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Endlich ist es so weit: Die Eröffnungsfeier des »Albergo Annina« steht kurz bevor, und sogar der Bürgermeister von Siena hat sich angekündigt! Natürlich sind auch Annas Brüder eingeladen. Das muss sein, wenn ihr Erscheinen die frischgebackene Hotelbesitzerin auch ein bisschen nervös macht. Hoffentlich lassen die beiden niemanden merken, dass das Hotel zwei Schwerkriminelle beherbergt! Und dann läuft prompt alles aus dem Ruder. Im »Albergo Annina« checken Gäste ein, die einiges durcheinander bringen, und in der Basilica di San Francesco wird eine wertvolle Statue gestohlen. Sind die Brüder etwa rückfällig geworden? Anna hat alle Hände voll zu tun, den Dieb zu überführen, um ihre Feier zu retten …
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Cover & Impressum
Danksagung
Wie wichtig ist Ihnen die Rechtschreibung? Sagen Sie nicht voreilig: »Völlig egal!«, weil Sie meinen, dass Sie damit noch nachträglich Ihrer altjüngferlichen Deutschlehrerin eins auswischen können. Wenn Sie in meinem Alter sind, dann haben Sie in der Schule gelernt, dass das Beherrschen der Rechtschreibung einer guten Charaktereigenschaft gleichkommt. Ein Schüler, der sich nicht mit der Groß- und Kleinschreibung auskannte, wurde in der Schule behandelt wie jemand, der unweigerlich auf die schiefe Bahn geraten wird. So wurde uns das vermittelt, das muss Ihnen auch so gegangen sein, wenn Sie über sechzig sind.
Damals war ich fest davon überzeugt, dass meine Deutschlehrerin das Wesentliche im Leben verpasste und ich ihr über kurz oder lang überlegen sein würde, da ich mich für wichtigere Dinge interessierte als die Gesetze der Rechtschreibung. Das Leben meiner Deutschlehrerin war so grau wie die Orthografie, meins dagegen war rosarot. Und ihre Zukunft würde grau bleiben, davon war ich überzeugt. Dass meine noch nach Jahren rosarot leuchten würde, war zwar ungewiss, so viel Realitätssinn hatte ich dann doch schon in jungen Jahren, aber wenn grau, dann würde mein Leben allenfalls silbergrau werden. Nicht staubgrau wie das Dasein einer Deutschlehrerin.
Heute muss ich zugeben, dass ich mich geirrt habe. Unmerklich muss sich nach der Schulzeit doch die Auffassung in meine Lebenserfahrung geschlichen haben, dass das Beherrschen der Muttersprache in Wort und Schrift nicht nur etwas über Intelligenz und Bildung, sondern auch eine Menge über den Wesenszug eines Menschen aussagt. Lieber Himmel! Die graue Auffassung meiner Deutschlehrerin, die ich doch niemals teilen wollte! Aber ich muss zugeben, dass mich manche der Zimmerbuchungen, die ich in letzter Zeit per E-Mail erhalten habe und die mir eigentlich hochwillkommen sind, aufgrund ihrer Orthografie mit Argwohn erfüllen. Wenn Sie also eben noch spontan den Kopf geschüttelt haben, werden Sie jetzt vielleicht nachdenklich? Ich sehe es Ihnen an, Sie würden auf dieselbe Weise reagieren, wenn Sie läsen, was ich gelesen habe. Belustigt, empört, herablassend und keineswegs so gleichgültig, wie Sie anfangs vielleicht angenommen haben.
Anna stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite und betrachtete ihr Hotel, den Kopf in den Nacken gelegt, als visierte sie das oberste Stockwerk eines Wolkenkratzers an. In Wirklichkeit verfügte das Albergo Annina lediglich über drei Etagen, wobei die oberste nur aus zwei kleinen Mansardenzimmern bestand, die beide kein eigenes Bad besaßen. Anna schaute deshalb so hoch hinauf, weil sie nicht nur das Albergo, sondern auch den blauen Himmel über dem Dach, die Sonne neben der Fernsehantenne und die Schäfchenwolken sehen wollte, die vom Dachfirst zerrissen wurden. Das alles gehörte dazu. Zu ihrem Hotel!
Sie fuhr sich mit den Fingerspitzen durch den hellblond gefärbten Pixiecut und freute sich über die Leichtigkeit an ihren Fingerkuppen, über das wenige, mit dem sie auskam, weniger Haare, weniger Kleidung, kürzer, knapper, dekolletierter. Jedes Weniger, für das sie sich entschlossen hatte, war zu einem Mehr geworden! Aus der biederen Stuttgarter Hausfrau, die einen biederen Angestellten des Öffentlichen Dienstes zum Ehemann hatte, war ein neuer Mensch geworden. Sechzig Jahre hatte Anna gebraucht, um abzuschütteln, was nicht mehr nötig war, und um zu sehen, zu fühlen und zu erkennen, worauf es ihr wirklich ankam. Ihr preußischbraunes Leben war hyazinthfarben geworden! Ihr Haar blond, ihr Mund knallrot, und ihre Kleidung hatte von Alltagsbeige zu Begonienrosa und Herbstzeitlosenrot gewechselt. Sie musste über sich selbst lachen. Für sie waren alle Stimmungen und Gefühle farbig, schon von klein an hatte sie so empfunden. Das war ihr erst richtig klar geworden, als ihr Leben begonnen hatte, in bunten Regenbogenfarben zu schillern.
»So ein Tag! So wunderschön wie heute …«
Sie konnte nicht gut singen und wusste genau, wie leichtsinnig es war, es trotzdem immer wieder zu versuchen. Aber seit sie in Siena lebte, spielte es mit einem Mal keine Rolle mehr, dass Mitmenschen über sie lachten, dass manche sogar erschraken und selten jemand einstimmte, dem ebenfalls daran gelegen war, den Tag, die Sonne und die Liebe zu besingen. Als Schülerin hatte sie begreifen müssen, dass ihre Stimme nicht glockenhell war, wie sie sich eingebildet hatte, sondern schrill und zum Steinerweichen, und dass sie es schaffte, immer haarscharf am richtigen Ton vorbeizusingen. Später hatte sie gelernt, hatte es lernen müssen, den Mund zu halten, wenn andere die Nationalhymne anstimmten, und als Ehefrau hatte sie nicht einmal am Ende des Weihnachtsgottesdienstes mitgesungen, wenn Clemens »O du fröhliche« schmetterte. Obwohl ihr Gesang dort, neben den vielen scharfen Alt-Frauen-Sopranen, am wenigsten aufgefallen wäre. Nein, Clemens hatte seinen angenehmen Bariton erschallen lassen und vergeblich darum gebeten, dass sie ihn unterstützte. Anna wusste, er hätte es nie getan, wenn er jemals das hohe C von ihr gehört hätte. Sie hatte einmal einen jungen Mann, in den sie sehr verliebt gewesen war, mit ihrem Gesang in die Flucht geschlagen, das sollte ihr nie wieder geschehen. Erst bei Clemens’ Beerdigung war zum ersten Mal wieder der Wunsch in ihr geweckt worden, »So nimm denn meine Hände« mit undeutlichem Gesumm zu begleiten.
»… so ein Tag, der dürfte nie vergeh’n …«
Dass der Postbote staunend stehen blieb und sich umblickte, als rechnete er damit, irgendwo Hilfe leisten zu müssen, kümmerte Anna nicht. Sie war längst darüber hinaus, die berechtigten Zweifel an ihrem Talent an sich herankommen zu lassen. Wer so glücklich war wie sie, musste sich nicht mit ihren Unfähigkeiten abgeben, es kam nur noch auf das an, wozu sie fähig war, was sie geschafft und bewältigt hatte. Und das war schließlich eine ganze Menge …
»So ein Tag, so ausgebucht wie heute …«
Ausgebucht! Endlich!
Ein Wagen fuhr vorbei, der Fahrer hupte. Levi Kailer, der Architekt, der ihr Haus zu einem Hotel umgebaut hatte! Er war Deutscher, war mal mit einer Italienerin liiert gewesen und war ihr in ihre Heimat gefolgt. Die Liebe hatte nicht gehalten, aber als er sich von ihr trennte, konnte Levi sich ein Leben in Deutschland nicht mehr vorstellen. Er blieb in Siena und betrieb seitdem ein Architekturbüro mit angeschlossener Baufirma in ihrer unmittelbaren Nähe. Anna winkte ihm fröhlich hinterher. Beide waren sie froh, dass es geschafft war, dass das Albergo Annina pünktlich fertig geworden war!
