Es wird keine Helden geben - Anna Seidl - E-Book
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Es wird keine Helden geben E-Book

Anna Seidl

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Beschreibung

Berührend, fesselnd, unfassbar: Wenn nichts mehr ist, wie es war. Kurz, nachdem es zur Pause geläutet hat, hört Miriam einen Schuss. Zunächst versteht niemand, was eigentlich passiert ist, aber dann herrschen Chaos und nackte Angst. Matias, ein Schüler aus ihrer Parallelklasse, schießt um sich. Auch Miriams Freund Tobi wird tödlich getroffen. Miriam überlebt - aber sie fragt sich, ob das Leben ohne Tobi und mit den ständig wiederkehrenden Albträumen überhaupt noch einen Sinn hat. Waren sie und ihre Mitschüler Schuld an der Katastrophe? Das großartige Debüt von Anna Seidl, die erst 16 Jahre alt war, als sie diese aufwühlende Geschichte geschrieben hat: eine intensive Auseinandersetzung mit den Folgen eines Amoklaufs für die Überlebenden, mit Schuld und Trauer, schonungslos erzählt.

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Inhaltsverzeichnis

TitelseiteWidmungEinleitung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. KapitelDanksagungMehr zum BuchCopyright der Textauszüge
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1

Man kann die Angst riechen. Man kann nach ihr greifen. Aber niemand wagt es, sich zu rühren. Wir halten alle den Atem an.

Er ist unter uns. Wir können sie hören, die Schüsse. Sie sind laut. Viel zu laut, um in meine Welt aus Schule und Spaß zu passen. Mitten in der Pause ging es los. Ich hab ihn nicht gesehen. Ich weiß auch nicht, wer es ist. Meine beste Freundin Joanne und ich wurden gerade von den Lehrern runter ins Erdgeschoss geschickt, da rennen plötzlich alle los. Und dann: Bumm. Und noch mal: Bumm.

Klar weiß ich, wie eine Pistole klingt. Ich bin schließlich genauso fernsehverseucht wie der Rest dieser Schule. Aber in echt ist es anders. Das Geräusch ist zwar dasselbe, aber zehntausendmal lauter.

Im ersten Moment bleiben wir stehen, Joanne und ich. Dann rennen wir auch. Alle, die im oberen Stockwerk sind, rennen. Die Lehrer, der Hausmeister, die Schüler. Ich kann Philipp Schwarz sehen, der eine Klasse über mir ist. Vor ein paar Jahren stand ich ein bisschen auf ihn. Er wirkte auf mich immer so perfekt. Ich kann auch Lisa Schmidt sehen. Über sie weiß ich eigentlich nichts. Auch sie rennen.

Das alles sehe ich. Aber ich begreife nicht.

Niemand hier begreift wirklich. Und wie sollten wir auch? Wir sind Kinder, allesamt, egal, ob wir dreizehn oder dreißig Jahre alt sind. Denn so etwas haben wir noch nie erlebt. Ich verrate euch ein Geheimnis. Mein erster Gedanke war einfach nur: Scheiße, ich muss hier weg. Dabei dachte ich nur an mich. Nicht an meine Lehrer und Mitschüler, nicht mal an Joanne. Im ersten Moment dachte ich nur an mich. Und ganz ehrlich? Ich weiß, dass es den anderen auch so ging.

Hier gibt es keine Helden. Denn es ist kein Film. Blanke Realität. Joanne, Philipp und ich verstecken uns auf dem Jungsklo. Philipp erscheint mir gar nicht mehr so toll. Er ist nur noch ein Nervenbündel, das vor mir auf dem Boden kauert und schnell atmet.

Nervenbündel sind Joanne und ich auch. Meine Hände sind ganz nass vor Schweiß. Ich zittere am ganzen Körper. Und da ist diese blanke Angst. Sie schnürt mir die Kehle zu. Drückt gegen mein Herz, als wolle sie es zwingen, nicht mehr zu schlagen. Daran erkenne ich, dass es echt ist.

Ich bin zum Sterben noch nicht bereit. Ich bin gerade mal fünfzehn Jahre alt, habe seit fünf Monaten meinen ersten Freund und besuche erst die neunte Klasse! Es gibt noch so vieles, was ich gerne machen würde. Und sterben gehört nicht dazu!

Ein weiterer Schuss lässt mich zusammenzucken. Ein dumpfer Aufschlag auf dem Boden, ein Schrei, Schritte. Er kommt näher.

Es ist seltsam. Man sollte meinen, dass er rennt, es eilig hat. So ist es nicht. Seelenruhig und in gleichmäßigen Abständen hört man seine Schuhe auf dem Boden hallen. Fast so, als würde er nur zum Physiksaal gehen. Und nicht verängstigten Menschen das Tor zum Himmel freischießen. Oder zur Hölle. Oder zum Nichts.

Vielleicht könnt ihr es euch vorstellen, wie es ist, auf dem kalten Fußboden in einer stinkenden Toilette zu kauern. Vielleicht könnt ihr die Kälte spüren, die den Körper erfasst, ihn zittern lässt, sodass man ihn nicht mehr unter Kontrolle hat. Vielleicht könnt ihr die Stille hören, diese Totenstille, wenn jeder den Atem anhält und einfach nur hofft, dass es einen anderen trifft und man selbst verschont bleibt. Vielleicht könnt ihr das wirklich. Vielleicht auch nicht.

Ich habe gedacht, ich könnte es. Ich habe mich geirrt. Leider muss ich erleben, wie es sich wirklich anfühlt. Angst kann man nicht riechen, habe ich früher immer gedacht.

»Miriam«, Joanne flüstert meinen Namen nur. Sie deutet mit einem Kopfnicken auf eine der Kabinen. Sie will, dass wir uns darin verstecken. Die Schritte werden immer lauter. Er ist da, ganz in der Nähe.

