Evolution (2). Der Turm der Gefangenen - Thomas Thiemeyer - E-Book + Hörbuch

Evolution (2). Der Turm der Gefangenen Hörbuch

Thomas Thiemeyer

4,6

Beschreibung

Evolution ist unaufhaltsam. Evolution ist unausweichlich. Sie macht vor niemandem Halt.  Auch nicht vor uns … Mit letzten Kräften erreichen Lucie und ihre Freunde die Stadt der Überlebenden. Während Jem vor den Toren gegen angreifende Tiere kämpft, hofft Lucie im Inneren endlich Antworten zu finden. Doch im Schatten der Türme scheint das Mittelalter wieder aufgelebt zu sein: Wissenschaft gilt als schwarze Magie, Fragenstellen ist streng verboten. Als die Jugendlichen aus verbotenen Büchern erfahren, dass sie nicht die ersten Zeitreisenden sind, entlädt sich der Zorn des Burgherrn. Den Freunden bleibt nur die Flucht. Ihr Ziel: der einzige Ort, der noch Hoffnung verspricht - die Oase der Zeitspringer. Aber der Weg dorthin führt durch gefährliche Sümpfe, mitten ins Land der Squids. "Abenteuer pur - ein echter Thiemeyer eben"

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Zeit:8 Std. 27 min

Sprecher:Mark Bremer
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Thomas Thiemeyer

DER TURM DER GEFANGENEN

Bücher von Thomas Thiemeyer im Arena Verlag: Evolution. Die Stadt der Überlebenden Evolution. Der Turm der Gefangenen

 

 

 

 

 

 

Thomas Thiemeyer,geboren 1963, studierte Geologie und Geographie, ehe er sich selbstständig machte und eine Laufbahn als Autor und Illustrator einschlug. Mit seinen preisgekrönten Wissenschaftsthrillern und Jugendbuchzyklen, die mittlerweile in dreizehn Sprachen übersetzt wurden, ist er eine feste Größe in der deutschen Unterhaltungsliteratur. Seine Geschichten stehen in der Tradition klassischer Abenteuerromane und handeln des Öfteren von der Entdeckung versunkener Kulturen und der Bedrohung durch mysteriöse Mächte. Der Autor lebt mit seiner Familie in Stuttgart.

www.thiemeyer.dewww.thiemeyer-lesen.de

 

 

 

 

1. Auflage 2017 © Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen Coverillustration: Jann Kerntke Einbandgestaltung: Johannes Wiebel ISBN 978-3-401-80634-1

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Inhaltsverzeichnis

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»Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und macht sie euch untertan, und herrschet über Fische im Meer und über Vögel unter dem Himmel und über alles Tier, das auf Erden kreucht.«

1. Buch Mose – Kapitel 1

 

»Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit, aber bei dem Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher.«

Albert Einstein

1879–1955, deutsch-amerikanischer Physiker, Relativitätstheorie, Nobelpreis 1921

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Was zuvor geschah …

Während eines Linienflugs von Frankfurt nach Los Angeles gerät der voll besetzte Jumbojet LH-456 über der Polarregion in einen Zeitstrudel, der ihn mehrere Hundert Jahre in die Zukunft schleudert. Jerome Ellis und Lucinde von Winterstein, die im Rahmen eines Schüleraustauschs in Richtung Kalifornien unterwegs sind, müssen miterleben, wie die Maschine auf dem Denver International Airport notlandet. Doch nichts ist mehr so, wie wir es kennen. Die Welt hat sich verändert.

Auf der Suche nach Antworten begeben sich Jem und Lucie – zusammen mit ihren Freunden Olivia, Katta, Zoe, Marek, Arthur und Paul – an Bord eines Schulbusses auf die gefahrvolle Reise in die entvölkerte Metropole. Dort angelangt, stoßen sie auf beunruhigende Informationen. Ganz offensichtlich wurde die Erde von einem Kometen getroffen. Fremde Lebensbausteine gelangten ins Meer, breiteten sich in Form von Wolken und Regen über die ganze Welt aus und verursachten einen zweiten, großen Evolutionsschub. Dieser brachte der Menschheit den Tod. Eine neue Spezies hat das Land erobert: die Squids – Nachfahren der Tintenfische. Perfekt getarnt und mindestens ebenso intelligent wie Menschen, stellen sie die größte Bedrohung dar.

Als die Jugendlichen versehentlich zwei dieser Kreaturen töten, überschlagen sich die Ereignisse.

Als Opfer einer groß angelegten Treibjagd bleibt ihnen nur die Flucht in die Berge. In alten Schriften finden sie den Hinweis auf eine verborgene Stadt – eine letzte Zuflucht der Menschheit, verborgen inmitten von Eis und Schnee.

Jem, der bei der dramatischen Rettungsaktion beinahe sein Leben verliert, wird von der Gruppe getrennt und muss sich auf eigene Faust durchschlagen. Sein Leben hängt an einem seidenen Faden.

1

Wo bist du, Jem?Geht es dir gut?Ich würde alles dafür tun, dich wiederzusehen.

Lucie gab sich einen Ruck und schritt an Ragnar vorbei, die Stufen hinauf in die Festung.

Der Gang war breit und von Fackeln gesäumt. Wasser tröpfelte von den grob behauenen Wänden. Der Schein der Flammen spiegelte sich in den Pfützen. Wachen standen rechts und links. Sie wirkten ernst und zu allem entschlossen. Kein freundliches Wort kam über ihre Lippen. Lucie fühlte sich wie eine Gefangene. Was ging hier vor? Warum waren diese Menschen so zurückhaltend?

Ragnar schob sie vor sich her. »Vorwärts, nicht trödeln. Wir haben es eilig.«

Sie fuhr herum. »Fass mich nicht an.«

»Oder was?« Tief in Ragnars Augen war ein Glimmen zu sehen. Wie bei einem Drachen, kurz bevor er Feuer spie. Doch er hatte sich unter Kontrolle.

»Das wirst du dann schon noch merken.«

»So temperamentvoll, hm? Aber das passt zu deinen Haaren.« Er lächelte. »Bitte entschuldige, ich wollte nicht zudringlich werden. Es ist nur so: Jarl Ansgar ist kein geduldiger Mann. Er reagiert ziemlich ungehalten auf Verspätungen. Und er hat viele Fragen an euch.«

»Die haben wir auch«, erwiderte Lucie. »Aber das ist noch lange kein Grund, unhöflich zu werden.« Sie ließ ihn stehen und ging weiter.

