EUROPA - Carl Sternheim - E-Book

EUROPA E-Book

Carl Sternheim

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Beschreibung

In 'EUROPA' von Carl Sternheim wird die Reise eines jungen Mannes über den gesamten europäischen Kontinent hinweg detailliert beschrieben, während er sich mit den politischen Verwerfungen der Zeit auseinandersetzt. Der Roman zeichnet sich durch einen einzigartigen literarischen Stil aus, der Realismus und Satire geschickt miteinander verwebt. Sternheim gelingt es, die sozialen und politischen Probleme seiner Zeit in eine fesselnde Erzählung zu integrieren, die bis heute relevant ist. Durch die subtile Kritik an gesellschaftlichen Normen und moralischen Werten hebt sich 'EUROPA' von anderen Werken seiner Zeit ab. Carl Sternheim, ein deutscher Schriftsteller des frühen 20. Jahrhunderts, war bekannt für sein kritisches Engagement und sein feines Gespür für gesellschaftliche Strömungen. Durch seine eigenen Reisen und Erfahrungen konnte er ein tiefgründiges Verständnis für die europäische Kultur und Politik entwickeln, was in 'EUROPA' deutlich zum Ausdruck kommt. Dieses Buch ist ein Muss für Leser, die sich für literarische Werke mit politischem Hintergrund interessieren und die die Herausforderungen der Vergangenheit reflektieren möchten. Sternheims Werk bietet sowohl Unterhaltung als auch eine intellektuelle Auseinandersetzung mit den komplexen Themen seiner Zeit.

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Carl Sternheim

EUROPA

Ein Roman aus der Feder des kritischen Chronist des frühen 20. Jahrhunderts
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Inhaltsverzeichnis

Erstes Buch. Deutschland
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Zweites Buch. Frankreich
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Drittes Buch. Europa
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Viertes Buch. Die Welt
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel

Erstes Buch. Deutschland

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Europa Fuld war des bekannten Amsterdamer Kunsthändlers Tochter. Als sie nach dem Krieg von 1870, dem Welt aus zwei Lagern zugesehen hatte, geboren wurde, gab ihr der Vater in pazifistischer Wallung den weitausholenden Namen. Ihn mochte der Sinn geführt haben: Ein Weib – und mit dem Namen – steht über Parteien, und so soll ihr das All gehören dürfen.

Das Haus, an einer der Grachten, die bei Nebeln und Wärme die Stadt mit Dünsten füllen, enthielt im Erdgeschoß Schauzimmer mit antikem Gerät. Zeug aus vielen Zeiten. Metallkram, Porzellan, Tapisserien, Bilder und Schnitzwerk. Griechen, Christengötter und Buddhas.

Vom ersten Tag an füllten des Kindes Augen sich mit dem Besonderen, das gewesene Welten geschaffen hatten. Bevor sie eines Dinges Heimat, Alter, Stil und den allenfalsigen Schöpfer schätzen konnte, schuf seine Auserlesenheit in ihr krasses Urteil, das zufällige Welt draußen nur in Unerbittlichkeit bestärkte. Zum Ungefähr der Erscheinungen trug sie Vorbilder in der Netzhaut und schritt auf besseren Wissens Kothurn über Wirklichkeiten. Immer änderten Blicke eine Linie, schlossen Schnörkel, kappten überflüssiges Dekor und waren vor keiner Erscheinung unentschlossen.

Da ihre Welt vom Künstler gewirkt war, hatte Gott schweren Stand. Beim Blick in Landschaft vermißte sie bildnerische Vollendung, die sie bei Ruisdael feststellte. War linkerhand Kulisse geglückt, lief des Bilds Eindruck nach rechts auseinander, und es fehlte die im Gemälde auftrumpfende Vernunft seines Schöpfers. Oder es stand die in den Ausschnitt tretende Figur eines Manns, weidendes Vieh im Mißverhältnis zu einer Vertikalen, verstieß Farbiges gegen koloristische Sehnsucht. Von vielen Situationen trug sie Vorstellung so tief im Bewußtsein, daß zufällige Erscheinung davon ihr widersprechen mußte. Eine Frau im Wasser war wie von Hobbema, Corot – oder nicht. Äsendes Reh von Courbet oder falsch.

Von altem China und Beauvaisteppichen hing irisierende Patina ihr im Blick, und pralles Sonnenlicht auf einer Sache schien linkisch.

Als von Schätzen im Magazin sie immer mehr begriff, wurde sie empfindlich. Nach Eindruck von Farbe und Schwung hatte sie den der Materie, unterschied im Gefühl Echtes und Falsches. Ein Email von Limoges mußte sie nicht mehr prüfend beschauen, nur in Händen wiegen und entscheiden.

Als ihre Begnadung dem Vater feststand, nahm er die Zwölfjährige auf Entdeckungsfahrten mit, bei denen er Ware fand. War er vor einer Sache des wirklichen Werts nicht sicher, entschied in der Tochter Blick Aufleuchten oder Erblassen seinen Entschluß. Aber auch bei der Wahl vor Stücken gleicher Gattung flog Eura, wie die Familie sie nannte, auf Nuance. Das Exemplar, das Spezifisches am besten zeigte, bestach sie. Nicht Urteil oder Wille wirkte aus ihr – dem Ding selbst erlag sie wie einer Ohnmacht. Bebte, wo Ursprüngliches war, in jeder Nerve.

Wie leicht war es, so begabt, sich zurechtzufinden. Gotik war nicht Renaissance, Meißen kein Frankenthal und erst recht nicht Berlin. Vermeer nicht de Koninck. Saß sie in einem petits points-Stuhl oder auf einem Aubusson-Sessel, bewegte sie historisch Verschiedenes.

Sie bildete sich, da die Eltern Verkehr kaum litten, auch Menschen als Paradigmen ein: den Schurken, den Heiligen, die Verworfene und die blonde Keusche. Auf einem Thron saß standartenbeweht über allen der Held. Theater bestätigte ihre Auffassung. Romeo war Gipfel. Und vor allem andern stand bewiesen: Menschenschicksal entrollt nach Stil und Gesetz.

Es war klar, nach Momenten der Spannung mußte aus jedem Menschen das mit einer Aufschrift zu Bezeichnende werden.