Ich bin selber überrascht, als ich nicke. Ich hätte nicht gedacht, dass ich noch nicken kann. Ich berühre Philipp am Arm, aber er bebt am ganzen Körper und schüttelt meine Hand ab. Joanne und ich blicken uns einen Moment lang an.

Ihre Augen spiegeln meine Gefühle wider: Schrecken, Verständnislosigkeit, Angst. Und ich begreife, dass es nicht gut ausgehen wird. Nicht für alle von uns. Dass er schon welche angeschossen hat, vielleicht sogar schon erschossen. Und dass er es noch mit weiteren tun wird.

Tränen der Panik steigen in mir auf. So fest ich kann, kralle ich meine Fingernägel in den Arm. Doch der Schmerz macht mir nichts aus. Vielmehr ist er erleichternd. Denn er vertreibt, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, die bösen Gedanken.

Ein seltsames Geräusch lässt Joanne und mich hochschrecken: Philipp, der anfängt zu weinen und zu kreischen. Entsetzt bedeuten wir ihm, still zu sein. Jedoch zu spät. Die Schritte bewegen sich auf unsere Tür zu.

Wir zögern nicht. Glaubt mir, ihr würdet auch nicht zögern. Schnell und geräuschlos rennen wir zu einer Kabine. Wir stellen uns aufs Klo und gehen in die Hocke, sodass er nichts von uns sehen wird. Hoffe ich zumindest. Dann lehnen wir die Tür so an wie die anderen Kabinentüren. Wir halten die Luft an.

Ja, wir lassen Philipp einfach zurück. Und ja, die Folgen sind mir bewusst. Ich weiß, dass das seinen Tod bedeuten könnte. So herzlos es auch scheinen mag – würde ich bleiben, würde ich mein Todesurteil unterschreiben. Hier denkt jeder zuerst an sich. Es gibt keine Helden. Die sind eine Erfindung der Filmindustrie.

Die Sekunden scheinen sich zu dehnen. Feige, wie ich bin, schließe ich die Augen, kneife sie ganz fest zu, auch wenn das nichts besser macht. Joanne greift nach meiner Hand und drückt sie so fest, dass sich die Knochen verschieben. Ich lausche den Schritten.

Sie werden immer lauter, kommen näher – dann bleiben sie stehen. Als die Tür aufgestoßen wird, zucken wir zusammen. Philipp liegt immer noch am Boden. Wir können ihn von hier aus nicht sehen. Aber wir können ihn hören. Er scheint nicht einmal zu merken, dass wir weg sind. Er scheint gar nichts mehr zu merken.

Es zieht sich ewig. Niemals hätte ich gedacht, dass sich eine Sekunde wie eine Ewigkeit anfühlen kann. Dann fällt der Schuss. Ein Schrei. Der Geruch von Schießpulver in der Luft. So ähnlich wie an Silvester. Nur anders. Intensiver, beißender. Joanne und ich zittern. Trotzdem gibt keine von uns beiden einen Laut von sich.

Erst überleben, dann trauern.

Noch ein Schuss. Wieder geben wir keinen Mucks von uns. Stille. Doch dann das Schniefen einer Nase. Das Auf-und-ab-Laufen des Mörders. Er weint. Er weint! So, als wäre er selbst ein Opfer!

Weiterhin halten wir die Luft an. Er kann uns noch entdecken. Und ich will nicht so enden wie Philipp. Am Boden liegend, einige Mitschüler hinter mir, die sich nicht trauen, einen Ton zu sagen.

Er geht. Ich kann es kaum glauben, wollte mich schon vom Leben verabschieden, aber er geht. Verschwindet einfach. Vielleicht kommen wir hier raus. Lebend.

Wir warten noch. Eine Minute oder so. Ist schwer zu sagen. Das Zeitgefühl ist mir entglitten. Jetzt mache ich mich von Joanne los und merke, dass ich in der rechten Hand überhaupt kein Gefühl mehr habe. Joanne hat ihre Abdrücke auf meiner Hand hinterlassen. Vorsichtig bewege ich sie. Dann bewegen sich auch meine Füße wieder. Ganz leise öffnet Joanne die Tür der Kabine.

Und da liegt er. Weiß im Gesicht. In seiner eigenen Blutlache. Seine braunen Haare wirken stumpf. Seine Augen glasig. Sein Mund zu blass.

In einem Buch habe ich gelesen, dass Tote friedlich aussehen. Dass man meinen könnte, sie schlafen einfach nur. Philipp wirkt genau so, wie er auch ist: tot. Gewaltsam ermordet. Opfer eines Psychos.

Augenblicklich wird mir schlecht. Tränen brennen hinter meinen Augen. Aber sie fließen nicht. Dafür fühle ich mich zu taub. Zu erstarrt. Fast selbst wie eine Tote.

Joanne neben mir schluchzt leise auf. Sofort presse ich meine Hand auf ihren Mund. Ich kann ihren Sabber an meiner Hand spüren. Ich nehme sie in den Arm und schaukele sie ruhig hin und her, so, wie man ein Baby in den Schlaf schaukelt. Ein einziges kleines Schsch ist alles, was mir über die Lippen kommt. Es hallt zwischen den gekachelten Wänden des Raumes und kommt mir viel zu laut vor. Wenn die Stille dir das Leben rettet, definierst du neu, was laut und was leise ist.

Ich sitze auf dem Boden und halte Joanne im Arm. Was kann ich sonst auch tun? Ich lege den Kopf nach hinten und stelle mir vor, ich wäre im Wald. Die Bäume rauschen, und ich kann die Tiere hören. Alles ist so, wie es sein sollte.

Das beruhigt mich ein wenig.

Bis zum nächsten Schuss. Er lässt mich hochfahren. Er wurde direkt im Gang losgelassen, hallt durch alle Wände.

