Liva Bärentochter, wildes Kind des Waldes - Gregor Wolf - E-Book

Liva Bärentochter, wildes Kind des Waldes E-Book

Gregor Wolf

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Beschreibung

Ein märchenhaftes Abenteuer mit Wohlfühlcharakter Die Fee Liva lebt mit ihrer Mutter im Wald – einer der letzten Rückzugsorte für Waldtrollige wie sie. Die Menschen halten sich von dem Wald fern, denn sie habenAngst vor der "Bärenmutter". Doch das ändert sich, als der Junge Anders im Wald Schutz sucht. Als Halbfee wird er von der Baronin und ihren Schergen gejagt, denn laut einer Prophezeiung könnte er die bestehende Ordnung zwischen Menschen und Feen ins Wanken bringen. Liva springt ihm zur Seite. Doch können sie es schaffen, die Waldlebewesen hinter sich zu vereinen und der Baronin die Stirn zu bieten? Ein Plädoyer für Verständnis, Akzeptanz und mehr Naturverbundenheit! Im neuen Kinderbuch von Gregor Wolf können die Leser*innen in eine fantastische Welt mit besonderen Charakteren tauchen und abenteuerliche Lesestunden genießen!

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Seitenzahl: 277

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Inhalt

1 Bärenmutter

2 Livalamisursimani

3 Anders

4 Graf Pelz will nicht Menschchen machen

5 Johan mit der Gabel

6 Wildschwein und Bär

7 Waldtrollige

8 Der Geruch von brennendem Holz

9 Spitze Ohren

10 Schweinsgalopp

11 Feen helfen Feen

12 Menschenschwarm

13 Lieber toter Grasmann

14 Zwiebeln

15 Ein Eimer voll Ponymist

16 Der Wald muss brennen

17 Gemeinschaft

18 Der Kuss

19 Maus und Uhu

20 Silvestra

21 In der Klamm

22 Am Nebelwasser

23 Narzborks Insel

24 Narzbork

25 Der Federmensch schnaubt und brüllt

26 Fünf und Kauz

27 Hörner, Pauken, Pfeifen und ein Glockenspiel

28 Die Gemeinschaft der Waldbewohner

29 Anders macht einen Plan

30 Ganz kurz Quelljungfer

31 Auf dem Tanzplatz der Leuchtkäfer

32 Anders’ Entscheidung

33 Hinter dem Gurgelwasser

34 Baron von Heckenrose

~ 1 ~

Bärenmutter

»Es war eine schreckliche Nacht. Blitze zuckten und der Donner grollte. Kinder krochen unter Tische, Erwachsene drängten sich um den prasselnden Kamin und die Kleinsten weinten in ihren Wiegen. Alle Fenster waren geschlossen, alle Türen verriegelt.« Der alte Mann hielt inne und zog an seiner Pfeife. Während er den Tabakrauch in die Luft blies, blickte er in die weit aufgerissenen Augen der vielen Kinder, die sich um seinen hölzernen Schaukelstuhl geschart hatten.

»Und dann, Johan?«, fragte ein Junge, der schon etwas älter und größer war als die anderen.

»Dann?«, wiederholte der Alte und fuhr flüsternd fort: »Dann brach die Erde auf und Bärenmutter kroch hervor.«

»Aus der Erde?«, stotterte ein kleines Mädchen.

Johan nickte und kaute auf seiner Pfeife.

»Ist sie groß?«

Johan hob seinen Arm über den Kopf, so weit er konnte. »Sie ist riesig, so hoch wie ein junger Baum, und breiter als ein Scheunentor und stärker als zehn Männer. Ihre Zähne sind schwarz und ihre Augen leuchten gelb. Die Haare sind zottelig wie der Pelz eines alten Bären. Und sie ist fürchterlich wütend!«

Liva hockte draußen unter dem offenen Fenster und hielt sich die Hände vor den Mund, damit sie nicht laut loskicherte. Der graue Kater, der sich zu ihren Füßen eingerollt hatte, sah auf. »Deine Menschen, wenn die wüssten«, flüsterte sie. »Milva ist die freundlichste Waldtrollige weit und breit und wird eigentlich nie wütend. Gut, sie ist stark und breit, aber viel kleiner als ein Baum. Und ihre Zähne sind auch nicht schwarz, sondern gelb und ihre Augen leuchten höchstens hellblau. Was denkt sich dein Johan-Mensch nur?«

Der Kater schnurrte und legte seinen Kopf wieder auf die Vorderpfoten.

Liva kraulte ihm das Fell. »Bärenmutter«, fuhr sie nachdenklich fort. »Als wäre sie ein Bär. Milva kann zum Bären werden, weißt du? Aber sie verwandelt sich selten. Von Blütenerwachen bis Schneefall vielleicht so oft, wie Kirschen aus einer Knospe kommen. So wie dein Johan-Mensch da redet, ist er meiner Mutter doch noch nie begegnet! Und mit ihr gesprochen hat er auch noch nie. Sonst wüsste er, dass Milva viel netter ist, als er erzählt.«

Der Kater maunzte kaum hörbar.

»Gut, sie mag keine Menschen«, raunte Liva. »Aber sie würde ihnen nichts tun, außer sie muss. Aber das habe ich noch nie erlebt. Der macht den Kindern doch nur Angst.« Sie schüttelte ihren Kopf. »Deine Menschen sind schon seltsam.«

»Und warum war sie gekommen?«, fragte das kleine Mädchen.

