Eulengeflüster - Marie Lue - E-Book

Eulengeflüster E-Book

Marie Lue

3,9

Beschreibung

Verrückte Flughafenansagen, fremde Mädchen im Wohnzimmer, Bücher, die ein Eigenleben entwickeln, ein Vater, der sich emanzipiert, und eine Pflanze, die sich unbemerkt ins Leben schleicht. Die Holzfigur, die lebendig wird, zerstörte, unerwiderte Liebe, Überfall, Mord und Totschlag, typische Ereignisse des Lebens also, die jedem jederzeit widerfahren können. Lachen und Weinen geben sich hier die Hand, doch auch das Entsetzen findet seinen Platz und die Überraschung sowieso. Diese Geschichten sind wie die Eulen: mal weise und glücksbringend, dann wieder mystisch, zerstörerisch und unheimlich. Sie nehmen die Seele mit auf eine Reise und enden nie so, wie man vermutet ...

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Inhaltsverzeichnis

Flughafendurchsage

Das kleine Mädchen

Die Leserin

Der Weg ist das Ziel

Die magische Kresse

Meister Lampe

Erinnerungen

Die Spielbank

Schatten der Vergangenheit

Szenen einer Ehe

Leben pur

Der Vogelflüsterer

Freudige Ereignisse

Wer wirft den ersten Stein?

Eulengeflüster

Eine kleine Vögelei

Glashaus

Der Schmetterling zählt nicht die Monde, sondern Augenblicke – und er hat Zeit genug.

Rabindranath Tagore

Flughafendurchsage

Die automatische Schiebetür zog sich lautlos zurück und ein kühler Lufthauch legte sich wie eine erfrischende Folie um die Körper. Die flirrende Hitze blieb draußen und trieb uns nicht mehr den Schweiß ins Gesicht. Wir hatten es nun doch noch geschafft, pünktlich den Flughafen von Amsterdam zu erreichen. Langsam beruhigten sich unsere Gemüter. Erleichtert stellten wir unsere Koffer auf ein Fließband, auf dem sie dann lautlos in den Tiefen des Flughafens verschwanden.

„Mr. Roger White wird aufgerufen, sich zum Gate 20 B zu begeben. Mr. Roger White!“

Da schien jemand offenbar sein Flugzeug zu verpassen. Wir liefen weiter durch den Flughafen. Unsere Augen klebten an den Hinweisschildern, die von der Decke hingen, damit wir zum richtigen Terminal fanden. Es klappte alles wie am Schnürchen.

„Mr. Roger White wird gebeten, sich unverzüglich zum Gate 20 B zu begeben! Mr. Roger White, bitte gehen Sie sofort zum Gate 20 B.“

Der hatte es offenbar nicht geschafft, dieser Mr. White. Schade für ihn. Wir hatten bis zum Boarding noch eine halbe Stunde Zeit.

„Mr. Roger White wird dringend am Gate 20 B erwartet! Mr. Roger White, wollen Sie nun noch mitfliegen oder was?“

Wir blieben abrupt stehen. Hatten wir uns verhört? Mittlerweile hatten wir unser Ziel erreicht und ließen uns seufzend auf die blauen abgewetzten Lederimitatsessel fallen.

„Mr. Roger White, wie sieht‘s nun aus? Können wir mit Ihrer geschätzten Aufwartung am Gate 20 B noch rechnen oder sollen wir ohne Sie losfliegen? Ihre Frau wüsste das auch gerne, die hat‘s nämlich geschafft! Mr. Roger White, bitte zum Gate 20 B!“

h staunte nicht schlecht. Ich hoffte nur für Mr. White, dass er seinen Flieger noch erreichen würde.

„Mr. Roger White – jetzt mal auf Englisch, vielleicht verstehen Sie mich ja nicht: Please come immediately to gate 20 B, we will start our flight in a few minutes! Immediately – kapiert?! Das heißt sofort, Mr. White!“

Im Hintergrund hörten wir eine Frau jammern. Das Nichterscheinen von Mr. White schien in ein Drama zu münden.

„Hey – Whity Whiteman!“

Ein irres Lachen hallte durch den Flughafen. „Nun wird‘s echt Zeit, Mann! Willst du nicht oder kannst du nicht? Wenn ich mir deine Frau angucke, willst du wohl nicht! So eine Planschkuh will ja überhaupt keiner!“ Danach folgte ein enthemmtes Kreischen und Kichern. Hörbar um Fassung ringend sagte der Sprecher weiter: „Es nützt nix, entweder du trabst bald hier an oder du musst später dran glauben. Gate 20 B – hier wartet deine beschissene Zukunft auf dich, Whity Whiteman!“

Alle Flughafengäste schauten einander entgeistert an. Man sah sich um. Wer könnte Mr. White sein, dieser arme Tropf? Und wer war der Irre am Mikrofon? Selbst wenn es Mr. White noch schaffen würde, der könnte doch nur noch mit einer Tüte über dem Kopf ins Flugzeug steigen!