Ragnar mochte zwei oder drei Jahre älter sein als sie und war gut gebaut. Nicht so groß und massig wie Marek, aber kräftig und ziemlich durchtrainiert. Kein uninteressanter Typ. Seine Aura leuchtete in einem warmen Goldton. Nach außen hin wirkte er ruhig und kontrolliert, doch in seinem Inneren brodelte es, das spürte Lucie. Mit seinen blonden, geflochtenen Haaren, seinem Bart und den vielen Tätowierungen erinnerte er Lucie an einen nordischen Krieger – einen Wikinger oder so. Auch seine Rüstung und das Wolfsfell über seinen Schultern entsprachen diesem Bild. Wobei sich natürlich die Frage stellte, wieso hier in Nordamerika Wikinger lebten. Und was um alles in der Welt sie in den Bergen zu suchen hatten.

Seine Stimme riss Lucie aus ihren Gedanken.

»Warum hast du vorhin auf die andere Talseite geschaut?«

Sie presste die Lippen zusammen. »Ich dachte, ich hätte etwas gesehen«, sagte sie leise.

»Sehr interessant. Und was?«

Ja, was? Sollte sie ihm erklären, dass sie Jems Stimme in ihrem Kopf gehört hatte? Er hätte sie für verrückt gehalten. Solange sie nicht wusste, mit was für Menschen sie es hier zu tun hatte, würde sie niemandem von ihrer besonderen Begabung berichten.

Sie zuckte die Schultern. »Nichts Bestimmtes. Nur so eine Ahnung.«

Ragnar schnalzte mit der Zunge. »Frauen und ihre Ahnungen. Wenn du nach dem Trow Ausschau gehalten hast, solltest du dir keine allzu großen Hoffnungen machen. Die Chancen, da draußen alleine zu überleben, sind gleich null. Wir können morgen früh ein Suchkommando losschicken, aber ich denke nicht, dass er die Nacht überstehen wird.«

»Trow? Wovon redest du?«

»Na, der, den ihr zurückgelassen habt. Der Dunkle.«

»Ja«, sagte sie. »Ich habe tatsächlich nach ihm Ausschau gehalten. Wie kommst du darauf, dass er nicht überleben wird? Du kennst Jem nicht. Er ist ziemlich einfallsreich.« Natürlich hatte sie sich selbst auch schon hundert Mal die Frage gestellt, ob er es allein schaffen würde, und es machte sie fast wahnsinnig, nicht zu wissen, wo er war und wie es ihm ging.

»Das wird ihm nichts nutzen«, entgegnete Ragnar. »Hörst du das?« Er hob den Finger an sein Ohr. Durch eine der Schießscharten war ein Heulen zu hören.

Wölfe!

»Sollte er den Bärenangriff wirklich überlebt haben – was sehr unwahrscheinlich ist –, so wird er zur Beute der Nachtfelle. Jeder Mann, der halbwegs bei Verstand ist, kehrt vor Sonnenuntergang freiwillig ins Innere der Burg zurück. Nach dem Schließen der Tore ist das da draußen ihr Reich.« Seine Stimme wurde leiser. »Wenn du wüsstest, wie viele Männer wir bereits an die Wölfe verloren haben. Gute Männer. Krieger. Es ist eine grausame Welt da draußen.«

»Jem wird es schaffen«, sagte Lucie mit bebender Stimme. »Er ist anders.«

Ragnar wiegte nachdenklich den Kopf. »Nun ja, ich weiß nicht so viel über die Trow. Besitzt er magische Fähigkeiten?«

Da war es schon wieder, dieses Wort.

»Was meinst du damit?«, fragte sie. »Welche Fähigkeiten? Und was um alles in der Welt sind Trow?«

»Vielleicht kennst du sie unter anderem Namen, immerhin scheinst du von weit her zu kommen. Ich rede von den Dunkelwesen.« Er sah sie erwartungsvoll an. »Oder hast du diesen Namen auch noch nie gehört?«

»Nein.«

Er hob erstaunt die Brauen. »Wie ist das möglich? Kennst du die Legende etwa nicht?«

Lucie wurde es jetzt zu dumm. »Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du endlich aufhören würdest, in Rätseln zu sprechen. Ich kenne keine Trow, ich kenne keine Dunkelwesen und von irgendeiner Legende weiß ich auch nichts. Jem ist mein Freund und er braucht unsere Hilfe. Warum schickst du das Suchkommando nicht gleich jetzt los?«

»Weil nach Sonnenuntergang niemand mehr die Zitadelle verlässt. Viel zu gefährlich.«

»Dann halt morgen früh, gleich nach Sonnenaufgang.«

Ragnars Blick drückte Verblüffung aus. Er sah sie mit wachsender Neugier an. »Was liegt dir so an ihm? Weißt du nicht, dass sie keine Freunde der Menschen sind? Die Trow waren einst Verbündete der Titanen. Was auch der Grund ist, warum die Götter sie mit dunkler Haut gestraft haben. Ein paar von ihnen leben in der Unterstadt, neben der Kanalisation. Aber sie bleiben lieber unter sich. Man darf ihnen nicht trauen, sie sind widerspenstig und faul. Es heißt, sie würden dort seltsame Rituale betreiben.«

Lucie schluckte. Ihr wurde immer klarer, dass hier irgendetwas faul war. Ragnars Worte hinterließen einen äußerst bitteren Nachgeschmack.

So seltsam es klang, aber für den Moment war Lucie froh, dass Jem nicht hier war.

Sie verließen den Gang und betraten eine Halle von immensen Ausmaßen. Einen solch riesigen Saal hatte sie nicht erwartet. Die Wände waren aus grobem Mauerwerk gehauen und etwa zehn Meter hoch. Tierköpfe waren dort befestigt. Es gab Trinkhörner, geschnitzte Drachenköpfe, Holzpfähle in Menschengestalt, Felle, Schilde und Waffen, deren Klingen vom Alter schwarz geworden waren. Durch die Schießscharten tröpfelte das letzte Grau des Tages. Der Geruch von Rauch, Fleisch und verbranntem Fett hing in der Luft. Fackeln verströmten unruhiges Licht.

An der gegenüberliegenden Seite standen drei Götterfiguren, die aus mächtigen Baumstämmen geschnitzt waren. Sie waren überdeckt mit Symbolen und Zeichen und ebenfalls geschwärzt vom Alter. Zu ihren Füßen hatte man Opferschalen und kleine Ölfeuer aufgestellt.