Liva hielt die Luft an. Die Geschichte ging weiter. Sie ließ von dem grauen Kater ab und spähte vorsichtig durch das offene Fenster in die Stube.

»Nun.« Johan senkte den Kopf und legte die Pfeife auf seinen Oberschenkel. »Wir waren gierig geworden und hatten uns aus dem Wald genommen, was wir wollten. Viel mehr als wir zum Leben brauchten. Das hat die Waldgeister erzürnt. Und sie haben Bärenmutter geschickt. Sie kam also, um uns zu bestrafen und zu warnen. Niemals mehr sollte auch nur ein Krautsaumer einen Baum schlagen oder ein Tier des Waldes töten. Sie hat es uns einfach verboten. Aber nicht alle haben sich daran gehalten.« Johan verstummte.

Die Kinder starrten ihn gebannt an. Genauso wie Liva, die, wenn es nach ihrer Mutter ging, gar nicht hier sein durfte.

»Und was ist mit denen geschehen, die nicht auf die Bärenmutter gehört haben?«, fragte jetzt ein drahtiger Junge das, was alle wissen wollten.

Johan pfiff durch die Zähne. Sein Blick wanderte über die Kinder hin zum Fenster. Schnell zog Liva den Kopf ein. »Nicht einer kam aus dem Wald zurück«, hörte sie seine Stimme. »Nicht einer.«

Die Kinder raunten und murmelten.

»Seitdem sammeln wir Krautsaumer nur das, was uns der Wald lässt«, fuhr Johan fort. »Gefallenes Holz und reife Früchte, die kaum mehr am Strauch hängen. Tannenzapfen, Bucheckern, Eicheln und was wir eben sonst noch am Waldrand finden können.« Jetzt stimmten die Kinder in Johans Worte ein, als würden sie ein ehernes Gesetz, eine festgeschriebene Regel wiederholen, die jeder Mensch im Dorf Krautsaum kennen und befolgen musste. »Wir jagen nicht und schlagen keinen Baum, brechen keinen Ast und bleiben nur am Saum.«

Liva blickte zum Himmel. Auch wenn die Tage schon lang waren, legte sich die Sonne bereits schlafen und die Sterne begannen zu funkeln. Liva seufzte. Das wird wieder Ärger geben. Ihre Mutter wartete sicher und sie merkte es jedes Mal, wenn ihre Tochter bei den Menschen gewesen war. Aber Liva kam zu gerne hierher, in das Dorf nahe dem großen Wald. Menschen faszinierten sie. Außerdem fand sie hier immer irgendetwas Nützliches. Ihr Blick fiel auf das Bündel mit den Stoffen, das neben ihr im Gras lag und vor einigen Augenblicken noch in einem Garten auf der Leine gehangen hatte. Menschenstoffe waren einfach viel schöner als Moose und Grasmatten. Gut, manchmal kratzten sie. Aber das ging mit der Zeit weg. Liva fragte sich, wann ihre Mutter endlich einsah, dass Menschensachen hilfreich waren und ein wenig Farbe in das ewige Grün und Braun des Waldes brachten.

In diesem Moment drang eine aufgebrachte Frauenstimme an ihr Ohr. »Bei allen Waldgeistern, Reiser! Wo ist das Festtagshemd und wo die Hose? Hast du sie schon reingeholt?« Es klang, als würde die Stimme aus dem Garten kommen, wo Liva die Menschensachen gefunden hatte. Höchste Zeit zu verschwinden. Sie war sowieso schon zu lange hier. »Ich muss zurück«, flüsterte sie dem Kater ins Ohr, kraulte ihm noch einmal das Fell und schob sich dann vorsichtig unter dem Fenster weg, durch lila Schwertlilien und gelbe Trollblumen auf den Holzzaun zu, der den Garten der Dorfhütte begrenzte. Im Schutz der hereinbrechenden Nacht kletterte sie über den Zaun und sprang dann fröhlich dem finsteren Wald entgegen, das Stoffbündel fest unterm Arm.

~ 2 ~

Livalamisursimani

Silbrig schien der gerade erwachte Mond auf den schmalen Fluss, der den Wald wie eine warnende Markierung von den sanften Hügeln der Menschenwelt abgrenzte. Die Grillen zirpten und ab und zu schoss eine Fledermaus durch die kühle Nachtluft. Hier gab es keine Felder und Weiden, nur hohe blühende Sommergräser und wilde Kräuter. Liva öffnete das Bündel und betrachtete im Mondlicht die Stoffe, die sie mitgenommen hatte. Einer war blau wie eine satte Kornblume und teilte sich in zwei lange Schläuche, die oben und unten offen waren, wie die abgelegte Haut einer Schlange. Liva wusste, dass die Menschen so etwas an den Beinen trugen. Aber sie hatte eine viel bessere Idee und legte sich den Stoff um die Schultern. Die beiden Schläuche wickelte sie sich um den Hals. Das würde helfen, wenn es wieder kälter wurde. Der zweite Stoff war weiß, und Liva hatte ihn eigentlich nur deshalb genommen. Weißer Stoff war etwas ganz Besonderes. Liva hielt ihn hoch, um ihn zu betrachten. Auch dieses Stück hatte zwei Schläuche, die aber dünner waren. Dafür konnte man den Rest vergrößern, wenn man die seltsamen Holzzapfen aus den Löchern zog. Menschen trugen das um den Bauch und die Arme. Sie knöpfte das Stoffstück auf und band es sich mithilfe der Schläuche um die Hüfte. Das sah einfach wunderschön aus und sie konnte es vorne tragen oder nach hinten drehen. »Sehr praktisch«, murmelte sie und blickte zum Mond. »Jetzt aber schnell.«

Liva folgte dem Fluss. Sie dachte gar nicht daran, sich zu verstecken. Aus Angst vor ihrer Mutter hatte hier schon lange kein Dorfmensch mehr geangelt. Außerdem war es Nacht und die Menschen verließen bei Dunkelheit nur sehr selten ihre Häuser.

