete, glitt ihr Blick wieder zum gelb-roten Wagen, und sofort kochte heftige Wut in ihr hoch. Sie warf einen Ball gegen die Dosenpyramide und stellte dann geduldig alles wieder auf in dem Versuch, ihren Zorn zu bändigen. In Wahrheit aber war es eher Ungläubigkeit, Schmerz, ein Riesendurcheinander.

Im Grunde hatte sie sich hier bei den Schaustellern immer fremd gefühlt, war immer in einem Niemandsland herumgeirrt. Insbesondere jetzt, da sie dieses schreckliche Geheimnis herausgefunden hatte.

»Gibst du mir drei Bälle für meinen Jungen?«

Vor Marta stand ein Mann. Er war um die vierzig und in Begleitung zweier Kinder. Der Junge musste um die zwölf sein, die Kleine, an der Hand des Vaters, knapp vier.

»Natürlich, Signore«, sagte sie und reichte dem Jungen die Bälle.

Er warf. Ein flacher Wurf, der viel zu seitlich geriet und nur eine einzige Dose zu Fall brachte.

»Du musst besser zielen«, riet der Vater. Er ließ die Hand seiner Tochter los und zeigte dem Jungen die Bewegung. »So, siehst du?«

Der zweite Wurf war schon besser.

»Gut! Aber du musst mehr aus der Schulter werfen.«

Da bemerkte Marta, wie sich das kleine Mädchen ein Stückchen entfernte und schließlich zwischen den Leuten vor dem Zirkuszelt verschwand. Ihr schoss das Blut ins Gesicht, Panik ergriff sie.

»Deine Tochter«, schrie sie den Mann an, »wo ist deine Tochter?«

Der Mann sah sie an, überrascht von der Heftigkeit ihres Ausbruchs. Dann blickte er sich um.

»Sie ist weg!«, schrie Marta aufgelöst.

In diesem Moment tauchte das Kind wieder auf und lief zu seinem Vater.

»Was ist mit dir, Mädchen?«, fragte der Mann.

Marta war immer noch wie von Sinnen. »Du musst auf deine Tochter achtgeben!«, schrie sie ihn an. »Was, wenn sie sich verläuft? Wenn irgendjemand sie mitnimmt?«

»Was redest du denn da? Sie ist doch hier.«

Marta war außer sich. »Man muss doch auf seine Kinder aufpassen!«

»Entschuldigt, Signore«, mischte sich einer der Schausteller ein. »Marta, was ist los mit dir? Beruhige dich.«

»Aber das Mädchen …«, rief Marta erbost.

Der Schausteller packte sie hart am Arm. »Geh jetzt!«, befahl er ihr. »Und komm erst wieder, wenn du dich beruhigt hast.« Er schubste sie weg und wandte sich an den Herrn: »Bitte entschuldigt, Signore. Euer Sohn bekommt noch mal drei Bälle umsonst.« Und an Marta gewandt, die sich nicht vom Fleck bewegt hatte, stieß er noch einmal hervor: »Geh jetzt!«

Keuchend und außer sich vor Wut ging Marta davon. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Mit dem Verhalten des kleinen Mädchens war erneut die Angst in ihr erwacht.

Wie von selbst liefen ihre Füße zu dem gelb-roten Wagen, wo sie durch das Fenster einen Blick auf das kleine Mädchen erhaschte, dessen Wimmern sie den ganzen Tag über gehört hatte. Es lag zusammengekauert in einer Ecke, immer noch wimmernd, Rotz lief ihr übers Kinn, während sie leise murmelte: »Mama, Mama …«

Und in diesem Moment, als sie schon meinte, ihr Kopf würde platzen, ihr Herz zerreißen, als in ihren Lungen Feuer loderte und ihre Seele in einen nachtschwarzen Abgrund stürzte, entschied sich Marta, ihrem Albtraum ins Gesicht zu sehen.

Auch sie war einst gestohlen worden.

