Etzel Zauderkern und die Macht der Wünsche - Gregor Wolf - E-Book

Etzel Zauderkern und die Macht der Wünsche E-Book

Gregor Wolf

0,0

Beschreibung

Fantastische Magie, ungeahnte Gefahren und ein junger Zauberer auf großen Abenteuern Ein Bote auf dem Weg zur Burg Helmfest wird beinahe getötet, hätte nicht Zauberlehrling Etzel gerade noch so eingegriffen. Der Brief des Boten berichtet von der schweren Erkrankung der Königin von Nahfern. Nur mit der Medizin des begnadeten Zaubermeisters Graufels kann sie überleben. Sein Lehrling Etzel muss die gefährlichste Reise seines Lebens machen und den rettenden Trank rechtzeitig überbringen. Unterwegs lernt Etzel nicht nur Knappin Gisa kennen, sondern auch einige Verschwörer, die sich ihm und der Königin entgegenstellen … Ein episches Abenteuer für Leser*innen mit der richtigen Portion Mut

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 334

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Ein Bote auf dem Weg zur Burg Helmfest wird beinahe getötet, hätte nicht Zauberlehrling Etzel gerade noch so eingegriffen. Der Brief des Boten berichtet von der schweren Erkrankung der Königin von Nahfern. Nur mit der Medizin des begnadeten Zaubermeisters Graufels kann sie überleben. Sein Lehrling Etzel muss die gefährlichste Reise seines Lebens machen und den rettenden Trank rechtzeitig überbringen. Unterwegs lernt Etzel nicht nur Knappin Gisa kennen, sondern auch einige Verschwörer, die sich ihm und der Königin entgegenstellen …

Ein episches Abenteuer mit der richtigen Portion Mut!

Inhalt

Der Bote

Helmfest

Der Brief der Königin

Sieben Samen vom Teufelsbrot

In geheimer Mission

Ehrenwert

Wald, Busch, Ranke

Spiel mit dem Feuer

Zur Gabel

Spinnenleicht

Von Sturm

Die Knappin und der Zauberlehrling

Zwiesel, Geister und Lehnsherren

Storchschnabel

Feige Hunde

Durchs Wasser

Gesucht

Die Hütte im Holz

Das Feld der Trauer

Nahfern

Markttag

Mads und Miro

Das Grabmal des Reichsgründers

Miro wird wild

Sonnenbrautsalbe

Stumme Brüder

Im hohen Kamm

Das Kloster in den Bergen

Ferslag

Der alte Mönch

Elios Tagstirn

Teufelsauge

Hagebutte und Honigapfel

Der blaue Flakon

Das Streitross von der Löwenburg

Flucht von Knitz

Roter Turm und weißer Fels auf blauem Grund

Buchel am Spiegelwasser

Die allererste Ritterin

Alles wird gut

Der Bote

Fingerkraut, dachte Etzel, während er den moosigen Boden des Buchenwaldes absuchte. Die Sonne schickte ihre Strahlen durch die lichte frühherbstliche Laubdecke und ließ Tausende Tauperlen glitzern. Gelbe Blüte, fünf Blätter. Etzel schob seine Wollmütze zurecht, kratzte sich am Kopf und sah sich um. Außerdem noch Zaunrübe. Klettert Bäume hoch. Trägt rote Beeren.

Über ihm sang ein Vogel sein Sirr-tschipp-tschipp und ganz in der Nähe hämmerte ein Specht zwischen den Stämmen. Etzel liebte den Wald und dessen Ruhe, gerade wenn die Tage so schön waren wie heute. Dann nutzte er jede Gelegenheit, um durch das Dickicht zu streifen, Tiere zu beobachten oder einfach nur auf einer Lichtung in der Sonne zu liegen und nachzudenken.

Aber dafür war heute keine Zeit. Meister Graufels hustete und seine Stirn glühte. Etzel musste die Heilkräuter finden. Plötzlich schlug er sich an die Stirn. Natürlich! Fingerkraut gab es am Bach. Jetzt aber schnell. Er schob die Ärmel zurück und raffte seinen weiten Mantel. Dann stapfte er mit großen Schritten über Pilze und Wurzeln, immer bedacht, nichts zu zertreten. Das gehörte sich nämlich nicht für einen Zauberlehrling. Achte auf alles und jeden, schoss ihm Graufels’ Rat durch den Kopf. Man weiß nie, wo Hilfe wartet. Nach all den Jahren kannte er die Sprüche seines Meisters in- und auswendig. Etzel hatte sich immer gefragt, warum ausgerechnet er von Meister Graufels als Lehrling angenommen worden war. Er, dem ohne Hilfe bisher nicht der einfachste Zauber gelungen war. Gut, er hatte ein Händchen für Pflanzen, aber er wollte ja Zauberer und nicht Gärtner werden.

»He!« Etzel drehte sich um. Etwas zerrte an ihm. Ein Brombeerbusch. Sein Mantel hatte sich darin verfangen. Der war einfach zu groß, aber für eine ordentliche Zaubererrobe musste Etzel erst Zauberer werden. Dann durfte er auch den spitzen Hut tragen und die Welt würde ihn als Gelehrten erkennen. Mit einem Ruck riss er den Mantel los und stapfte eilig weiter.

Endlich drang das Plätschern von Wasser an sein Ohr und die Bäume gaben den Blick auf einen kleinen gurgelnden Bach frei, der in der Sonne goldbraun glitzerte. Etzel kniff die Augen zusammen und suchte die schmale Uferböschung ab. Da! Im Schatten eines Felsens blühte ein kleines, unscheinbares gelbes Kraut. Etzel schlug den Mantel zurück und öffnete seine Ledertasche, die am Gürtel hing. Er holte ein kurzes Messer hervor, bückte sich und grub damit vorsichtig das Kraut frei, bis er es mühelos samt Wurzeln herausziehen konnte. Sanft schüttelte er die Erde ab, richtete sich auf und zog einen Lappen aus der Manteltasche hervor. In diesen wickelte er das Fingerkraut und verstaute das Bündel wieder in der Gürteltasche. Dann stieg er die Böschung hinauf. »Glück muss man haben«, strahlte er und lief direkt auf ein paar Bäume zu. Dünne Ranken, an denen feine weiße Blüten und kleine rote Beeren wuchsen, umschlangen die Stämme und kletterten an ihnen empor. Giftig und doch voller Heilkraft, dachte Etzel und betrachtete die Zaunrübe, während er aus seiner Manteltasche ein kleines Holzkästchen herausnahm. Er pflückte ein paar Beeren, zählte sie und legte sie hinein. Dann verschloss er das Kästchen und schob es zu dem Bündel in seine Manteltasche.