Etwa zwei Dutzend Männer saßen an langen Holztischen, aßen und tranken. Sie hatten lange Bärte und trugen Schmuck sowie Kleidung aus Leder und Fell. Einige von ihnen waren etwas edler gekleidet. Kaufleute vielleicht, oder Beamte. In ihren Gesichtern lagen Neugier und Argwohn.

Lucie spürte instinktiv, dass man sie hier nicht mit offenen Armen empfangen würde.

In einem Kamin an der Ostseite der Halle brannte ein hohes Feuer. Daneben befand sich ein steinerner Sockel, auf dem ein einzelner überdimensionierter Stuhl stand. Wie alles in dieser Halle war auch er aus Holz geschnitzt und kunstvoll verziert. Auf dem Thron saß ein gebeugter Mann. Früher war er wahrscheinlich ziemlich kräftig gewesen, denn er hatte große Hände und Füße, doch Alter oder Krankheit hatten ihn schrumpfen lassen. Lucie fiel sofort seine gelbliche Haut auf, die alles andere als gesund wirkte. Sein Haar war strähnig und unter seinen Augen lagen dicke Tränensäcke. Über seinen Schultern hing ein Bärenfell, darunter trug er eine funkelnde Brustplatte, wie Lucie sie nur aus den Geschichtsbüchern kannte. Ein Lederband mit einem blitzenden Rechteck aus Gold war das Einzige, was einer Krone gleichkam. Unzweifelhaft der Herrscher dieser Burg. Wie hatte Ragnar ihn genannt? – Jarl Ansgar.

»Warte hier bei deinen Freunden«, flüsterte Ragnar ihr zu. »Ich werde euch ankündigen.«

Er trat vor den Thron, verbeugte sich und sagte: »Ich bringe euch die Fremden, Vater. Sie sind unbewaffnet und friedlich.«

Dann stellte er sie der Reihe nach vor.

Der Alte richtete sich auf. »Ich danke dir, mein Sohn. Du hast deine Sache gut gemacht.« Seine Stimme war tief und rau.

Lucie warf einen verwunderten Blick auf Ragnar. Er war der Sohn des Fürsten? Wenn sie das gewusst hätte, wäre sie vielleicht nicht so vorlaut gewesen.

Neben Ansgar stand ein zweiter Mann. Ein Berater vielleicht, oder ein Priester. Er war groß und schlank und hatte offensichtlich schon einiges erlebt. Sein linkes Auge war blind, die Haut darunter weiß und vernarbt. Was ihm an Haaren fehlte, machte er durch seinen Bart wett, der bis zu seiner Hüfte reichte und zu Zöpfen geflochten war. An ihren Spitzen befanden sich kleine Metallröhrchen, die bei jeder Bewegung leise klingelten. Gekleidet war er in eine Kutte, an deren Schultern die Köpfe und Schwingen zweier ausgestopfter Raben befestigt waren. Er hielt einen kunstvoll geschnitzten Stab in der Hand, an dessen Ende ein furchterregender Drachenkopf prangte. Er schien zu der schweigsamen Sorte zu gehören und beschränkte sich darauf, die Neuankömmlinge mit seinem verbliebenen Auge durchdringend anzustarren.

Der Jarl hob sein Kinn. »Mein Name ist Ansgar Kurdack-Vlat, Jarl von Niflheim und Beschützer der Toten. Wer wird für euch sprechen?«

»Ich werde das tun«, sagte Marek und trat vor. »Ich bin der Anführer dieser Gruppe und man nennt mich Marek.«

Der Jarl nickte. Das Aussehen des Jungen schien akzeptabel zu sein. Das wunderte Lucie nicht, denn Marek war ziemlich groß und sein Auftreten strotzte nur so von Selbstbewusstsein. Auf seine Art schien er viel besser in diese Umgebung zu passen als irgendein anderer aus ihrer Gruppe. Und es war typisch für ihn, dass er sich selbst als ihr Anführer bezeichnete.

»Wer seid ihr, woher kommt ihr?«, fragte der Jarl. »Eure Kleidung und euer Gebaren geben Anlass zur Verwunderung.«

»Wir sind weit gereist«, sagte Marek. »Wir haben viel erlebt und viel zu erzählen. Ohne Übertreibung kann ich sagen, dass wir vom anderen Ende der Welt kommen.«

»Vom anderen Ende der Welt?« Die Brauen des Fürsten schossen nach oben. »Dann seid ihr über das Weltenmeer gekommen?«

Marek nickte. »Könnte man wohl so ausdrücken, ja. Aus östlicher Richtung von jenseits des Atlantiks.«

Ein Raunen ging durch die Halle.

»Aus dem Osten?« Der Jarl und der Priester tauschten einen überraschten Blick aus. »Jotunheim liegt im Osten. Kann es sein, dass ihr von dort kommt?«

»Jotunheim?« Marek runzelte die Stirn. »Bitte entschuldigt, aber der Name sagt mir nichts. Wir kommen aus Europa, genauer gesagt aus Deutschland. Germany.«

»Ger … ma … ny?« Das Englisch wirkte grob und unbeholfen. Irgendwie altertümlich.

Die Leute in der Halle sahen sich ratlos an.

»Dieser Name ist mir wiederum nicht geläufig«, sagte der Jarl. »Ist das der Name einer Siedlung?«

»Eher der eines Landes«, sagte Marek vorsichtig. Lucie war nicht ganz wohl bei der Sache. Wie konnte es sein, dass diese Menschen noch nichts von Deutschland gehört hatten? Geschweige denn von Europa? Sie schienen völlig aus der Zeit gefallen zu sein. Solange sie nicht wussten, was hier los war, war es bestimmt besser, vorsichtig zu sein.

Marek räusperte sich. »Seltsame Umstände haben uns hierher verschlagen. Wir mussten notlanden und fanden uns in dieser fremdartigen Wildnis wieder. Auf der Suche nach Überlebenden sahen wir eure Leuchtsignale. Wir nahmen an, dass sie uns galten, und schlugen deshalb den Weg hierher ein. Bitte verzeiht uns, falls dies ein Missverständnis war.«

Lucie war beeindruckt. Marek konnte ganz schön redegewandt sein, wenn es darauf ankam. Hatte er nicht erzählt, seine Eltern besäßen ein Autohaus? Schien so, als habe er das Talent vererbt bekommen.