Kurz darauf erreichte sie einen Schilfgürtel, der am Ufer des Flusses wuchs. In das Grillenzirpen mischte sich nun auch das eine oder andere Froschquaken. Hier war der Fluss zwar breiter, aber dafür ganz flach. Liva trat in den kühlen Uferschlamm. Sie liebte es, wenn ihre nackten Füße durch den Matsch schmatzen. Ganz behutsam schob sie sich durchs Schilf. Sie wollte niemanden stören, nicht den Purpurreiher, der den Kopf unter einen seiner Flügel gesteckt hatte, oder das Tüpfelsumpfhuhn im Nest oder die Quelljungfern. Niemand wurde gerne aus dem Schlaf gerissen, egal ob groß oder klein. Dann öffnete sich das Schilf und gab den Blick auf das flache Flussbett frei, in dem das Wasser über die Steine gurgelte und plätscherte. Mit schnellen Schritten durchquerte sie den Fluss und verschwand auf der anderen Seite im dichten Saum des Waldes.

Schwärze umfing Liva. Unter ihren Füßen spürte sie den Waldboden mit seinen Wurzeln und Moosen und sie atmete den würzigen Dampf von Erde und Harz. Auch hier zirpten die Grillen ihr nächtliches Konzert, begleitet vom Ruf des Kuckucks und einem stetigen Rascheln und Knacken, das von allen Seiten kam. Liva klimperte zweimal mit den Augen, dann verschwand die Dunkelheit und sie konnte sehen. Nicht so gut wie am Tag, aber gut genug, um Grimbart Dachs zu grüßen, der im Unterholz nach Fressbarem schnüffelte. Plötzlich kribbelte es auf ihren Füßen. Ein Tausendfüßler suchte sich seinen Weg. »Entschuldige«, murmelte Liva. »Verkrieche dich lieber. Grimbart ist in der Nähe.« Sie schüttelte ihn sanft ab und sprang weiter. Das Unterholz war kein Hindernis für sie. Sie wusste, wie sie sich zu bewegen hatte. Immerhin lebte sie schon ihr ganzes Leben in diesem Wald, und ihre Mutter hatte ihr alles Wichtige beigebracht.

Bald erreichte sie eine Senke, die vollständig mit Farn bedeckt war. Dank der wenigen Bäume drang das Mondlicht bis auf den Waldboden, und in seinem Schein tanzten unzählige glimmende Leuchtkäfer. Liva blieb am Rand des Farns stehen und folgte fasziniert dem funkelnden Treiben. »Darf ich mich eurem Reigen anschließen und über den Farn tanzen?«, fragte sie nach einer Weile und verneigte sich.

Die Leuchtkäfer hielten einen Augenblick inne, dann tanzten sie weiter. Liva verstand das als Aufforderung. Sie warf ein Bein hoch, drehte sich, machte den Buckel krumm und hopste einen Schritt vor, um dann das nächste Bein hochzuwerfen und das Ganze zu wiederholen. Es war mehr ein Stampfen und Hüpfen als ein Tanz, aber das machte nichts. Die Leuchtkäfer umschwirrten sie und brachten sie über die Lichtung. Liva verbeugte sich noch einmal. »Vielen Dank für eure Begleitung. Verratet es aber nicht den Schmetterlingen.« Dann setzte sie ihren Weg fort.

Es dauerte noch eine Weile, bis Liva auf einen seichten, eisigen Bach traf, der sie durch eine schmale Klamm und endlich auf eine Lichtung führte, auf der sich ein Hügel erhob, in dem sie und ihre Mutter lebten. Zwischen den Bäumen, die darauf wurzelten, öffnete sich ein felsiger Spalt, aus dem es sanft grünlich schimmerte: der Eingang zu Milvas Haus. So nannte sie die Höhle, weil die Menschen ihre Höhlen auch immer Haus nannten. Sie stapfte mitten durch den wilden Garten ihrer Mutter auf den Eingang zu.

Als sie in den Hügel trat, umfing sie das grünlich schimmernde Licht, das von vielen kleinen Pilzen ausging, die am Rand des Höhleneingangs wuchsen. Wieder klimperte Liva zweimal mit den Lidern und schon hatten sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt. Fröhlich summend stapfte sie weiter, unter hängenden Wurzeln hindurch, einer Biegung folgend nach rechts und wieder nach links, bis sie vor einem dichten Wurzelvorhang stand. Sie blähte die Backen und blies darauf. Sofort und ganz selbstständig teilten sich die Wurzeln, wichen zur Seite und gaben den Weg frei. Dahinter öffnete sich eine große Höhle. Von der Decke hingen viele Wurzeln, mal kürzer, mal länger, und bildeten weitere Vorhänge, die den einen oder anderen Höhlenraum abtrennten. Auch hier war alles von dem grünlichen Pilzschimmer erfüllt.