Was sollte aus ihr werden? So fragten Vater und Mutter, das fragte sie schließlich selbst. Und besah Verwandtschaft und Kunden daraufhin, was jeder geworden war. Aufschluß gab der Titel, den einer führte. Der hieß Rektor, der Präsident. Der Kaufmann oder Makler. Frauen traten in Flanell, Kattun oder Seide auf. Und die Kategorien sprachen auf verschiedene Weise Gleiches. Wie bei Waren war auch bei Menschen erst Stil das Unterscheidende. Alles Wesentliche lag fest, speziell war nur äußere Prägung. Man formte Außen so, daß als zu bestimmter Gruppe gehörig man geschätzt wurde, trug wie Gold, Silber, Porzellan seine Punze, die mit bloßem Auge, mindestens mit der Lupe entziffert wurde. Und suchte, war man vor Verwechslung seiner Klasse sicher, sich in ihr noch auszuzeichnen.

Einen Smaragd besaß der Vater, schwarz fast in tiefem Grün. Nicht großes Karat war's, das ihn selten machte, doch irgendwie ein Reflex, der berauschte. Auch unter Größeren mußte als besonderer Stein er sich behaupten.

Eura mit fünfzehn Jahren war schön wie Bastarde von rassenungleichen Erzeugern oft sind. Blendend war von arischer Mutter der jüdische Vater gekreuzt. Doch unter schönen Altersgenossinnen, hochgewachsenen Holländerinnen mit prachtvollen Farben der Haut, Augen und Himbeerflecken auf Backen, unter Friesinnen mit Griechenbeinen hob Schönheit sie nur aus großem Haufen noch nicht so, daß aus ihr ihr Wesen entschieden, sie Eura an sich war; die sie aber wie ihre bevorzugten Kleinode unbedingt werden wollte.

Jahre gingen, in denen sie das Objekt »Mädchen« mit Hingabe wie eine chose de valeur besah und aus ihm Erkenntnisse hatte. Das oft und selten Schöne erfuhr sie an ihm, unterschied gängige Ware à la Rubens und Greuze und merkte Apartes. Und wie beim Smaragd und vlamischen Primitiven hatte sie Erschütterungen vor dem Phänomen einer braunäugigen Amsterdamerin. Von der stand durch Tuch ein Brüstepaar dem Kenner zu sehen, für das als ein Einziges er von Stund an begeistert war.

Eines Abends – sie hatte ihr Haar gewaschen über den Rücken gebreitet und war, es im Sommerabend zu trocknen, auf den Balkon getreten. Drüben auf der anderen Straßenseite ging ein Mann. Da – wie Blitz griff es sie aus züngelndem Blick, Liebkosung strich ihre Mähne hinab. Hände schlägt sie auf die Brust und flieht in Flammen des Bluts in die Stube.

Aber als sie mit Fassung wieder vorm Spiegel stand, fiel aus ihrer roten Haarflut mit Ruck Entscheidung: Wie Kohinor und Großmogul sei sie für alle Zeit weiblicher Geltung Solitär, aus dem Schopf rotgoldener Flechten höchste Nuance, irgend ein Artgipfel, nach dem ein über die Welt versprengter Klüngel von Männern wallfahren, und vor dem er sich immer erniedrigen werde.

In Sekunden war sie komplett geworden.

Das Nächste, was sie nach der Offenbarung tat, war, sie nicht zu affichieren, sondern ängstlich zu bergen. Denn sie wußte, Auserwähltes prunkt nicht mit aufgemaltem Preis, sondern man läßt es den Liebhaber finden und spricht vom Kostenpunkt, der als groß vorausgesetzt wird, in letzter Minute. Für den Alltag draußen und auf der Straße trug sie ihre Krone in Hut und Netzen versteckt, und weder Mutter noch Magd sahen zu, löste sie morgens und abends Flechten. Sie verhängte Schlüssellöcher, ehe sie aus Zöpfen Nadeln zog und den Kamm vom Scheitel bis in Kniekehlen schleifte. Aber ihres unvergleichlichen Schatzes Gewißheit gab ihr in allen Augenblicken der Jugend Sicherheit der Kreatur, die bei bescheidenem Auftreten des unter allen Umständen unwiderstehlichen Bankdepots in goldgeränderten Werten sicher ist.

Von diesem Fond abgesehen, lebte sie wie Bürgermädchen bedeutungslos. Ertrug der Eltern und Lehrer Schelten, Beiseitestehen besser als Altersgenossinnen im Bewußtsein, es hinge nur von ihr ab, wann sie den eigenen Laden öffne. Zudem erschien ihr Leben, das man machte, behaglich und mit der Sicherheit, einmal an ihm großes Teil zu haben, wartete sie ab.

Aus ihrer Methoden Gründlichkeit war es natürlich, sie versuchte, sich inzwischen über Inhalte, die von einer europäischen Menschheit zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts mit Wichtigkeit in abgestuften Graden gelebt wurden, zu vergewissern, merkte aber gleich, alle Welt war der Dinge selbst zu unbedingt sicher, als daß Prüfung gelohnt hätte. Zum Überfluß bewiesen geistige Heroen allemal Gleiches. Seelisches und Spirituelles war mit Begriffen streng geformelt. Wer vorzog, statt einfach mit seiner Repräsentanz zu glänzen, sich mit der Sache selbst zu beschäftigen, kommentierte sie wie Juden die Thora. Komplex selbst lag wie Fels verankert, war nicht minder stabil als Firmament und Sterne.

Mutterliebe war so. Gattenliebe so. Keusch in Röcken Jungfrau. Keß der Knabe. Rembrandt Meister; Napoleon Er. Onkel und Tanten verehrenswert. Wenn Eura etwas fehlte, war es ein Kalender strikter Wahrheiten, von dem man die gerade geltende ablesen konnte. Aber das jedesmal Gehörige fand sich auch so, weil es aus Blicken, Gesten und Worten vorgesagt wurde. Stand man vor Nichterfahrenem unsicher sah man von Augen und Lippen Plausibles ab.

Welt lief in Treibriemen als Maschine. Von überall her schon aus gedrillten Kindern und ihren klischierten Spielen troff Öl in repetierende Gelenke, und Wonne wars, der Räder gleichmäßigen Schwung zu sehen.