Die Leuchtbuchstaben mit dem Namen ihres Hotels prangten auf der gelb gestrichenen Fassade. Pure Geldverschwendung, denn die Sonne saugte einen Teil des künstlichen Lichts auf, aber an diesem Tag sollte das keine Rolle spielen. Das Hotel war fertig, alle Arbeiter waren verabschiedet und bezahlt worden, Levi hatte die Umbauarbeiten abgenommen, mit durchgedrücktem Rücken und steifer Miene, und die Nachbarn waren erschienen, um sich das Ergebnis anzusehen. Mittlerweile waren auch alle Betten bezogen, frische Handtücher hingen in den Bädern, die Minibars waren gefüllt. Und jetzt stand die offizielle Einweihung ihres Hotels bevor! Noch acht Tage! Die Presse hatte ihr Erscheinen zugesagt, ein Vertreter der Kirche wollte es segnen, sogar der Bürgermeister von Siena hatte sein Kommen in Aussicht gestellt, um das neue Haus, das das Hotelgewerbe seiner Stadt erweitern würde, mit ein paar Worten zu bedenken, die hoffentlich freundlich ausfallen würden. Zum Glück war seine Tochter mit einem Hamburger verheiratet, Anna musste nicht befürchten, dass eine deutsche Hotelbesitzerin unwillkommen war.
Nun war es nur noch darauf angekommen, dass ihr Hotel gut besucht, am besten ausgebucht sein würde. Mindestens am Tag der Einweihung! Bis vor zwei Tagen waren die Buchungen nur spärlich hereingekommen, lediglich acht der fünfzehn Zimmer waren belegt. Diese Tatsache hatte wie eine schwere Last auf ihrer Vorfreude gelegen und ihre zuckerwatterosa Zuversicht am Fliegen gehindert. Wie sollte sie der Presse klarmachen, dass sich ihr Hotel zum neuen Geheimtipp entwickeln würde, wenn gerade mal die Hälfte der Zimmer belegt war? In der Zeitung musste unbedingt zu lesen sein, dass sich das Albergo Annina bereits vor der offiziellen Eröffnung regen Zuspruchs erfreute. Und dasselbe galt für die Reiseveranstalter, die sie kontaktiert hatte, sollten sie ihr Versprechen wahr machen und zur Eröffnungsfeier erscheinen. Die Idee, sowohl der Presse als auch dem Reiseveranstalter schamlos ins Gesicht zu lügen, hatte sie gleich wieder verworfen. Wenn das herauskäme, würde es mit ihren Zukunftsplänen noch schlechter aussehen. Und da Graziella, ihr Zimmermädchen, aus einer Familie Sienas stammte, die aus besonders kommunikationsfreudigen Mitgliedern bestand und Gott und die Welt kannte, war die Gefahr groß, schon entlarvt zu werden, bevor die Proseccoflaschen leer waren. Graziella redete mit jedem über alles, und was ihre Familienangehörigen wussten, verbreitete sich in Windeseile in ganz Siena. Ihre Mutter hatte einen Friseursalon, der als Umschlagplatz für Neuigkeiten galt, ihre Schwester arbeitete im Bürgermeisteramt, ihr Vater hatte eine Tankstelle, wo alle Einheimischen tankten und zusätzlich mit Neuigkeiten versorgt wurden. Dummerweise hatte Anna ihr einmal in einem sentimentalen Moment gestanden, wie wichtig es ihr war, bei der Einweihung ein ausgebuchtes Hotel zu präsentieren, und seitdem hatte Graziella ein Auge auf die Buchungen. Nein, wenn Anna behauptete, ihr Hotel sei ausgebucht, dann musste es auch so sein. Emilio, ihr Polizistenfreund, hatte sie in diesem Gedanken bestärkt, auch Konrad, Levis Vater, hatte es eingesehen. Sogar ihren Brüdern hatte sie klarmachen können, worauf es ankam. »Hier darf kein Bett frei sein, wenn das Hotel eingeweiht wird!«
Und nun war es endlich so weit. Sie war ausgebucht!
»… und wer weiß, wann wir uns wiederseh’n …«
Vinfrido, der Postbote, hatte erkannt, dass an seine Ohren nicht das Gewimmer einer verzweifelten Mutter drang, deren Kind in ein Stück Stacheldraht oder einen Hundehaufen gefallen war, sondern das Frohlocken einer frischgebackenen Hotelbesitzerin, die ihrem Glück lautstark Ausdruck verlieh. Erleichtert winkte er ihr zu und zeigte ihr mit übertriebenen Gesten, dass er die Post fürs Albergo Annina wie immer auf den Terrassentisch gelegt hatte. Es würde vermutlich länger dauern, bis er begriff, dass es neuerdings einen Briefkasten neben dem Hauseingang gab und in Zukunft die Rezeption besetzt sein würde, wo die Post hinterlegt werden konnte. Vielleicht würde Vinfrido aber trotzdem alles so belassen, denn er gehört zu denen, die gerne einen Besuch in fremden Wohnungen machten und noch lieber etwas mitbekamen, was sie nichts anging.
Anna kehrte ins Haus zurück und ließ die Tür hinter sich offen stehen. Geschlossene Türen ertrug sie nur schwer, abgeschlossene überhaupt nicht. Sie trat an die Theke der Rezeption und stellte wieder einmal fest, dass sie durch die geöffnete Tür einen wunderbaren Blick auf die Basilica di San Francesco hatte. Die Kathedrale erhob sich hinter der Stadtmauer, ein Bild, das selbstverständlich in ihrem Prospekt zu sehen war und mit dem das Albergo Annina auch im Internet warb. Ein guter Grund, die Eingangstür stets geöffnet zu halten.
Sie strich ihren kurzen Jeansrock glatt, als sollte er sich ein bis zwei Zentimeter weiter Richtung Knie bewegen. Demnächst würde es ein Ende haben mit Miniröcken und Shorts, Spaghettiträgern und bunten Flipflops. An der Rezeption musste sie seriös aussehen. Für die Einweihung des Hotels hatte sie sich sogar ein elegantes schwarzes Kleid gekauft.
Neben dem Computer lagen ausgedruckt die Buchungen, die zuletzt eingegangen waren. »Ich bitte Ihnen um ein Zimer mit Klo und mit Küllschrang fuer mein Schnappes.« Ein gewisser Pius Eggering hatte am Tag zuvor diese Anfrage gestellt, und Anna hatte sich zwingen müssen, ihn nicht danach zu beurteilen, wie verwegen er mit den Regeln der Rechtschreibung umging. Du meine Güte! Was mochte das für ein Typ sein? Aber egal! Er wollte bei ihr wohnen und hatte sie ihrem Ziel, zur Einweihungsfeier ausgebucht zu sein, ein Stück näher gebracht. Nur darauf kam es an.
Auch bei dem nächsten interessierten Gast war ihre Toleranz auf eine harte Probe gestellt worden. Allerdings erst auf den zweiten Blick, denn der erste hatte Anna einen Schritt in Richtung Ohnmacht gestoßen. D. Trump hatte ihr geschrieben! »Wir woln bei ihnen 3 Mahl schlahfen und Fruhstuk woln wir auch. Dustin Trump.« Sie hatte vernehmlich ausgeatmet. Gott sei Dank nicht Donald! Aber … etwa ein Verwandter des amerikanischen Präsidenten? Anna überlegte, ob sie so jemanden in ihrem Hause haben wollte. Gleichzeitig fragte sie sich, ob es fair war, einen Mann mit diesem Namen in den gleichen Topf zu werfen wie Donald Trump. Und natürlich, ob sie es sich leisten konnte, wählerisch zu sein. Die letzte Frage war leicht zu beantworten: absolut nicht! Dustin Trump hatte eine Zusage und die besten Wünsche für eine stressfreie Anreise erhalten. Woher kam er? Anna studierte die Mail noch einmal. Aus Frankfurt! Na also, zum Glück nicht aus den USA.