»Livalamisursimani!«, brummte es hinter einem Wurzelvorhang, der sich sofort teilte. Heraus trat eine große kräftige Frau, deren struppig-dichtes schwarz-graues Haar zu allen Seiten stand. Sie stemmte die Hände in die Hüfte und drückte so ihr grün-braunes Moosgraskleid zusammen, das mehr wie ein Sammelsurium aus Flicken als wie ein echtes Kleid wirkte. Sie funkelte Liva aus hellblauen Augen heraus an. »Du warst wieder bei den Menschen, und das sicher nicht erst, seit der Mond wach ist. Du stinkst.«

»Ich – «, begann Liva, aber ihre Mutter hörte nicht zu.

»Wie oft habe ich dir gesagt, dass Menschen gefährlich sind? Du sollst sie nicht besuchen. Du sollst nicht einmal in die Nähe ihrer Höhlen gehen. Du bleibst auf dieser Seite des Gurgelwassers. Und wenn wir rübermüssen, dann nur, wenn der Mond wacht. Wie oft habe ich dir das gesagt?«

»So oft, wie Kiesel im Gurgelwasserbett sind?«, antwortete Liva trotzig und sah ihre Mutter herausfordernd an. »Ich war auch erst da, als der Mond wach war. Vorher habe ich mich mit Rothaar unterhalten.«

»Rothaar?«, fragte ihre Mutter mit ernstem Blick.

»Ja, Milva.« So nannte Liva ihre Mutter, die mit vollem Namen Lamilivasursamilva hieß. »Der wollte Futter suchen.«

»Meinst du, dass er mir das auch erzählen wird, wenn ich ihn treffe?«

Liva senkte den Kopf. Natürlich war sie Rothaar Fuchs nie begegnet und schon im Dorf gewesen, als die Sonne sich auf den Weg zum Schlafen machte.

»Wusste ich es doch. Und du hast wieder genommen, was dir nicht gehört!«

»Nein, nur geliehen. Und das ist doch auch sehr schön«, verteidigte sich Liva.

»Feen nehmen nichts, was anderen gehört. Wie oft muss ich das noch sagen?«

»Aber, das ist wirklich schön. Schau mal, weiß wie eine Schneeglocke.« Liva hielt das Hemd hoch, das sie sich wie eine Schürze umgebunden hatte. »Und das wärmt, wenn der Schnee da ist.« Sie zeigte auf die blaue Hose um ihren Hals.

Milva schüttelte das zottelige Haupt. »Es riecht fürchterlich. Meine ganze Höhle stinkt schon nach Mensch.«

»Aber das kannst du brauchen, wenn die Eicheln fallen«, schimpfte Liva zurück und zeigte auf eine bauchige Schale aus gebranntem Ton, die auf einem breiten Steintisch in der Mitte der Höhle stand. Sie hatte sie vor vielen Jahren aus dem Dorf gestohlen, für ihre Mutter. »Du hast immer gesagt, dass es wehtut, wenn dir Eicheln auf den Kopf fallen. Und jetzt kannst du dich schützen, weil ich das geliehen habe.«

Milva ließ die kräftigen Arme sinken und seufzte. »Kind, morgen, wenn die Sonne noch schläft, bringst du die Stoffe zurück. Hast du mich verstanden?«

»Nein!«, antwortete Liva mit grimmigem Blick und strich sich ihre Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Die hören schon auf mit Stinken.«

»Livalamisursimani.« Milvas Stimme wurde ruhig. »Du bringst die Menschenstoffe zurück, oder ich sage dem Gurgelwasser, dass es dich nie mehr auf die andere Seite lassen soll.«

Liva stampfte mit dem Fuß auf. »Das ist – «

»Gemein, ich weiß«, unterbrach ihre Mutter. »Jetzt schlaf! Du musst schon bald wieder los.«

Liva biss die Zähne zusammen. Das war wirklich nicht nett. Sie hasste es, wenn sie nicht so lange schlafen konnte, wie sie wollte. Und sie konnte sich nicht erinnern, dass sie jemals vor der Sonne aufstehen musste.

»Worauf wartest du?«, fragte Milva.

»Ich habe Hunger.«

»Nimm dir Eicheln und Äpfel.«

»Äpfel«, stöhnte Liva und verzog das Gesicht bei dem Gedanken an die längst schrumpeligen Früchte.

»Und nun, schlaf ruhig.« Milva zeigte auf einen der Wurzelvorhänge, der sich wie auf Befehl öffnete.

Liva zog den Kopf zwischen die Schultern, nahm eine Handvoll Eicheln und brummte missmutig »Schlaf ruhig«, dann stapfte sie durch den Vorhang in ihren Höhlenteil. Nachdem sie Menschenhemd und Menschenhose in eine Nische in der Höhlenwand gelegt hatte, warf sie sich unzufrieden auf ihr Bett aus Zweigen und Moos und knabberte Eicheln. Aber bald übermannte sie die Müdigkeit. Der Tag war wirklich lang gewesen. Sie klimperte zweimal mit den Augen und schon wurde es dunkel. Kurz darauf schlummerte sie ein, begleitet von ihrem stetigen ruhigen Grunzen.

~ 3 ~

Anders

»Mach dich nützlich, lausiger Mischling, und bring das zur Herrin!«, blökte der feiste Forke und streckte Anders einen silbernen Pokal entgegen. Nimmersatt Forke war Küchenmeister auf Schloss Heckenrose und der unumstrittene Herr über Pfannen und Töpfe. »Beeil dich, wenn dir der Schlafplatz am Herd lieb ist. Verstanden?« Er warf seinem Küchenjungen einen bedrohlichen Blick zu.