»Es war kein Missverständnis«, sagte der Jarl. »Mir wurde von eurer Ankunft berichtet und ich hielt es für wichtig, mit euch zu reden. Ihr müsst wissen, dass ihr die ersten Fremden seid, die seit etwa zwei Zentenarien den Weg zu uns gefunden haben.«

»Seit zwei …?« Marek riss die Augen auf. »Ihr meint, wir sind seit zweihundert Jahren die ersten Fremden, die euch besuchen kommen? In all der Zeit hat niemand den Weg hierher gefunden? Krass!«

»Aus Midgard? Nein.«

Midgard? Lucie runzelte die Stirn. Schon wieder so ein eigenartiger Begriff. Sie wusste nicht, was sie damit anfangen sollte. Hilfe suchend sah sie ihre Freunde an. Doch selbst Arthur und Olivia, die sonst zu jedem Thema etwas zu sagen hatten, wirkten ziemlich ratlos. Von Katta und Zoe ganz zu schweigen. Olivia stieß ein Räuspern aus. »Verzeiht, aber welches Jahr haben wir gerade?«

Gemurmel machte sich im Saal breit.

Fürst Ansgars Brauen schossen empor. »Welches Jahr? Wisst ihr das denn nicht?«

Sie senkte den Kopf. »Wie gesagt, wir kommen von sehr weit her. Unsere Ankunft hier war so etwas wie ein Unfall. Wir hatten nie geplant, hier zu landen. Es ist alles so … verwirrend.«

Ansgar blickte sie eine Weile ungläubig an, dann begann er auf einmal, schallend zu lachen. »Ihr habt also weder eine Ahnung, wo ihr hier euch befindet, noch welches Jahr wir haben? Ihr kommt mir vor wie eine Gruppe von Narren und Spaßmachern, denen man einen mit dem Knüppel über den Kopf gezogen hat. Eure Kleidung, euer Fahrzeug – all das wirft viele Fragen auf. Und doch höre ich keinen Spott in euren Worten. Ihr meint das wirklich ernst, oder? Nun gut …« Er erhob sich mühsam von seinem Thron und kam ihnen ein paar Stufen entgegen. »Ich sehe, dass ihr müde und verwirrt seid und dringend Ruhe benötigt. Die Wachen werden euch zu euren Gemächern führen. Dort werdet ihr Nahrung und Kleidung erhalten. Ruht euch aus, versucht, wieder klar im Kopf zu werden. Morgen werden wir uns dann ausgiebiger unterhalten.« Er machte eine Handbewegung, die signalisierte, dass die Audienz vorüber war.

»Einen Moment bitte …«, stieß Lucie aus. Sie wollte gerade zu einer Frage ansetzen, doch Marek zog sie zurück. »Was soll das?«, zischte er.

»Jem«, flüsterte sie. »Sie sollen einen Suchtrupp losschicken. Wir müssen ihm helfen.«

»Wir können im Moment nichts für ihn tun. Ich habe das alles schon mit Ragnar besprochen. Und jetzt halt den Rand«, flüsterte er. »Du hast Fürst Ansgar doch gehört. Wir können froh sein, dass er uns hier aufnimmt und dafür müssen wir dankbar sein.« Er lächelte dem Jarl zu. »Vermassel uns das jetzt nicht. Es ist der Wahnsinn, dass wir es überhaupt bis hierhin geschafft haben. Alles Weitere wird sich klären.«

2

Nnnneuigkeiten?

Nnnnein. Warten auf nnnneue Informationen.

Sssstatus?

Fremde geflohen in Großen Sssstein. Unerreichbar für uns.

Nnnnicht gut. ES ssssehr ungehalten. ES befiehlt Angriff.

Verstanden.

Eines nnnnoch: DUNKEL hat es nnn nichtgeschafft. Nnn nochimmer draußen.

Sssstandort?

Nnnnicht wissen. Versteckt.

Ssssuchen. Finden. Verhören. Könnte ssssich als wichtig erweisen.

3

Müde blinzelte Jem in Richtung des Höhleneingangs. Erste Sonnenstrahlen beleuchteten den Fels und überzogen das Gestein mit einer Schicht aus Silber und Gold.

Er richtete sich auf, streckte sich und hielt die Nase in die Höhe. Kalter Rauch hing in der Luft. Das Feuer war während der Nacht heruntergebrannt, jetzt spürte er, wie die Kälte langsam seine Beine heraufkroch.

Er schnupperte an seiner Jacke. Himmel, er stank wie ein altes Paar Turnschuhe. Aber er war froh, dass seine Sachen wieder trocken waren und er endlich nicht mehr frieren musste – wäre er nicht auf die Bärenhöhle gestoßen, er hätte diesen Morgen vermutlich nicht erlebt.

So gesehen hatte der mörderische Kampf gestern am Abgrund doch sein Gutes gehabt. Der Bär war abgestürzt und seine Höhle unbewohnt. Einer war gestorben, damit ein anderer leben konnte.

Sein Unterschlupf hatte den Vorteil, dass er potenzielle Gegner auf Abstand hielt. Kein Tier war so dumm, eine Bärenhöhle zu betreten. Immerhin war das Monstrum der uneingeschränkte Herrscher der Berge gewesen. Jetzt war das Jem.

Der König war tot. Lang lebe der König!

Doch er durfte sich seiner Sache nicht zu sicher sein. Der Betrug würde nicht lange unbemerkt bleiben. Sobald die anderen Biester herausfanden, dass er nur bluffte, würden sie Jagd auf ihn machen. Ihm blieb vielleicht noch bis heute Abend, um die Festung zu erreichen, sonst war er geliefert.

Als er neues Holz aufschichtete, um die Glut wieder in Flammen zu verwandeln, musste er an M.A.R.S. denken. Die Erinnerung an den Blechmann ließ sein Herz schwer werden. Das neugierige gelbe Auge, der mürrische Mund, die elektronische Kinderstimme – es war ein Jammer, dass M.A.R.S. nicht mehr da war. Jem vermisste ihn. Im Gegensatz zu seinen Freunden hatte der kleine Roboter immerhin versucht, ihm zu helfen – und sich am Ende sogar für ihn geopfert. M.A.R.S. war eben nicht nur ein lebloses Stück Metall gewesen. Er hatte Charakter besessen – viel mehr, als so mancher Mensch das tat.

Frische Flammen loderten empor. Jem nahm einen Stock, spitzte ihn zu und schnitt etwas Fleisch von der Bergziege.