Dann noch die Mail einer Französin, ebenfalls vom Vortag. »Je bestell ein chambre avec grand liet, avec Toilette e Bidett e Douche. Merci!«
Diese Clara Morbé hatte einen französischen Nachnamen, die französische Sprache handhabte sie jedoch wie der Nachbar seinen dreirädrigen motorisierten Karren, dessen Motor er aufheulen ließ, als handle es sich um einen Ferrari.
Und dann noch zwei andere Buchungsanfragen dieser Art! Bei einer waren die Regeln der Rechtschreibung derart kreativ angewendet worden, dass der Sinn der Worte nur mit viel Fantasie zu erkennen war. Anna musste sich große Mühe geben, sich nicht von den Vorurteilen ihrer weltfremden Deutschlehrerin leiten zu lassen, und einfach zufrieden zu sein, dass sich die Auslastung ihres Hotels mit diesen unerwartet eingetroffenen Buchungen erfreulich verbesserte. Als kurz darauf noch zwei telefonische Anfragen gekommen waren, hatte sie sich sagen dürfen, dass ihr Hotel am Tag der Einweihungsfeier tatsächlich ausgebucht sein würde. »Ausgebucht!« Sie flüsterte es immer wieder vor sich hin. Und es hörte sich an wie ein wolkenweißes Wort vor einem strahlend blauen Hotelhimmel.
»So ein Tag, so wunderschön wie heute …«
Aber jetzt sang sie diese Zeile nicht, sondern ließ sie nur in ihrem Kopf klingen. Irgendetwas war seltsam. Nicht nur die konfusen Buchungen mit den vielen Rechtschreibfehlern, auch die beiden Telefonate.
»Albergo Annina! Buon giorno!« Immer noch war es eine Freude, wenn sie den Hörer zur Hand nehmen und sich mit dem Namen ihres Hauses melden durfte.
Die Stimme am anderen Ende hatte Italienisch gesprochen, zum Glück derart distinguiert, dass Anna keine Mühe hatte, es zu verstehen. Sie schien einer Dame zu gehören, die es gewöhnt war, Reden zu halten oder Lehren zu erteilen, die auf Anhieb verstanden werden sollten. Sie hatte nicht nach einem freien Zimmer gefragt, sondern nach dem Namen der Hotelbesitzerin. »La casa di Anna Wilders?«
»Sì! Wir eröffnen in diesen Tagen. Die Einweihungsfeier findet in acht Tagen statt.«
Dass sie alle Gäste, die zurzeit ihr Hotel bewohnten, zu dieser Feier einlud, gefiel der Signora sehr. Zufrieden hatte sie ein Zimmer gebucht, ohne nach dem Preis zu fragen. Als Anna sie um ihre Telefonnummer bat, war ihr eine Nummer diktiert worden, die zum Telefonnetz von Siena gehörte. Ihr Gast wohnte in Siena und wollte in einem Hotel dieser Stadt nächtigen? Und zwar nicht im Albergo Annina, sondern in dem Haus, das Anna Wilmers führte. Merkwürdig …
Und die Frau, die nur kurze Zeit später ebenfalls telefonisch einen Aufenthalt im Albergo Annina buchte, hatte ihr noch stärkeres Kopfzerbrechen bereitet. »Das Hotel von Annina Kolsky?«
Wer kannte ihren eigentlichen Vornamen? Wer wusste, dass ihre italienverliebten Eltern sie Annina genannt hatten? Und wer kannte ihren Mädchennamen und wusste, dass sie ein Teil der Familie Kolsky war? Etwas, was sie seit ihrer Kindheit unter allen Umständen verbarg!
Als Anna sie danach fragte, war die Frau, deren Stimme durch das Telefon recht jung klang, ausgewichen. »Habe ich irgendwo gehört. Der Name kam mir bekannt vor, deswegen habe ich mich entschlossen, bei Ihnen zu buchen. Vielleicht kannten Sie meine Mutter?«
Sie hieß Janina Spicker, aber Anna sagte der Name nichts, und sie verbot sich nähere Nachfragen. Stattdessen hatte sie die Buchung von Janina Spicker bestätigt und beschlossen, erst später, wenn die junge Frau in ihrem Haus war, in Erfahrung zu bringen, woher sie den Namen Kolsky kannte.
So erleichtert Anna auch war, dass sie nun von einem ausgebuchten Haus sprechen konnte, ohne lügen zu müssen, so erschien ihr das Glück doch wie ein nachlässig eingepacktes Geschenk ohne Schleife. Die Angst, von Stuttgart nach Siena gezogen zu sein, um ein Wagnis einzugehen, an dem sie scheitern würde, legte sich ihr erneut auf die Brust. Ein Gefühl, das sich nicht einmal mit »Das Wandern ist des Müllers Lust« vertreiben ließ!
Sie starrte an die gegenüberliegende Wand, als wollte sie die Arbeit der Anstreicher kontrollieren, aber in Wirklichkeit lauschte sie auf die Stille des Hauses. Draußen gab es Lärm genug, Motorengeräusche, Mopedgeknatter, Hupen und Gelächter, aber in ihren vier Wänden war es still, sehr still, so still wie bleiches Gold. Würde es für immer so still bleiben? Würden die Touristen nach der Einweihungsfeier achtlos am Albergo Annina vorbeigehen und im Minerva einchecken, das größer war und sich direkt hinter der Stadtmauer befand? Sie war nun mal die Grenze zwischen erschwinglich und kostspielig, exklusiv und bescheiden, attraktiv und nichtssagend. Die beißbeerenrote Angst, unter der sie jetzt litt, war in den vergangenen Monaten ganz langsam herangewachsen. Wie Unkraut, das die zart blühende Hoffnung überwucherte.
Sie riss sich zusammen. Nein, jetzt war ihr Haus ausgebucht, noch rechtzeitig vor der Eröffnungsfeier, nur darauf kam es an. Trotzdem fiel es ihr immer noch schwer, ihren Optimismus fliegen zu lassen …
Sie klickte sich in ihr Computerprogramm, das die Auslastung der Hotelzimmer zeigte, und glich es mit ihren handschriftlichen Notizen ab, weil sie es immer noch nicht recht glauben konnte. Einem Blatt Papier traute sie nach wie vor mehr als der elektronischen Datenverarbeitung. Aber ihr wurde bestätigt, was sie eigentlich glücklich machen sollte: Ausgebucht! Und dennoch ließ der Argwohn sie nicht los …
Doch sie kam nicht dazu, ihren Sorgen zu folgen. Denn in diesem Augenblick wurde sie durch ein Geräusch aus ihren Gedanken gerissen. Es kam von der Rückseite des Hauses, von der Terrasse. Fieberhaft dachte sie nach, musste aber nicht lange überlegen: Die Tür, die von der Küche ihrer Wohnung auf die Terrasse führte, hatte sie genauso wenig abgeschlossen wie alle anderen. Nach Einbruch der Dunkelheit drückte sie die Türen immer ins Schloss, und wenn sie schlafen ging, kontrollierte sie, ob sich ein potenzieller Einbrecher zumindest ein wenig Mühe geben musste, um in ihr Haus, in ihre Wohnung einzudringen. Aber tagsüber? Solange die Sonne am Himmel stand, blieb ihr Haus offen. Und wer es von hinten betrat, kam mit Schritten über die Terrasse, die laut und vernehmlich waren. Ein Nachbar, der Postbote, Konrad und Levi … alle kamen sie auf diesem Weg zu ihr.
Ihr Architekt und sein Vater wohnten in der Via Boninsegna, der Straße über der Via Valdambrino, an der das Hotel Annina lag. Ihre Gärten grenzten aneinander. Es war praktisch, den Architekten ständig in der Nähe zu haben. Levi gewöhnte es sich schnell an, zu jeder Zeit über den Gartenzaun zu steigen und ins Haus zu kommen, manchmal, ohne dass Anna es merkte. Und sein Vater hatte im Nu diese Gewohnheit übernommen. Er kam sogar noch öfter als sein Sohn, und Anna wusste, dass er die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatte, irgendwann bleiben zu dürfen.