Anders war gewarnt. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch betrachtete er den Pokal, der die gebrannten Mandeln der Baronin enthielt. Die Herrin verlangte ihre Lieblingssüßigkeit zu jeder Zeit und am liebsten zum Wein. Nur selten ließ sie erlesene Gäste daran teilhaben. Manchmal naschten die Küchenjungen heimlich. Eine Mutprobe, die Anders nie gewagt hatte. Die Furcht, erwischt zu werden, war zu groß. Und als Mischling konnte er den menschblütigen Küchenjungen nicht trauen. Warum sollte ausgerechnet er jetzt die Mandeln der Herrin bringen? Das war eigentlich die Aufgabe der Dienerschaft.

»Auf was wartest du?«, schnauzte Meister Forke grimmig.

»Sollte das nicht besser ein – «, stammelte Anders, wurde aber jäh unterbrochen.

»Keine Widerrede! Wird’s bald? Oder willst du putzen, wie deine nichtsnutzige Mutter?« Forkes fette Wangen glühten so rot, als würde jeden Moment sein Kopf platzen.

Anders verstummte schlagartig und nahm lieber demütig den Pokal entgegen. Eigentlich hatten Küchenjungen wie er tagsüber oben nichts zu suchen. Sie durften nur hoch, wenn alle schliefen. Dann hieß es, die Feuerstellen in den Zimmern zu säubern und den Kamin anzufachen. Eine dreckige Aufgabe, die keiner gerne machte. Und wehe, man wurde gesehen. Baronin Härtha von Heckenrose verabscheute kalte Räume, und sie verabscheute es noch mehr, wenn ihr einer von den Unteren über den Weg lief. Dass Anders jetzt, am helllichten Nachmittag, Mandeln servieren sollte, konnte nur eines bedeuten: Die Dienerschaft hatte zwar Wein und Gläser in der Küche geholt, aber die Lieblingssüßigkeit der Herrin vergessen. Ein unverzeihlicher Fehler, den nicht nur der verantwortliche Diener, sondern auch Meister Forke und damit letztlich Anders zu spüren bekommen würde. Er konnte nur hoffen, so schnell wie möglich den Diener zu finden und die Mandeln zu übergeben. Also legte er schützend seine Hand auf den Pokaldeckel und eilte an dampfenden Kesseln, brodelnden Töpfen und glühenden Öfen vorbei durch die Schlossküche. »Pass doch auf!« Gerade noch konnte er unter einem Hilfskoch wegtauchen, der stöhnend einen großen Teigberg von einem Tisch zum anderen hievte.

Anders ließ die Küche mit ihrem Klappern, Klimpern, Zischen und Fauchen hinter sich und folgte einem Gang mit unzähligen Türen zu beiden Seiten, der nur notdürftig von zwei stumpfen Laternen erhellt wurde. Am Ende wartete eine Wendeltreppe, die ihn aus dem Gesindekeller hinauf in die herrschaftlichen Räume bringen würde. Stufe um Stufe, den Pokal fest in den Händen, sprang er sie empor.

Oben bedeckten dicke Teppiche den Steinboden. Es hingen sogar welche von den Wänden, mit Bildern darauf. Die Luft war frischer, kein Geruch von Holzfeuer oder köchelndem Essen, und es war viel heller. Die Laternen hatten polierte Glasscheiben und es gab schmale Fenster. Vom Küchenlärm war nichts mehr zu hören.

Anders kannte sich aus. Bemüht, nicht zu stolpern, trug er den Pokal mit schnellen Schritten einen kurzen Korridor entlang auf die große Halle zu. Hier empfing die Baronin bei großen Festen ihre Gäste. Alles war sehr prunkvoll eingerichtet, mit Statuen, Gemälden und edlen Möbeln. Anders mochte das nicht. Jedes Mal beschlich ihn das Gefühl, dass ihn die Menschen auf den Gemälden beobachteten. Er sah sich um, konnte aber nirgends den Diener entdecken. Hätte Meister Forke nicht sagen können, wohin der Pokal sollte? Anders betrachtete das silberne Gefäß. War das die Gelegenheit? Er hob den Deckel ein wenig an. Nein! Wenn er beim Stehlen einer Mandel erwischt wurde, half keine Entschuldigung, keine Reue. Und seine Strafe würde viel härter ausfallen als die der menschblütigen Küchenjungen. So viel war sicher. Schnell drückte er den Deckel wieder auf den Pokal. Wo war nur dieser verflixte Diener mit dem Wein?

Seufzend entschied sich Anders, die gebrannten Mandeln zum Arbeitszimmer zu bringen. Vielleicht konnte er sie dort abstellen, bevor die Baronin auftauchte. Bedacht darauf, nicht gesehen zu werden, durchquerte er schnell die Halle und gelangte über eine breite Treppe mit goldenen Handläufen ins Obergeschoss. Hier gab es zu beiden Seiten viele Türen und noch mehr Gemälde, die Ahnengalerie der Baronin. Natürlich nur Menschen. Selbstverständlich und zweifelsfrei von edlem Blut. Er eilte zum Arbeitszimmer, in dessen Tür dornige Rosen geschnitzt und golden bemalt worden waren. Anders atmete tief ein. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen, hob die Hand, um anzuklopfen, hielt aber plötzlich inne: Die Tür stand einen Spalt offen.

»Der Küchenjunge«, drang eine sanfte dunkle Stimme aus dem Arbeitszimmer, wobei sie das der betonte.