Sie assimilierte sich molliger Weltenwärme, entsprach jeder Lüftung, Anheizen und zartem Hauch, der von offener Tür herzog. Sie schwamm auf hübsch beglänztem Strom und schimmerte bisweilen. Heiterer Himmel, Sonnenblau und Sterngeflamm war reichlich über ihr. Regen und Gewitter blieben hübsch im Bild.

Ihre erste Liebe war purer Traum. Märchentugenden entsprach der Jüngling. War blaß, Glas und svelt. Flammte bengalisch und erlosch, gehörte es sich. Sie aber, wie sie geahnt hatte, durfte locken, schmollen und hinterher als Ewigweibliches hinanziehen. Der erste keusche Kuß kam aufs Repertoir und blieb, hundertmal in dunklen Ecken gespielt, erfolgreich.

Mit siebzehn Jahren kam sie zu Verwandten nach Berlin und glaubte, holländische Sprache hätte sie nur zu übersetzen, bekannter Weise fortzuleben. Wirklich änderte sich erst wenig. Fast Gleiches geschah.

Nämlich wieder kamen Männer und folgten dem auf Bildern und im Gedicht festgelegten Ritus. Es gab kein Neues, weil klotziges Klischee im Unterbewußtsein vom Liebenden und der Geliebten Kontrolle übte, ob im Sinn der Erfüllung eines Vorgeschriebenen der Akt perfekt war, und man, bei erstklassiger Erziehung, auch an die Norm herankam. Der Glücksgrad hing davon ab, ein wie hoher Stil auch in der Liebe getroffen war; Eura entging nicht, wie Emma, die in der Pension der Tante das vorzüglichste Dienstmädchen war, ertappte sie sie mitten in Liebkosungen mit dem Schatz, just auf der Stufe der für Bedienende aus aller Erfahrung ermittelten Durchschnittsdichte einer Liebeshandlung und ihrer volkstümlichen Aufmachung stehen blieb und sich strikt nach Beispiel auslebte. Emma war natürlich die einzige, an der sie außer an sich selbst Übereinstimmungen zwischen wirklicher und geistiger Welt prüfen konnte. Doch da sie ohne Argwohn war, genügte ihr das zur Wiederbefestigung ihres durch die Übersiedelung für einen Augenblick erschütterten seelischen Gleichgewichts.

Nach allen Richtungen genoß sie in fremder Hauptstadt das Glück, noch reibungsloser als zu Haus zu leben, da für jeden möglichen Vorgang sogar im Sexuellen hier schon Geländer da war, an dem man sicher Treppen stieg, um auf einer Plattform über Menschen anzukommen, von der man amüsante Panoramen sah.

Das ganze erste Jahr Berliner Aufenthalts konnte sie mit gewöhnlichen Mitteln guter Erziehung und sehr hübschem Äußeren angenehmste Begleitumstände eines an sich freundlichen Daseins erzielen und mußte auf den persönlichen Rückhalt ihrer phantastisch roten Mähne keinmal zurückgreifen.

Als sie nämlich in einen Leutnant der Gardekavallerie sich bis zum Wahnsinn verliebte, und er Leidenschaft nicht im gehofften Maß zu erwidern schien, blieb es genug, sie spielte auf ihres Vaters Mittel an, den Zögernden zur Raserei hinzureißen, die sie schließlich abstieß. Aber auch, als ein junger Dichter, den Professor Walzel aus Dresden schon als deutschen Parnasses zukünftigen Gipfel gebrandmarkt hatte, sie nicht deutlich genug als seiner Metaphern Anlaß nannte, mußte sie nur entschieden die Rolle der Muse an sich reißen, daß zu gemeinsamem Grabhügel im Grunewald nach Doppelselbstmord er bereit war; der ihr nicht konvenierte.

Schon erwies sich bei zahlreichen Flirts ein Teil Erziehung überflüssig. Kaum wurde sie aufgefordert, mit mehr als kuranter Münze Kurantes auszusagen. Mit Gemeinplätzen kam sie aus. Wirkliche Kenntnis der Dinge, die sie in des Vaters Laden täglich geübt hatte, war Ballast in Berlin. Und sie begann, zu vergessen.

Mußte bei außergewöhnlicher Bekanntschaft man Besonderes kennen, gab es Wissen davon im Buchladen für wenig Mark, oft für Pfennige zu kaufen. Ein paar Tage später stand es billiger in der Zeitung. Eura gab acht, für geistigen Einkauf nicht mehr als nottat, zu zahlen; wie sie nach des Vaters Beispiel bei jeder Ware gewöhnt war.

Deutschland war ein täglich besser gehendes Geschäft, das in Kohle, Eisen und Kali riesigen natürlichen Markt hatte. Dazu aber auch für billige Fertigfabrikate konkurrenzlos war. Die ganze Nation sah sie fieberhaft am Umsatz als Hersteller, Makler, Verkäufer oder bloßen Verbraucher beteiligt. Behörden dienten der Geschäftsaufsicht, Gesetze reibungsloser Abwicklung. Des geistigen Anreißens Abteilung wurde geschickt durch die schreibende Intelligenz verwaltet, der man die in Archiven des älteren Deutschlands vorgefundene Romantik ausgeliefert hatte, mit der sie ein gieriges Freibeutertum als mit zwar fadenscheinigen doch bunten Lappen behängte. Jeden Deutschen, Kaufmann, Gelehrten, Dichter und Soldat, sah sie als Handlungsreisenden eines Welthauses, dessen Wechsel und Tratten bis Honolulu liefen, und an dessen Spitze eine schneidig aufgerissene Affiche mit gewichstem Schnurrbart stand. Das Entwicklungstempo war rasend. Der Maschinen Zähne griffen nicht tief, kämmten überall nur Oberflächen ab. Nirgends war mehr Vorsatz; nur Umsatz. Abends krachten Kassen. Maßgeschäft wurde in Massengeschäften peinlich, und alle geistigen Methoden priesen das Prinzip. Auf Darwin stützten Häckel und Bölsche die Lehre von der Arten Gesetzmäßigkeit und den Triumph der Unscheinbarkeit. Des Besonderen Anpassung und Verschwinden ins Gemeine, Überwindung von Mannigfaltigkeit. Anbetung des ziffernmäßigen Rekords hub an. Viel wurde groß. Statistikentaumel.