Aber sie alle schlichen sich nicht heran und versuchten nie, so leise wie möglich zu sein und die Perlenschnüre, die als Mückenschutz im Türrahmen hingen, so vorsichtig zu teilen, dass nur ein feines Klingeln entstand, das bei Radiomusik leicht zu überhören gewesen wäre, erst recht, wenn Anna telefonierte oder in einem der Hotelzimmer beschäftigt wäre. Jetzt aber stand sie an der Rezeption, in der Nähe ihrer Wohnungstür, die natürlich ebenfalls geöffnet war, und es war still. So konnte sie hören, dass nun jemand durch ihre Küche schlich. Danach würde er mit zwei, drei Schritten den Flur überquert haben und in der Tür erscheinen, die die Lobby von ihrer Wohnung trennte.
Anna zog sich mit ebenso leisen Schritten hinter das Regal zurück, in dem die Postfächer untergebracht waren, und hielt den Atem an. Das leise Scharren kam näher …
Schon klar, Sie haben kein Verständnis dafür, dass ich immer die Türen offen stehen lasse! Das wundert mich nicht. Auch Clemens hat es rasend gemacht. Wir lebten in einem großen Haus mit unzähligen Wohnungen, natürlich mussten die Türen geschlossen sein, das sah sogar ich ein. Aber auf keinen Fall ertrug ich es, wenn unsere Wohnungstür abgeschlossen wurde. Clemens hatte nicht verstehen können, dass ich den Schlüssel heimlich zurückdrehte, nachdem er ihn vor dem Schlafengehen in der verriegelten Tür hatte stecken lassen. Und erst recht verstand er meine Begründung nicht. Ich musste fliehen können. Jederzeit! Dabei gab es für mich keinen Grund zur Flucht, aber ich musste dennoch wissen, dass es möglich war, die Tür aufzureißen und hinauszustürmen. Niemals darauf angewiesen sein, dass ein Wärter mich herausließ! Meine Mutter hatte mir oft von der Verzweiflung erzählt, die sie überfiel, wenn sie das Geräusch des Schlüssels hörte, der sich immer zweimal im Schloss drehte, sodass ich selbst diese Verzweiflung spüre, wenn eine Tür hinter mir zugeschlagen wird. Niemals eingeschlossen werden! So wie meine Eltern und Brüder …
Sie verstehen mich immer noch nicht? Egal, es ist einfach so. Und ich bin froh, dass ich hier in Siena sorglos mit den geöffneten Türen umgehen kann. Zwar sagt man, in Italien, in den Touristenzentren, wird gestohlen, was nicht niet- und nagelfest ist, aber die Einheimischen bestehlen sich ja nicht gegenseitig. Und ich lebe nun seit einigen Monaten in Siena, also gehöre ich beinahe zu den Einheimischen. Ich arbeite hier, habe mich hier selbstständig gemacht, will hier bleiben, habe hier meinen Lebensmittelpunkt errichtet. Und um mich herum wohnen Familien, die zwar der Hausratversicherung falsche Angaben machen, den Fiskus betrügen und darauf sogar stolz sind, die sich auch heimlich freuen, wenn der Kellner sich zu ihren Gunsten verrechnet, die aber niemals in ein Nachbarhaus eindringen würden, um zu stehlen. Ich fühle mich hier sicher, auch bei geöffneten Türen …
Commissario Emilio Fontana legte das Telefon weg und lehnte sich seufzend zurück. Immer Ärger mit Mama! Sie wollte, dass er endlich heiratete, dass er zumindest eine Lebensgefährtin fand, und am liebsten eine, die resolut und tatkräftig und nicht weiter an seinem Äußeren interessiert war. Enkelkinder hatte sie zum Glück aus ihrem Wunschkatalog gestrichen. Dass er mit einer Frau im gebärfähigen Alter glücklich werden könnte, hielt sie schon lange nicht mehr für möglich, obwohl aufgrund seiner Attraktivität immer wieder junge Frauen ein Auge auf ihn warfen. Er war jetzt Ende fünfzig. Eine Frau, die ein Kind von ihm wollte, dürfte höchstens Ende dreißig sein. »Santo dio!« Viel zu jung!
Mama hielt ihn für den größten Langweiler, den es in ihrer Familie jemals gegeben hatte, und fragte sich noch heute mehrmals täglich, welcher Vorfahre für die Gene ihres Sohnes verantwortlich sein konnte. Erst Ende fünfzig und schon so müde und antriebsarm! Eine junge Frau würde bereits nach vier Wochen Ehe die Eintönigkeit nicht mehr ertragen. Emilio Fontana liebte keine Geselligkeit, hasste Partys, tanzte nie, war beruflich nicht besonders ehrgeizig und fühlte sich schon abgehetzt, wenn er in einem Wohnhaus ermitteln musste, das keinen Aufzug besaß. Und sein Schlafbedürfnis, so behauptete seine Mutter, sei ähnlich ausgeprägt wie bei seinem Vater eine Woche vor dessen Tod.
Signora Fontana war mit ihren gut achtzig Jahren wesentlich temperamentvoller, unternehmungslustiger und kommunikationsfreudiger als ihr Sohn. Ihre Tage waren stets angefüllt, der Kreis ihrer Freundinnen für Emilio unüberschaubar und die Anzahl ihrer Hobbys erst recht. Bridge, weil das in ihren Kreisen üblich war, Skat, weil es nicht üblich war, ein bisschen Aquarellmalerei, aber höchstens eine Stunde täglich, weil Malen einsam machte, ein gutes Buch, aber nur dann, wenn das Leben gerade nichts Besseres zu bieten hatte, zwei bis drei Dutzend Telefonate täglich, Friseur- und Kosmetiktermine, Hand- und Fußpflege und die Verabredungen mit ihrem Personal Trainer! Natürlich auch diverse Arztkonsultationen, damit die Signora sich noch lange an der Gesundheit erfreuen konnte, die ihr half, die Energie für ihre ausgefüllten Tage aufzubringen. Dazu natürlich der regelmäßige Besuch eines Gotteshauses! Signora Fontana war ihr Leben lang täglich vor dem Kruzifix der Basilica di San Franceso in die Knie gegangen und hatte sich bekreuzigt. Als Kind, weil die Mutter es so wollte, als junges Mädchen, weil sie sich in einen Priester verguckt hatte, als frischgebackene Ehefrau, um für eine Stunde von lästigen Pflichten befreit zu sein, und später einfach, weil sie daran gewöhnt war. Emilios Mutter hatte ständig etwas vor, blickte, wenn ihr Sohn sie besuchte, häufig zur Uhr und überlegte schon am Abend, was sie am nächsten Tag anziehen sollte, damit sie für die Unternehmungen, die sie sich vorgenommen hatte, passend gekleidet war. Für Emilio ein schreckliches Leben, der sich seinen Ruhestand erheblich besinnlicher vorstellte!
»Diese deutsche Signora ist für dich genau richtig!« Davon war seine Mutter nicht abzubringen.
Sie kannte Anna Wilders nicht, aber sie bewunderte eine Frau, die sich mit Anfang sechzig traute, ihr Leben komplett auf den Kopf zu stellen. Dass Witwenschaft nicht nur etwas mit Trauer, sondern auch mit neuen Chancen zu tun hatte, wusste sie selbst. Aber keine ihrer zahlreichen Freundinnen, denen die Männer weggestorben waren, hatte den Mut gehabt, in einem anderen Land einen Neuanfang in einem Metier zu wagen, in dem sie sich nicht auskannte.
Emilio Fontana schloss die Augen. Mama war voller Hochachtung, wenn er von Anna Wilders erzählte. Wenn er ihr auseinandersetzte, dass Anna keine neue Beziehung wollte und dass er außerdem nicht der Einzige war, dem sie gefiel, winkte sie immer nur ab. »Alles eine Frage des Einsatzes!«
Zum Beispiel wäre er niemals auf den Gedanken gekommen, jemanden aus seinem Freundeskreis zu rekrutieren, damit er im Albergo Annina ein Zimmer buchte. Dass Mama nicht nur auf diese Idee gekommen war, sondern sie auch gleich in die Tat umgesetzt hatte, gefiel ihm absolut nicht, aber natürlich hatte er erst davon erfahren, als es nicht mehr rückgängig zu machen war. Als seine Mutter es ihm gestanden hatte, war sogar so etwas wie Temperament aus ihm herausgebrochen. Er hatte sich ziemlich aufgeregt und ihr vorgeworfen, sich in seine Angelegenheiten einzumischen. Außerdem konnte er gerade diese Freundin, die sie für die Mission ausgesucht hatte, nicht gut leiden, weil sie klatschsüchtig war und er damit rechnen musste, dass demnächst ganz Siena und natürlich auch Anna davon erfuhr, wie es zu der erfreulichen Auslastung des Hotels gekommen war.