»Welcher?«, fragte jemand schrill. Eindeutig Härtha von Heckenrose.

»Die Waise«, antwortete die sanfte dunkle Stimme. »Er hatte eine Feenmutter.«

Anders hielt den Atem an. Es gab nur einen Mischling in der Küche. Es ging um ihn!

»Bist du dir sicher, Schillack, Feenblut?«

»Ja, Euer Hochwohlgeboren, so vermute ich. Alles deutet darauf hin.«

Schillack, dachte Anders. Ist das nicht der Sterndeuter und Wahrsager der Baronin?

»Wenn das stimmt, muss er weg. Und zwar für immer.«

»Ihr wollt ihn verbannen? Ich denke nicht, Euer Hochwohlgeboren, dass sich die Sterne auf solche Art täuschen lassen.«

»Täuschen? Wer täuscht hier wen, Schillack?« Es entstand eine kurze Pause, bevor die Baronin scharf fortfuhr. »Wenn hier jemand getäuscht wird, bin ich das. Die Sterne täuschen mich, Schillack, und du scheinst mit ihnen im Bunde.«

»Aber – «

»Ruhe! Oder willst du mir widersprechen?«

»Nein. Selbstverständlich nicht. Niemals.«

Jetzt wurde die Stimme der Baronin gefährlich ruhig. »Ich denke nicht an Verbannung. Er muss verschwinden, und zwar so, dass er nie wieder auftaucht.«

»Ihr wollt ihn – «

»Richtig, Schillack. Ihn am Leben zu lassen, wäre ein sträflicher Fehler.« Die letzten Worte sagte sie langsam, aber bestimmt.

Anders wurde schlecht. Alles um ihn herum begann sich zu drehen. Er zitterte am ganzen Leib. Hatte er richtig gehört? Er sollte sterben? Warum? Er hatte sich doch nichts zuschulden kommen lassen, seine Arbeit immer pünktlich erledigt, ohne zu murren, immer freundlich. Und er beschwerte sich nie, nur in seinen heimlichsten Gedanken.

»Hauptmann von Schneid soll mir diesen Küchenjungen bringen, und zwar sofort!«, befahl die Baronin schrill.

Anders schluckte. Er musste verschwinden, so schnell wie möglich. Ihm blieb nicht viel Zeit. In diesem Moment öffnete sich zu seiner Linken eine Tür. Hinaus trat ein Diener in roter Livree und mit weiß gelockter Perücke. Überrascht blickte er Anders an. »He! Was machst du da?«

Anders erschrak. Laut scheppernd fiel der Pokal zu Boden. Für einen Wimpernschlag starrte er den Diener an, dann drehte er sich schnurstracks um, lief an den Gemälden vorbei, die Treppe hinunter und flog durch die große Halle und den Korridor Richtung Küche.

~ 4 ~

Graf Pelz will nicht Menschchen machen

In Windeseile hastete Anders die Wendeltreppe hinab und rannte unversehens in Hofmarschall von Fehrmerk. »Na, na! Nicht so kopflos, Kerl. Zügle dich. Hörst du?« Von Fehrmerk zog sein schwarzes Samtgewand mit dem Rüschenkragen glatt und strich sich die Haare aus der Stirn. Er musterte Anders mit strengem Blick. »Was hattest du oben zu suchen? Erkläre dich, sofort!«

»Ich hab’s eilig«, keuchte Anders. Er hatte keine Zeit für Erklärungen.

»Wie bitte?« Der Hofmarschall zog empört eine Augenbraue hoch. »Was erlaubst du dir?«

Aber Anders drückte sich ohne Rücksicht an ihm vorbei und sprang die Stufen weiter abwärts. »Halt, Bursche!«, war das Letzte, was er hörte, bevor ihn seine Füße durch den düsteren Gang zur Küche trugen. Kaum hatte er sie erreicht, schlugen ihm feuchtheißer Dunst und das Klappern der Töpfe und Kochlöffel entgegen.

»Da bist du ja endlich«, grunzte Meister Forke, während seine Nase über einem großen Topf hing. »Kartoffeln holen und schälen. Und zwar schnell! Der Lackaffe von Fehrmerk hatte mal wieder keine Zeit, früher zu mir zu kommen.« Sein Blick streifte Anders nur flüchtig. »Und jetzt wünscht die Herrin urplötzlich Herzoginkartoffeln zur Gans. Wo ist mein Spritzbeutel?«

Anders hörte nicht zu. Er blieb stehen und blickte schwer atmend zur Tür zurück. Warum war er hierhergelaufen? Er musste doch fliehen, so schnell wie möglich. Die Baronin überdachte ihre Entscheidungen nie. Und in der Küche würden sie ihn zuerst suchen.

Da packte ihn Meister Forke unsanft am Schopf. »Deine Mischlingsohren hören wohl schlecht. Kartoffeln schälen, wird’s bald!«

Anders starrte den Küchenmeister mit großen Augen an. Da drückte ihm ein Hilfskoch ein Messer und eine große Schale in die Hand.

»Ja, schälen«, stammelte Anders. »Sofort.« Zügig ging er auf den Vorratskeller zu. Ob Schillack bereits mit dem Hauptmann sprach? Wie viel Zeit blieb ihm noch? In Anders’ Kopf brauste und sauste es. Kartoffelnschälen! Immerhin eine Gelegenheit, sich unauffällig aus der Küche zu stehlen. Vielleicht konnte er im Vorratskeller einen klaren Gedanken fassen.