4

Anfang März 1870

Königreich Italien – Pomposa, Comacchio, Ravenna

Nach einer unruhigen Nacht machte Marta sich früh am nächsten Morgen auf die Suche nach Melo. Seit knapp einer Woche wusste sie Bescheid. Man hatte sie gestohlen, vor vielen Jahren, genauso wie das kleine Mädchen im gelb-roten Wagen. Sie hatten ihr die Familie genommen. Eine richtige Familie, nicht so eine, wie diese sonderlichen Schausteller eine war. Irgendwo hatte sie eine Mutter, einen Vater, vielleicht hatten ihre Großeltern noch gelebt, als sie verschwand, bestimmt hatte sie Brüder und Schwestern, mit denen sie damals auf einem Hof voller Hühner und Schweine gespielt hatte. Und abends beim Essen hatten sie viel und gerne gelacht.

Und eines Tages hatte sie sich ein kleines bisschen zu weit entfernt.

Sie erinnerte sich nicht mehr an Einzelheiten, aber Tatsache war, dass man sie ihres Schicksals beraubt hatte.

Das kleine Mädchen hatte die Erinnerung in ihr wachgerüttelt. Vor fünf oder sechs Tagen, als sie den Po überquerten, auf Kähnen, die mithilfe dicker Taue von einem Ufer zum anderen gezogen wurden, landeten sie in der Nähe eines traurigen Dorfes mit Namen Contarina. Wie ein riesiger Tausendfüßler grub sich der Wagenzug lärmend in die Landschaft, geduckt unter einem tief stehenden Himmel, der fast die niedrigen Dächer der Armenhäuser berührte.

Und da passierte es.

Am Ende der Straße stand das kleine Mädchen. Vier, vielleicht fünf Jahre alt. Mit nackten Füßen im Dreck, trotz der Kälte. Sie trug nur ein dünnes graues Kleidchen, so schmutzig wie der Rest von ihr. Unter dem Schmutzfilm konnte Marta ihre blassen Wangen sehen. Ihre Beinchen bestanden lediglich aus Haut und Knochen.

Und plötzlich schoss ein starker Arm aus einem der Wagen, ergriff sie und zog sie hinein. Schnell wie ein Falke, der auf seine Beute niederschießt. Eine Sekunde. Nicht mehr. Dann war sie fort. Verschwunden.

Und Marta hatte begriffen. Auch bei ihr war es so gewesen.

Sie konnte nicht darüber reden, kein Wort kam über ihre Lippen. In ihr war etwas zerbrochen.

Bis gestern. Die Wurfbude, das kleine Mädchen – da konnte sie es nicht mehr zurückhalten.

Nun lief sie bei Sonnenaufgang fröstelnd zu Melo, quer durch das geschäftige Wagenlager, in dem sich der Duft von Kaffee ausbreitete. Er war gerade dabei, die bereits gestriegelten und gefütterten Pferde in ihre Boxen zu bringen.

»Bei mir war es genauso, oder?«

»Was?«, fragte der Alte, ohne sie anzusehen.

»Das weißt du ganz genau.«

Wieder erklang das Wimmern des kleinen Mädchens.

»Mit mir habt ihr es so gemacht wie mit ihr, ist es nicht so?« Marta musterte ihn aufmerksam. Sie kam sich so dumm vor. Es war so offensichtlich, wie hatte sie das all die Jahre übersehen können? Hier im Zirkus hatte sie keine Mutter, keinen Vater. Keine Oma, keinen Opa. Ihr war das Gleiche passiert. Sie kannte die Antwort, aber sie brauchte jemanden, der es ihr bestätigte. »Antworte mir.«

Melo schwieg.

»Wo komme ich her?«, fragte Marta, und ein dumpfer, tiefer Schmerz füllte ihr Herz.

Melo biss sich auf die Lippen und murmelte dann: »Ich weiß es nicht.«

»Wie alt war ich?«

»Wenn nicht einmal du es weißt, dann warst du wohl noch ziemlich klein.«

»Habe ich geweint?«

Endlich drehte Melo sich um. Ihre Blicke trafen sich.

»Nie. Du warst immer sehr stark.« In seiner Stimme schwang Stolz mit, als wäre das sein Verdienst.

Marta spürte ein geradezu schmerzhaftes Verlangen nach Gewissheit. Als würde sie erst jetzt bemerken, dass man einen ihrer Arme verstümmelt hatte. Als könnte eine Verletzung anfangen zu bluten, Jahre, nachdem sie zugefügt worden war.

»Ich glaube nicht, dass du dich nicht mehr erinnerst, wo das war!«, stieß sie hervor.