»Warum darf sie nichts davon erfahren?«, hatte Signora Fontana zurückgefragt. »Sie soll doch wissen, dass du ihr helfen wirst und nichts unversucht lässt, um sie glücklich zu machen. Du hast gesagt, sie wünscht sich nichts sehnlicher als ein ausgebuchtes Haus.«
»Aber ich möchte nicht, dass du dich einmischst.«
»Ich hätte auch selbst ein paar Tage dort verbringen können«, hatte ihm Mama pikiert entgegengehalten. »Wäre dir das lieber gewesen?«
»Santo dio!« Dieser Gedanke entsetzte ihn derart, dass er nun ganz froh war, nur ihrer Freundin im Albergo Annina zu begegnen. Vorausgesetzt, er wurde überhaupt zur Einweihungsfeier eingeladen. Bis jetzt hatte Anna ihn noch nicht gebeten, die Feierlichkeiten durch seine Anwesenheit interessanter zu machen. Aber Emilio wusste natürlich, warum sie in den nächsten Tagen nicht die Polizei im Haus haben wollte. Dass der Commissario von Siena unerwünscht war, konnte er sogar verstehen. Aber der Privatmann Emilio Fontana …?
Mit einem Mal fiel ein Schatten in die Lobby. Von einem großen, schlanken Menschen, vermutlich von einem Mann. Seine Silhouette zitterte in der Sonne, die durch die Eingangstür fiel, flirrte mit dem Staub in der Luft. Und dann sah Anna den Fuß, einen großen Fuß, der lautlos auftrat …
Mit einem Satz sprang sie hinter dem Regal hervor. »Stopp!«
Der Mann erschrak fürchterlich. Er taumelte ein, zwei Schritte zurück, griff sich mit der Linken ans Herz und suchte mit der Rechten nach einem Halt. Den fand er dummerweise an der metallenen Skulptur, die Anna auf einem Antiquitätenmarkt in Buonconvento gekauft hatte. Der Krieger mit dem Speer in der Hand sollte die Hotelgäste davon abhalten, in ihre Wohnung zu platzen, wenn sie einen Wunsch hatten, statt vor der Theke der Rezeption darauf zu warten, dass die Hotelbesitzerin zu Diensten war. Es schepperte laut, als der metallene Krieger auf den Terrakottaboden der Lobby polterte.
»Früher hast du dich nicht so leicht erwischen lassen, Filippo Kolsky!«
Vor Anna stand ihr Bruder, Mitte siebzig, sehr groß und so dürr, dass man meinen könnte, er habe die letzten Jahre bei Wasser und Brot verbracht. So nannte er es auch, wenn er von der Gefängniskost sprach, die ihm jahrelang vorgesetzt worden war. Besser als Wasser und Brot seien die Mahlzeiten auf keinen Fall gewesen, eher schlechter und ganz sicher nicht abwechslungsreicher.
Er trug eine helle, schmal geschnittene Hose und einen braunen Trenchcoat, sein Hemd hatte einen weißen Kragen, seine Wildlederschuhe sahen neu aus. Sechs Jahre hatte der letzte Gefängnisaufenthalt gedauert, und er hatte sich anscheinend schon kurz nach seiner Entlassung modisch auf den neuesten Stand gebracht. Auch sein Haarschnitt war nach der aktuellen Mode, sein grauer Backenbart sehr gepflegt. Filippo war immer ein Mann gewesen, dem es auf sein Äußeres ankam, der vor allem dort, wo er auf Frauen traf, Wert darauf legte, dass er gut aussah. Das gelang jedoch nur, wenn ihn nicht mehr als ein flüchtiger Blick traf. Wer genauer hinsah, konnte ohne Weiteres erkennen, dass Filippo Kolsky nie in die Gesellschaft gepasst hatte. Sein Blick war dreist, seine Miene ungeniert, seine Art, sich zu bewegen, zeigte, wie aggressiv er werden konnte.
»Warum schleichst du dich an? Wirst du verfolgt? Ist die Polizei schon wieder hinter dir her?«
Anna war zu empört, um sich über den Besuch ihres Bruders, den sie jahrelang nicht gesehen hatte, zu freuen. Seine Angewohnheit, nie einen Weg zu gehen, der geradeaus führte, hatte sie schon immer geärgert. Schon seit seinem ersten Gefängnisaufenthalt – damals war es noch Jugendarrest gewesen – machte er es so. Niemals ging er durch den Haupteingang, immer schlich er sich durch eine Hintertür, damit er zunächst die Lage sondieren und sich unauffällig nähern konnte. Warum? Das fragte sich Anna immer wieder. Entweder gab es auch nach der Verbüßung einer Strafe noch Untaten, deren Aufdeckung er fürchtete, oder es war ihm einfach zur zweiten Natur geworden, sich jedem Ziel mit großer Vorsicht zu nähern. Natürlich hoffte sie auf die zweite Erklärung.
»Hier stehen ja alle Türen offen!«, sagte er vorwurfsvoll, als wollte er Anna ermahnen, es einem Mann wie ihm nicht so leicht zu machen.
Dann erst stieg in seine Augen das Gefühl, das es dort nur gab, wenn er seine Schwester Annina anblickte: Zuneigung. Die Einzige der Familie Kolsky, die nie straffällig geworden war und keinen Tag in Haft verbracht hatte, während Filippo Kolsky, sein Bruder und auch die Eltern mehr als die Hälfte ihres Lebens im Gefängnis zugebracht hatten. Die Eltern waren dort gestorben, Valentino und Filippo dort alt geworden. Und jetzt? Anna betrachtete ihren Bruder sorgenvoll. Alles verbüßt? Für alles geradegestanden? Jede Strafe abgesessen? Sie war sich da nicht so sicher. Aber sie vergaß es, als sich Filippo nun endlich gewiss war, dass ihm in Annas Haus keine Gefahr drohte, und er seine Schwester in die Arme schließen konnte. »Ach, Annina!«
Es war wie immer. Ein sehr vertrautes und gleichzeitig auch fremdes Gefühl. Sie waren Geschwister, aber nicht zusammen aufgewachsen, hatten dieselben Eltern, aber nie ein gemeinsames Zuhause gehabt. Während Valentino und Filippo zeitweise bei Vater und Mutter gelebt hatten, wenn diese gerade in Freiheit gewesen waren, konnte Anna nie zu einem wirklichen Teil dieser Familie werden. Sie war im Gefängnis geboren, der Mutter weggenommen und zu einer Verwandten gegeben worden. Bei Tante Rosi war sie aufgewachsen, dort hatte sie Liebe, Geborgenheit und Zuwendung bekommen, dort war sie zu einem ehrlichen Menschen erzogen worden, der seinen Platz im Leben fand. Tante Rosi hatte auch aus dem leichtlebigen Namen Annina den soliden Vornamen Anna gemacht. Doch sie hatte nie versucht, das Kind, das ihr anvertraut worden war, von der kriminellen Familie fernzuhalten. Nein, sie hatte dafür gesorgt, dass Anna den Kontakt aufrechterhielt, aber auch darauf geachtet, dass sie nicht unter ihren Einfluss geriet. Annas Treffen mit den Eltern und Brüdern hatten hauptsächlich in den Besuchszimmern der Haftanstalten stattgefunden, in denen sie gerade einsaßen. Zu einer Umarmung war es selten gekommen, für gemeinsame Erlebnisse und Erinnerungen hatte es nie Gelegenheit gegeben.
Anna löste sich von Filippo und hatte Mühe, ihre Verlegenheit abzuschütteln. Sie griff nach seinem Arm und zog ihn in ihre Wohnung. Er wollte die Tür hinter sich schließen, aber sie sorgte dafür, dass er nicht dazu kam. Auch die Tür der Küche, durch die sie ihn führte, blieb offen stehen, die Tür, die auf die kleine Terrasse führte, sowieso.