Der Vorratskeller, der sich direkt an die Küche anschloss, war ein großer kühler Lagerraum, ein Gewölbe, kaum kleiner als die Küche selbst. Und das war auch nötig. Denn zwischen den vielen Pfeilern und Bögen, die die spinnwebenverhangene Decke stützten, ragten lange Regalreihen hoch auf, gefüllt mit allem, was es brauchte, um den Gaumen der Baronin zufriedenzustellen. Da lagerten Kräutersäckchen, Kisten mit Zwiebeln und Lauch, Käselaibe, Äpfel, Nüsse, Brote, schwere Mehlsäcke, Wasserfässer und Weinflaschen. Und von der Decke hingen Schinken, Würste und Fasane. Viel wichtiger aber war: Am Ende des Kellers führte eine Tür zu einer breiten Treppe, über die er hinauf in den Schlosshof gelangen konnte. Das war der letzte Fluchtweg, der ihm jetzt noch offenstand. Und etwas Besseres fiel ihm auf die Schnelle nicht ein. Er legte Messer und Schale beiseite und eilte zwischen den Regalen auf eine zweiflüglige Tür zu. Vorsichtig öffnete er sie, als – mau! – plötzlich eine Katze durch den Spalt und Anders’ Beine in den Vorratskeller schoss. Anders stockte der Atem. Mit pochendem Herz sah er der Katze nach, dann steckte er seinen Kopf durch den Türspalt und spähte die Treppe hinauf.

»Zwei Mann antreten«, donnerte Hauptmann von Schneids Stimme über den Schlosshof.

Anders zuckte zusammen. Schon war das Klappern von Soldatenstiefeln zu hören. Er hielt den Atem an.

»Du folgst mir«, rief von Schneid. »Und du postierst dich unten am Ende der Treppe, die zum Vorratskeller hinabführt, direkt vor dem Tor. Halte jeden auf, der hinaus- oder hineinwill. Verstanden?«

»Jawohl, Herr Hauptmann«, antworteten zwei Stimmen gleichzeitig.

Anders krampfte der Magen. Er saß in der Falle. Was sollte er jetzt machen? Es würde nicht lange dauern bis von Schneid und der Soldat in der Küche waren. Und Meister Forke würde sie, nach seiner üblichen Standpauke, in den Vorratskeller schicken, wo Anders angeblich Kartoffeln schälte. Er musste sich verstecken, schnell! Eilig zog er den Kopf zurück, schloss leise die Tür und sah sich um. Da waren große Säcke und Fässer, in die er kriechen konnte. Aber viele von ihnen waren bis zum Rand gefüllt oder nicht leer genug, um ihn zu verbergen. Eilig streifte er durch die Regale. Nirgends gab es einen Ort, der ihm geeignet erschien. Entweder war das Versteck zu offensichtlich oder es bot zu wenig Platz. Und dank der schmalen Fenster, die knapp unter der Gewölbedecke lagen, war es hell genug, um alles problemlos durchsuchen zu können. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn hier unten finden würden.

Plötzlich streifte ihn etwas. Die Katze schmeichelte um seine Beine und schnurrte.

»Du weißt auch kein sicheres Versteck oder einen Ausweg von hier, oder?«, flüsterte Anders hilflos.

Die hell-getigerte Katze blickte ihn mit ihren mandelförmigen Augen einen Moment lang an. Dann maunzte sie und sprang behände eines der Wandregale hoch. Kaum zwei Atemzüge später sah sie zu Anders hinab und schlüpfte durch eines der Fenster, in dem eine Scheibe fehlte, nach draußen. Anders blieb der Mund offen stehen. Natürlich, die Fenster! Schnell kletterte er das Regal Brett um Brett hoch, bedacht darauf, die lagernden Lebensmittel nicht herunterzustoßen. Seine Verfolger sollten ja nicht gleich sehen, wie er nach draußen gekommen war. Erfreulicherweise war das obere Brett, außer ein paar Mausefallen, leer und bot ihm genug Platz, auch wenn er sich ducken musste, weil die Gewölbedecke ganz nah war. Ein leichter Luftzug wehte ihm entgegen. Anders zog den Riegel zurück, öffnete vorsichtig das Fenster und schob sich durch die schmale Öffnung. Zum Glück war er schmächtig. Mit einem sanften Plumps landete er im Schlosshof. Als er das Fenster wieder zuzog, vernahm er Forkes aufgebrachte Stimme. Von Schneid und der Soldat waren in der Küche und mussten des Küchenmeisters Standpauke über sich ergehen lassen. Das verschaffte Anders ein paar Sekunden. Hastig streckte er seinen Arm durch den Fensterrahmen mit der fehlenden Scheibe und verriegelte das Fenster wieder.

Die frühsommerliche Abendsonne tauchte den Hof in goldenes Licht. Bei den Stallungen warfen zwei Knechte mit Mistgabeln frisches Heu von einem Karren. Sie waren Mischlinge, wie er. Das wusste Anders. Und nicht weit davon hämmerte der Schmied vor seinem Feuer auf den Amboss ein. Mit jedem Klong formte er ein neues Hufeisen. Rechts lagen der Torbau, die Schlossbrücke und dahinter die Gassen der Stadt, die sich vor Schloss Heckenrose erstreckte. Dort würde er sich verstecken können, fürs Erste. Vielleicht fand er auch einen Mischling, der ihm helfen würde. Er musste nur noch an den Torwachen vorbei. Anders biss sich auf die Unterlippe. Was, wenn die mich fragen, was ich vorhabe? Er wiegte den Kopf hin und her. Die werden sich schon nicht für einen Küchenjungen interessieren, beruhigte er sich. Und wenn, dann muss ich ein wichtiges Gewürz fürs Abendmahl besorgen. »Hexenzweifel«, murmelte er. Die fragen sicher nicht nach.