Melo zündete eine Zigarre an. Bläuliche Rauchschwaden stiegen auf. »Du bist hier geboren«, sagte er ernst. »Unterwegs. So, wie wir alle. Du gehörst nirgendwohin. Nur zum Zirkus.«

Marta schüttelte heftig den Kopf. »Nein! Ich hatte mal ein Zuhause!«

Melo lächelte, aber in seinem zerfurchten Gesicht war keine Freude zu sehen. »Und glaubst du, dort wäre es schöner?«

Diese Frage konnte Marta nicht beantworten. Ein Schauder lief ihr den Rücken hinunter.

Und als hätte Melo diesen Schauder gespürt, fuhr er fort: »Für uns Zirkusleute ist die Straße das Zuhause. Und davon kommt man nicht mehr weg, das ist wie mit der Malaria. Wenn du einmal infiziert bist, bleibst du es dein ganzes Leben lang.« Er zeichnete mit einem Finger eine Linie durch die Luft. »Dein Zuhause ist die Straße. Und das wird immer so bleiben. Immer.«

»Lügen, alles Lügen!«, rief Marta, doch tief in ihrem Inneren fürchtete sie, dass der Alte recht hatte, was ihre Zukunft betraf. Sie wandte sich hastig um und lief weg zum gelb-roten Wagen und spähte hinein. Und je länger sie das Kind ansah, desto mehr wurde das Kind sie und sie das Kind.

»Wie heißt du?«, fragte sie schließlich, als auch das Kind sie am Fenster bemerkt hatte.

»Rosa«, antwortete die Kleine traurig.

In diesem Moment stieg eine Frau mit einem Teller dampfenden Essens in den Wagen, und Marta duckte sich hastig weg. Die Frau hieß Armandina, genannt die Schöne, La Bella. Früher einmal war sie Trapezkünstlerin gewesen und es hieß, sie sei sehr schön gewesen und alle hätten immerzu auf ihr rundes festes Hinterteil geschaut. Jetzt war nicht mehr viel von ihrer Schönheit übrig. Und man fand sie auch nicht mehr am Trapez, sondern bei den Töpfen.

Marta beobachtete aus ihrem Versteck, wie das Kind gierig aß. Dann hörte sie Bella sagen: »Fein, Lidia.«

Marta traute ihren Ohren nicht. Das Kind hieß doch Rosa! Plötzlich kam ihr ein ungeheuerlicher Gedanke. Sie rannte zu Melo. »Wie heiße ich wirklich?«, fuhr sie ihn an.

»Arabella«, gab Melo zurück.

»Arabella?«

»Nein, Ginevra«, korrigierte sich der Alte, ohne sie anzusehen.

»Ginevra …«

»Oder Alberta.« Melo musterte sie mit seinen müden, aber aufmerksamen Augen. »Auch wenn du glaubst, dass einer von uns dich in seinen Wagen gezerrt hat, so zählt doch, wer du heute bist und wie du heute heißt.«

Martas Augen füllten sich mit Tränen. »Ich heiße Marta«, gab sie zurück.

Der Alte zog an seiner Zigarre und sah den bläulichen Rauchschwaden nach, als wären es durchziehende Wolken, die nur kurz die Sterne verdeckten. »Genau, du bist Marta«, bekräftigte er leise.

»Und du ein alter Esel.«

Als die Zirkuswagen sich eine knappe Stunde später in Richtung Ravenna in Bewegung setzten, sprang Marta neben Melo auf den Kutschbock. Sie schwieg, aber in ihrem Inneren war ein schreckliches Gemetzel im Gange, das ihre Seele zerfraß.

Unterwegs brach ein Wagenrad, und da sie es ersetzen mussten, waren sie am späten Nachmittag noch immer nicht angekommen.

Sie befanden sich in den Hügeln vor Comacchio. Binsen und Schilf, so weit das Auge reichte, weiter unten Wasser. Weder Meer noch Fluss. Brackwasser, aus dem sich Pfahlhäuser erhoben, mit Wänden und Decken aus trockenem Schilf, gestützt auf algenbedeckte Holzpfähle, davor lagen Stege wie ausgestreckte Arme. Am Ende der Stege waren kranähnliche Gerätschaften aufgestellt, an denen quadratische Netze hingen, die ins Wasser gelassen und voll von wimmelndem Leben wieder hochgezogen wurden. Glitschige Wasserschlangen, schwarz glänzend und fett, Aale. Die würden sie am Abend auch über dem Feuer braten und mit in rußigen großen Kupfertöpfen zubereiteter Polenta essen.