In dieser Sekunde zerriss ein Schrei die Idylle. Etzel erstarrte. So ruft kein Vogel, dachte er und spähte in den Wald. Er konnte jedoch nichts Ungewöhnliches entdecken. Seine Hand fand den rauen Stamm einer Buche. Vorsichtig schob er sich an ihr vorbei. »Ich werde mal lieber beim Bach bleiben und mich verstecken«, murmelte er. Trotzdem siegte die Neugier über die Vorsicht. Langsam trugen ihn seine Schritte weg vom Bach und tiefer in den Wald, direkt auf den Schrei zu. Bewegte sich da nicht etwas zwischen den Bäumen? Etzel hielt inne und lauschte. Kein raschelndes Laub, keine knackenden Äste. Wieder setzte er einen Fuß vor den anderen. Auch wenn seine Vernunft ihn zurückhalten wollte, sein Herz musste wissen, was da war, und trieb in vorwärts.

»Bleibt mir vom Leib, ihr Teufel!«

Etzel hielt den Atem an. Da vorne rief jemand mit zitternder Stimme. Ein Pferd wieherte. Wieder dieser große Schatten, der zwischen den Bäumen tänzelte.

»Verschwindet!«, schrie die Stimme verzweifelt.

Da brauchte jemand Hilfe. Vorsichtig näherte sich Etzel einer kleinen Lichtung. Der Geruch von verbranntem Holz stieg ihm in die Nase und er vernahm eine zweite, raue Stimme.

»Wir haben den ganzen Tag ausgeharrt und am Feuer auf dich gewartet. Glaubst du wirklich, dass du davonkommst, ohne uns deine Tasche zu überlassen? Also, her damit!«

Etzel schlich näher, seine Augen fest auf die Lichtung gerichtet. Er presste die Zähne aufeinander, spürte die Anspannung von den Zehen bis in die Haarspitzen.

»Lasst mich ziehen. Ich stehe unter dem Schutz der Königin«, schrie die angsterfüllte Stimme.

Noch zwei Schritte. Das Pferd schnaubte.

»Zier dich nicht und steck das Schwert weg, wenn dir dein Leben lieb ist«, zischte jetzt eine dritte Stimme.

Etzel duckte sich hinter einen Strauch, teilte diesen mit seiner Hand und hatte freie Sicht auf die Lichtung. In der Mitte tänzelte aufgeregt ein dreckig-braunes Pferd mit grauen Flecken und hellgrauer Mähne. Der Reiter hielt die Zügel und ein Schwert fest in Händen. Er hatte eine Tasche umgehängt, die das Wappen der Königin zeigte. Ein Bote. Der Pfad vor ihm war versperrt. Ein stämmiger Kerl, der langsam und mit vorgestrecktem Arm auf den Boten zukam, nahm den Weg ein. Er hatte ebenfalls seine Klinge gezogen. Ein anderer versperrte den Rückweg. Mit seinem Bogen zielte er auf den Reiter. Der Bote saß in der Falle. Die zwei Kerle trugen kein Wappen, sahen aber im Umgang mit ihren Waffen erfahren genug aus. Etzel schluckte. Räuber, schoss es ihm durch den Kopf. Und das im Wald von Helmfest! Er musste etwas unternehmen. Aber was?

»Steig ab und gib uns deine Tasche«, knurrte nun der Stämmige durch seinen struppigen Vollbart. Das tänzelnde Pferd hatte er fest im Blick.

Etzel sah zu Boden. Ein Ast als Knüppel wäre hilfreich. Wenn ich doch nur wie ein Ritter kämpfen könnte. Schließlich entdeckte er ein paar Steine, die er mit einer raschen Handbewegung einsammelte.

»Runter mit dir, Mistkerl«, zischte der Bogenschütze. »Sonst fließt Blut.«

Das Pferd wieherte und bäumte sich auf. Der Bote konnte sich gerade noch so im Sattel halten.

Wozu bin ich Zauberlehrling?, dachte Etzel. Seine Gedanken rasten, aber ihm wollte nichts Passendes einfallen. Meister Graufels wüsste, was jetzt zu tun wäre. Konzentriere dich, schimpfte er mit sich selbst. Irgendwas zum Schutz des Boten. Sein Blick fiel auf das kleine Lagerfeuer, das neben dem Pfad züngelte. Eine … eine Wand aus Flammen. Aber wie? Wie sollte er aus dem kleinen Feuer eine Wand machen? Etzel grübelte, spürte die Unruhe, die mehr und mehr in ihm aufstieg. »Schütz mich, Wand aus Feuer«, flüsterte er, schüttelte aber gleich darauf den Kopf. »Nicht mich, den Boten.«

»Mir reichts«, zischte der Bogenschütze. »Machen wir dem ein Ende, Raffinger.«

Etzel sah auf. Er musste handeln. Jetzt. Eine Flammenwand. Welche Worte waren die Richtigen? Was sagte Meister Graufels immer? »Emotion und Aufregung schaffen keine Magie. Ruhe ist unsere Kraft. Nur mit Ruhe kannst du den Dingen deinen Willen aufzwingen. Prüfe deine Umgebung, forme deine Vorstellung und verwirkliche sie mit Wort und Geste.«

Etzel schloss die Augen und atmete tief ein. In seiner Vorstellung zwang er das wild und frei prasselnde Lagerfeuer in eine lodernde Flammenwand, die schützend vor Pferd und Reiter sprang. Er konnte es sehen, vor seinem geistigen Auge, streckte die Hand aus, deutete mit zwei Fingern auf das Lagerfeuer und erhob die Handfläche wie eine Wand.

Nun flüsterte er schnell: »Schütze ihn, Feuerwall, rette ihn, Flammenwand, behüte den Boten mit lodernder Hand. Ich befehle es dir!« Er riss die Augen auf, aber nichts geschah.

In diesem Augenblick zerschnitt ein Pfiff die Luft. Der Stämmige blickte zum Bogenschützen. Die Sehne schnalzte, ein Pfeil surrte und traf die Schulter des Boten. Der schrie auf. Die Wucht warf ihn vom Pferd, das verschreckt ausbrach.