Wahrscheinlich wäre es klüger, sitzen zu bleiben. Trotzdem stehe ich auf, gehe leise zur Tür. Joanne folgt mir nicht. Sie bleibt schwach am Boden liegen. Wie eine Tote.

Ich öffne die Klotür nur einen Spaltbreit. Dann, ganz langsam, nicht wissend, was mich erwartet, strecke ich den Kopf raus. Und was ich sehe, ist tausendmal schlimmer als alles andere an diesem Tag.

Denn der Junge, der da am Boden liegt, dieser Junge ist Tobi. Mein Freund. Der süße Typ, der mir heute Morgen eine SMS geschickt hat, dass ich nicht verschlafen soll, weil Montag ist. Tobi ist der Junge, mit dem ich mein erstes Mal hatte, der mir zum ersten Mal Ich liebe dich gesagt hat.

Dort am Boden liegt Tobi. Tobi, der mir beim Volksfest einen Teddybären schießen wollte, aber mir dann doch ein Schaf brachte, weil die Punkte für den Bären nicht reichten. Tobi, der mir jeden zweiten Samstag Frühstück gemacht hat, wenn wir in dem Wohnwagen seiner Eltern übernachtet haben. Tobi, der mir beim ersten Date Pizza backen wollte, und am Ende waren wir beide nur so mit Mehl bekleckert. Tobi, der nur meine Hand nehmen muss, um mich zu trösten. Tobi, der mich nur anlächeln muss, damit ich mich wunderschön und unbesiegbar fühle.

Es ist dieser Tobi, der da am Boden liegt. Es ist mein Tobi.

Er sieht mich. Obwohl er etwa zehn Meter weit weg liegt, kann ich seine grünen Augen erkennen. Stumm fleht er mich an. Bettelt, ihm zu helfen.

Und ihr habt eine Vorahnung, was jetzt kommt, oder? Ihr könnt die Szene schon vor euch sehen. Ich, Miriam Brand, stürme auf ihn zu, ich mache den Jungen mit der Waffe auf mich aufmerksam, um meinen Freund zu retten. Ihr seht vor euch, wie ich mutig mein Leben für ihn riskiere. Alles tue für die Liebe zu diesem Jungen.

Wozu soll ich lügen. Ich bleibe dort, wo ich bin. Ich ertrage es nicht, Tobi in die Augen zu sehen. Ich wende mein Gesicht ab. Ich kann nicht mit ansehen, wie mein Freund sterben wird. Ich kann auch nicht mit anhören, wie er laut und panisch keucht. Wie sein Atem aber gleichzeitig immer schwächer und unregelmäßiger wird. Ich kann ihn nicht retten. Genauso wenig kann ich wieder die Tür schließen und mich zu Joanne setzen. Ich kann gar nichts mehr.

Bumm. Gelähmt höre ich den nächsten Schuss. Ich sehe zwei Mädchen, die durch den Gang laufen. Ein weiterer Schuss. Ich vernehme den Aufschlag eines Körpers. Der Körper dieses Kindes, das erst in die fünfte Klasse geht. Kann ihre Freundin schreien hören. Sie flieht. Rennt ins nächste Klassenzimmer und knallt die Tür zu. Der Amokläufer geht weiter den Gang entlang, ist jetzt fünfzehn Meter von mir entfernt.

Da, einfach so, ruft Joanne meinen Namen.

Der Amokläufer wirbelt herum …

… und blickt direkt in meine Augen.

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2

Es dauert nur eine Sekunde. Nur eine Sekunde, bis er den Schuss abfeuern wird. Aber ich werde euch erzählen, was mir in dieser einen Sekunde durch den Kopf gegangen ist:

Zum ersten Mal sehe ich ihn von vorne. Und ich kenne ihn, den Amokläufer. Es ist Matias Staudt. Er geht in die 9c, in meine Parallelklasse.

Wisst ihr, es schockiert mich nicht, den Amokläufer zu kennen. Es schockiert mich, dass es Matias Staudt ist. Denn Matias hatte Freunde. Gut, er war in der Klassenhierarchie ziemlich weit unten, aber er hatte zwei sehr gute Freunde in der 9c. Dachte ich zumindest. Ich habe nie sehr auf ihn geachtet.

Matias ist für mich einfach nicht … interessant gewesen. Er ist ein Muttersöhnchen. Und wirklich gut sieht er auch nicht aus. Er ist ziemlich klein, etwas zu dick und hat ein paar Pickel zu viel im Gesicht. Also habe ich ihn weder als Freund noch als Typen beachtet.

Ich weiß, dass er ziemlich auf mich steht. Er hat sich sogar einmal getraut, mich zu fragen. Er wollte mit mir auf so einen langweiligen Abschlussball vom Tanzkurs gehen. Natürlich habe ich ihn ausgelacht. Ich weiß auch, dass Tobi Matias Staudt mit ein paar von seinen Kumpels ziemlich gedisst hat. Sie haben ihm im Sportunterricht die Klamotten versteckt und an die Tafel Matias das Schwein geschrieben, so ein Zeug eben.

Und jetzt bin ich am Ende meines Lebens angelangt. Plötzlich spüre ich den kalten Wind, der um mich herumweht. Ein paar Fenster stehen offen, es regnet herein. Mir fällt auf, dass sich unter der Fensterbank ein Mädchen aus der Elften versteckt. Angstvoll sieht sie mich an. Ich reagiere nicht. Ich fühle mich tausend Jahre älter als sie.

Ich spüre wieder meinen ganzen Körper, auch die Hand, die Joanne so fest gedrückt hat. Erst jetzt bemerke ich, wie sehr sie schmerzt. Erst jetzt fällt mir auf, dass mein linker Arm an der Stelle, an der ich meine Nägel hineingebohrt habe, blutet und schmerzt.

Als würde ich nun, am Ende meines Lebens, erst richtig aufwachen.