Während sich der Fischgeruch über dem Lager ausbreitete, suchte Marta wie immer Melo auf.

»Vielleicht weißt du nicht mehr, wo ihr mich gestohlen habt«, sagte sie provozierend. »Aber ich weiß, wo ihr sie herhabt.«

»Wer ist ›sie‹?«, fragte der Alte zerstreut.

»Rosa.«

»Wer ist Rosa?«, fragte er völlig desinteressiert. »Ich dachte, sie heißt Lidia.«

»Lidia habt ihr sie genannt.«

»Wer, ihr?«

»Ihr Zirkusleute!«

»Und du gehörst nicht dazu?«

»Ich stehle keine Kinder!« Marta biss sich auf die Lippen, ihre Nasenflügel blähten sich auf, und sie ballte die Hände zu Fäusten. »Ihr wird es nicht so gehen wie mir, sie wird ihren wahren Namen kennen«, sprudelte sie hervor. »Jeden Tag werde ich sie daran erinnern, dass sie Rosa heißt.«

Melo sah sie ernst an, dann nickte er. »In Ordnung«, meinte er schließlich.

Marta war verwundert. »Bist du nicht böse auf mich?«

»Wieso sollte ich?«

Sie musterte ihn. »Ich lasse mich von dir nicht für dumm verkaufen. Ich habe mir das jetzt vorgenommen, und so werde ich es machen«, sagte sie.

»Das ist ja was ganz Neues. Du hast doch immer getan, was du dir vorgenommen hast.«

»Genau.«

»Ich hab’s verstanden, du brauchst gar nicht zu schreien, ich bin weder taub noch blöd. Sonst noch was?«, fragte Melo. »Ich möchte nämlich in Ruhe pinkeln. Wenn du also fertig bist, würde ich mich mal hinter diesen Busch da verziehen.«

Doch Marta hatte Melo aus einem ganz bestimmten Grund aufgesucht. »Eine Sache noch.«

»Beeil dich, so eine Blase hält in meinem Alter nicht mehr viel aus.«

»Kannst du Ascanio bitten, dass ich mich um das Mädchen kümmern und bei ihr im Wagen bleiben darf?« Sie spürte, wie sie errötete.

»Jetzt pass mal auf«, ereiferte sich Melo. »Du kommst hier an und erzählst mir, dass du eigentlich nicht zu uns gehörst, dass du gegen unsere Regeln verstoßen willst – und dann willst du, dass ich dir helfe?«

»Du hilfst mir immer«, warf Marta ein.

»Jetzt mach mal nicht auf lieb Kind, damit kommst du bei mir nicht weit.«

»Musstest du nicht pinkeln?«, foppte ihn Marta. »Na? Wirst du ihn fragen: Ja oder nein?«

Melo machte sich auf in Richtung Gebüsch.

»Jetzt sag schon: Ja oder nein?«, rief Marta ihm nach.

Melos Gesicht erschien noch einmal zwischen den Zweigen.

»Ja oder nein?«, schrie sie noch lauter.

»Jetzt lass mich in Ruhe pinkeln!«

Marta wartete ungeduldig, und endlich erschien Melo und knöpfte sich die Hose zu.

»Ja oder nein?«, wollte sie noch einmal wissen.

Ruhig trat er neben sie. »Ja«, gab er zurück. »Jetzt habe ich dich aber ganz schön auf die Folter gespannt, was?«

»Du verdammter Strohkopf!«

»Wasch dir den Mund aus, sonst hält man dich am Ende noch für eine aus dem Zirkus.«

»Du verd… Du Strohkopf!«, sagte sie widerwillig.

Melo lachte, so sehr, dass er sich fast verschluckte.

Aber er hielt Wort und sprach mit Ascanio. Und so kam es, dass Marta schon am nächsten Morgen in den gelb-roten Wagen stieg.