Das Tier war vermutlich vor einigen Tagen vom Bären gerissen worden, aber das Fleisch war aufgrund der niedrigen Temperaturen immer noch genießbar. Jem hatte einen Wahnsinnskohldampf. Er musste dringend etwas essen, ehe er sich auf den Weg machte. Schon bald war die Höhle von einem verführerischen Geruch erfüllt.

Rasch schlang er das Fleisch in sich hinein, auch wenn es so ganz ohne Salz und Pfeffer nicht besonders schmeckte. Aber Hauptsache, er hatte überhaupt etwas zu beißen.

Nach der Mahlzeit fühlte er sich besser. Jetzt war er bereit. Draußen war es hell geworden. Vielleicht schickten die Menschen auf der Festung ja ein paar Leute, um ihn zu suchen. Er sollte auf jeden Fall die Augen offen halten. Der Gedanke daran, Lucie wiederzusehen, verlieh ihm neue Hoffnung.

Zum Schutz gegen die Kälte stopfte er ein paar Handvoll Fellbüschel zwischen Jacke und Hemd. Der Menge an Pelzen nach zu urteilen, die hier rumlagen, war der Bär kein Kostverächter gewesen. Kaninchen, aber auch einige Murmeltiere waren dabei. Er steckte den abgebrochenen Oberschenkelknochen eines Wildschweins oder eines anderen großen Tieres unter seinen Gürtel, schnappte sich den schulterhohen Stock, den er gestern schon gefunden hatte, und verließ die Höhle.

Draußen blieb er kurz stehen, um sich an die ungewohnte Helligkeit zu gewöhnen. Die Sonne stand zwei Handbreit über dem Horizont und schickte flache Strahlen über den kargen Gebirgssattel. Die Aussicht war atemberaubend. Wie ausgeschnitten ragten die umliegenden Berggipfel aus der milchigen Nebelsuppe. Der Himmel war so blau wie das Meer an einem windstillen Tag. Nicht eine Wolke trübte den Blick. Jem vergewisserte sich, dass keine Vögel unterwegs waren, und machte sich dann auf den Weg in Richtung Westen.

Sein Ziel war die Steilwand, von der aus er gestern zur Zitadelle hinübergeschaut hatte. Vielleicht gelang es ihm dort, einen Abstieg oder eine Abkürzung ausfindig zu machen. Er hatte nämlich keine Lust, den ganzen Weg zurück zur Straße zu laufen. Gestern Abend hatte er ein Wolfsrudel beobachtet, das sich dort herumgetrieben hatte. Große grauhaarige Gestalten, die seine Duftspur verfolgt hatten und sicher kurzen Prozess mit ihm machen würden, sollten sie ihn finden. Ihr Geheul war die ganze Nacht zu hören gewesen. Er musste damit rechnen, dass sie die Straße rund um die Uhr beobachteten.

Diese Tiere waren klug. Ein bisschen zu klug für seinen Geschmack. Er hatte es in ihren Augen gesehen, in der Art, wie sie sich miteinander verständigten. Wie eine Gruppe von Jägern, die auf Treibjagd gingen. Und auch ihr Jaulen hatte irgendwas Menschliches. Was immer in diesem Kometen gewesen war, es hatte zu einer ziemlich radikalen Weiterentwicklung des Lebens auf der Erde geführt.

Geduckt lief Jem zwischen den Felsen hindurch. Als er die Abbruchkante erreicht hatte, atmete er noch einmal tief durch und trat dann ins Freie.

Die Zitadelle sah im Morgenlicht aus wie aus einem Märchen. Ihre Flanken schimmerten, als wären sie mit Blattgold überzogen. Jem bemerkte, dass viele Gebäude, aber auch Abschnitte der Mauer selbst direkt aus der Felswand herausgehauen worden waren. Wahrscheinlich reichten die Wohnbereiche viel tiefer in den Fels hinein, als man von hier aus erkennen konnte. Bei der Vorstellung, dass die gesamte Bergflanke von Gängen und Stollen durchzogen war, lief es ihm kalt den Rücken runter.

Für diese frühe Stunde waren schon erstaunlich viele Menschen auf den Beinen. Jem sah Fuhrwerke, Handkarren und Marktstände. Wimpel wurden gehisst und Schilder aufgehängt. Scheinbar war heute Markttag. Aber womit wurde hier gehandelt? Betrieben diese Leute vielleicht irgendwo Ackerbau und Viehzucht? Möglich war es. Das Gebirge war derartig zerklüftet, dass es vielleicht einige abgelegene Täler gab, die fruchtbar und frei von Raubtieren waren. Das würde erklären, wie es den Menschen hier oben gelungen war zu überleben.

Jem nahm unter einem Felsüberhang Platz und ließ seinen Blick über die Anlage schweifen. Echt ärgerlich, dass er kein Fernglas dabeihatte. Aber er erkannte auch so, dass seine Freunde nicht dort unten waren. Ob sie noch schliefen? Plötzlich durchzuckte ihn ein schrecklicher Gedanke. Was, wenn sie eingesperrt worden waren und verhört wurden? Hoffentlich hatten sie Lucie nichts angetan. Aber warum sollten sie? Jem konnte sich gut vorstellen, dass es vermutlich eine große Ausnahme war, Besuch von Fremden zu erhalten.

Er kniff die Augen zusammen. Es war auf die Entfernung schwer zu erkennen, aber die Menschen dort unten sahen doch recht eigenartig aus. Irgendwie mittelalterlich. Männer und Frauen waren in graue oder braune Stoffe gekleidet und trugen seltsame Kopfbedeckungen – weiße Hauben, Kapuzen oder Lederkappen. Jem entdeckte Männer mit Schilden und Rüstungen, hauptsächlich auf den Wehrgängen, die oberhalb der Festungsmauern errichtet worden waren. Es waren stämmige Kerle mit Lanzen, Schwertern und Äxten, die wie Krieger aussahen. Kein Wunder bei dieser Umgebung. Doch warum wirkte das alles wie aus dem Mittelalter? Warum hatten sich die Leute nicht ein paar moderne Waffen besorgt, mit denen sie den Viechern die Hölle heißmachten? In den verlassenen Städten lag doch genug von dem Zeug rum. Vielleicht würde sich das alles klären, wenn er es erst mal dort hinübergeschafft hatte.