Filippo sah sich stirnrunzelnd um. »Konntest du kein besseres Grundstück bekommen?«
Anna wusste, was er meinte. »Touristenstädte wie Siena sind teuer.« Ihr Garten war einige Hundert Quadratmeter groß, aber kaum zu nutzen, jedenfalls nicht für Hotelgäste, die sich gerne auf einer Liege ausstreckten, die auf einem gepflegten Rasen stand. Ihr Grundstück stieg steil an, bis zu dem Zaun, hinter dem der nächste Garten begann, der ebenso steil bergan führte. Das Haus von Levi Kailer, ihrem Architekten, hatte allerdings auf der Rückseite eine große Terrasse. Sie lag vor den Büroräumen, der Werkstatt und den Räumen, in denen er die Geräte für die Bauunternehmung aufbewahrte, die er seinem Architekturbüro angeschlossen hatte. Eine Rasenfläche für Gartenliegen gab es dort jedoch ebenfalls nicht. Auch dieser Garten bestand, so wie Annas, aus terrassenartigen Pflanzbeeten, auf denen Frühlingsblüher ihre Knospen ins Licht reckten und die von ein paar Steinstufen unterbrochen wurden.
»Der sieht auf dich herab.« Filippo gefiel es nicht, dass jemand sie von oben beobachten konnte. »Der hat dich im Auge. Jederzeit!«
Anna lächelte. »Da oben wohnen Freunde. Das Haus gehört Levi Kailer, meinem Architekten. Er ist ein sehr netter junger Mann. Auch sein Vater wohnt dort, Konrad Kailer. Er ist nach seiner Pensionierung zu seinem Sohn nach Siena gezogen.«
»Pensionierung«, wiederholte Filippo verächtlich, in dessen Sprachgebrauch solche Worte nicht vorkamen. »Ein Beamter?«
Anna nickte nur. Dass Konrad Kailer Polizeibeamter gewesen war, brachte sie vorsichtshalber nicht zur Sprache. Filippo würde sich womöglich eine Knarre besorgen, wenn er nicht ohnehin eine im Gepäck hatte, und ständig den Finger am Abzug haben, wenn er wusste, dass ein Feind jederzeit über ihm erscheinen konnte. Ein Polizeibeamter war ein Feind, punktum! Auch ein ehemaliger Polizeibeamter und sogar ein deutscher, der in Italien keinerlei Befugnisse hatte.
Da Filippo nichts davon wusste, lehnte er sich entspannt zurück, als Anna ihm einen Espresso und ein Stück Schokoladentorte vorsetzte. Beides ließ er jedoch stehen, als hätte er es nicht zur Kenntnis genommen, lehnte sich zurück und faltete die Hände über seinem Bauch. »Wenn Mama und Papa das noch erlebt hätten!«
Anna schluckte schwer. Ihre Eltern hatten einen Traum gehabt, den ihre Kinder nach ihrem Tod weitergeträumt hatten. Anna war es schließlich gewesen, die daraus Realität gemacht hatte: ein Hotel in Siena! Als junge Leute waren ihre Eltern auf der Flucht vor der Polizei einmal bis nach Italien gekommen. In Siena hatte es ihnen besonders gut gefallen, hier war der Wunsch entstanden, irgendwann sesshaft zu werden und ein Hotel aufzumachen. Wenn genug Kohle da war, wenn ein Riesencoup gelungen war, wenn ein Banküberfall, eine Geiselnahme, ein Juwelenraub so perfekt über die Bühne gegangen war, dass die Kolskys in Siena in aller Ruhe das erbeutete Geld anlegen konnten.
Es war nie dazu gekommen. Annas Eltern waren nach jedem Raubzug schnell gefasst worden und hatten sich damit begnügen müssen, ihren Kindern italienische Vornamen zu geben. Mehr war ihnen nicht gelungen und ihren Söhnen genauso wenig. Das Hotel in Siena war ein Luftschloss geblieben.
Auch Anna wäre beinahe gescheitert. Tante Rosi gegenüber hatte sie den Traum nur einmal erwähnt. »Ein Wolkenkuckucksheim!«, mehr hatte Tante Rosi dazu nicht gesagt. Und Clemens hatte nur gelacht, als sie einmal davon geredet hatte. »Eine verrückte Idee!« Er würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, dass Anna in Stuttgart alles aufgegeben hatte, um in Siena den Traum ihrer Eltern zu verwirklichen.
Als Filippo genug gesehen hatte, griff er endlich zur Espressotasse. »Schön, dass du mit der Einweihung des Hotels so lange gewartet hast.«
Gewartet hatte sie darauf, dass ihr ältester Bruder seine Haftstrafe verbüßt und ihr Bruder Valentino sich von seiner Knieoperation erholt hatte. Keinen Tag früher wollte sie die ersten Hotelgäste begrüßen. Ihre Brüder mussten dabei sein!
Der Zeitpunkt der feierlichen Hoteleröffnung hatte sich dann allerdings überdies als vernünftig erwiesen. Denn als die Zimmer fertig waren, näherte sich Weihnachten – kein guter Termin für eine Einweihungsfeier. Als sie dekoriert worden und die Fenster mit hübschen Gardinen und die Wände mit Bildern geschmückt waren, war das neue Jahr schon mehrere Wochen alt. Im Februar kamen kaum Gäste nach Siena, im März hätte sie zwar die Ostertage und -ferien nutzen können, aber sie verzichtete auf diese ersten Einnahmen. Nun war der April angebrochen, beide Brüder waren in Freiheit, die Saison begann, in den nächsten Wochen würden die Touristen nach Siena strömen! Der Moment war perfekt. Anna hatte schon im Januar einige Buchungen entgegennehmen dürfen und sich sehr anstrengen müssen, damit die Gäste nicht merkten, wie glücklich sie war, dass jemand im Albergo Annina wohnen wollte. »Drei Tage im Mai? – Oh, Sie haben Glück! Ein Zimmer ist noch frei …!«
Valentino tauchte bald nach Filippo auf. Ebenso groß und hager wie er, aber ohne jede Eitelkeit. Bei ihm war auf den ersten Blick sichtbar, was bei seinem jüngeren Bruder zumindest dann verschleiert werden konnte, wenn er einer Frau imponieren wollte. Dann schaffte Filippo es gelegentlich, charmant zu sein und gut auszusehen, dann konnte für eine Weile das Unverfrorene, das Zügellose aus seinem Blick verschwinden. Valentino dagegen wuchs nicht aus seinen alten Klamotten heraus, blieb in seinen ausgetretenen Schuhen stecken, schnitt sich die Haare selbst, wenn sie ihm in die Augen fielen, und kürzte die Finger- und Fußnägel mit einem seiner Einbruchwerkzeuge, die er sorgsam aufbewahrte. Sein Gesicht war wie eine Geschichtskarte, auf der jeder Krieg, jede Gewalttat, jeder Sieg und auch alle Verluste ihre Spuren hinterlassen hatten. Er sah älter aus, als er war, das Leben in Saus und Braus, das Überleben in Ruinen, der übermäßige Genuss von Alkohol und die unvollkommene Ernährung hatten ihn gezeichnet. Das Leben hatte ihm den Titel Ganove auf die Stirn geprägt.
Anna war sich sicher, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben Tränen der Rührung in Valentinos Augen sah, als er sie in die Arme schloss. Anschließend humpelte er durch das Haus und hatte Zimmer für Zimmer bestaunt. Den schwerfälligen Gang verdankte er einem künstlichen Knie, das ihm ein Arzt eingesetzt hatte, den er einen Pfuscher nannte. Es war in der Reha traktiert worden von medizinischem Fachpersonal, das Valentinos Meinung nach einen Schuss ins Knie verdient hätte, um sein Leiden nachvollziehen zu können.
Anna ließ ihn schimpfen, da sie merkte, dass er damit von seiner Rührung ablenkte, mit der er nicht zurechtkam. Aber als dann Filippo in die Lobby trat, um ihn zu begrüßen, als Valentino bewusst wurde, dass er sich mit seinen beiden Geschwistern in dem Hotel in Siena aufhielt, das ihre Eltern sich gewünscht hatten, konnte er noch so viel schimpfen, es half nichts. Die Gefühle siegten. Ein schwerer Schlag für Valentino Kolsky, der sich immer etwas darauf zugutegehalten hatte, dass ihm bei keinem Deal, keinem Überfall oder Raubzug Gefühle in die Quere kamen, nicht einmal bei einem Handtaschendiebstahl, der eine alte Frau um ihr sauer Erspartes brachte. Widerstandslos, von seinen eigenen Gefühlen total geschwächt, ließ er sich auf einen Stuhl drücken, Espresso und Kuchen vorsetzen und den Gedanken zu, dass er Teil einer Familie war.