Sobald niemand sie hören konnte, flüsterte sie dem Mädchen ins Ohr: »Rosa. Das ist dein richtiger Name. Rosa. Vergiss das nie.«

Das Mädchen, das satt und zufrieden wirkte, sah sie nur verständnislos an.

»Rosa«, wiederholte Marta und fügte hinzu: »Contarina. Du kommst aus Contarina oder von irgendwo dort in der Nähe.« Und ihr war, als schriebe sie ihre eigene Geschichte neu. Ihre wahre Geschichte.

»Dir wird es nicht so ergehen wie mir«, vertraute sie ihr leise an, während sie die Via Romea verließen, um dem Canale Candiano von der Adriaküste nach Ravenna zu folgen. Sie blickte den langen, mit Ware beladenen, flachen Kähnen nach, die flussaufwärts in Richtung Stadt getreidelt wurden. Die kräftigen Pferde waren durch dicke Seile mit den Kähnen verbunden und mühten sich den Leinpfad entlang. »Du sollst nicht das Leben vergessen, das du vorher hattest.«

Der ernste Tonfall erschreckte das Mädchen, und es fing an zu weinen.

»Dummerchen. Du wirst mir noch dankbar sein«, flüsterte Marta. »Stark musst du werden. Stärker als dein Schicksal.«

Das Mädchen schrie verängstigt auf.

Armandina La Bella eilte herbei und schubste Marta weg. Sie nahm die Kleine auf den Arm, wiegte sie sanft und mütterlich und gab ihr eine rot-weiße Zuckerstange. Das Mädchen hörte auf zu weinen.

»Kleine Lidia«, flüsterte Armandina und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

»Bist du auch für mich die Mama gewesen, als ihr mich gestohlen habt?«, wollte Marta wissen.

La Bella schüttelte den Kopf. »Dich haben wir nicht gestohlen.« Sie senkte den Blick. »Du bist hier geboren.«

»Und meine Mutter?«

»Ist gestorben.«

»Und mein Vater?«

»Der auch.«

»Wie hießen sie?«

»Weiß ich nicht mehr. Wir sind hier so viele.«

»Und ich, wie war mein Name?«

»Marta.«

»Und warum heißt sie jetzt Lidia und nicht mehr Rosa?«

Armandina kniff ihr in die Wange, so fest, dass es weh tat. »Du suchst wohl Ärger, Mädchen«, sagte sie, bevor sie mit der Kleinen auf dem Arm die Tür aufstieß.

»Raus mit dir«, fuhr sie Marta an. »Geh in deinen Wagen zurück, ich will dich hier nicht mehr haben.«

»Ascanio hat gesagt, ich darf hierbleiben. Er ist derjenige, der hier befielt, nicht du.«

Armandina La Bella stellte die Kleine auf den Boden, trat ganz dicht an Marta heran und gab ihr eine schallende Ohrfeige. »Du solltest beten, dass ich Ascanio nichts von deinen Dummheiten erzähle. Raus mit dir, und halt dich von Lidia fern, wenn du nicht willst, dass Ascanio davon erfährt. Kapiert?«

Mit brennender Wange sprang Marta vom Wagen. Sie wartete auf Melos Wagen und kletterte zu ihm auf den Kutschbock. Zitternd vor Wut setzte sie sich neben den Alten.

Melo fiel die gerötete Wange sofort auf. »Du bist ein Dummerchen«, sagte er. »Nicht einmal einen Tag hast du geschafft.«

»Lass mich in Ruhe.«

»In deinem Alter solltest du ab und zu den Mund halten können.«

»Lass mich in Ruhe, habe ich gesagt.«

Melo ließ die Peitsche in der Luft knallen und gab den beiden Walachen vor dem Wagen ein Kommando. Dann schwieg er, eine Zigarre zwischen den vom Tabak unwiderruflich verfärbten Lippen.

Sie fuhren einige Kilometer, bis es schließlich aus Marta herausbrach: »Der ganze Zirkus widert mich an! Ihr seid alle widerlich, ihr stehlt Kinder. Man schimpft euch zu Recht Herumtreiber.«

Melo schwieg.