Ich bereue, meinen Dad heute nicht umarmt zu haben. Es hätte mich nur fünf Sekunden gekostet. Ich bereue, meine Oma gestern nicht noch zurückgerufen zu haben. Ich bereue, dass ich meiner Mutter nicht gesagt habe, wie sehr ich sie dafür hasse, dass sie meinen Dad und mich verlassen hat. Ich hätte letzten Winter einen Schnee-Engel machen sollen, egal, ob es kindisch ist oder nicht.

Ich werde es nie wieder können. Und dieses Wissen tut verdammt weh.

Ich werde niemals wie geplant meinen sechzehnten Geburtstag feiern können. Ich werde niemals heiraten, nicht irgendwann als alte Frau auf der Terrasse sitzen, neben mir mein ebenfalls alter Ehemann, um uns herum unsere Enkelkinder.

Ich sehe all die Bilder vor mir, Philipp, tot auf dem Boden. Laufende Kinder, überall laufende Kinder. Das Mädchen, das zu Boden stürzt. Joannes Gesichtsausdruck beim ersten Schuss. So überrascht, so verwirrt. Mein Freund, verblutend, zehn Meter vor mir. Er beobachtet uns jetzt, und ich kann die Angst erkennen, die er verspürt. Ich schäme mich. Weil es Angst um mein Leben ist, nicht um sein eigenes.

Ich fühle mich leer. In dieser Sekunde verschwindet die Angst. Und macht Platz für etwas noch Schlimmeres. Gleichgültigkeit. Ich werde sterben. Und es ist egal. Alles ist egal. Ob ich lebe … oder sterbe. Ob ich Schmerzen haben werde oder nicht. Jetzt ist es vorbei. Ich warte auf den Schuss. Ich hoffe nur, dass er Joanne nicht entdeckt. Wenigstens eine von uns beiden soll leben.

Das alles durchfährt mich in einer einzigen Sekunde. Einer einzigen, doch so wichtigen Sekunde. Denn obwohl sie nur eine von vielen Millionen Sekunden ist, die ich erlebt habe, kommt es mir vor, als dauere sie so lange wie mein ganzes vorheriges Leben.

Ich höre den Schuss. Und dann einen zweiten und dritten. Etwas streift mein rechtes Bein. Ich habe erwartet, dass ich zu Boden gehe. Tue ich nicht. Aber Matias stürzt, zwei Schüsse im Körper. Ich glaube, er ist tot. Er ist tot. Tot, genauso wie Philipp.

Joanne kommt zitternd aus ihrem Versteck. Gemeinsam stehen wir da, während ein Spezialkommando durch die Tür stürmt. Es sind Sanitäter und bewaffnete Polizisten. Zumindest glaube ich, dass es Polizisten sind. Sie tragen schwarze Kleidung, Knieschützer und schwere Helme, die Motorradhelmen ziemlich ähnlich sehen. Aber das ist es nicht, was wirklich angsteinflößend ist. Es sind die Waffen. Überall. Ich bin verwirrt.

Sie beugen sich über Tobi. Legen ihn auf eine Trage und bringen ihn weg. Irgendjemand versucht, mit Joanne und mir zu reden. Zeigt auf mein verletztes Bein, meinen blutenden Arm. Ich schüttele einfach nur den Kopf.

Und dann renne ich der Trage nach, ignoriere mein protestierendes Bein. Er lebt noch. Ich hab’s gesehen. Seine Brust hebt und senkt sich.

Ich renne an vielen Leuten vorbei durch das Schulhaus. Bis ich zur Tür komme. Da sehe ich gerade noch, wie die Sanitäter mit Tobi verschwinden. Ich will ihnen folgen und – pralle zurück.

Es ist schrecklich. So etwas habe ich nicht erwartet. Journalisten, so viele Journalisten, mit ihren Mikrofonen und Kameras. Sie filmen uns! Filmen uns, als wäre es einer von diesen bescheuerten Blockbustern, die im Fernsehen laufen.

Fassungslos bleibe ich stehen. Dann renne ich zu dem Krankenwagen, in den sie Tobi schieben. Ich bin schon fast da, als ein Reporter mich aufhält. »Hey, Kleine! Erzählst du mir, was da drinnen passiert ist? … Hey, warte mal!«

Ich ignoriere ihn. Ist mir doch egal, was er will. Es gibt jetzt Wichtigeres.

»Es dauert nur …«

»Hey, was machen Sie hier? Bleiben Sie hinter der Absperrung, und lassen Sie die Kinder in Ruhe!« Ein Polizist stellt sich neben mich und verscheucht den Reporter. Mit den Augen suche ich den Parkplatz ab. Aber der Krankenwagen ist schon weg. Tobi ist einfach so weg.

Ich will weinen. Da ist dieser Druck. Überall. Und ich weiß, dass die Tränen all das rausschwemmen könnten. Aber es geht nicht. Ich lasse mich einfach fallen. Sitze auf dem Asphalt und starre vor mich hin.

Aus der Schule kommen immer mehr Leute. Kinder, Mädchen wie ich, Tobis Kumpels, Lehrer. Wir sehen alle gleich aus. Wie Gespenster.

Joanne setzt sich neben mich. Wir sagen nichts. Was sollten wir auch sagen? Niemand achtet auf uns. Es kommt auch kein Sanitäter, um mein Bein zu verarzten. Denn es sind zu wenig Ärzte da. Und viel zu viele Verletzte. Drei Tote habe ich bis jetzt gezählt. Und einige Kinder sehen viel schlimmer aus als ich.

Ich lehne meinen Kopf an Joannes Schulter, und so sitzen wir da. Und warten. Warten auf … irgendwas. Auf nichts, auf alles, auf ein Wunder. Auf das Erwachen? Glauben wir, dass alles nur ein Traum war? War es nicht. Ist es nicht.

[zurück]

3

Irgendjemand verbindet mein Bein und versorgt meinen Arm. Mein Dad ist da. Er will mir helfen. Tobis Mom kommt. Tobi ist tot. Bei der OP gestorben.