Immer wenn die Unterhaltung versiegte, rief Anna: »Ist es nicht herrlich, dass wir drei hier zusammen sind? In Siena? In meinem Hotel?«
Aber als das Gespräch dann immer öfter versiegte, als die Pausen immer länger und die Themen immer banaler wurden, hörte sie auf, so zu tun, als wäre ihr Zusammensein etwas, was jedes Jahr stattfand, zu jedem Geburtstag und Jubiläum und selbstverständlich während der Weihnachtsfeiertage. Nein, sie waren keine normale Familie. Es gab nichts zu reden, sie hatten keine gemeinsamen Erinnerungen, über die sie lachen, keine Kindheitserlebnisse, die sie sich gegenseitig ins Gedächtnis rufen konnten. Ein »Weißt du noch …?« hatte keinen Platz zwischen ihnen, weil es nichts gab, an das der eine sich erinnerte und was den anderen zum Lachen brachte.
Diese Erkenntnis war Anna gerade gekommen, als sie eine Bewegung oben am Zaun wahrnahm. Filippo zuckte zusammen und machte eine Handbewegung, als wollte er eine Waffe ziehen, Valentino dagegen blieb ganz ruhig. Stumm sahen die beiden dem großen, knochigen Mann zu, wie er über den Zaun stieg, sich mit seinen breiten Händen festhielt, die riesigen Füße vorsichtig aufsetzte, um nicht ins Rutschen zu geraten. Er schickte einen langen Blick zur Terrasse, dann stieg er zu ihnen herab, und Anna erkannte sofort, warum Konrad gekommen war. Er hatte vermutlich aus dem Fenster geblickt, Anna mit zwei Männern auf der Terrasse sitzen sehen und sich seinen Reim darauf gemacht.
Sie hatte ihm nicht verraten, wann sie ihre Brüder erwartete. Natürlich wusste er, dass sie kommen würden, aber sie wollte verhindern, dass die Neugier ihn gleich ins Hotel trieb und ihr die Wiedersehensfreude verdarb. Jeder deutsche Polizeibeamte und sogar die meisten italienischen kannten den Namen Kolsky. Eine Familie notorischer Gewohnheitsverbrecher, von denen jeder mehr auf dem Kerbholz hatte, als ihnen je nachgewiesen werden konnte. Dass Konrad die beiden aus der Nähe sehen und sie außerhalb von Recht und Gesetz erleben wollte, konnte Anna sogar verstehen. Sie befürchtete jedoch, dass er die beiden mit Fangfragen verschreckte, die er selbst für klug und undurchschaubar hielt. Das musste sie unbedingt verhindern. Dieser Augenblick, in dem der Traum ihrer Eltern wahr wurde, durfte nicht durch einen indiskreten Polizeibeamten kaputtgemacht werden, der gelegentlich vergaß, dass er mit seinem Amt auch die Pflicht zu ermitteln abgelegt hatte.
Doch sie hatte Pech. Konrad erschien schon, nachdem sie eine Weile auf der Terrasse gesessen hatten, jeder mittlerweile mit einem Rotweinglas in der Hand, Valentino und Filippo leise und schüchtern, Anna laut und ebenso schüchtern, aber mit dem festen Willen, so zu tun, als wäre es das Normalste der Welt, dass die drei Kolsky-Nachkommen so zusammensaßen wie andere Geschwister. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie zu dritt beieinander waren, ohne beobachtet zu werden, ohne dass ein Wärter ein Auge auf sie hatte.
Eigentlich war sie nun doch ganz froh, dass Konrad sie von der steifen uniformblauen Unterhaltung erlöste, die einfach nicht capriblau und leicht werden wollte. Andererseits war sie verärgert über Konrads Unverfrorenheit. Er war neugierig, so viel war klar. Er wollte die beiden Kolsky-Brüder von Angesicht zu Angesicht erleben, die früher für ihn nur eine dicke Akte gewesen waren, die jeden Polizisten zum Seufzen brachte, wenn er sie hervorzog. Hätte er nicht warten können? Hätte er Anna nicht an diesem Abend mit ihren Brüdern allein lassen können?
Konrad lächelte so arglos, als könnte er sich nicht vorstellen, von wem Anna Besuch bekommen hatte, umarmte sie und hauchte ihr zwei Küsse an die Schläfen, weil sie ihm ihren Mund konsequent vorenthielt. Sie wusste, dass Konrad es liebte, ihre Beziehung anders darzustellen, als sie war. Nämlich so, wie er sie gern hätte. Dann sprach er sie auch nicht mit dem Vornamen an, sondern nannte sie »Liebes«, was Anna jedes Mal auf die Palme brachte.
»Liebes, du hast Besuch? Ich wollte nicht stören.«
Und ob du das wolltest, brodelte es in Anna. Du wolltest genau das, was jetzt geschieht: mit zwei Schwerverbrechern an einem Tisch sitzen und dir überlegen vorkommen. Vielleicht lässt du sogar durchblicken, dass du meine Brüder im Auge behalten und dafür sorgen wirst, dass Levis Haus und deine Wohnung in den nächsten Tagen sorgfältig abgeschlossen werden.
Aber laut sagte sie: »Du störst nicht.«
Das entsprach der Wahrheit, was Anna zusätzlich ärgerte. Tatsächlich war sie froh, dass jemand die stockende Unterhaltung anschob, jemand, der nicht gezwungen war, sich wie ein Angehöriger zu verhalten, sondern einer, der übers Wetter und über die Schönheiten Sienas reden konnte. Ihre Brüder waren Konrad fremd, genauso fremd wie ihr selbst, aber er durfte es zeigen, während es bei ihr darauf ankam, so zu tun, als ginge es ausschließlich um ihre Familienbande. Dass diese nie geknüpft worden waren, dass sie lose zwischen ihnen herumflatterten und sich nur gelegentlich ineinander verfingen, war ihr in diesem Augenblick so deutlich wie nie zuvor. Ob es Valentino und Filippo ebenso ging? Möglicherweise konnten sie Gefängnis-Haft und Familiengewahrsam gar nicht mehr auseinanderhalten und betrachteten Freiheit als etwas derart Abweichendes, dass sie unter ihr litten wie andere unter einer Inhaftierung. Ob sie vorhatten, in Zukunft ein ehrlicheres Leben zu führen, oder schon der nächsten Versuchung erliegen würden, wusste Anna nicht. Allerdings baute sie vorsichtig auf das Alter ihrer Brüder: Valentino konnte sich ein Wettrennen mit der Polizei nicht mehr erlauben, und Filippos körperlicher Zustand war ebenfalls nicht mehr der beste, wenn er es auch manchmal schaffte, so zu tun, als wäre er topfit. Sie konnte darauf hoffen, dass die beiden die letzten Jahre ihres Lebens ohne neue Straftaten zubringen würden, aber dass sie wie ihre Eltern im Gefängnis sterben könnten, schwebte dennoch wie ein Damoklesschwert über ihr. Valentino und Filippo ging es finanziell erstaunlich gut. Das ließ darauf schließen, dass es irgendwo Geld gab, von dem die Polizei nichts wusste und nichts wissen durfte. Und das wiederum bedeutete, dass es unaufgeklärte Straftaten gab, die noch nicht gesühnt worden waren, oder zumindest Beute, die nicht zu ihren rechtmäßigen Besitzern zurückgefunden hatte.
»Wird Henrieke zur Eröffnungsfeier kommen?«, fragte Valentino in diesem Moment.
Und Anna ärgerte sich erneut, weil es Konrad war, der antwortete: »Annas Tochter hat ein Jobangebot. Ein Vorstellungsgespräch kann man nicht absagen, deswegen hat sie keine Zeit.«
Sosehr sie Konrad eigentlich mochte – dass er ihr gern das Gespräch aus der Hand nahm, konnte sie nicht leiden. Erst recht nicht seine Besserwisserei und die Darstellung seiner Überheblichkeit. Dass er andererseits ein charakterfester Mann war, auf den man sich verlassen konnte, musste sie sich in Situationen wie dieser ausdrücklich ins Gedächtnis rufen. Sonst hätte sie ihn mit scharfer Stimme gebeten, einer persönlichen Frage, die an sie gerichtet worden war, nicht mit einer vorschnellen Antwort zuvorzukommen.