Paraden protziger Mietskasernen rauschten aus dem Boden, in deren Gips und Rabitspracht Schnellreichwerdende maschinengeschnittene Louis XVI.-Möbel stellten.

Bald schien Eura größeren Gegensatz zu den in der Heimat geübten Bräuchen nicht ausdenken zu können, mußte sich aber schließlich bedeuten, im Kern war ein Holländer dem Deutschen wesensähnlich. Auch er hatte, ein Einziger mit geistigem Eigentum zu sein, keinen Ehrgeiz. Auch er kam, vielleicht ein wenig anders, doch auch in Gruppen, langsamer, doch beharrlich an.

Übrigens war Eura Kind, und frisch für sie noch die Bewußtseinsinhalte. Je schneller man einen fraß und verdaute, um so flinker konnte man neue schlingen. Was Sensationen an Substanz fehlte, ersetzte man ihnen durch Masse.

Sie schnitt endlich, weil zu Tennis und Golf sie rasch und fesch sein mußte, zur Silhouette des Rocks bis zum Knie und bubenhafter Knappheit irgendwelche Fülle nicht paßte, ihr goldenes Vließ vom Kopf und ging mit kurzem Schopf zu Spiel und Sport

Auch Sport war: Jünglinge und Mädchen kamen auf Rasenplätze und spreizten sich in Freiluft. Aber es schien nicht Ziel, durch Turnen Glieder zu stählen und zu eigener Natur Erleben zu kommen. Sondern wieder tupfte man rhythmisch und mit Farbe Landschaft und verlor bei keinem Schwung und Schlag die Zusicht, wie man dem Spiel stand. Bein und Wade flog nicht einfach fort, sondern man behielt des flatternden Rocks, weißen Hosenstreifs Gleichnis im Auge und blitzte, war Erscheinung vollkommen, den Partner an. Auch hier war Welt Theater, und man trat in landschaftlicher Kulisse nur möglichst vorteilhaft und durchaus innerhalb der Rolle mit dem einzigen Ehrgeiz auf, im festgelegten Plan und notwendigem Szenarium oft zum Sprechen zu kommen und sein Stichwort nicht zu überhören. Ausgeschlossen blieb es, sich im Rahmen der Übereinkunft anders, als es im Stück hieß, zu äußern.

Nicht durch Nuance, durch Einstellung auf Gang und Gäbes glänzte man. Eura errang Meisterschaft; spielte wie elektrisches Klavier stürmisch und fesch, an einen Motor angeschlossen, der irgendwo in einer Zentrale stand. Und ging die Sache vierhändig, entsprach des Begleiters Walze mit Takt der ihren.

Bis zum Jahr achtzehnhundertundneunzig fand sie überhaupt keine Hemmung und liebte Berlin, wo keiner fragte, was der andere war und wurde. Denn jeder wurde etwas, und es schien unmöglich, in diesem Volk von Ankömmlingen nicht jeden Tag sein Huhn im Topf zu haben. Sprüche Gelehrter und Künstler begleiteten alles Gelingen mit naturwissenschaftlichem Beweis und prophetischer Zuversicht. In Lehrbüchern war Natur Grammola, Gramophon, Phonograph und Phonola. Oder Cinema. Sie wuchs auf Kommando. Und so wenig wie sie würde menschliche, kannte man des Betriebs Mechanik, aus dem Gewinde springen.

Eura begriff, in der holländischen Heimat hielt man, ohne anderes als die Deutschen zu wollen, aus Mangel an Klarheit über den zeitgenössischen Haupttrieb an Vorurteilen fest. Man war nicht schnell genug. Stand einmal fest, man vermochte für sich nicht Besonderes viel, vielleicht alles mit allen und dem Ganzen, mußte man nicht schwärmend verweilen und bei Dingen Ideen haben, sondern jeden Augenblick zum Aufbruch, Angriff, Sturmlauf über Welt bereit sein.

Hier lag der Kern: sich enthemmen! Rutschbahn war Leben durch die Tatsache, die Bahn war unübersehbar, und man mußte in kurzem Dasein ankommen. Wer aber mit dem Grundsatz, irgend etwas in des Alls oder der eigenen Mechanik klappe ohne besondere Hilfe nicht, ans Entknüpfen ging, dem war der Mitgaloppierenden Gangart zu schnell; er blieb zurück und wurde überritten.

Und folgerichtig entrollten in dieser Zeitwende die im menschlichen Busen durch Jahrhunderte verhedderten Knoten und Bedenken. Massenhaft traten Ärzte auf, die in sich verhärteten Ichs aus Schlingen von Kindesbein an zogen und den aus sich Entwirrten in den allgemeinen Strudel entbremsten. Da lockerten in Physik und Chemie sich uralte Vorbehalte, Dampf und Elektrizität fuhr in Motore und Akkumulatoren; Gegengifte sprengten Gifte aus verstopften Venen und Arterien.

Ihrer deutschen Aussprache gab Eura letzten Schliff; denn sie wollte dieses entschlossenen Volks Weggenossin sein und errötete, hielt man sie in seltenen Fällen noch für die Fremdlingin. Sie wußte, besser als der Eingeborene sah aus natürlichem Abstand sie der deutschen Rasse radikalen Willen in der Zeit ein.

Während Deutschland wie deutscher Champagner brauste, hatte vom Tumult und ratterndem Auftrieb, der aus dem Herzen Europas anhub, sie lauteste Sensation. Stand sie am Potsdamer Platz, und von überallher schob, donnerte, kurbelte es mit Fanfaren, warf sie sich in dichtesten Haufen und ließ sich irgendwohin zu einem Ziel tragen.