„Hey, Whity! Deine Zeit ist abgelaufen! Jetzt mach endlich! Mr. Whity Whiteman White, Gate 20 B, aber hopp!“

Ein Raunen der Entrüstung ging durch den Flughafen. Vereinzeltes Gekicher hinter vorgehaltener Hand ließ Schadenfreude erkennen. Die Neugier auf diesen ominösen Mr. White wurde immer größer. Schaulustige fanden sich am Gate 20 B ein, um das Eintreffen von Mr. White hautnah mitzuerleben.

„Wir fliegen gleich loooohooos! Ob mit dir oder ohne dich ist mir echt scheißegal! Ich steck deine Alte augenblicklich in den Flieger und verrammle die Tür, damit sie nicht mehr rauskommt. Und du kannst bleiben, wo du bist. Drauf gesch...“

In diesem Moment musste wohl ein Kollege endlich den Ausknopf gefunden haben, denn es war abrupt still. Auch die Menschen rund um uns herum hatten schon zuvor aufgehört zu sprechen und – um nur ja kein Wort zu verpassen – ihre hektischen Schritte in ein lautloses Schleichen übergehen lassen.

„Ladys and Gentlemen“, erklang nun eine tiefe und ruhige Stimme, „wir entschuldigen uns für diesen Zwischenfall. Der Flug nach New York wird umgehend starten!“

Kurz waren noch tumultartige Geräusche zu hören, dann blieb das Mikro stumm.

Das kleine Mädchen

Das kleine Mädchen mit den seidenlangen braunen Haaren strich mit seinen pummeligen Händen über den Rock des sternengelben Prinzessinnenkleides. Die Krone aus goldenem Pappmaschee saß etwas schief auf dem glatten Haar. Auf jedes geduldige Zurechtrücken folgte wenige Minuten später ein erneutes Verrutschen des papiernen Schmuckstückes. Das Mädchen drehte ihren Zeigefinger in den dünnen regenzarten Tüll, der auf den seidenen Stoff genäht war und dem Kleidchen etwas Pompöses gab. Ihre großen braunen Rehaugen schienen in mich einzudringen, jedoch ohne mich zu bedrohen. Sie war mir vertraut, doch ich hatte sie noch nie zuvor gesehen. Sie saß auf dem Teppichboden meines Wohnzimmers, den knöchellangen Rock kreisförmig um sich ausgebreitet, und sah mich unverwandt an. Ich war erschrocken und verwundert über diesen unbekannten Besuch und brachte zunächst erst einmal nur ein erstauntes „Hallo“ heraus.

„Hallo“, antwortete das Mädchen ernst.

„Wie bist du denn hier hereingekommen?“, fragte ich weiter und ließ heimlich meinen Blick durch das Wohnzimmer streifen, um festzustellen, ob noch alles an seinem Platz war.

„Genauso wie du!“, sagte sie erstaunt.

„Mmh, du hast also auch einen Schlüssel für meine Wohnung?“

„Ja.“ Nachdenklich fügte sie dann noch hinzu: „Genau wie du eben.“

Das wollte mir einerseits nicht in den Kopf, andererseits wusste ich, es war die Wahrheit.

„Wie heißt du denn?“, wollte ich wissen.

„Wir haben doch beide den gleichen Namen, das habe ich dir doch schon erklärt!“, seufzte sie und schüttelte verständnislos den Kopf. „Du weißt aber auch gar nichts!“

„Offensichtlich“, dachte ich und kräuselte meine Lippen.

Was war nur passiert? Ein märchenhaftes Geschöpf saß bei mir im Wohnzimmer auf dem Teppich. Ich kannte es nicht, aber irgendwie doch. Es trug meinen Namen, was ich hätte wissen sollen, aber nicht wusste. Und ich glaubte fast, ihre Feenflügel flattern zu hören. Eigentlich war ich nur wie immer von der Arbeit nach Hause gekommen. Ich hatte weder Alkohol noch Tabletten oder andere Drogen genommen und war komplett nüchtern!

„Vielleicht kannst du mir helfen, mein Wissen etwas aufzufrischen?“

Während ich dies fragte, stellte ich fest, dass alles wie immer an seinem Platz stand und nichts fehlte.

„Du wolltest mit mir sprechen und hast mich gerufen.“

Die Kleine blieb ernst. Bisher hatte ich nicht das kleinste Lächeln entdecken können.

„Kannst du dich vielleicht daran erinnern, was ich von dir wollte?“

Ich legte meine Schultertasche auf das schaumfarbene Sofa und warf meinen Mantel über die Lehne.

„Ja, weiß ich.“

„Sagst du es mir auch?“

„Du wolltest herausfinden, wie es mir geht.“

Es wurde immer spannender.

„Warum wollte ich das herausfinden?“, fragte ich weiter, nachdem ich mich auf die vorderste Kante der Couch gesetzt hatte.