All das bekomme ich nur durch einen Nebel mit. Ich sollte um ihn weinen. Irgendeine Reaktion zeigen. Aber ich kann es nicht. Alles kommt mir so unwirklich vor, so falsch.

Ist es wirklich Wirklichkeit? Ich begreife nicht, wie das sein kann. Es ist doch ein ganz normaler Tag, so wie jeder andere auch. Alles ist doch so wie immer, sollte zumindest so wie immer sein. Was nur ist passiert?

Joanne geht. Ihre Eltern bringen sie von hier weg. Dad nimmt mich in den Arm. Oma und Opa kommen, umarmen mich ebenfalls. Aber auch das fühlt sich falsch und unecht an. Eine Menge Kameras und Journalisten sind inzwischen da. Sie halten uns ihre Mikrofone hin, filmen die Schule.

Ich schalte einfach ab. Ich sehe gar nichts mehr, ich höre nichts mehr. Ich fühle nichts mehr. Gar nichts. Nicht einmal das Schlagen meines Herzens. Kein Entsetzen, keine Angst. Nichts mehr. Auch die Schmerzen in meinem Bein spüre ich nicht. Auch nicht Omas Hand, die auf meiner Schulter ruht. Sie könnten mich einfach hier stehen lassen, für den Rest meines Lebens, es wäre mir egal. Es ist alles so egal.

Meine Großeltern und mein Dad bringen mich von der Schule weg. Die Journalisten behindern uns. Ich reagiere gar nicht. Aber Opa schreit sie irgendwann an. Was er schreit, weiß ich nicht.

Plötzlich bin ich so müde. Es ist eine neue Art von Müdigkeit. Sie ist dunkel und schwer und sehr, sehr traurig.

Ich will nicht mehr. Ich weiß nicht, was ich nicht mehr will. Der Satz bildet sich einfach in meinem Kopf und verschwindet nicht mehr.

Mechanisch gehe ich an der Hand meiner Oma, folge meinem Dad und meinem Opa. Ich hab keine Ahnung, wie lange wir bis zum Auto gehen. Vielleicht eine halbe Minute, vielleicht aber auch eine ganze Stunde.

Nichts denken. Das habe ich noch nie geschafft. Ich konnte mir nie vorstellen, wie das überhaupt klappen soll. Jetzt tue ich es, automatisch. Ich bin leer.

Oma setzt sich neben mich und schnallt mich an. Ich benehme mich wie ein Baby. Ich zeige keinerlei Reaktion. Oma muss mich auch wieder abschnallen und ins Haus führen. So willenlos habe ich mich noch nie gefühlt.

Heute Morgen bin ich noch gut gelaunt aus dem Haus gelaufen, habe mir noch gedacht, wie schön unser Haus bei Sonnenaufgang aussieht. Jetzt wirkt es wie jedes Haus. Ein Betonklotz mit Räumen, die einen einsperren, sodass schreckliche Sachen in ihnen passieren können.

Oma führt mich ins Badezimmer. Zieht mich aus. Stellt mich unter die Dusche. Das warme Wasser fließt meinen Körper hinab. Meinen tauben, kalten Körper.

Ich versuche die Bilder, die ich gesehen habe, zu verstehen. Ich versuche es wirklich. Aber es klappt nicht. Es lässt sich mit nichts vergleichen, was ich jemals erlebt habe. Es ist einfach alles so unwirklich.

Ich zittere, als Oma mich aus der Dusche holt. Obwohl es im Badezimmer dampft, friere ich. Die Kälte kommt von innen.

Oma zieht mir eine Jogginghose und einen Pulli an und holt mir meine roten Kuschelsocken, die sie mir gestrickt hat. Mir ist trotzdem noch kalt. Es kommt von innen. Von ganz innen, wo niemand rankommt.

Oma bringt mich ins Bett und wickelt mich in meine Decke. Und weil ich nicht aufhöre zu zittern, holt sie noch zwei weitere Decken für mich. Dann kommt Opa mit einer Wärmflasche und schiebt sie zu meinen kalten Füßen.

Die beiden gehen, dafür taucht Dad auf. Er streicht mir über die Wange. Aber er sagt nichts. Er setzt sich einfach auf mein Sofa in der Ecke und wartet. Und wartet.

Worauf wartet er? Auf ein Wunder? Darauf, dass ich aufstehe und sage: War ein Scherz, Dad. Ich selbst wünsche mir ja, dass es so wäre. Dass es sich wieder normal anfühlt. Heute Morgen kommt mir vor wie vor zehn Jahren. Oder wie ein völlig anderes Leben.

Ist es wirklich erst fünf Stunden her, dass ich den Tag schlimm fand, nur weil ich um sechs Uhr aufstehen musste?

Es ist alles so unwirklich. Als wäre es nur ein Film. Und das Schreckliche ist, dass ich diesen Film auch noch gerne gesehen hätte.

Und jetzt durchlebe ich den Albtraum der Hauptperson. Genauso wie die 1024 anderen Schüler meiner Schule. Falsch, jetzt sind es ja weniger. Wer weiß, wie viele noch leben.

Ich kann euch nicht wirklich beschreiben, wie es ist. Man sollte doch meinen, dass man bei so einem Ereignis, bei einem solchen Lebenseinschnitt viele verschiedene Sachen zu bedenken und zu fühlen hat. So ist es gar nicht. Wahrscheinlich liegt es noch an dem Schock. Mein Kopf ist wie leer gefegt. Und ich bin so unendlich müde.

Bestimmt wundert ihr euch, dass ich schlafen kann. Aber seltsamerweise kann ich es. Ich schließe die Augen, und sofort falle ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Ich bin dankbar, dass ich schlafen konnte. Denn sobald ich erwache, stecke ich wieder im Leben.