Wertheims Warenhaus war ihre Wallfahrtskirche. Da lag Deutschlands Mark gehäuft. Da zu ihres Vaters Laden war Antithese geglückt. Keine Reliquien von ehemals, nichts rührend Ausgestopftes aus aller Welt, doch aus eigenen Provinzen tausendfach heutige Tatkraft und Schweiß. Und nichts saumselig Barockes, geklügelt Erdichtetes, für einzelne Anspruchsvolle Zurechtgebasteltes, sondern in allen Größen zu jedem Preis war das für jeden Zufall Notwendige fertig zu sehen; alles was von des Menschen Aufstehen bis zum Schlafengehen dem banalsten seiner Zufälle hilfreich, gefällig und zuvorkommend war. In Zahnbürsten, Pasten, Salben, Toilettewässern und Papieren bis in die verschmitztesten Varietäten, in Kleidungszubehör, Eßwaren, geistigen Bedürfnissen, Büchern, Noten und Theaterbilletts stürzte, aus Maschinen gestanzt, der deutsche Mitmensch ihm Ware in Lawinen in täglich riesigen, stets verfeinerten Massen so billig zu Füßen, daß der Verbraucher kaum Angebrauchtes als nicht der Mühe lohnend fortzuwerfen und, wollte vom Strom des stündlich Neuverfertigten er nicht überschwemmt sein, riesige Ansprüche zu haben rastlos verpflichtet wurde.

Welch Selbstgefühl mußte in des Volks simpelsten Bürger sich ballen, sah er, wie man seine Laune mit Gebrüll unterstrich, Trotz, Eigensinn, jedes Ressentiment mit neuem Tosen der Industrie bediente. Eura, die sich auf Unersättlichkeit ihrer Bedürfnisse einbildete, wurde bei jedem Ausflug zu Wertheim vielfach kräftiger überrascht und aus ungeahnten Kaufmöglichkeiten über sich selbst hinaus geschmettert.

Schwedische Handschuh wollte sie haben, die anderswo sieben Mark kosten sollten, die sie gestern aber hier mit drei Mark fünfzig ausgezeichnet gefunden hatte. Zum Stand zu kommen, durchschritt sie den Blumenhof, der, mit Parterren Tulpen und Hyazinten zwischen Glaswänden, bunte Sehnsucht in ihrer Brust aufpflügte und stieß, kaum aus der Tür, auf einen Tisch mit Kissen blitzender Hutnadeln jeder Form. Keine aber kostete mehr als neunundneunzig Pfennig. Duftende Betäubung erschlug sie, und ohne Sinn kaufte sie.

Oder sie wollte ein Buch, ein bedeutungsloses, das in der Elektrischen spannen, doch für keinen äußeren Anreiz taubmachen sollte. In der Auslage aber überforderten ihren Anspruch fremde und deutsche Klassiker, Heroen der Epochen mit Meisterwerken für wenig Groschen. So sehr verwirrte sie aus Kindheit mitgebrachter Respekt, daß sie für ursprünglich gewollte Ullsteinbücher, Molière und Voltaire so gut wie Tolstoi, Kierkegard und Ulrich von Hutten in ihren Besitz brachte und zwischen zwei Haltestellen und, wohin sie sonst tagsüber flüchtig sich setzte, dichterische Synthese verschlang. Manchmal blieb ein Wort aus ihnen in ihr, das sie in Reden würzte. Im allgemeinen haftete nur die Fabel, die nicht immer spannend wie bei Hanns Heinz Ewers war.

Berlin wuchs nicht nur in Adern und Gelenken, setzte auch stürmisch Muskeln an. Der an die Spree gestreckte, ursprünglich magere Leib der Stadt barst nach allen Seiten von Fett und Saft. Bewohner bescheidener Stuben ergossen sich jäh in Zimmerfluchten und breiteten über zu großen Raum sich aus, der sie mit allem denkbaren Komfort nötigte. Manchen, bisher unbekannten Platz zu nützen, gewöhnten sie sich Bedürfnisse an. Vor der Haustür warteten so viel Verkehrsmittel, sie zu befördern, daß sie sich augenblicklich entfernteste Ziele einbildeten.

Erweiterten sich so überall Grenzen, und rissen innere Widerstände alle Augenblicke von selbst, ging man auch beharrlich daran, Scheidewände von Wesen zu Wesen zu durchbrechen. In allen Disziplinen mußten anerkannte Begriffe Leben lassen und sich in Elemente auflösen, die stets noch bezweifelt wurden. Rücksichtslos stieß man auf das aller Schöpfung schließlich Gemeinsame durch, das Welt zu einem an sich unterschiedslosem Urstoff in mannigfachen Bewegungs- und Verharrungszuständen brutal vereinfachen sollte.

Als eine Vision Eura bis auf den Grund dieses Triebs, der von Deutschen am dringlichsten durchgesetzt wurde, hatte sehen lassen, gewann sie aus ihm vor Menge neue Besonderheit, als sie sich entschloß, wissend das Prinzip für sich auszubeuten und bis zu höchster Steigerung zu führen. Nicht paukendem Chaos, keinem Zentrifugalstrudel überließ sie sich mehr blind, sondern schmeckte jeden Hinschwung und übertraf sich in ihm, war es möglich, selbst. In Katarakten elementarer Kräfte blieb sie jetzt ihres Boots geschickte Ruderin, und jeder Vorteil, den sie über Mitmenschen errang, hatte den Sinn einer Niederlage des anderen und für sie der Schadenfreude köstlichen Beigeschmack.

Zum jähen Vorwärtsdrang auf ein Schließliches erhielt jede Bewegung gleichzeitigen Ausschlag nach rechts oder links gegen den mit in ihr Befindlichen, der Wollust war. Ganz wie in erster Jugend zeichnete sie sich in Ereignissen aus, doch nicht vag und aus Witterung, sondern bewußt mit der Sicherheit des ziffernmäßig zu buchenden Gewinns. Sie hatte gewissermaßen den Nenner »Eins«, der in allem Irdischen und Himmlischen zu stecken schien, gefunden, den sie bei jedem Anlaß für sich vervielfachte. Sah zu, daß sie aus jedem Effekt, und war es der schmachtendste Kuß, an Kalorien Lebenskraft möglichst viel Einheiten für sich gewann und aus kleinen Ereignissen für das Große: zu leben! gestärkt hervorging. Trat sie mit irgendwem in die Arena, im Rennen der Menschheit neuerlichen Anschluß an das All-Eine zu finden, nahm sie, erst zuhörend, dessen Kraft als Vorspann, um zum Schluß über den Ermüdeten fortzuspringen und aus Endlichem wieder besser ans Unendliche angeschlossen zu sein.

Alles Sein gedieh ihr aus diesem zahlenmäßigen Sinn, und nie verlor sie der Bilanz und Abrechnung Begriff. Einer Sache Wert setzte sich aus ihrer Begehrtheit und dem Profit aus ihr zusammen. Beide Posten bewiesen ihre Bedeutung für den Lebensprozeß.