Etzel schluckte. Wieder zeigte er auf das Feuer und streckte seine Handfläche nach vorne. »Schütze ihn, Feuerwall, rette ihn, Flammenwand.« Ach, das half doch nichts. Ja, Kräuter schneiden, das konnte er. Aber zum Zaubern war er zu blöde. Etzel biss sich auf die Unterlippe. Bleib ruhig! Ruhe ist Kraft. Wütend sah er von Räuber zu Räuber. Der Stämmige trat jetzt mit seinem Schwert auf den Boten zu. Etzels Beine wollten loslaufen. Aber wie sollte er dem Boten helfen? Einer gegen zwei? Nicht zu schaffen. Ruhig bleiben! Ha! Leichter gesagt als getan. Vor allem wenn es darauf ankam. Etzel hätte am liebsten aufgeschrien, so rasend machte ihn seine Unfähigkeit. Und dann, voller Wut und ohne sich bewusst in Bewegung gesetzt zu haben, brach er durch das Dickicht und schrie laut: »Verschwindet, Halunken!« Dem mit dem Bogen warf er mit aller Kraft einen Stein an den Kopf. Der Kerl heulte auf. Überrascht drehte sich der Stämmige um. »Schütze ihn, Feuerwall«, brüllte Etzel jetzt aus voller Brust und stieß die Hand nach vorne. Er wusste nicht, was er da machte, aber er rannte in vollem Lauf auf den Stämmigen zu. »Rette ihn, bitte, Flannen-, Flaw-, Flamm-, Flammenwand.« Seine Stimme überschlug sich. Und plötzlich schrie der Stämmige auf. Er ließ das Schwert fallen und griff sich ins Gesicht. Zu Etzels Überraschung loderte dessen Vollbart auf. Funken sprangen vom Feuer auf den Kerl und Flammen schlugen ihm ins Gesicht. Es hatte geklappt! Er hatte gezaubert! Er, Etzel Zauderkern. Angespornt von seinem Erfolg machte Etzel einen Satz auf den anderen zu, richtete seine Hand auch auf ihn und brüllte: »Flammen!«

Der Bogenschütze hielt sich den schmerzenden Kopf. »Verflucht! Der Junge ist ein Hexer«, stammelte er und taumelte in den Wald.

»Rückzug!«, hörte Etzel den Stämmigen rufen, der ebenfalls türmte, und sah ihm keuchend nach. Dann beugte er sich über den Boten. »Wurdet Ihr schwer getroffen?«

Der Bote blickte ihn sprachlos an.

»Schnell«, schnaufte Etzel. »Wir müssen hier weg.« Er half dem Boten auf die Beine. »Lasst mich Eure Last nehmen.« Er wollte nach der Tasche greifen, aber der Bote hielt sie fest und schüttelte den Kopf. Dann griff er mit schmerzverzerrtem Gesicht zum Pfeil in seiner Schulter und stöhnte.

Etzel nickte. »Das Pferd. Kommt!« Mit einigen Schritten hatte er das Tier erreicht, das wiehernd vor ihm zurückwich. Etzel lächelte schief. »Ruhig. Ich will dir ja nichts tun.« Er mochte keine Pferde. Die waren groß und unberechenbar. Aber das half jetzt nichts. »Na komm schon.« Entschlossen packte er die Zügel und zog das Pferd mit aller Kraft zur Lichtung. Zu seiner Überraschung folgte es.

Der Bote torkelte ihm entgegen. Mit dem gesunden Arm griff er den Sattel und zog sich unter Stöhnen hoch. Dann presste er: »Helmfest, bitte, die Kerle dürfen mich nicht kriegen«, zwischen den Zähnen hervor.

Etzel nickte und sah den eben noch versperrten schmalen Pfad entlang, der über die Lichtung und weiter durch den Wald zu Burg Helmfest führte. Ich weiß einen besseren Weg, dachte er. Eine Abkürzung.

Helmfest

Wolken hatten sich zusammengezogen und vor die Sonne geschoben. Der Wald war jetzt düster und weniger freundlich. Etzel beeilte sich. Er führte das Pferd am Zügel, sah immer wieder zurück. Ganz bestimmt waren die Kerle, die den Boten angegriffen hatten, noch in der Nähe.

»Wer … bist du?«, hauchte der verletzte Bote. Es kostete ihn sichtlich Mühe, die Worte zu formen.

»Etzel Zauderkern, Zauberlehrling auf Burg Helmfest«, antwortete Etzel leise. »Und Ihr? Ihr kommt aus der Hauptstadt. Das sehe ich am Wappen auf Eurem Rock.«

Wappen konnte nicht jeder lesen. Aber in Herzog Helms Bibliothek gab es ein großes Buch mit allen bedeutenden Wappen des Königreichs Nahfern. Etzel studierte es an Regentagen, immer und immer wieder. Ihm gefielen die Sorgfalt und die bunten Farben, mit denen die Wappen gemalt worden waren. Dann stellte er sich vor, wie es wohl in der jeweiligen Grafschaft oder Freistadt aussehen mochte. Nun aber erschrak er. Der Bote hatte die Augen geschlossen, sein Atem kam nur noch röchelnd.

»Bekommt Ihr Luft? Habt Ihr Wasser bei Euch?«

»Die geben nicht auf«, hustete der Bote. Es klang, als presse er jedes Wort unter Schmerzen durch die Kehle. »Schnell, Helmfest.«

Etzel zog am Zügel. »Es ist nicht mehr weit.« Das Pferd schnaubte und folgte ihm.

Endlich lichtete sich der Wald und gab die Sicht auf einen hohen Felsen frei, um dessen Fuß sich träge ein breiter Fluss wälzte. Hoch oben auf der Spitze thronte trutzig Burg Helmfest. Etzel blickte die nahe Straße zwischen Waldsaum und Fluss entlang. Die beiden Kerle waren nirgends zu sehen. Hoffentlich steckten sie noch im Wald. Wenn sie wussten, dass der Bote nach Helmfest wollte, und sie den Pfad Richtung Burg nahmen, hatte er einen Vorsprung, keinen großen, aber besser als nichts. »Na komm«, raunte er dem Pferd zu. »Hinter der Biegung da vorne liegt die Munkemühle. Dort zweigt der Weg nach Helmfest ab, über eine Steinbrücke. Die müssen wir überqueren, dann haben wir es fast geschafft.« Etzel beeilte sich, die Straße zu erreichen. »Hoffentlich haben die keine Pferde, sonst ist unser Vorsprung schnell dahin.«

Nur wenige Augenblicke später tauchte ein riesiges Mühlrad am diesseitigen Flussufer auf. Es schaufelte durchs Wasser und trieb eine Mühle an, deren Knarren und Ächzen bereits aus großer Entfernung zu hören war. Hinter der Mühle spannte sich die Steinbrücke über den Fluss. Etzel beschleunigte seinen Schritt. Jetzt nur nicht umdrehen. Keine Zeit verlieren. Umsehen konnte er sich, wenn sie die andere Seite erreicht hatten.