Ich wurde durch ein Geräusch geweckt. Irgendetwas ist runtergefallen. Es hallt im Dunkeln nach. Dann öffne ich die Augen. Ich kann meine Zimmerdecke sehen.

Ich weiß, wenn ich mich jetzt im Zimmer umblicke, wird alles so sein wie immer. Meine Möbel werden noch da sein. Meine Zimmerwände sind immer noch brombeerfarben. An ihnen werden immer noch meine Poster von P!nk und Green Day und die Fotos von meinen Freundinnen hängen. Auf dem Nachttisch sind mein Dad und ich an seinem vierzigsten Geburtstag in einem silbernen Fotorahmen eingerahmt.

Alles ist so wie vorher. Und genau das ist das Problem. Ich finde, die ganze Welt sollte jetzt anders sein. Der Himmel nicht mehr blau, sondern grün. Und die Blätter schwarz. Unser Haus braun statt weiß. Meine Haare nicht glatt, sondern lockig.

Alles fühlt sich anders an. Warum hat sich nicht auch alles geändert? Warum steht unser Haus immer noch? Warum grinsen Joanne, Vanessa, Sophia, Tanja und ich noch auf den Bildern an der Wand? Wir sollten weinen.

Ich setze mich auf. Fahre mir mit den Fingern durch die langen, verkletteten Haare. Meine Lippe ist aufgeplatzt und schmeckt salzig. Der rosa Nagellack blättert ab. Alles fühlt sich so intensiv an. Ich bin von der ersten Sekunde an klar. Ich weiß sofort, was passiert ist.

Tobi ist tot. Weg, für immer. So, als wäre er nie da gewesen. Ein Mensch kann doch nicht einfach so weg sein. Ein Mensch verschwindet nicht so einfach. Unser letzter gemeinsamer Moment war so grausam, das kann es doch nicht gewesen sein!

Ich hab mich oft einsam gefühlt. Weil meine Mom einfach abgehauen ist, weil Dad so viel arbeiten muss, weil Opa oft im Krankenhaus ist. Aber das ist nichts verglichen mit der Einsamkeit, die ich jetzt empfinde.

Da erst bemerke ich, dass Opa auf der Couch sitzt. Er sieht mich mit seinen alten, wissenden Augen an. Und fast glaube ich, dass er weiß, wie ich mich fühle. Doch er kann es nicht wissen. Niemand kann das. Nur vielleicht diejenigen, die mit mir da drinnen waren.

Er weiß bestimmt auch nicht, was er sagen soll. Was sagt man schon nach so einem Ereignis? Es ist wie damals, als Opa erfahren hat, dass er einen Tumor in der Lunge hat. Es ist so ein Moment, in dem man gar nichts sagen kann. Damals, das weiß ich noch, flüsterte ich nur: Es tut mir so leid.

Aber ich möchte nicht, dass Opa das jetzt zu mir sagt. Es hört sich an, als wäre ich krank. Als wäre es ein Unfall oder so etwas. Ich würde diese Worte nicht ertragen.

»Sag ja nicht, dass es dir leidtut«, sage ich ganz leise zu ihm. Opa steht auf, nimmt das Glas mit Wasser, das auf meinem Tischchen steht, und reicht es mir.

»Ist in Ordnung. Ich sag nichts.«

Durstig setze ich das Glas an meine Lippen und leere es in einem Zug. Dabei merke ich, dass sie brennen. Ich lecke mir über die rissigen, trockenen Stellen. Ich mag dieses Gefühl. Der Schmerz, so gering er auch ist, fühlt sich echt an. Und gewöhnlich.

Da führe ich mir vor Augen, dass es der erste Moment nach dem Amoklauf ist, den ich bewusst mitbekomme. Zum ersten Mal fühle ich mich nicht, als wäre ich nur Zuschauer.

Amoklauf. Das ist kein Wort, von dem man alltäglich Gebrauch macht. Klar, die Jungs aus meiner Klasse haben sich manchmal darüber lustig gemacht. Auch haben wir sicherlich mal einen Film gesehen, der von einem Amoklauf handelte. Aber in diesen Filmen wird nie erzählt, was man nach einem Amoklauf zu fühlen hat. Wie man sich danach verhalten soll. Wie man mit seiner Familie umgehen soll. Und wie die Familie damit umgeht. Meine Situation ist ungefähr so, als wäre ich in einem fremden Land ausgesetzt worden, ohne Landkarte, ohne die Sprache zu kennen. Ich habe keinen Plan.

Es ist etwas Schreckliches passiert. Und jetzt? Wie macht man weiter? Womit soll man überhaupt weitermachen? Das Beste wäre, ich würde aufhören zu denken. Aber mein Verstand arbeitet unerbittlich, pausenlos. Ich glaube, ich mache irgendwas falsch. Ich fühle nämlich gar nichts.

Opa sieht verzweifelt aus. Für meinen Dad und meine Großeltern ist das vielleicht auch nicht so einfach. Aber ich brauche einen Moment für mich.

»Opa, machst du mir eine heiße Schokolade?«

Er lächelt nur und geht. Als er das Zimmer verlässt, sackt etwas in mir zusammen. Ein unglaublicher Schmerz kommt, und ich krümme mich. Meine Atmung geht laut und schnell. Aber keine Träne fließt über meine Wange. Ganz langsam versuche ich, mich zu beruhigen.

Ich denke an die Übungen, die Oma mir gezeigt hat, weil ich als kleines Kind nie gut geschlafen habe. Ich denke an Wälder und glückliche Hasen und Felder. An den Wind, der durch meine Haare weht, und die Sonne, die auf mein Gesicht scheint.

Immer wieder schleichen sich böse Gedanken dazwischen. Und was jetzt, Miriam?, wispern sie. Was machst du jetzt, wo dein Freund tot ist, und das alles nur, weil du nicht eingegriffen hast?