Hatte sie früher aber betonter Hinweis auf ein Wertstück falsch gedrückt, lernte sie jetzt, einen bedeutenden Erfolgsteil machte Reklame für es aus, in der sie eine zu seinen Gunsten konkurrierenden Artikeln entzogene Kraft erkannte, die sie als Mittel der Stimmungsmache auch für ihre Person forderte.

Sie prüfte den neuen Geschäftskniff und sah, sein Wesentliches war einer behaupteten praktischen Eigenschaft schallende Heraustreibung durch ein Schlagwort, eine farbige oder lautliche Vision, die man der Einbildung, nicht dem Urteil schuf. Nichts von dem, was man anpries, mußte man beweisen, sondern nur mit Entschiedenheit oft wiederholen. Nicht überzeugen, überreden mußte man, als solle der Mensch dem in großer Natur für ihn vorgemachtem Beispiel mechanisch, unpersönlicher Anpassung auch seinen Lebenskleinkram nachmachen.

Wie es innerhalb der Schöpfung nicht mehr zu fragen galt, ist ein Modell, dem Allgemeinheit begeistert sich andrückt, auch für mich Einzelnen gemacht sondern nur, wie werde ich ihm am besten gemäß, mußte auch Reklame von einer Sache nur gehabte Wirkung auf Massen betonen. Auch in ihr war der mit Millionen multiplizierte Einser entscheidend.

Eura begann, sich zu affichieren. Doch auf was sie zuletzt als Propaganda gekommen wäre, war ihr Haar, von dem feststand, es machte sie innerhalb eines Volksideals, das blond hieß und auf Dralles Birkenwasser gepriesen wurde, fast aussätzig. Während die es sorgsam verbarg, pries sie sich deutschem Publikum unter der Marke: »vorurteilslos« an. Was Abscheu vor Insichgekehrtheit und leidenschaftlich enthemmtes Gestelltsein in den Zug der Massen und der Zeit bedeutete.

Zweites Kapitel

Inhaltsverzeichnis

So sieht man sie in Aufführungen zeitgenössischer Dichter und hört sie in Zwischenakten sich kritisch vernehmen. Was alle Welt zu Ibsen sagte, unterstrich sie mit geöltem Wort. Endlich verlange mit dem Mann Weib gleichen Anteil an Lebensproblemen. Aus diesem Dichter sei wieder Lockerung von Widerständen, Eingehen auf die Moderne zu hoffen. Gleiten in den allgemeinen Wasserfall, bei dem es auf Bewegung selbst, nicht auf Weg und Ziele ankomme. Überhaupt habe der Mann von jeher mehr auf Richtung, Frau auf unbeirrtes Schreiten gesehen, bei dem Instinkt sie hinreichend führe. Alle vom männlichen Willen errichteten Schleusen logischer, sittlicher und ästhetischer Wehr seien Attentate auf wirkliche Lebensdichte, und Noras und Hedda Gablers Schreck vor des Manns Bedenklichkeit fühle sie hingerissen mit, nur, daß, was Nora wollte, ihr nichts Wunderbares, sondern Natürlichstes auf der Welt sei. Die war mit ihrem Geschlecht besser in Lebens Handlung gestellt als der mit Zwangsvorstellungen geplagte und dressierte Gatte, und ihr Recht des Impulses sei das endlich von Zeitgenossen begriffene Höhere, auch für Kultur und Politik. Die Forderung Gerhart Hauptmannscher Menschen, sich für ihre aufdringlichen Naturalismen zu interessieren, leuchte ihr als Symbol für die tiefere Wahrheit ein, jedermann wolle nur mit seiner Gänze an der durch Naturwissenschaften bewiesenen allgemein artmäßigen Gleichheit unbedingt teilhaben.

Solcher Forderung Anerkennung beanspruchte eine Nation, die lange genug im Kulturleben der Völker gestanden hatte, zu wissen, was sie, mit europäischen Nachbarn Schritt zu halten, von sich verlangen müsse. Und wiederum war es jungen Mädchens Sache nicht, zu prüfen, ob dieser Anspruch an sich selbst genügte. Sondern Eura, die diese Mentalität nur besonders kraß vor sich hingestellt hatte, gab sich ihr auch besonders inbrünstig hin, weil sie spürte, wo von überallher, seitens der Politik, der Künste und Wissenschaften nichts so sehr als der bloßen Tatsache, naturwissenschaftlicher Mensch zu sein, Glanz, Ruhm und brausende Verherrlichung bezeugt wurde, die Absicht, sich der Vergötterung, die die Masse offiziell genoß, etwa durch menschliche Besonderheiten zu entziehen, an dem Tag schweren wirtschaftlichen Schaden in sich schließen müsse, an dem die durch öffentliche Geistigkeit vergötterte Menge ihre praktische Rechnung präsentierte. An deren Begleichung man, als nicht Zugehörige, dann nicht mehr teilnehmen dürfe.

Diese gründlich erfaßte Wahrheit schützte Eura vor Verlockung, den eingeschlagenen Weg zu verlassen. Die übrigens nicht häufig und nur einmal kraß war, als sie Carl Wundt traf, der trotz der Lächerlichkeit maßlos aufgetragenen Schismas zu aller Welt eine Lebenskraft für sich geltend machte, die sie packte und wie mit Düften der Dschungel berauschte.

Sie trafen sich in einer Premiere Wedekinds, und als mit ihr der Saal sich an den vom Dichter tragisch gemeinten Stellen in Lachsalven bog, und des freisinnigen Weltblatts Rezensent geistvoll ironische Anmerkungen zu des Dichters unheilbarer, von ihm oft festgestellter Verblödung machte, trat in des Nachbars fremdländisch geschlitzten Blick solcher Haß zur Umgebung, daß sie wie von einem Hieb getroffen war. Bei des Zuschauerraums Wiederverdunklung haranguierte sie des Mannes Fuß im Drang, die in ihm aufgeschleußte Kraft möchte sich in ihre Nerven entladen und ruhte nicht, bis männliches Fleisch für sie Partei nahm.