Er atmete tief durch und machte einen Schritt auf den Hof, als ein Kläffen beim Torbau ihn zögern ließ. Dort trat Faulenz von Heckenrose, der Sohn der Baronin, aus dem Schatten, Schmetterlingsspaniel Graf Pelz an seiner Seite. Anders sank das Herz in die Knie. Der hatte gerade noch gefehlt! Ohne ein Wort würde ihn Faulenz nicht ziehen lassen. Und Anders blieb keine Zeit für eine Unterhaltung. Aber es gab keinen anderen Weg als durch das Tor. Einfach unauffällig bleiben, sprach er sich Mut zu und setzte sich zügig mit gesenktem Haupt in Bewegung. Aber es dauerte kaum drei Wimpernschläge, bis Graf Pelz ihn entdeckte. Der kleine Hund kläffte und trottete auf ihn zu, gefolgt von seinem Herrchen.

»Anders! Du hast sicher ein wenig Zeit, um mit mir und Graf Pelz zu spielen? Er will nicht Menschchen machen, obwohl ich ihm immer ganz genau erkläre, was er zu tun hat.« Faulenz klang sehr unzufrieden.

Anders mochte den Jungen, der etwas jünger als er selbst und ein wenig rund war. Wenn es seine Arbeit zuließ, spielte er mit ihm. Und er hatte immer das Gefühl, dass Faulenz gerne Zeit mit ihm verbrachte. Weil das auch bedeutete, dass er nicht bei seiner Mutter sein und lernen musste, wie man ein würdiger Baron wird.

»Schau!«, fuhr Faulenz fort und sah seinen Hund mit ernster Miene an. »Aufgepasst, Graf Pelz.« Er hob den Zeigefinger. »Mach Menschchen und lauf zu mir! Auf den Hinterpfoten. Bei drei! Eins, zwei, drei.«

Aber der kleine Hund blieb auf seinem Hinterteil sitzen, starrte sein Herrchen an und rührte sich kein Stück.

»So bekommst du keine Belohnung!«, schimpfte Faulenz.

Graf Pelz kläffte zurück.

»Siehst du, Anders? Du musst mir helfen.«

»Ich habe leider keine Zeit. Tut mir leid«, stammelte Anders. »Ich muss noch … etwas besorgen.«

»Besorgen?« Faulenz zog die Mundwinkel tief nach unten, so, dass seine Unterlippe hervortrat. »Das geht nicht. Du bist mein Spielgefährte und bleibst, wenn ich es sage.«

»Leider. Meister Forke braucht Hexenzweifel, für das Abendmahl.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen. Forke hat alles. Mutter klagt immer über seine Ausgaben. Du lügst!«

Anders atmete schnell. »Nein, wirklich, ich bin ja auch gleich zurück.« Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt.

»Du bleibst und hilfst mir. Mein Wort steht über dem des Küchenmeisters.« Faulenz blickte Anders etwas unsicher an. »Oder nicht?«

Anders seufzte und sah zurück zur Treppe, die hinab zum Vorratskeller führte. Der Schmied hämmerte noch immer und die Mischlings-Knechte trugen das Heu nun in den Stall. »Ich muss in die Stadt, leider. Es eilt.«

»Nein, nein und nochmals nein! Ich denke, du verstehst mich ganz gut, oder?«

Um dem Wunsch seines Herrn Nachdruck zu verleihen, kläffte Graf Pelz zweimal und drehte sich im Kreis.

»Siehst du. Er macht was, wenn du da bist. Also hilf mir!« Faulenz versuchte einen strengen Blick, aber sein Mund zuckte dabei ganz seltsam und er schnaufte.

Anders stand der Schweiß auf der Stirn. Er begann fürchterlich zu zittern, zwang sich aber zur Ruhe.

Faulenz betrachtete ihn. »Was hast du?«

In diesem Augenblick schoss die hell-getigerte Katze über den Hof. Und dann ging alles ganz schnell. Graf Pelz kläffte und jagte auf die Katze zu. Faulenz blickte seinem Hund hinterher und befahl ihm zu bleiben. Vom Vorratskeller hörte Anders, wie das Tor geöffnet wurde und Hauptmann von Schneid fragte: »Ist jemand hier durchgekommen?« Und als der Soldat zackig »Nein, niemand, Herr Hauptmann« antwortete, ging ein Ruck durch Anders. Jetzt oder nie! Er machte einen Satz und rannte los, Richtung Torbau. Den verdutzten Faulenz ließ er einfach stehen.

Es dauerte kaum drei Atemzüge, bis diesem gewahr wurde, was hier vor sich ging. »Haltet den Küchenjungen!«, schrie Faulenz mit schriller Stimme begleitet von aufgeregtem Hundekläffen. »Haltet ihn!«

Anders ließ sich nicht beirren. Er lief weiter auf das Tor zu, so schnell er konnte.

Die beiden Wachen blickten überrascht in den Schlosshof. Eine schob ihren Helm zurecht, um besser sehen zu können.

Jetzt erklang auch von Schneids Stimme: »Haltet den Flüchtigen!«