Sie näherten sich einer Gabelung. Hier führte die breitere Straße weiter nach Süden, während ein einfacher Weg zur Mühle und zur Brücke abzweigte. Diesen schlug Etzel ein. Als er das hohe Tor der Mühle passierte, sah er aus den Augenwinkeln, dass Müller Munke und seine Tochter gerade dabei waren, Kornsäcke von einem Karren abzuladen. Zum Glück waren sie beschäftigt.

Auf der Steinbrücke mischte sich das Klack-Klack, Klack-Klack der Hufe in das Knarren der Mühle. Etzel führte das Pferd samt Boten in den Schutz einer alten Weide, die am anderen Ufer, direkt bei der Steinbrücke, traurig ihre langen Äste ins Wasser hängen ließ. Hier waren sie von der Straße aus nicht zu sehen. Etzel stützte die Hände in die Seiten und atmete tief durch. Der Bote hing schlaff über dem Pferd. Rasch legte Etzel ihm eine Hand auf den Rücken. Er schnaufte flach, lebte also. Der Lehrling betrachtete das Gesicht des Verletzen. Der Bote war kreidebleich, seine Lippen ganz blau. Etzel schlug ihm zweimal sanft gegen die Wange, um ihn wach zu halten.

»Helm … fest«, hauchte der Bote, ohne die Augen zu öffnen.

Etzel nickte. Dann lief er wenige Schritte auf die Brücke, blickte die Straße zurück und, siehe da, im Schatten des Waldsaums tauchten Gestalten auf. Etzel schluckte. Sie waren nun zu dritt, saßen auf Pferden und trabten langsam die Straße entlang, den Blick stets auf den Wald gerichtet. Einer der drei hatte einen leuchtend weißen Verband um seinen Kopf. Raffinger, dachte Etzel. So hat ihn der Bogenschütze genannt. Er duckte sich lieber hinter die Brückenmauer. Der Bote hatte recht. Die Kerle jagten ihm wirklich nach. Etzel musste ihn in Sicherheit bringen. Flink huschte er zu Pferd und Bote zurück, griff die Zügel und setzte eilig seinen Weg fort.

Er führte das Pferd noch ein kurzes Stück um den Felsen herum, bis dieser auf der vom Fluss abgewandten Westseite sanft abfiel. Am Fuß lag das kleine Dorf Helmshag. Die Schmiede, ein Gasthaus und ein Krämerladen standen um den Dorfplatz, in dessen Mitte eine stattliche Linde wuchs. Nach Westen breiteten sich Felder und Bauernhöfe aus. Im Osten, den Felsen hinauf, wachte Burg Helmfest über Dorf und Land, wie ein Adler in seinem Horst.

Etzel bog hinter einer dichten Hagebuttenhecke ins Dorf ein. Er war froh, dass jetzt fast alle auf den Feldern bei der Ernte waren. Nur der Schmied hämmerte vor seiner Feuerstelle ein glühendes Hufeisen zurecht. Seine Schläge hallten über den Dorfplatz. Als er Etzel und den Verwundeten auf dem Pferd erblickte, ließ er seinen Hammer sinken und starrte mit offenem Mund hinüber. Etzel zog den Kopf ein und eilte weiter.

Der Anstieg zur Burg war leicht und Etzel war ihn schon Hunderte Male gegangen, aber jetzt kam er ihm ewig vor. Er sah zurück zum Dorf und zum Weg, der vom Fluss und der Munkemühle nach Helmshag führte. Die drei Reiter entdeckte er nicht. Sie konnten aber jeden Moment auftauchen und dann würden sie Etzel und das Pferd unweigerlich erspähen, denn der Anstieg bot keinerlei Schutz. Ein Urahn des Herzogs hatte die Bäume rund um den Weg zur Burg roden lassen, damit sich niemand ungesehen Helmfest nähern konnte. Und an dieser Tradition hielten seine Nachkommen bis heute fest.

Etzel begann zu laufen. Jetzt konnten ihn die Kerle zwar kaum mehr einholen, aber diese Gewissheit half nicht gegen das mulmige Gefühl in seiner Magengrube. Windung um Windung näherte er sich der Felsspitze, aus der die Burg mit ihren unnachgiebigen Mauern und den breiten Türmen ragte. Er erreichte die Zugbrücke, die über einen tiefen Felsspalt und durch das Torhaus in den ersten Mauerring der Burg führte, der rund um den Felsen verlief. Am Torhaus hatten es sich zwei Wachen in der Sonne gemütlich gemacht. Der eine, Fildisbert, hatte seinen Kampfspieß an die Wand gelehnt und obenauf den Helm gehängt. Die Arme hinter dem Kopf verschränkt, döste er wie immer mit geschlossenen Augen, die Beine weit von sich gestreckt. Der andere, Osko, saß auf einer Kiste, den Kopf in die Hände gestützt. Durch das Hufgetrappel des Pferdes aufgeschreckt, sprang er von der Kiste auf. Fildisbert, aus dem Schlaf gerissen, kippte zur Seite und stieß gegen den Spieß. Er bekam ihn grade noch zu fassen. Aber der Helm kullerte Etzel entgegen, der ihn mit dem Stiefel stoppte und aufhob.

»He, Zauberjunge!«, rief Osko und zog sich den Wappenrock zurecht. »Wen hast du da bei dir?«

Fildisbert hatte sich aufgerappelt und glotzte den verwundeten Boten an. Etzel hielt ihm keuchend den Helm hin. »Er ist verwundet. Räuber haben ihn überfallen. Ich kam gerade noch rechtzeitig.«

»Du?«, fragte Fildisbert ungläubig und nahm den Helm entgegen. »Waren die blind und einbeinig?« Er sah zu seinem Kameraden und grinste.

Etzel holte tief Luft und schüttelte den Kopf. »Einen habe ich in Flammen aufgehen lassen.« Er versuchte, erwachsen und ruhig zu klingen. »Nun helft mir schon. Das ist ein königlicher Bote. Er ist verwundet.«

»Räuber?« Osko blinzelte verwirrt, dann nickte er knapp. »Bringen wir ihn rein.« Er packte das Pferd beim Halfter.