»Ich könnte zu den Gendarmen gehen, die würden sie wieder nach Hause bringen.«

»Und woher willst du wissen, dass ihre Eltern das auch wollen?«

»Weil es ihre Eltern sind.«

Melo seufzte. »Du hast keine Ahnung vom Leben, mein Mädchen. Hast du gesehen, wie verwahrlost sie war, als wir sie mitgenommen haben? Barfuß, bei dieser Kälte. Die werden ihr Verschwinden nicht einmal angezeigt haben. Jetzt haben sie ein Maul weniger zu stopfen. Du weißt nicht, wie grausam Armut ist.«

»Ihr habt sie geschnappt, und ich könnte euch bei den Gendarmen verraten«, drohte Marta noch einmal.

»Du würdest deine eigenen Leute verraten?«, fragte Melo.

»Ihr seid nicht meine Leute.«

»Du bist hier aufgewachsen. Es hat dir an nichts gefehlt.«

»Meine Familie hat mir gefehlt!«, schrie Marta.

Melo zündete erneut seine Zigarre an, während der Wagenzug jetzt den Leinpfad am Fluss verließ und ein Feld kurz vor Ravenna erreichte, wo sie das Zirkuszelt aufbauen würden.

»Habe ich auch so ausgesehen?«, fragte Marta unsicher.

Melo antwortete nicht.

»So wie sie?«

»Nein.«

»Nein, und sonst nichts?«, ereiferte sich Marta. »Wie denn?«

Nach einer langen Pause sagte Melo: »Schlimmer.«

»Was meinst du?«

»Schlimmer eben«, gab der Alte zurück, zog die Zügel an und legte die Wagenbremse ein. Sie waren angekommen.

»Ich gehe weg!«, schleuderte Marta ihm entgegen. »Ich hasse euch alle!«

Melo schirrte die Pferde ab und band sie an. Später würde er sie striegeln und ihre Hufe auskratzen. Schon seit vielen Jahren gaben ihm Pferde das Gefühl, wichtig zu sein. Sie waren besser als Frauen. In seinem ganzen Leben hatte ihm niemand so viel gegeben wie die Pferde.

Außer diesem dummen Mädchen. Dieses Mädchen war für ihn etwas ganz Besonderes, aber das hatte er ihr nie gesagt.

Eine Stunde später, als die stärksten jungen Männer erst den mittleren Zeltmast und dann die seitlichen hochzogen und so dem Zelt seine Form gaben, fuhr Melo in einer kleinen Kalesche an Marta heran.

»Steig ein«, forderte er sie auf.

»Wohin fahren wir?«

»Steig ein«, wiederholte Melo.

Marta kletterte hoch.

Der Alte ließ die Peitsche in der Luft knallen, und das Pferd trabte los.

Kurz darauf erreichten sie Ravenna.

Marta hatte die Stadt noch nie gesehen. Sie hatte noch nie irgendetwas gesehen, sie blieb immer nur beim Zirkus.

»So.« Melo hielt die Kalesche an. »Das hier ist die große Piazza von Ravenna. Schön, nicht wahr?« Er deutete auf die antiken Häuser, die wie ein edler Rahmen um die Piazza standen.

»Wunderschön«, rief Marta und wunderte sich, warum Melo ihr das zeigte, so etwas hatte er noch nie getan.

»Ravenna ist eine alte, reiche Stadt, die in voller Blüte steht«, erklärte er. »Die Leute hier sind sehr freundlich und offen.« Liebevoll blickte er über die Piazza. »Wenn ich irgendwann einmal neu anfangen sollte, dann hier.« In seiner Stimme lag Schwermut.

»Warum erzählst du mir das?«, wollte Marta wissen.

»Steig aus«, sagte Melo.

»Warum?«

»Steig aus, oder ich geb dir einen Tritt in den Hintern.«

Marta stieg aus.

Melo zog ein Bündel Geldscheine aus seiner Hosentasche, das von einem Band zusammengehalten wurde. »Das sind meine Ersparnisse. Keine Ahnung, was ich damit eigentlich vorhatte. Ich werde im Zirkus sterben und brauche das Geld nicht. Nimm du es.«

»Warum?« Martas Stimme zitterte.

»Jetzt nimm es schon«, rief er ungeduldig.

Marta nahm das Geld.