Jem entdeckte den gelben Bus. Er stand immer noch dort, wo man ihn gestern abgestellt hatte. Ein Stück unterhalb des Vorplatzes befand sich eine Baustelle. Hölzernes Fachwerk markierte die Eckpunkte, an denen mit der Aufschichtung grober Steinquader begonnen worden war. Die Arbeit wurde von einer Gruppe kräftiger Männer geleistet, die von brutalen Aufsehern herumkommandiert wurden. Befehle wurden gebrüllt und das Klatschen von Peitschenhieben war zu hören.

Jem runzelte die Stirn. Peitschen? Was waren denn das für Arbeiter? Er bemerkte eine Szene, die sich etwas am Rande der Baustelle abspielte. Einer der Arbeiter war anscheinend zusammengebrochen. Es sah aus, als hätte er einen Fuß unter einen der massiven Steinquader bekommen. Jem konnte seine Schreie hören. Doch anstatt dass man ihm aufhalf, hagelte es Peitschenhiebe. Erst als ein paar seiner Kollegen kamen und den Stein fortschleiften, konnte der Mann befreit werden.

Das arme Schwein!

Jem fragte sich, was da los war. Warum wurden die Leute so mies behandelt? Er wollte sein Augenmerk schon auf einen anderen Ort richten, als ihm ein Detail ins Auge fiel. Der Arbeiter besaß dunkle Haut. Genau wie die anderen, die jetzt wieder in den Seilen hingen und schwere Lasten bewegten. Sie alle hatten dunkle Haut.

Genau wie er!

Fieberhaft ließ er seinen Blick über die restlichen Stadtteile schweifen. Kein Zweifel. Wo immer er hinblickte, hellhäutige Bewohner. Nur dort unten nicht.

Jem richtete sich kerzengerade auf. Ein einziger Gedanke zuckte durch sein Gehirn: Sklaven! Menschen seiner Hautfarbe wurden dort unten als Sklaven gehalten.

Diese Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Er konnte also nicht einfach so dort auftauchen und Hallo sagen. Man würde ihn einsperren und zum Arbeitsdienst zwingen. Man würde ihn zu einem Sklaven machen. Was war das für ein Volk, das so lebte? Wenn er in Geschichte richtig aufgepasst hatte, waren die Zeiten der Sklaverei doch lange vorbei. Ob er unter dieser Voraussetzung überhaupt noch Lucie wiedersehen würde, war mehr als fraglich. Er stieß einen leisen Fluch aus. Von der einen auf die andere Sekunde hatte sich sein Plan in Rauch aufgelöst.

4

Lucie hatte von Jem geträumt. In ihrer Vorstellung hatte er mutterseelenallein auf einem kargen Berggipfel gehockt und in die Gegend geschaut. In seinem Gesicht lag eine Mischung aus Überraschung und Trauer. Als ob er irgendetwas Schlimmes gesehen hatte.

»Aufstehen, Jarl Ansgar will mit euch sprechen. Raus aus den Federn und anziehen!«

Erschrocken fuhr Lucie auf. Zwei Frauen hatten ihre karge Zelle betreten. Eine von ihnen war die Kammerzofe, die sie schon gestern kennengelernt hatten. Die andere sah aus wie ihre Bedienstete. Sie stellten ein Tablett auf den Tisch und legten einen Stapel Kleidung daneben. »Hier sind ein paar Sachen für euch. Eine halbe Stunde, dann müsst ihr fertig sein. Waschen könnt ihr euch nebenan. Beeilung, der Fürst erwartet euch.«

Mit schweren Schritten verließen die Frauen das Zimmer.

Lucie rieb sich die Augen und blinzelte aus dem Fenster. Draußen war es bereits hell geworden. Die Berge auf der anderen Seite erhoben sich majestätisch aus dem Morgennebel. Irgendwo krähte ein Hahn.

»Wie spät ist es?«, murmelte Olivia schlaftrunken. Sie lag neben Lucie auf einer Strohmatte.

»Keine Ahnung«, murmelte Lucie. »Ich tippe aber so auf halb sieben.«

»Was soll denn der Scheiß, uns so früh aus dem Bett zu schmeißen?«, mäkelte Katta. »Warum können die uns nicht einfach ausschlafen lassen? Wissen die nicht, was wir alles durchgemacht haben?« Sie warf sich demonstrativ auf die andere Seite. Als ob das etwas nutzte. Vermutlich würden die Frauen bald wiederkommen und sie notfalls mit einem kalten Krug Wasser wecken. Zumindest schätzte Lucie die handfeste Zofe so ein.

Sie stand auf und sah sich suchend in der Kammer um.

»Wo sind denn unsere Sachen?«

»Wie meinst du das?«, murmelte Katta in ihr Kopfkissen.

»Na, guckt doch mal. Sie sind weg.«

»Nicht dein Ernst!« Katta hob den Kopf. Ihre langen blonden Haare hingen ihr ins Gesicht und sie sah ziemlich zerknautscht aus.

»Ja, doch.« Lucie ging auf und ab und ließ ihren Blick noch einmal schweifen. Besonders groß war die Kammer nicht und es gab auch keinen Schrank, in dem man hätte nachsehen können.

»Vielleicht in der Wäscherei«, sagte Olivia gähnend und setzte ihre schwarze Nerd-Brille auf. »Um ehrlich zu sein, ich wäre froh darüber. Mein Zeug hat es echt nötig gehabt.«

»Aber das können sie doch nicht machen«, moserte Katta. »Nicht, ohne uns vorher zu fragen.«

»Wieso?«

»Hallo? Das waren Jeans von Burberry. Weißt du, was die gekostet haben? Die waren schweineteuer. Wehe, die waschen sie zu heiß, dann komme ich da nicht mehr rein.«

»Vielleicht haben sie ja eine Haftpflichtversicherung.« Olivia verzog spöttisch den Mund.

»Was haben sie uns denn als Ersatz dagelassen?« Zoe streckte die Arme aus.

»Nichts, was euch gefallen wird.« Lucie deutete auf den Kleiderstapel. »Lauter cremefarbenes Zeugs aus irgend so einem groben Stoff. Der scheint sogar noch rauer zu sein als der von unseren Nachthemden.«

Katta war jetzt endgültig wach. Sie stand auf und fing an, den Stapel auseinanderzuzerren. Dabei zog sie ein Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. »Was soll das denn sein, bitte schön?« Sie hob ein Kleid hoch, das an der Hüfte eine lose Kordel und am Kragen ein paar einfache Haken und Ösen hatte. Die Säume waren umgenäht und mit einfachen Stickereien verziert. »Meine Oma hätte so etwas tragen können. So etwas ziehe ich nicht an. Niemals!«

Lucie grinste. »Wenn du dich darüber schon aufregst, schau dir erst mal unsere Unterwäsche an. Lange Unterhosen und ein gestepptes Unterhemd. Ein Mehlsack ist nichts dagegen.«

»Und was soll das hier sein?« Katta deutete angewidert auf drei Paar braune Ledertaschen, die ebenfalls mit Haken und Ösen zusammengehalten wurden.