Etzel folgte ihm durch das Torhaus in den ersten Mauerring. Hier lagen die Stallungen und Vorratsgebäude. Ein weiteres Torhaus führte durch einen zweiten Mauerring in die Burg. Etzel kannte das alles seit vielen Jahren. Aber mit den Verfolgern im Nacken, fühlte er zum ersten Mal den Schutz, den dieses unüberwindbare Bollwerk bot. Plötzlich zitterten seine Knie. Jetzt, in Sicherheit, spürte er die Anspannung, die ihn seit dem Ereignis im Wald stetig vorangetrieben hatte.

Osko rief zu den Stallungen hinüber. Sofort eilten drei Knechte herbei, die Etzel, Osko und das Pferd durch das zweite Torhaus in den Burghof begleiteten. Links ragte der mächtige Burgfried auf, an den sich der Saalbau schmiegte. Rechts, direkt an der Mauer, hing das Wohnhaus der Bediensteten. Osko hielt mitten im Hof neben dem Brunnen. »Ihr beide tragt ihn vorsichtig hinauf in den Rittersaal«, befahl er zweien der Knechte.

Etzel, vor Erschöpfung regungslos, konnte nur noch zuschauen, wie Osko dem Boten die Tasche ohne die geringste Gegenwehr abnahm. Dann zogen die Knechte den Boten sanft vom Pferd und trugen ihn in den Saalbau, wo der Rittersaal, die Burgküche und die Gemächer des Herzogs und seiner Familie lagen. Etzel und sein Meister, der alte Zauberer Gram Graufels, bewohnten einen windschiefen schmalen Turm, der sich zwischen Saalbau und dem Wohnhaus der Bediensteten erhob.

»Du bringst das Pferd in den Stall. Gib ihm ordentlich zu saufen und zu fressen und reib es gut ab«, wandte sich Osko an den dritten Knecht, der augenblicklich seinen Auftrag ausführte. »Und du, Etzel, geh besser hinterher. Einer sollte dem Herzog berichten, was sich zugetragen hat.«

Etzel zuckte zusammen, als Osko ihn ansprach. Er fühlte sich schrecklich müde.

»Hast du mich verstanden?« Osko packte Etzel bei der Schulter. »Meister Graufels sollte wohl auch davon wissen.« Er hielt ihm die Botentasche hin.

Etzel nickte, griff wortlos die Tasche und folgte den Knechten in den Saalbau. Über eine flache Treppe erreichte er den Eingang und stand kurz darauf in einem Empfangsraum mit vielen Türen und einer hölzernen Empore an der gegenüberliegenden Wand. Überall hingen Schilde, Schwerter und Lanzen. Die Knechte verschwanden unter der Empore durch eine zweiflüglige Tür. Einen Flügel zierten Schnitzereien von Wildschweinen, Hirschen, Hunden und Jägern mit Hörnern, der andere zeigte Ritter auf Pferden mit wehenden Bannern. Etzel folgte den Knechten und betrat den hohen Rittersaal. Bunt verzierte Holzbalken trugen die hohe Decke. Links gab es einen Durchgang zur Burgküche und rechts einen großen offenen Kamin, in dem ein Feuer knisterte. Davor saßen Hofdamen und stickten. An den Wänden hingen schwere Teppiche mit Einhörnern, Greifen und andere Fabelwesen. Und in der Mitte des Saals stand eine lange Tafel mit vielen Hockern, darauf Leuchter mit abgebrannten Kerzen. Am Ende der Tafel, zum Kamin hin, stand ein großer Lehnstuhl. Hier saß Herzog Helm von Helmfest, umringt von drei Männern. Vertieft in ein Gespräch beugten sie sich alle über ein Buch. Etzel sah, wie die Knechte den verwundeten Boten zum Kamin trugen.

»Wen bringt ihr da?«, rief einer der Männer beim Herzog. Er hielt einen Rechenschieber in der Hand und trug wie immer Kleider aus schwarzem Samt. Hofmeister Lamberz.

Jetzt erhob sich auch Herzog Helm, groß und erhaben in seinem edlen Wams, den feinen Hosen und dem pelzbesetzten Mantel. Die Knechte legten den Boten auf dem Steinboden nahe dem Kamin ab. Lamberz trat heran und betrachtete den Verwundeten, wie er dort lag, bleich mit blauen Lippen. Die Knechte verbeugten sich und zogen sich ein paar Schritte zurück.

»Ist er tot?«, fragte jetzt ein Ritter in schlichtem Gewand, der sich zu Lamberz gesellte. Er hatte eine Hand auf den Knauf seines Schwertes gelegt. Junker Vale, ein enger Vertrauter des Herzogs.

Den Dritten im Bunde erkannte Etzel auch. Er trug die einfache Kleidung eines Handwerkers. Meister Bran, der Vorarbeiter des Sägewerks, trat einen Schritt zurück, um Herzog Helm den Weg freizumachen. Etzel sah zu den Damen hinüber, die gebannt beobachteten, was nun geschah.

»Etzel?«

Etzel erschrak. Die tiefe Stimme des Herzogs riss ihn aus seinen Gedanken.

Der Herzog sah in direkt an. »Junker Vale fragte, ob dieser Mann tot ist.« Er strich sich durch den grauen Bart. »Ein Bote der Königin und du trägst seine Tasche. Was hast du mir zu berichten?«

»Herr, ich …«, stammelte Etzel. »Ich weiß nicht, ob er tot ist.«

»Er ist es«, sagte Junker Vale, der sich den Boten nun genauer ansah.

Etzels Knie zitterten. Er hielt sich an der Tafel fest.

Herzog Helm griff nach einem Becher Wein und reichte ihn Etzel. »Beruhige dich und erzähl mir, was passiert ist.«

»Danke, Herr.« Etzel nahm einen Schluck und setzte sich. »Ja, Herr. Er ist ein königlicher Bote. Ich … ich traf ihn im Wald. Räuber haben ihn überfallen.«

»Räuber? In unserem Wald?«, schnaubte Junker Vale.

Der Hofmeister gab den Knechten einen Wink, die darauf schnell und leise den Rittersaal verließen.

»Und wie kommst du zu seiner Tasche?«, fragte der Herzog.

Etzel erzählte den drei Männern, was er erlebt hatte. Vom Wald und dem Überfall, von den Räubern, dem Flammenzauber, der Flucht und ihrem knappen Entkommen. Als er geendet hatte, sagte Herzog Helm: »Ruh dich aus. Und bringe Gram die Heilkräuter.«

Etzel sah zu den Damen, die wieder stickten. Dann reichte er dem Herzog die Botentasche und verließ den Rittersaal und den Saalbau.