»So. Du wolltest doch weggehen. Das kannst du jetzt«, sagte Melo. »Du hast Geld, und vom Zirkus findet dich hier keiner. Ich erzähle es niemandem. Geh und lebe dein Leben. Du bist frei.«

»Nein …«

»Viel Glück, mein Mädchen.«

»Nein …«

»Geh schon!«, schrie Melo. Dann wendete er die Kalesche und fuhr davon.

»Melo!«, schrie Marta ihm hinterher.

Doch Melo blieb nicht stehen.

»Melo!«, schrie sie noch lauter.

Melo verschwand in einer Seitenstraße.

Marta verharrte reglos auf der Stelle, das Geldbündel in der Hand. Dann senkte sie langsam den Blick auf den Boden, sie wollte nicht diese fremde Piazza sehen und nicht die Leute, die hier lebten. Nichts und niemanden kannte sie hier, alles war fremd und unbekannt. Es machte ihr Angst.

Langsam tat sie einen ersten Schritt, und kurz darauf rannte sie über die Piazza.

Die Sonne ging schon unter, als sie endlich das riesige Schild mit der Aufschrift »Zirkus Callari« erblickte, dazu das große rot-weiß-gestreifte Zelt, die gespannten Seile, die bunten Wagen und die Lichter, als sie die Musik hörte und die Düfte nach Essen und Stall ihr in die Nase stiegen.

Da fühlte sie sich nicht mehr verloren. Aber besiegt.

Sie ging direkt zu Melo. »Du wusstest, dass ich wiederkomme, oder? Du wusstest, dass ich Angst haben würde.«

»Setz dich«, sagte der Alte.

Marta nahm schweigend neben ihm auf dem Boden Platz. Auch Melo sagte nichts weiter, er sah sie nicht einmal an.

So saßen sie nebeneinander, wie immer. Als wäre nichts geschehen. Wie an jedem gewöhnlichen Abend.

»Was meintest du damit, dass es bei mir schlimmer war als bei dem Mädchen?«, wollte Marta schließlich wissen.

Melo sah in der zunehmenden Dunkelheit auf seine Füße.

»Du hattest ein blaues Kleidchen an«, begann er schließlich, mit einer Stimme, die so weit entfernt klang wie die Erinnerung, die er gerade hervorholte. »Mit winzigen weißen und roten Blumen darauf, die an einem dünnen, blassgrünen Stängel hingen …« Er schluckte, legte den Kopf in den Nacken und seufzte. Seine Stimme zitterte und Tränen rannen über seine zerfurchten Wangen.

Marta wandte den Blick ab, überzeugt, dass Melo so nicht gesehen werden wollte. Er weinte nie.

»Deine Augen …« Er schluckte schwer, bevor er weitersprach. »Angst lag in deinem Blick, du sahst nach rechts und nach links, nach oben und unten, vollkommen verstört, du sahst alles und nichts …«

Wieder schwieg er.

Plötzlich war sich Marta nicht mehr sicher, ob sie diese Geschichte hören wollte.

Melo streckte die Hand aus und berührte ihr rechtes Handgelenk. Mit dem Finger fuhr er über die bläuliche schwielige Narbe, die schon immer da gewesen war, solange sie sich erinnern konnte.

»Keine Ahnung, wie du es gemacht hast. Aber anscheinend hattest du die Schnur zerbissen. Keine Ahnung … Das Fleisch war so tief eingeschnitten, dass man den Knochen sehen konnte.«

Ein Schauder kroch über Martas Rücken.

»Sie hatten dich angebunden«, fuhr Melo fort, ohne ihr Handgelenk loszulassen. »Ein kleines Mädchen, angebunden wie ein Stück Vieh …« Seine Stimme zitterte. »Schlimmer noch als ein Stück Vieh … So eine Sauerei!«

Marta meinte, keine Luft mehr zu bekommen.