Dennoch wurde es ein harmonischer Abend. Anna ließ sich darauf ein, von Konrad »Liebes« genannt zu werden, ließ sich gelegentlich einen Kuss auf den Haaransatz drücken und erkaufte sich damit, dass er freundlich und zuvorkommend zu ihren Brüdern war. Mit keinem einzigen Satz erwähnte er seinen früheren Beruf. Auch dass er den beiden intellektuell weit überlegen war, ließ er nicht erkennen, und dass die Kolsky-Brüder beide keine abgeschlossene Schulbildung besaßen, schien er nicht zu bemerken. Valentino und Filippo entspannten sich im Laufe des Abends, und ein paarmal lachten sie zusammen sogar herzhaft. Konrad war sehr geschickt darin, nur Themen anzuschneiden, zu denen alle etwas beitragen konnten. Und das beste Thema war natürlich Anna selbst. Konrad erzählte den beiden von ihren Anfängen in Siena, und dann sprachen sie lange über das Besondere, das Konrad bald nach ihrem Kennenlernen herausgefunden hatte. Etwas, was Anna selbst lange nicht klar gewesen war, wovon Valentino und Filippo selbstredend nie etwas gehört hatten, was sie aber auf wunderbare Weise an ihre Mutter erinnerte … Die Gewohnheit, Gefühle und Stimmungen in Farben auszudrücken. Synästhesie! Konrad hatte diese Bezeichnung gefunden, und nun stellte sich heraus, dass auch ihre Mutter Synästhetikerin gewesen war.
Der nächste Morgen kam aus einer kühlen Nacht. Klar wie schweres Kristall, mit wolkigen Einsprenkelungen, ein Glas, das sich nur langsam mit dem Licht des Morgens füllte. Aber bald würde es überlaufen, das wusste Anna. Und dann würde der Morgen in den Tag fließen, vielleicht hell und durchscheinend, möglicherweise auch trübe und undurchsichtig. Kurz vor Mittag würde dann feststehen, ob der Tag silbrigblau werden oder kristallgrau bleiben würde.
Den Frühstücksraum hatte sie hinter der Lobby eingerichtet. Ein heller Raum, mit Sonne an den Wänden und leuchtendem Grün auf den Tischen und Stühlen. Levi hatte sich auf Terrakotta-Farben beschränken wollen, aber Anna hatte darauf bestanden, dass ihre Gäste mit Licht und grüner Urkraft den Tag begannen. So waren die Wände hellgelb gestrichen worden, die Stühle hatten grüne Polster erhalten, die Tischläufer wiesen gelbe und grüne Elemente auf, nur der Fußboden war sonnenverbrannt. Ein Raum in Butterblumengelb und Apfelgrün!
An diesem Tag öffnete das Albergo Annina die Tore für seine allerersten Gäste. So hatte Anna es in allen Tageszeitungen und Reisemagazinen veröffentlichen lassen. Und wenn die Einweihungsfeier stattfand, würde das Hotel ausgebucht sein! Noch eine Woche! Anna lächelte, das vage Unwohlsein war nun verflogen. Sie war glücklich. Dass ihr Haus zwei Schwerkriminelle beherbergte, würde niemand erfahren. Hoffentlich! Die Sorge, dass Valentino und Filippo sich auffällig benehmen und das Hotel in Verruf bringen könnten, war noch da, bedrängte Anna jedoch nicht mehr. Ihre Brüder gehörten in dieser Zeit an ihre Seite, das war sie ihnen und ihren verstorbenen Eltern schuldig. Basta! Auch Tante Rosi hätte es gewollt, da war Anna ganz sicher. Sie hätte ihr sogar zugeredet. »Du darfst deine Familie niemals vergessen, Kind. Du gehörst zu ihnen, auch wenn du ein ganz anderer Mensch geworden bist als sie. Sei glücklich darüber, aber hüte dich vor Hochmut.«
Anna nahm sich vor, bald in die Basilica di San Francesco zu gehen und dort eine Kerze für Tante Rosi anzuzünden. Ihr Grab war in Stuttgart. Lieber wäre sie dorthin gegangen, hätte den Namen auf ihrem Grabstein angesehen und sich dort bei ihr bedankt. Nun würde sie auf einer Kirchenbank ganz fest an sie denken. Bei diesem Vorsatz stieg Ruhe in ihr auf, eine klare, bernsteinfarbene Ruhe. Ja, das würde ihr guttun. Noch immer war Tante Rosi, Jahre nach ihrem Tod, so wichtig, dass sie Anna auf jedem bedeutungsvollen Schritt begleiten musste.
Anna betrachtete das Buffet, das sie aufgebaut hatte. Zum ersten Mal! Der Bäcker hatte die Panini und das Ciabattabrot pünktlich geliefert, ihr Duft erfüllte den ganzen Raum. Die Marmeladen leuchteten orangengelb, himbeerrot und kiwigrün, der Honig zog einen bernsteinfarbenen Faden aus dem Spender. Die dicke Mortadella protzte mit hellen Speckpunkten, die Salami war schlank und dunkel. Tomaten- und Mozzarellascheiben lagen auf einer ovalen Platte, mit Basilikum geschmückt, mit Olivenöl beträufelt, auf einem großen Brett prunkten diverse Käsesorten. Butter, Trauben, gekochte Eier, Rühreier, Spiegeleier – alles, was das Herz begehrte, hatte Anna aufgetischt. Viel zu viel für die beiden Gäste, die sie bis jetzt hatte, aber sie wollte ihren beiden Brüdern zeigen, dass das Hotel in Siena noch besser war, als ihre Eltern es sich vor Jahren ausgemalt hatten. Die beiden sollten genauso stolz und zufrieden sein wie sie selbst an diesem Tag, an dem sie zum ersten Mal das Hotelfrühstück herrichtete.
Während sie die Kaffeemaschine anstellte und sich selbst zur Probe einen Espresso machte, sah sie aus dem Fenster. Das Glück nahm ihr beinahe den Atem, als sie über die Ziegeldächer Sienas blickte, auf die Pinien und Zypressen, die zwischen den Häusern hochragten, in den Himmel, der nicht blau war, aber keineswegs so grau, wie er in Stuttgart sein konnte. Sie lauschte auf den Lärm der Stadt, auf das Quirlige, Temperamentvolle, das laute Hupen, die aufheulenden Motoren, die doch keine Aggressionen vermittelten, eher Überschäumendes, Schwelgerisches, Überbordendes. Und wieder wurde ihr klar, dass sie hierher passte. Hier, in Siena, war sie am richtigen Platz, hier ging es ihr gut. Sogar noch besser als bei Tante Rosi und viel besser als in der komfortablen Eigentumswohnung, die sie mit Clemens geteilt hatte. Dass ihre beiden Brüder hier mit ihr zusammen waren, erzeugte ein Glücksgefühl in ihr, das sich anfühlte, als hätte sie rosafarbene Marshmallows gegessen.
Anna schrak zusammen, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte, und fuhr herum. Konrad lachte. »Ich bin’s nur.«
»Wie kommst du herein?«
»Über die Terrasse! Wie immer.« Er sah sie verblüfft an. Was sollte diese Frage? Er nahm doch jedes Mal diesen Weg. Dann aber veränderte sich sein Gesichtsausdruck. »Du hast mich nicht gehört? Hier im Frühstücksraum könntest du öfter überrascht werden. Er ist weit weg vom Hoteleingang und auch von deiner Wohnung.«
Anna winkte ab. »Egal! In einem Hotel gehen die Leute sowieso immer ein und aus, da werde ich den Überblick ohnehin schnell verlieren.«
Konrad antwortete nicht. Er wusste, wie schwer es ihr fiel, die Türen zu schließen. »Sind deine Brüder schon wach?« Er ging zum Frühstücksbuffet und betrachtete ihr Angebot. »Donnerwetter! Das wird die Herren überraschen. Im Knast wird das Frühstück nicht so …«