Mit ersten an sie gerichteten Worten bestätigte er ihren Sieg, als er sagte, mit Atmosphäre aus ihr habe sie vom Augenblick des Nebenihmsitzens seinen Menschenhaß schlapp und ihn elend gemacht. Denn grauenhaftes Dasein trage er nur durch die Sprengkraft tödlicher Abneigung gegen Allzumenschliches um ihn.

Aus dieser Anrede stellte sie den Feind fest, den sie keinen Augenblick ernst nahm, da er, ohne Zusammenhang mit einem ziffernmäßig mächtigen Zeitgeist, ihr nichts Wirkliches, aber aparte Verirrung schien, aus deren Kenntnis wie von Gewürzen man Genüsse ziehen könnte.

Auf Spaziergängen ließ sie ihn das Herz ausschütten und hörte gutmütig seiner Empörung zu. Suchte ihn zu belehren, die eben sei die Marke, mit der er, sich selbst zu kennen, doch im großen Strom mitschwimme. Eitelkeit verböte ihm, seine eigene Anbetung der Massen anzuerkennen. Das sei Schwäche, die er überwinden müsse.

Der Zweiundzwanzigjährige wehrte sich gegen solche Unterstellung, wie er konnte. Doch da er zu jung war, zu wissen, wie viel für ihn und sie von seinem Sieg abhing, ließ er's zum Schluß der Gespräche wieder gut sein. Ihr Händedruck brach zum Teil seine Widerstände, und er flog ihr zu. Zu Haus freilich stellte aus innerem Bedürfnis er Abstand zu dem Mädchen wieder her. Einst im Museum gelang ihm vor dem Frauenkopf im weißen Tuch des Roger van der Weyden dem Problem so nah zu kommen, daß sie erstarrt stand. Arme wie Flügel schleudernd, hatte er sich heiß gesprochen, ohne eigenen Sinn ihr hinnageln zu können. Da war ihm ein Wort entflogen, und plötzlich beleuchtete vom Bild her Glanz unwiderstehlich seine Aussage: die da, die Gemalte, schien höchstpersönlich mit eigenem Glück und Verzweiflung. Oder –?

»Warum nicht?« sagte unsicher Eura.

»Das widerspricht ihrem Evangelium, das, ›sich an Allgemeinheit hingießen‹, heißt; Bedeutung in unpersönlicher Hingabe sucht, im Mimikry, in Selbstvernichtung.«

»Aber ihre Person war nicht Endzweck. Sie bediente sich ihrer zu eben meinem Ziel.«

»Warum sah dann der Künstler ihr Besonderes gerade – warum erschüttert uns beide nur das?«

Feindlicher Regung sah Eura zum Porträt zurück. Jetzt aber strahlte das nicht mehr Unvergleichlichkeit, sondern nur ein fabelhaft gemaltes Frauenbild hing da, und Carl spürte, der Augenblick, gläubig einem Phänomen zu erliegen, sei für lange dahin.

Es geschah ihnen aber: Leiblich gewöhnten sie sich aneinander, an Luft, die sie umstand, an einen Stimmklang, und während jeder seine Überzeugung pries, ein Wille dem anderen wehrte, sank Nerve zu Nerve und liebkoste. Je gehässiger sie mit Worten stritten, um so heißer drängte Blut zueinander, und auf Märschen erlagen sie nicht geistigem, aber körperlichem Weh. Wunden, die sie sich verstimmt und zornig schlugen, heilte zum Schluß noch duftender Tumult.

Er blieb ihr gegenüber göttlich gerecht. Nichts bewies ihm seiner unzeitgemäßen Ahnungen Überlegenheit noch höheres Recht. Aber er spürte, für ihn selbst hing von seiner richtigen geistigen Steuerung mehr als für sie ab. Ihr eigentlicher Sinn, ihr Anlaß auf Erden, habe mit Sieg oder Niederlage ihrer Erkenntnis nichts zu schaffen; echter müsse sie sich offenbaren. Nur wußte er nicht anzudeuten, wie. Überzeugt war er, er wisse besser um sie Bescheid als sie selbst, und sie biete ihm aus ihr nur eine Fremde. So daß er ihr sich inniger vereint fühlte, war sie nicht da, und er durfte seiner Spur mit ihr folgen. Sie aber, die ihm alle andere Freiheit, die er sich nahm, nicht wehrte, verübelte ihm, wie er sie stets leidenschaftlicher mit einer Vorstellung von ihr betrog, die sie nicht wahrhaben wollte. Denn hier sah sie zum erstenmal von ihm Überlegenheit ein: Sie mußte, wie er sich gab, ihn nehmen und hatte keine Macht, an seinem Willen hinsichtlich seiner selbst vorbeizugehen. Er schuf ihr den Carl, den er wollte. Während es ihr nie gelang, ihm die Eura zu befehlen, die sie zu sein behauptete und gerade für ihn bedeuten wollte.

Während mit tausend täglichen Beweisen Leben ihr immer recht gab und ihn entkräftete, sie stets alles bewies, und er nichts beweisen konnte, vergewaltigte aus unerklärlichen Befugnissen er sie immer spezieller zu seinem Glück, während sie mit der Auflösung seiner Worte, Taten, seiner Leiblichkeit immer mehr in ihr Dasein hinein, von ihm doch nicht besaß, was sie im Tiefsten wollte.

Je geringer zwischen ihnen Abstand wurde, um so mehr entrückte in ihm ihr Unfaßliches. Doch je heftiger sie ihm einen Kern in ihr versperrte, um so sicherer und gewisser griff er danach.

Schließlich fühlte sie, sie verfügte über die Welt, ohne über sich noch zu verfügen. Châteaubriands Mémoires d'outre tombe hatte er ihr gegeben und fragte sie nach dem Eindruck. Sie hob hervor, wie sie Stil, straffen Aufbau und trotz Romantik praktische Politik im Buch schätze. Worauf er sagte, sie verstelle sich oder habe der Schrift Wesentliches, wodurch sie sich aus dem Plunder der Epoche, ja von Jahrhunderten hebe, nicht verstanden.