Der Brief der Königin

Die Wolken hatten sich zu einer dichten grauen Decke geschlossen. Leichter Regen prasselte auf die Dächer, als Etzel den Saalbau verließ. Er dachte an den Boten, wie er da tot auf dem kalten Steinboden gelegen hatte. Hätte er schneller sein müssen? Er hatte sich ja beeilt, und an einem Pfeil in der Schulter stirbt man nicht so schnell. Oder? Vielleicht wäre ich besser geritten? Er schüttelte den Kopf. Erstens konnte er nicht reiten, und im Wald hätte das sowieso nichts gebracht. Und was war wohl in dieser Tasche? Etzel hätte zu gern in sie hineingesehen. Aber das ging jetzt nicht mehr. Warum wollte der Bote nach Helmfest? Was für eine Nachricht sollte er überbringen? Es musste etwas Wichtiges sein, immerhin kam er von der Königin.

Etzel betrat den windschiefen Turm, in dem er und sein Meister lebten. Quadratisch und nicht sehr breit ragte er vier Stockwerke hoch, bekrönt von einem spitzen Holzdach. Unten war er mit Kisten, Säcken und Körben vollgestopft und an der Innenwand führte eine Treppe nach oben. Etzel stieg die Stufen hinauf, kam an der Tür zu seinem Gemach im ersten Stock vorbei und passierte auch die zu Meister Graufels’ Schriftstube im zweiten Stock. Erst vor der dritten blieb er stehen, klopfte und lauschte. Bellender Husten erklang und nach einem heiser gekeuchten »Herein!« öffnete er die Tür und trat hindurch. Ein wuchtiger Geruch aus Schweiß und Kohlerauch schlug ihm aus der kleinen finsteren Turmkammer entgegen. »Meister?«, flüsterte er. »Seid Ihr wach?«

Wieder krachte Husten, dann folgte heiser: »Natürlich, dummer Junge. Hätte ich dich sonst hereingebeten?«

Etzel ging zum Fenster und zog den schweren Ledervorhang zurück. Sofort strömten Kohlerauch und Schweißdampf ins Freie und machten Licht und frischer Luft Platz. Meister Graufels lag in seinem Bett. Unter den dicken Decken lugten sein struppig weißer Bart und die glasig feuchten Augen hervor. Er sah elend aus. Seine Haut wirkte so fahl und wächsern wie Pergament. Den Kopf bedeckte eine graue Schlafmütze, deren Zipfel er aus dem Gesicht strich. Das Bett quietschte, als sich Graufels ein wenig aufrichtete. »Schüttle mir das Kissen auf, mein Junge«, hustete er.

Etzel nickte und trat zum Kohlebecken, das den Raum wärmen sollte, aber kaum noch glühte. Sein Blick wanderte durch die Kammer. An der Wand hingen Meister Graufels’ unzählige Roben und auf einem Tischchen nahe dem Bett standen ein Krug Wasser, eine Waschschale, ein Becher und eine Kanne mit kaltem Kräutersud. »Den solltet Ihr doch warm trinken, Meister.«

»Ach was! Hast du die Kräuter?«

Etzel klopfte bestätigend auf seine Gürteltasche.

Graufels’ Augen wurden klarer. »Mach mir einen Sud aus der Wurzel. Nicht zu viel Wurz, verstehst du? Und was du mit den Beeren machst, weißt du?

Etzel nickte. Natürlich wusste er das. Er hatte seinem Meister oft genug über die Schulter geschaut. Aber zunächst schüttelte er das Kissen auf.

Graufels sank erleichtert zurück und schloss die Augen, musste aber gleich darauf wieder schrecklich husten.

»Meister?«

Graufels öffnete die Augen.

»Ich habe heute Flammen geworfen«, sagte Etzel leise.

Wieder musste Graufels husten, sah Etzel aber interessiert an.

»Im Wald bin ich auf zwei Kerle gestoßen. Sie überfielen einen königlichen Boten. Ich habe ihm zur Seite gestanden und die Kerle mit einem Flammenspruch in die Flucht geschlagen.«

»So?«, antwortete Graufels kaum hörbar. »Flammen aus dem Nichts?«

Etzel schüttelte den Kopf. »Da war ein kleines Lagerfeuer.«

Graufels nickte. »Ist es also deinem Willen gefolgt?«

Etzel war sich unsicher. Er wusste nicht, ob das Lagerfeuer wirklich seinem Willen gehorcht hatte. Darum wechselte er lieber das Thema. »Ich habe den Boten hierhergebracht. Ein Pfeil hatte ihn in die Schulter getroffen. Nicht nah beim Herzen und ohne starke Blutung … aber trotzdem ist er jetzt tot.« Er senkte seinen Blick.

Graufels drehte sich auf die Seite. »Wie sah er aus?«

»Bleich, Meister. Blaue Lippen. Er röchelte, als raubte ihm etwas die Luft.«

Graufels hustete. Da klopfte es an der Tür. »Meister Graufels?«, donnerte eine Stimme. »Herzog Helm erwartet Euch.«

Etzel fuhr zusammen. Graufels bedeutete ihm, die Tür zu öffnen. Vor dem Gemach stand Junker Vale. Er sah erst Etzel, dann Gram Graufels an. »Verzeiht, aber es ist wichtig. Wir haben Nachricht von der Thronerbin. Sie erbittet Eure heilende Hand.«

Etzel sah zu seinem Meister, der eine abwehrende Geste machte. Wieder überwältigte ihn rasselnder Husten und er sank zitternd in das Kissen zurück.

»Meister Graufels«, wiederholte Vale fordernd. »Es ist dringend. Ich muss euch ersuchen …«

»Mein … mein Meister ist … Er ist sehr krank, Herr«, unterbrach ihn Etzel.

»Und?« Vale sah ihn grimmig an.

Etzel wusste, dass er nicht in der Position war, einen Ritter zu belehren, aber er nahm seinen ganzen Mut zusammen und fuhr fort: »Er glüht und hat starken Husten. Ich denke nicht, dass er die Kraft hat, den Herzog aufzusuchen.«

Vale trat einen Schritt auf Etzel zu, als es aus dem Bett krächzte: »Etzel hat recht. Er wird mich vertreten. Auch er versteht sich auf die Heilkunst.«

Etzel fuhr herum. Unsicher sah er zu Graufels. Wie sollte er hier helfen? Er wusste nicht annähernd so viel wie sein Meister. Vale schien ebenfalls überrascht. Aber Graufels lächelte Etzel auffordernd an. »Berichte mir.« Dann machte er eine schwache Handbewegung und bedeutete beiden, ihn nun in Ruhe zu lassen.