Ich will das nicht hören. Ich will das nicht denken. Trotzdem geht es nicht weg. Der Druck in meinem Herzen will sich einfach nicht lösen. Es ist so schwer, zu atmen. Bei jedem Heben und Senken meiner Brust schmerzt es.

Eine Weile bleibe ich so sitzen, nur darauf konzentriert, nicht auf die Vorwürfe zu hören, die ich mir selbst mache. Dann stehe ich auf und gehe ins Bad. Das Gesicht, das mir im Spiegel entgegenschaut, erschreckt mich. Bin das wirklich ich? Ich wirke wie eine Fremde. Wie ein Mädchen, das ich zum ersten Mal sehe.

Augenfarbe, Haare, Gesichtsform, all die Äußerlichkeiten haben sich nicht geändert. Aber was ist mit dem Rest? Woher kommt dieser Ausdruck in meinen Augen, dieser gleichgültige, abgekämpfte Blick? Mein Gesicht wirkt so grimmig, so entsetzt, dass ich tatsächlich vor mir selbst erschrecke.

Ich bin nicht krank. Und doch zittere ich am ganzen Körper, obwohl ich nicht friere. Und doch bin ich so bleich, wie es sonst nur Tote sind.

Ich drehe den Wasserhahn auf, spritze mir Wasser ins Gesicht, um die Reste meines Make-ups zu beseitigen. Ich habe gehofft, dadurch etwas gesünder auszusehen. Ich öffne meinen Wandspiegel und greife nach der Haarbürste. Vorsichtig, als würde ich mir selbst nicht trauen, fahre ich damit durch meine zerzausten Haare.

Mein Körper ist schwach. Meine Beine kommen mir vor wie Streichhölzer. Es würde mich nicht wundern, würde ich an Ort und Stelle zusammenbrechen. Ich halte mich am Waschbecken fest. Immer atmen. Egal, was passiert, immer weiteratmen. Hätte mir jemand erzählt, dass das so schwer sein kann, hätte ich ihm nicht geglaubt, ihn wahrscheinlich sogar ausgelacht. Atmen, das macht unser Körper ganz automatisch. Trotzdem kann es so anstrengend sein.

Fragt mich nicht, wie lange ich so dastehe und mich anstarre. Ich habe das Zeitgefühl verloren. Wie spät ist es? Wie lange habe ich geschlafen? Wie lange stehe ich schon hier?

Ich beschließe, nach unten zu gehen, zu meiner Familie, damit Opa nicht mit dem Kakao hochkommen muss. Ich will einfach von ihnen in den Arm genommen werden, nicht mehr alleine sein.

Die Holztreppe knarzt wie gewohnt an der einen Stelle. Leise bewege ich mich zur Küche. Ich habe keine Ahnung, was mich erwartet. Wie werden sie sich verhalten? So verunsichert war ich noch nie zuvor in meinem Leben.

Stimmen sind zu hören, mein Herz klopft bis zum Hals. Ich will einfach nur noch, dass sie mir helfen und dafür sorgen, dass ich mich besser fühle. Ich drücke langsam die Türklinke herunter und betrete die Küche.

Natürlich habe ich erwartet, dass mich meine Oma gleich umarmt. Aber wer da meinen Namen ruft und mir um den Hals fällt, als ich die Tür öffne, ist nicht meine Oma. Und auch nicht mein Dad.

Meine Mutter steht vor mir, nach so vielen Jahren, in denen sie sich nicht hat blicken lassen, und umarmt mich. Unter normalen Umständen hätte ich mich von ihr losgerissen. Sie soll mich nicht anfassen. Aber ich bin zu schwach.

So viele Jahre habe ich gehofft, dass sie irgendwann zurückkommt und ich wieder eine Mutter habe. Und später, als ich gelernt habe, ohne Mutter auszukommen, und mein Hass auf sie immer größer wurde, da wollte ich sie noch ein Mal sehen, um ihr all die schrecklichen Wörter an den Kopf zu werfen, die ich für sie empfinde.

Jetzt steht sie da, und mir ist es egal.

Ich mache mich steif und warte, bis sie sich von mir löst.

»Wie lange habe ich geschlafen?«, frage ich meinen Dad müde.

Es muss lange sein, wenn meine Mutter Zeit hatte, von wo auch immer in den Flieger zu steigen und hierherzukommen.

»Fast einen ganzen Tag. Deine Mutter ist gekommen, weil sie sich Sorgen um dich macht. Sie hat gleich den nächsten Flug genommen, als sie davon erfahren hat.«

Meine Mom ist gekommen, weil sie sich Sorgen macht. Ich fühle, wie die Wut nun doch in mir aufsteigt. Jetzt macht sie sich Sorgen, aber die letzten fünf Jahre hat sie sich keine Sorgen gemacht! Sie soll dahin zurückkehren, wo sie hergekommen ist.

Ich wollte Zuflucht bei meiner Familie finden. Stattdessen muss ich meiner Mutter in die Augen blicken. Sie können sich doch denken, dass Mom die letzte Person ist, die ich jetzt gebrauchen kann.

Ich will doch nur Ruhe.

Zehntausend Dinge könnte ich ihnen entgegenschreien. Aber ich bin zu müde, zu kraftlos. Deshalb frage ich nur: »Warum?«

Eigentlich ist es ja auch egal. Alles ist egal. Soll sie hierbleiben, wenn sie will, soll kommen und gehen, wer will. Ich möchte nur noch in mein Zimmer, in mein Bett und nichts machen. Einfach gar nichts.

Von der Seite werfe ich meiner Mom einen kurzen Blick zu. Sie sieht noch genauso aus wie damals. Fünf Jahre, und sie hat keine einzige neue Falte bekommen. Nur ihre Haut ist von der vielen Sonne dunkler geworden. Und ihre schwarzen Haare hat sie zu Locken gedreht. Sie trägt einen viel zu weiten Ausschnitt. Dann sind da natürlich noch ihre weiß Gott wie vielen Piercings. Ihre rot lackierten Fingernägel. Sie ist wirklich wieder da.