Und als sie hochmütig fragte, was er meine, gab er diesmal prompt zurück: diesem Mann gelingt aus eigenen Rhythmusses Kraft, Napoleon und seinen für den Geschmack der Massen aufgemachten Spektakel als für des Vaterlands organischen Aufbau nicht vorhanden aus Wirklichkeit zu streichen und den Korsen trotz aufgewandtem Pathos zu einem Schatten des Jahrzehnts neben elementaren Gefühlen und Begriffen zu erniedrigen. Napoleon und seine Syntax materiell mechanischer Kräfte scheine Null vor eines Herzens Hinschwung an einen Jüngling, den es sich allein in der Nation zu seinem König von Frankreich macht, zu dem es über Hindernisse pilgert, und den vor einer Welt erschütterter Zuschauer es doch grüßt: Henri V.

Während sie »Unsinn!« sagt und wütend dreinschaut, greift ihre Hand seine Hand und, ihren Blick schief erwidernd, strickt er Finger in ihre.

Aber sie waren sich nach diesen Worten feindlicher, als sie sich liebten. Jeder hing auf seine Weise an sich selbst, an eigenem Wesen mehr als am andern, und beide wollten hitzig Schlacht, die sie zum Sieger über zärtliche Schwäche machte. Aus gleichem Trieb begannen sie, den Platz zu suchen, an dem Entscheidung fallen mochte. Tasteten Tag und allen Raum nach ihm ab. Traten nirgend mehr wo hin, ohne zum Kampf bis an die Zähne gewaffnet zu sein. Jeder aber schickte sein Geschlecht auf Vorposten und plänkelte bis zur Tollkühnheit.

Aber stets im entscheidenden Moment, waren sie sich in der Sinne Auflockerung nah, nach heftigen Erschütterungen durch Kunst, mehreren Gläsern Wein, und des Bluts Trubel wollte beginnen, trat nicht nur vor sein, auch vor ihr prüfendes Bewußtsein das Bild von Weibern, die er alle Tage hatte. Nicht neu würde Euras Nacktheit sein, nichts Himmlisches ihre gefallenen Kleider zeigen, und ihrer Hingabe Bild würde ihm nicht unvermittelt kommen. Von Zugriff und Hinfall hielt Furcht sie zurück, kitschige Umarmung käme heraus, die aus Romanen ihnen geläufig und teilweiser Abscheu war. In dieser persönlichen Sache mit ihm, fühlte sie, wich sie von aller Anpassung ab; wollte keine Übereinstimmung und keinen Vergleich. Während er, das drückte er aus, überhaupt Vorstellung von sich schob, sie könne wie Frauen sonst von ihm besessen sein.

Bei jeder kecken Geste von ihr wuchs beiden Gänsehaut. Ein Wäschestreif, irgendwie ihr Fleisch wirkten als Witz. Ihr fehlte, als Weib aufgemacht, ihm gegenüber jeder geschlechtliche Reiz.

Als das feststand, versuchten sie es mit Frechheit. Sagten und sprachen Dinge aus, bei denen sie vor Ekel bebten, ohne Berge, die zwischen ihnen standen, zu versetzen. Sondern über Worten loderte aus ihren Blicken Versicherung, der sie lieber glaubten.

Da – als sie sich dem Mann, der von Natur irgendein Recht an sie hatte, als das betroffene Weib nicht ausdrücken kann, fiel ihres Haars einmalige Ursprünglichkeit ihr ein. Mit Satz ist sie zum Bett hinaus am Spiegel und begreift, mehr als ein Jahr müsse vergehen, bis der kupferne Mantel, aus dem der Kamm Entladungen weit ins Zimmer gesprengt hatte, zu den Knien wieder gewachsen sei.

Er aber, durch den unnatürlichen Zustand zwischen ihnen zur Raserei gebracht, explodierte am nächsten Abend mit dem Geständnis, im Augenblick könne nur Flucht ihn retten. Monate hindurch habe er sie zu ihrer Offenbarung gedrängt. In schnödem Zeitgeist zu tief befangen, sei sie zu sich selbst nicht zu erlösen gewesen, und er rate nicht, wie es bald geschehen könne. Der Welt müsse er lassen, was an ihr weltlich sei. Fast alles vielleicht. Das Wenige, das sie selbst bedeute, und das er in der Seele mit sich nähme, würde sich auch bald verlieren; und während sein Atem, Blick, Handschlag Protest und Verwünschung bleibt, ist hinter zugeworfener Tür er verschwunden.

Ihr war der Knall Lebenswende. Warnung vor dem einzigen Fehltritt, der dem Zeitgenossen droht: Romantik. Die schon als Ahnung weh tut. Nur das Bedürfnis hatte sie noch: Soziale Anpassung, die sie als Sinn der Epoche vielfach beweisen mußte, sich gründlicher und wissenschaftlicher zu bejahen. Nachdem sie Carl verloren, aus mitmenschlichen Zwängen erstes Opfer gebracht hatte, wollte sie dessen Sinn herrlicher für sich aufgehellt.

Hatte sie sich erst zu gleichem Ende praktisch bewiesen, warf sie sich jetzt mit Inbrunst an alle Theorie. Sah historisch den Deutschen aus Träumen mystischer Welt, grünem Wald, von Tälern weit und Höhen in die Niederung großer Städte ankommen und dort gegen Aberglauben protestierend, bewußt Kirchen des zum Gemeinwohl arbeitenden Volks, Fabriken und eine allumfassende praktische Wirtschaft gründen, die er, als sie der Nachbarn Neid erweckte, mit dem Schwert verteidigte. Er war es, der damit aus des Jahrhunderts größter Entdeckung, des Menschen wissenschaftlich bewiesener Herkunft vom Säugetier und seiner natürlichen und engen Bindung in alle Schöpfung, notwendige Folgerungen gezogen und dem einzig berechtigten, biologischen Kampf ums Dasein aller wirtschaftliche Grundlagen gegeben hatte.

Aus Instinkt war es für sie stets natürlich gewesen, in diesem von vornherein unpersönlichen Wettkampf selbsttätiger Entwicklung käme man unscheinbar, äußerlich am gesetzmäßigsten gebildet, am besten an. Genuß aber bereitete ihr, zu erkennen, wie seit mehr als einem Jahrhundert alle Geistigkeit in Deutschland unter mannigfachen Aufschriften und oft unfreiwillig immer zum gleichen Ziel gearbeitet hatte, und daß die kleine Schar Nachzügler, die man mit Betonung schon Romantiker nannte, den allgemeinen Sturmlauf zum neuen Ideal nicht hatte aufhalten können.