»Soll mir recht sein«, knurrte Vale und wandte sich zum Gehen.

Etzel wollte ihm bereits folgen, als Graufels sich noch einmal aufrichtete. »Etzel.«

Etzel sah zurück.

»Gift, Etzel. Ein vergifteter Pfeil.« Dann sank Graufels erschöpft zurück.

Es hatte aufgehört zu regnen und die rötliche Abendsonne riss den grauen Himmel auf. Schnellen Schrittes ging Junker Vale zum Saalbau und unter der Empore hindurch in den Rittersaal. Etzel folgte ihm halb laufend, halb rennend.

Das Feuer im Rittersaal flackerte unbeirrt. Die stickenden Hofdamen und Meister Bran waren fort, und auch der Bote war verschwunden. Herzog Helm und sein Hofmeister saßen am Kamin. Ein weiterer Hocker neben ihnen war unbesetzt. Etzel entdeckte die Botentasche am Boden neben dem Herzog, der einen Brief in der Hand hielt. Als er Etzel erblickte, stand er auf und fragte knapp: »Wo ist Gram?«

»Er ist zu geschwächt, Herr«, entgegnete Etzel und bemühte sich, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. »Daher schickt er mich, um ihn zu vertreten.« Er stand allein vor Herzog Helm. Junker Vale hatte auf dem freien Hocker Platz genommen.

»Ich verstehe«, entgegnete der Herzog ruhig. »Du kannst Gram gleich wieder zur Seite stehen. Aber nun brauche ich deinen Rat.«

»Meinen?«, flüsterte Etzel.

Der Herzog nickte und reichte ihm den Brief. Etzel betrachtete das vergilbte Papier. An den Längskanten hingen die Reste eines gebrochenen Siegels, das eine Krone zeigte. Der Brief stammte also von der Königin persönlich. Etzel stutzte. Die Schrift enthielt nur seltsame Zeichen, von denen er kein einziges kannte. Natürlich konnte er lesen, sehr gut sogar, nur diese Zeichen hatte er noch nie gesehen. Es gab welche mit Kringeln und Schnörkeln, andere bestanden nur aus geraden und schrägen Strichen. Etzel sah auf. Der Herzog lächelte jetzt zum ersten Mal.

»Das ist eine geheime Schrift, Etzel. Sie wurde entwickelt, als ich an der Seite von König Arnaut, möge er in Frieden ruhen, um die westlichen Hügel stritt.«

»Geheimschrift?«

Herzog Helm nickte. »Wir mussten uns damals Nachrichten senden, die der Feind nicht lesen durfte. Also entwickelten wir diese Schrift. Nur enge Vertraute des Königs kennen sie.« Jetzt verschwand das Lächeln aus seinem grauen Bart. »Daher weiß ich, dass diese Nachricht niemand außer mir lesen sollte.«

Etzel starrte den Herzog an.

»Möchtest du wissen, was da steht?«

Etzel nickte langsam.

»Nun, Etzel, die Königin schreibt mir, dass sie diese Schrift von ihrem Vater gelernt hat und dass er ihr sagte, sie solle sich bei Schwierigkeiten an mich wenden.«

»An Euch?«, wiederholte Etzel staunend.

Herzog Helm lächelte wieder. »Ich war ihrem Vater treu ergeben und ich schwor ihm, seinen Willen und sein Erbe zu verteidigen.«

»Haben das nicht viele Fürsten getan?«, brach es aus Etzel heraus. Aber er schämte sich augenblicklich. Wie konnte er nur so respektlos mit dem Herzog sprechen?

»Nun ja, das haben sie wohl«, antwortete dieser. Er schien nicht wütend.

Etzel atmete auf.

»Aber ich frage mich, ob sie das auch heute noch so halten«, fuhr Herzog Helm fort. »Du musst wissen, dass der König seine Tochter gegen den Willen vieler Fürsten als Thronerbin eingesetzt hat. Damit brach er die ewige Tradition, obwohl er einen Sohn hat, Yemas jüngeren Bruder. Die Fürsten schworen auch ihr die Treue, und doch ist ihre Regentschaft umstritten. Denn weißt du, Etzel, am Hof herrschen immer Missgunst und Intrige. Aber das soll dich nicht beschäftigen. Viel wichtiger ist: Sie ist krank und braucht Grams Hilfe. Du weißt, dass seine Heilkunst weit über die Landesgrenzen gerühmt wird.«

Etzel nickte. Natürlich wusste er das. »Hat sie denn keinen Hofzauberer oder Leibapothekarius?«, fragte er.

»Selbstverständlich«, entgegnete Herzog Helm. »Aber sie wendet sich lieber an mich. Warum? Das weiß ich nicht.«

»Und wieso schickt sie keine Brieftaube?«, unterbrach Etzel. »Das wäre doch viel schneller gegangen.«

»Gute Frage. Und auch darauf weiß ich keine Antwort. Jetzt zählt ihre Gesundheit, Etzel. Sie hat keinen Appetit, ist schwach und immer müde. Sie leidet unter Übelkeit, Schlaflosigkeit und kommt kaum ihren Aufgaben nach. Und was auch immer sie gegen diese Schwäche unternimmt, nichts scheint zu helfen. Sie schreibt, dass sie von Zeit zu Zeit Schmerzen plagen, in Bauch und Kopf. Kannst du damit etwas anfangen?«

Etzel hatte von all diesen Zuständen schon gehört und kannte einige Krankheiten, die sie hervorrufen konnten. Aber alles auf einmal? Dazu fiel ihm nichts ein. »Ich muss mit Meister Graufels sprechen. Würdet Ihr mir den Brief überlassen, damit er ihn studieren kann?« Da fiel ihm wieder die Geheimschrift ein. »Oder würdet Ihr eine Abschrift anfertigen lassen?«

Der Herzog nickte. »Nimm den Brief nur mit. Gram sollte ihn auch so lesen können. Nun lauf! Ich spüre, dass diese Angelegenheit keinen Aufschub duldet.«

Etzel nickte, verbeugte sich und verließ den Rittersaal.