»Ich schätze, das sind unsere Schuhe«, sagte Zoe. »Hübsch. Dazu passend auch die Socken aus Schafsfell.« Sie hob zwei Fellsäckchen hoch. »So etwas haben sie früher zu Nikolaus über den Kamin gehängt.«

Lucie konnte im Gegensatz zu Katta herzlich darüber lachen. Die Ärmste sah aus, als stünde sie kurz vor einem Herzinfarkt.

Zoe hingegen hatte schon damit begonnen, sich umzuziehen. »Jetzt stellt euch nicht so an, so schlimm ist es auch wieder nicht«, sagte sie. »Hauptsache, es ist warm. Alles andere ist mir im Moment egal.« Rasch zog sie das Nachthemd aus und schlüpfte in die neuen Sachen. Im Nu stand eine völlig neue Zoe vor ihnen.

Katta stieß ein verächtliches Schnauben aus. Lucie musste kichern.

»Du siehst aus wie eine Magd«, gluckste Olivia. »Wie eine Zofe aus Game of Thrones. Der Winter naht.«

»Liegt wahrscheinlich an der Farbe«, sagte Zoe. »Creme steht mir nicht besonders. Vielleicht frage ich später mal, ob sie auch etwas in Schwarz für mich haben. Und jetzt kommt in die Puschen, Mädels. Trödelt nicht rum. Wie gesagt: Hauptsache, wir haben es warm.« Mit diesem Worten zog sie ab und ging in Richtung Waschkammer.

Lucie stimmte ihr in Gedanken zu. Zu frieren war echter Mist. Wieder musste sie an Jem denken und daran, wie er die vergangene Nacht wohl überstanden hatte. Während sie hier Witze machten, kämpfte er vermutlich um sein Leben. Es war schrecklich, dass sie nichts für ihn tun konnte, und sie verfluchte Marek noch immer dafür, dass er Jem und M.A.R.S. einfach zurückgelassen hatte und wie ein Irrer mit dem Bus davongejagt war. Und ob Ragnar wirklich einen Suchtrupp losschicken würde – daran hatte sie so ihre Zweifel.

In diesem Moment ging die Tür auf und die Kammerzofe betrat wieder den Raum. Sie musterte die Mädchen prüfend, dann nickte sie zufrieden. »Wie ich sehe, habt ihr euch umgezogen«, sagte sie. »Endlich seht ihr wieder manierlich aus. Das wird eure künftigen Männer freuen.«

»Unsere künftigen …?« Lucie klappte der Unterkiefer runter. Sie konnte nicht glauben, was sie da eben gehört hatte.

Katta hingegen schien davon nichts mitbekommen zu haben, sie wäre sonst vermutlich erst recht ausgeflippt. Sie regte sich immer noch über die Kleidung auf. »Das Zeug ist hässlich und kratzig«, schimpfte sie. »Wo sind unsere richtigen Sachen? Wann bekommen wir sie aus der Reinigung zurück?«

»Was für eine Reinigung?« Die Zofe zog amüsiert eine Braue in die Höhe.

»Na, die Wäscherei, oder wo immer ihr die Sachen hingebracht habt.«

»Wir haben sie in keine Wäscherei gebracht. Eure Kleidung wurde verbrannt. So hässlich wie sie war, kein großer Verlust. So, und jetzt wascht euch und esst, damit wir endlich losgehen können.«

5

Eine Viertelstunde später trafen Lucie und die anderen im Thronsaal ein. Marek und Arthur, die die Nacht im Männerhaus verbracht hatten, warteten schon. Paul lag vermutlich noch immer im Haus der Heilung, wo man sich um seine Verletzungen kümmerte. Die letzte Information, die sie gestern Abend von der Zofe erhalten hatten, lautete, dass er eine gebrochene Rippe und einen verstauchten Arm hatte. Zum Glück war nichts Schlimmeres passiert. Ein paar Tage Ruhe, dann war er bestimmt wieder auf den Beinen.

Lucie warf einen Blick hinüber zur anderen Seite des Saals. Fürst Ansgar saß auf seinem Thron und unterhielt sich leise mit dem hochgewachsenen Mann, der gestern schon an seiner Seite gestanden hatte. Bei seinem Anblick lief Lucie ein Schauer über den Rücken. Die Aura dieses Mannes schimmerte in einem stählernen Blau, das ihr Unbehagen bereitete. Blau war immer ein düsteres Vorzeichen. Sie spürte instinktiv, dass man bei ihm besser vorsichtig sein sollte.

Als die beiden Männer sie hereinkommen sahen, unterbrachen sie ihr Gespräch. Außer ihnen waren nur noch vier Wachen anwesend. Das Gespräch fand anscheinend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.

»Aha, die Wanderer sind da.« Der Jarl winkte sie zu sich heran.

Lucie hatte gestern schon den Eindruck gehabt, dass der Fürst nicht ganz gesund war. Sein gequältes Lächeln konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er Schmerzen hatte.

»Kommt näher. Es spricht sich leichter, wenn ich nicht so brüllen muss.« Er wurde von einem Hustenanfall geschüttelt. Es dauerte eine Weile, bis er weiterreden konnte. Seine Stimme klang brüchig und überanstrengt.

»Wie ich sehe, seid ihr neu eingekleidet worden. Waren Essen und Nachtlager zu eurer Zufriedenheit?«

Marek trat vor und verbeugte sich. »Alles war ganz ausgezeichnet«, sagte er. »Wir sind Euch zu großem Dank verpflichtet.«

Der Jarl winkte ab. »Wir hatten gestern nicht mehr die Zeit, uns ausgiebiger zu unterhalten. Deswegen möchte ich das Gespräch gerne heute fortsetzen. Auch möchte ich euch meinen Goden vorstellen, der unserer Unterhaltung beiwohnt. Sein Name ist Nimrod und er ist mein engster Berater und Vermittler zwischen Göttern und Menschen.«

Die Jugendlichen verbeugten sich. Nimrod verbeugte sich ebenfalls. Lucie fand immer noch, dass er unheimlich aussah. Mit seinem zerstörten Gesicht und den ausgestopften Vögeln auf seinen Schultern wirkte er wie eine geflügelte Sagengestalt. Ein kühles Lächeln erschien auf seinen Lippen.