»Irgendwie ist es dir gelungen wegzulaufen, und ich habe dich aufgegabelt«, sagte er und strich gedankenverloren über ihre Narbe. »Ich habe deine Verletzung behandelt, wie ich es auch bei einem Pferd getan hätte. Du hast nie geweint, nie gejammert und warst lange vollkommen stumm.« Er ließ ihr Handgelenk los. »Und eines Tages hast du plötzlich geredet. ›Jetzt tut es nicht mehr weh‹, hast du gesagt.« Melo unterdrückte ein Schluchzen. Seine Wangen waren tränenüberströmt, und er strich ihr jetzt über den Kopf. »Ich habe mich nie getraut zu fragen, was du damit meintest – dein Handgelenk oder dein Herz.«

Marta wusste nicht, was sie sagen sollte, und so schwiegen sie lange, mit diesem Geheimnis zwischen ihnen, das nun keines mehr war. Mit dieser schrecklichen Geschichte, die durch ihre Schuld ausgegraben worden war. Denn Melo hätte ihr das niemals erzählt, hätte sie ihn nicht zur Rede gestellt. Er hätte sie weiter mit seinem Schweigen beschützt.

»Ich gehe jetzt schlafen«, verkündete der Alte schließlich und erhob sich.

Marta blickte zu ihm auf.

»Ich werde nie vergessen, wo ich dich gefunden habe«, sagte er und sah sie mit festem Blick an. »Möchtest du auch das wissen?«

Melo würde sie weiter beschützen, wie er es immer getan hatte, daran zweifelte sie nicht. Aber seine Frage zeigte ihr, dass der Moment gekommen war, sich selbst zu schützen.

»Nein«, antwortete sie mit dünner, aber fester Stimme, die möglicherweise der des Kindes ähnelte, das sie einst gewesen war. Ein Kind, welches wie ein Tier das Seil durchbiss, mit dem man es angebunden hielt.

Der Alte nickte ernst, dann gab er ihr einen Klaps. »So, mein Mädchen, jetzt reden wir noch über etwas anderes.«

»Worüber denn?«

»Tu nicht so ahnungslos und gib mir mein Geld zurück, du Betrügerin. Ihr Zirkusleute seid doch wirklich schlimmer als Herumtreiber. Diebe und Betrüger, das seid ihr.«

5

Anfang März 1870

Königreich Italien – Olengo, Provinz Novara

Als Pietro nach der Abfahrt der Contessa im Dreck auf dem Hof wieder zu sich kam, waren alle Augen auf ihn gerichtet.

Die anderen Waisenkinder starrten ihn an, die Erzieher, die vinzentinischen Schwestern, der Direktor und seine Frau. Und in allen Augenpaaren war das Gleiche zu lesen: Neid. Sein Blick fand seinen Freund Lino, 20/08, auf der anderen Hofseite.

»Sie hat mich genommen!«, rief er ihm zu.

Lino war der Einzige, der sich für ihn freute.

Der Direktor wies ärgerlich einen Erzieher an: »Kümmere dich darum, dass 19/03 wegen der Wanzen behandelt wird.« Er hielt kurz inne, als würde es ihn Überwindung kosten, die nächsten Worte zu sprechen: »Er soll ein Bad nehmen … ein Wannenbad. Mit heißem Wasser. Dass er mir ja nicht krank wird, um Gottes willen, die Contessa würde …« Wieder hielt er kurz inne, bevor er die anderen Kinder wütend anschrie: »Verdammt! Und ihr geht in die Klassenzimmer, ihr Faulpelze!«

Die Kinder trotteten sogleich brav mit gesenkten Köpfen der Reihe nach zum Hauptgebäude, gefolgt vom Direktor, seiner Frau und den beiden Schwestern. Keines von ihnen wunderte sich, nicht ausgewählt worden zu sein. Denn das waren sie ohnehin nie. Keines von ihnen.

Ein Erzieher begleitete Pietro zu den Waschräumen im flachen Seitengebäude auf der rechten Seite, die eigentlich den Lehrern vorbehalten waren, und nicht zum linken Flügel, in dem sich Umkleiden und eiskalte Duschen befanden. Das rechte hatte noch keiner von ihnen von innen gesehen, dort gab es ein Zimmer für den Direktor, in dem eine Wanne und ein holzbeheizter Badeofen standen.

Nachdem der Junge ein Bad genommen und sich abgetrocknet hatte, zog er neue Kleidung an, immer noch keine schöne, aber wenigstens saubere.

»Wenn er bei den anderen im Schlafsaal schläft, holt er sich wieder Wanzen«, sagte der Erzieher zum Direktor.

Zitternd vor Wut schlug der Direktor mit der Faust auf den Schreibtisch. »Dann schläft er eben in meinem Zimmer«, stieß er hervor.