Sieben Samen vom Teufelsbrot

Gram Graufels schien gerade erst eingeschlafen zu sein, als Etzel in das Gemach stürmte. Heftig hustend richtete er sich auf, sah seinen Lehrling entrüstet an und keuchte: »Was gibt es denn?«

Etzel blickte zu Boden. »Entschuldigt, Meister, aber der Herzog meinte, es dulde keinen Aufschub.«

»Was?«

»Der Herzog meinte, es …«, wiederholte Etzel, aber eine Geste seines Meisters unterbrach ihn.

»Was duldet keinen Aufschub?«, hauchte Graufels heiser.

Etzel reichte ihm den Brief. Graufels deutete auf eine Laterne. Etzel nahm einen Span, hielt ihn ins Kohlebecken und pustete vorsichtig in das letzte bisschen Glut. Es brauchte einen Moment, bis der Span Feuer fing. Dann entzündete er die Laterne. Als das warme Licht den Raum erfüllte, streckte Graufels fordernd seine Hand aus. Etzel trat zu ihm und hielt die Laterne hoch.

»Bei allen Waldgeistern«, murmelte Meister Graufels.

»Ihr könnt diese Zeichen lesen?«, fragte Etzel flüsternd.

»Selbstverständlich. Ich kenne sie gut, weil ich sie entwickelt habe.« Graufels grinste verstohlen. Dann flog sein Blick über die Zeilen, während er schnaufte, hustete, sich gegen die Brust klopfte und ab und zu den Kopf schüttelte.

»Wisst Ihr, was die Königin plagt?«, fragte Etzel nach einer Weile.

»Ich bin mir nicht sicher«, grübelte Graufels. »Übelkeit, Schlaflosigkeit. Viele Krankheiten können solche Symptome hervorrufen. Doch könnte es auch noch einen anderen Grund dafür geben.«

Etzel starrte seinen Meister an. »Gift?«, platzte es aus ihm heraus. »Mit demselben wie der Bote?« Aber sofort kam ihm seine Bemerkung dumm vor. Der Bote war ja bleich gewesen, hatte keine Luft mehr bekommen und blaue Lippen gehabt. Wie sollte die Königin in solch einem Zustand einen Brief in Geheimschrift verfassen? Außerdem stand von Bleiche, blauen Lippen und Atemnot nichts im Brief.

Graufels sah ihn eindringlich an. Er wirkte nicht, als würde er Etzel für diese Idee schelten wollen. Er lächelte. »Ein spannender Gedanke. Es gibt alte Gifte, deren Kraft kaum noch einer kennt.« Er ließ den Brief sinken. »Etzel, mein Junge, ich muss ihr helfen. Wir müssen ihr helfen.«

»Wir?«

»Natürlich wir.« Graufels deutete auf die vielen Roben, die an der Wand hingen. »Reiche mir den warmen Mantel. Den mit dem Pelz. Und die Stiefel für die Wintertage.«

»Aber, Meister, Ihr seid krank. Ihr solltet …«

»Ich sollte Yema helfen. Ich kenne sonst niemanden, der dazu fähig ist.« Graufels schlug die dicke Decke zurück und schob langsam seine dürren Beine aus dem Bett.

»Niemanden?«, fragte Etzel und nahm den Pelzmantel von der Garderobe.

Graufels atmete schwer. Das Aufstehen alleine kostete ihn Kraft. Nach einem Moment der Stille sagte er: »Außer mir und dir. Deswegen werden wir ihr helfen, mein Junge.« Unter leichtem Husten drückte er sich von der Bettkante hoch.

Etzel hob die Winterstiefel aus der Ecke. Da huschte eine fette Spinne unter einem Stiefel hervor und drückte sich in eine Spalte in der Wand. Etzel zuckte zusammen.

»Mach schon, Junge«, keuchte sein Meister. »Mantel und Schuhe. Dann lauf hinauf und schüre den Ofen an.«

Etzel half seinem Meister in die Stiefel und legte ihm den Wintermantel um das Nachthemd. »Soll ich Euch mit der Treppe helfen?«, fragte er vorsichtig.

Graufels sah ihn herausfordernd an und nahm einen schweren Schlüssel vom Hals.

»Entschuldigt, Meister. Der Ofen, ich laufe schon.« Etzel nahm den Schlüssel, eilte aus dem Gemach und die Turmtreppe hinauf in den obersten Stock. Eine schmale Tür versperrte den Zugang zur Arzneiküche, gerade so breit, dass nur ein Mensch hindurchpasste. Etzel schloss sie auf. Vollkommene Dunkelheit hieß ihn willkommen. Aber er kannte sich aus. Er streckte den Arm nach vorne, schob einen schweren Vorhang zur Seite und öffnete eine zweite Tür, die dahinter lag. Er trat hindurch und stand unmittelbar in Meister Graufels’ Arzneiküche. Durch die schmalen Fenster fiel ein wenig Licht, gerade so viel, dass er sich zurechtfand. Zielsicher begab er sich zum Ofen, der gegenüber dem Eingang an die Turmwand gebaut worden war. Einen solchen Ofen gab es im ganzen Königreich kein zweites Mal. Meister Graufels hatte höchstpersönlich verfügt, wie er gebaut werden sollte. Etzel legte Reisig und Holzscheite hinein, schlug Funken und hatte schnell ein kleines Feuer entfacht, das sich gemächlich größer fraß. Er hörte, wie sich der bellende Husten seines Meisters näherte, und zog einen Span aus dem Ofen. Mit dem zündete er die vielen Laternen an, die im ganzen Raum verteilt waren. In ihrem Licht trat Etzel an einen breiten Holztisch, der in der Mitte der Küche stand. Darauf drängten sich kleine Töpfe, Schalen, Kessel und Mörser. Rund um eine flache Steinplatte, die in der Mitte des Tisches lag, gab es Messer, Scheren und Pinzetten unterschiedlicher Größe. Er griff in seine Tasche und legte das Fingerkraut und die Zaunrübenbeeren auf die Steinplatte. Dann sah er sich um. Von der Decke hingen allerlei getrocknete Kräuter. Es gab Regale mit Tiegeln, Töpfchen und Fläschchen. Manche waren leer, viele aber gefüllt mit Honig, Ölen oder Essenzen aus Kräutern. In einigen schwammen Salamanderaugen, Dachsherzen oder Libellenflügel und hier und da gab es silberne, blaue oder rötliche Pulver aus Erzen und Steinen. An einer Wand hingen lederne Schürzen, Holzeimer und Besen, an einer anderen standen große Töpfe und Kessel ineinander gestapelt. Durch ein Fenster ragte eine Rinne hinein. Hier fing Meister Graufels in einem großen Bottich das Regenwasser auf.