„Weil du etwas Gutes für mich tun wolltest.“

„Etwas Gutes also … mmh, du musst mir noch etwas weiterhelfen, ich komme nicht darauf.“

„Wenn du weißt, wie es mir geht, dann weißt du, wie es dir geht.“

Verwirrt sagte ich: „Wann habe ich denn darum gebeten?“

„Du tust es ständig. Ich bin auch immer gleich gekommen. Doch erst heute konntest du mich sehen.“

„Du warst schon öfter hier?“

„Ich war hier und in deinem Büro. Du hattest aber keine Zeit.“

„Und heute habe ich Zeit und deshalb kann ich dich sehen?“

„Ja. Und du fürchtest dich nicht mehr davor, mich anzuschauen und deine Fragen zu stellen.“

„Hatte ich vorher Angst?“

„Ja.“

Ich schwieg. Mein Gedächtnis konnte sich an nichts, aber auch gar nichts Derartiges erinnern. Wie konnte das geschehen? Ich war keine überlastete Angestellte, lebte glücklich mit Tochter und Ehemann und war im mittleren Alter. Bisher war ich völlig normal gewesen. Offensichtlich sollte sich das heute deutlich ändern. Doch wo blieben bloß meine lieben Familienmitglieder? Ein Blick auf den Wandkalender neben der Wohnzimmertür erinnerte mich an den Kinoabend, zu dem beide sich verabredet hatten. Dann musste ich mit meinem Irrsinn offensichtlich vorläufig alleine fertig werden.

„Ich kann dich also sehen, weil ich heute Zeit habe und keinen Schrecken mehr bekomme, wenn ich dich sehe?“

„Ja – und weil du gehört hast, dass es mich gibt.“

„War das für mich wichtig zu wissen?“

„Offenbar, denn ab dem Zeitpunkt wolltest du mit mir sprechen.“

„Gut.“ Ich dachte angestrengt nach.

„Nun, ich wollte also wissen, wie es dir geht – richtig?“

„Ja.“

„Also dann: Wie geht es dir, meine Kleine?“

Augenblicklich fing sie an zu weinen. Der schmächtige Körper bebte unter den Schluchzern. Es war eine Trauer, die tief aus dem Inneren des Kindes zu kommen schien. Erschrocken lief ich in die Küche, um Taschentücher zu holen. Ihre kleine Hand zitterte, als sie sich die Nase schnäuzte. Ich legte einen Arm um das kleine traurige Wesen, bis sie sich beruhigt hatte. Dann sah sie mich an und sagte mit belegter Stimme: „So geht es mir.“

„Ich hätte dich nicht fragen dürfen, wenn es dich so traurig macht“, antwortete ich leise.

„Doch, das ist richtig so.“

„Warum hast du so geweint?“

Sie rückte näher an mich heran und nahm meine Hand in die ihre.

„Weil ich wusste, dass du mich heute trösten würdest.“

„Tröstet dich sonst niemand?“

„Nein, sonst tröstet mich niemand. Ich bin immer allein.“

Das kam mir bekannt vor. In meiner Familie war auch nie jemand getröstet worden.

„Du bist ein kleines Kind und solltest immer getröstet werden, wenn du traurig bist.“

„Wirst du mich jetzt immer trösten?“

„Möchtest du das gerne?“

„Es wäre gut für uns beide.“

„Okay“, sagte ich langsam und verstand nichts.

Sie tat mir leid. Ein kleines Mädel ohne Trost und ganz allein.

Vorsichtig fragte ich weiter: „Magst du mir sagen, warum du so traurig bist?“

„Hast du das vergessen?“

Ich schaute sie erstaunt an. „Ich habe vergessen, was dich traurig macht?“

„Ich bin du und du bist ich. Nun kannst du die Frage beantworten, warum ich traurig bin!“

Ich war verwirrt. Natürlich wusste ich, was mich traurig machte. Aber sollte ich das einem kleinen Mädchen erzählen? Hatte es wirklich auch mit ihr etwas zu tun?

„Du kannst es mir erzählen“, forderte sie mich leise auf, als könnte sie meine Gedanken lesen.

„Es fällt mir schwer, einem kleinen Mädchen wie dir zu erzählen, was mich traurig macht. Eigentlich muss eine Erwachsene sich um dich kümmern und nicht umgekehrt.“

„Manchmal liegen die Dinge eben anders als sonst.“

„Offensichtlich“, antwortete ich nachdenklich. Irgendwie war ich aber merkwürdigerweise bereit, mich auf diese kleine Gestalt einzulassen. Irgendwas sagte mir, dass dies richtig und wichtig sei.

„Erzähl mir, was dich traurig macht“, forderte sie mich noch einmal auf.

„Ich bin traurig, weil meine Eltern mich immer allein gelassen haben, wenn ich sie brauchte. Sie waren einfach nie da, wenn ich familiären Rückhalt gebraucht hätte.“

Mein Herz wurde schwer bei dieser Erinnerung.

„Was haben deine Eltern getan?“, fragte sie behutsam.

„Sie haben gar nichts getan. Als ich schwanger wurde, hat meine Mutter den Kontakt zu mir abgebrochen. Als ich mich von meinem Mann trennte, blieben sie stumm und unerreichbar.“

„Warum hat deine Mutter das getan?“

„Ich weiß es nicht. Meine Tochter würde ich niemals alleine lassen.“