Tobi sollte hier sein. Er soll mich in den Arm nehmen. Dann würde es mir viel besser gehen. Ich brauche ihn. Wie sehr ich ihn brauche, lässt sich gar nicht in Worte fassen. So ein wundervoller Mensch kann nicht einfach sterben. Es kann doch nicht sein, dass ich ihn nie wiedersehe, dass es auf dieser Welt keinen Tobi mehr gibt. Was ist denn eine Welt ohne Tobi? Tiefe Verzweiflung erfasst mich. Die Küche, meine Familie, meine zurückgekehrte Mutter, das alles rückt in den Hintergrund.

»Schatz, ich weiß, wir haben nicht das beste Verhältnis, aber ich dachte …« Ich achte gar nicht auf das, was meine Mutter sagt. Ihre Worte und ihre Meinung interessieren mich nicht.

»Miriam, deine Mutter ist hier, um dir zu helfen. Wir wollen dir alle helfen.«

Wie kommen sie auf die absurde Idee, meine Mutter könnte mir helfen? Wie kommen sie auf die Idee, dass irgendjemand von ihnen mir helfen könnte? Das kann keiner, nicht sie, nicht ich selbst, niemand. Begreifen sie das denn nicht? Ist es denn so schwer zu verstehen?

Was passiert ist, ist grausam. Es sind Menschen gestorben. Tobi ist gestorben. Und sie reden davon, mir helfen zu wollen. Ich kann nicht wirklich erklären, was in diesem Augenblick in mir vorgeht. Es ist einfach nur so, dass ich mich ziemlich leer fühle, während mein ganzer Körper schmerzt.

Vor ein paar Minuten habe ich noch gehofft, dass meine Familie mir helfen könnte. Aber das ist dumm. Niemand, niemand kann helfen. Es gibt mich, und es gibt den letzten Tag, der Schreckliches gebracht hat. Dazwischen ist nichts.

Ich renne in mein Zimmer. Mom und Dad folgen mir. Ich beachte sie schlichtweg nicht. Sie können so viel reden, wie sie wollen. Es ist unwichtig. So wie alles andere. So wie ich. Am Ende ist doch alles im Leben unwichtig. Und das, was nicht unwichtig ist, wird einem mit Gewalt entrissen.

Ich knalle meine Zimmertür zu und sperre ab. Dann sacke ich zusammen und krümme mich zu einer Kugel. Beruhigend wiege ich mich hin und her.

Ein Amoklauf. Nein, das kann es nicht gewesen sein. Das klingt so irreal. Amoklauf klingt nach Amerika. Immer wieder hört man davon, dass es in Amerika Amokläufe gibt. Es kann doch nicht wirklich einen Amoklauf an meiner Schule gegeben haben. So etwas passiert nicht in echt. Und warum sollte ausgerechnet ich so etwas erleben? Was ist gestern nur passiert?

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Danksagung

Um ein Buch zu veröffentlichen, ist viel mehr zu erledigen, als es nur zu schreiben. Deshalb geht der erste Dank an meine Lektorin Christiane Schultz, die sich durch die Erstfassung gekämpft und all meine Fragen ertragen hat. Danke an den gesamten Oetinger Verlag, der all dies ermöglicht hat.

Ursula Schwind und ihrem Team aus der schönsten Buchhandlung der Welt möchte ich dafür danken, dass sie mich unterstützt und immer wieder ermutigt haben, das Manuskript an Verlage zu schicken. Wer weiß, ob Es wird keine Helden geben seinen Weg zum Oetinger Verlag gefunden hätte, wenn sie nicht gewesen wären.

Danke an meine Geschwister und meine restliche Familie, dass sie immer so großes Interesse gezeigt und an mich geglaubt haben. Dasselbe gilt meinen Freundinnen, weil sie sich mein Gerede über Miriam und ihre Geschichte stundenlang angehört haben. Und hier noch ein ganz besonderes, großes Dankeschön an Anna Maria Oelkers, die mein Geschreibe immer mitverfolgte und mir stets weiterhalf, wenn ich selbst nicht weiterkam.

Mein letzter, riesiger, nicht in Worte zu fassender Dank geht an meine Eltern. Ich weiß nicht, wie die Reaktion bei den meisten Eltern gewesen wäre, wenn ein zehnjähriges Mädchen von sich behauptet hätte, sie werde Autorin. Ihr habt mich dazu ermutigt, zu schreiben, was immer mir in den Sinn kam. Ihr habt mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Danke.

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Anna Seidl wurde 1995 in Freising geboren, wuchs u. a. in Budapest auf und zog schließlich mit ihrer Familie nach Bayern. Schon in der Grundschule erzählte sie gern Geschichten und fing auch bald an, sie aufzuschreiben. Mit ihrem Jugendbuchdebüt »Es wird keine Helden geben« stellt sie nun ihr schriftstellerisches Können unter Beweis. Die Autorin lebt mit ihren Eltern und ihren Geschwistern in der Nähe von Aschaffenburg.

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Das Copyright der Textauszüge aus den Liedern von Linkin Park und Cassandra Steen liegt bei folgenden Rechteinhabern:

VALENTINE’S DAY Musik und Text: Linkin Park / © Warner Bros. Alle Rechte für Deutschland, Österreich, Schweiz bei Warner Bros. Records Inc. / WEA International Inc.

DARUM LEBEN WIR Musik und Text: Cassandra Steen / © Urban Records Alle Rechte für Deutschland, Österreich, Schweiz bei Universal Music Domestic Rock / Urban, a division of Universal Music GmbH

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Impressum

© Verlag Friedrich Oetinger GmbH, Hamburg 2014

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Cover von Cornelia Niere

E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde 2013

ISBN 978-3-86274-791-7

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