»Mein Jarl hat mir die Erlaubnis erteilt, euch ein paar Fragen zu stellen. Wärt ihr dazu bereit?«

»Selbstverständlich«, erwiderte Marek hocherhobenen Hauptes. Im Gegensatz zu Lucie schien er die Gefahr nicht zu spüren, die von diesem Mann ausging.

Nimrod schritt die Stufen herunter, wobei er Lucie und ihre Freunde misstrauisch musterte. Ihr fiel auf, dass sein gesundes Auge die Farbe eines klaren Bergsees hatte.

»Ich hörte, wie ihr gestern behauptet habt, keine Kenntnis zu besitzen sowohl über den Ort als auch die Zeit, in der ihr euch befindet. Ist das richtig?«

»Das stimmt, Hochwürden«, entgegnete Marek. »Wir sind in dieser Sache ganz auf Euer Wohlwollen und Euer Entgegenkommen angewiesen.«

»Eine schreckliche Vorstellung, weder den Ort noch die Zeit seiner Existenz zu kennen«, sagte Nimrod mit kühler Stimme. »Ich frage mich: Wie kann das sein? Um ehrlich zu sein, finde ich die Vorstellung höchst befremdlich. Wie kam es dazu? Habt ihr keine Zeitrechnung, da, wo ihr herkommt?«

»Doch, schon«, sagte Marek. »Es ist nur so, dass wir während unserer Reise in tiefen Schlaf gefallen sind. Als wir erwachten, hatte sich die Welt um uns herum verändert.«

»Ein Schlaf also?« Nimrods Gesicht drückte Erstaunen aus. »Und alle Mitreisenden fielen ebenfalls in diesen wundersamen Schlaf?«

»So ist es.«

Der Gode tauschte einen Blick mit seinem Fürsten, dann strich er über seinen eisgrauen Bart. »Merkwürdig«, sagte er. »Sehr merkwürdig. Ohne weitere Informationen würde ich sagen, dass hier die Götter ihre Hand im Spiel hatten. Es ist ein Zeichen, auch wenn ich noch nicht weiß, welches.« Er hob den Kopf. »Na schön. Da ich ein gutgläubiger Mensch bin und keinen Argwohn gegen euch hege, darf ich euch sagen, dass dies das Jahr fünfhundertvierundsechzig ist, gemäß den Chroniken des Niflheimer Altars. Wir befinden uns in der zweiten Dekade des Hirschen, bei abnehmendem Mond. Ich denke, das sollte eure Frage beantworten.«

Lucie runzelte die Stirn. »Fündhundertvierundsechzig nach Christus?«

»Nach dem Fall des Hammers natürlich. Dies ist Ragnarök, das Zeitalter des Untergangs.«

Ragna…? Lucie verstand überhaupt nichts mehr. Was war das für eine Zeitrechnung? Ganz offensichtlich hatte auch Marek keine Ahnung, wovon hier die Rede war. »Wie war doch gleich der Begriff, den Ihr eben verwendet habt? Bitte verzeiht, wenn wir so umständlich erscheinen, aber all das ist uns fremd …«

»Willst du etwa behaupten, du wüsstest nicht, was Ragnarök ist?« Der Blick des Goden drückte zuerst Verwunderung, dann Misstrauen aus.

»Ich, äh …«

Arthur legte Marek seine Hand auf den Arm. Lucie erkannte in dieser Geste, dass er ihm zu verstehen gab, jetzt besser den Mund zu halten.

»Vergebt unserem Anführer«, sagte Arthur und schob seine Brille zurück. »Natürlich weiß er, was Ragnarök ist, es ist ihm nur kurz entfallen.« Er warf allen einen bedeutungsvollen Blick zu. »Ich fürchte, unsere Reise war beschwerlicher, als wir dachten. Offenbar hat eine Nacht nicht zur Erholung ausgereicht. Ragnarök beschreibt den Untergang der Welt. Den Kampf der Riesen gegen die Götter, dem beide am Schluss zum Opfer fallen.«

Jetzt fiel es Lucie wieder ein. Natürlich, Arthur hatte recht. Die nordische Mythologie. Ziemlich lange her, dass sie das gelesen hatte. »Sterne fallen vom Himmel«, murmelte sie, »die Erde bebt und die Berge stürzen ein. Der Fenriswolf löst sich von seiner Kette und die Midgardschlange erobert das Land.«

»So ist es«, sagte Nimrod. »Und mit ihr ihre verfluchte Brut.« Seine Gesichtszüge entspannten sich etwas, was ihn aber nicht weniger unheimlich aussehen ließ.

»Mit dem Fall von Thors Hammer beginnt unsere Zeitrechnung. Er markiert den Beginn von Ragnarök. Es wird erst enden, wenn die Asen sich versammeln und das Gleichgewicht wiederherstellen. An diesem Tag werden Flammen in den Himmel aufsteigen. Ordnung und Chaos werden einander ausgleichen und die Midgardschlange, in ihrer Bruthöhle in der Meerestiefe, wird ausgelöscht werden. An diesem Tag wird Allvater Odin eine neue Welt erschaffen. Und wir, die wir ihm treu und ergeben zur Seite stehen, werden ein neues Goldenes Zeitalter erleben.« Er stützte sich schwer auf seinen Stab.

Lucie verstand immer noch nicht. Der Fall der Götter? Nordische Mythologie? Was hatte das mit dieser Stadt zu tun?

Es sei denn …

»Ach herrje«, entfuhr es ihr. »Ich glaube, ich weiß, was das bedeutet. Jetzt ist alles klar.«

»Du weißt es? Dann sag es uns.« Marek sah sie mit großen Augen an.

»Thor!«, stieß Lucie aus. »Der Komet, erinnert ihr euch? Sein Name war Thor. Roderick hat uns davon berichtet. Das ist der Hammer der Götter. Mit ihm fing alles an.«

»Scheiße, ich glaube, du hast recht«, murmelte Arthur. »Damit ergibt alles einen Sinn. Der Klimawandel, die sprunghafte Evolution. Das war der Tag, an dem die Welt unterging. All das wurde ausgelöst von Thor. Fünfhundertvierundsechzig Jahre soll das jetzt her sein? Das ist ja eine halbe Ewigkeit …«

Lucie rechnete fieberhaft. Mathe war nicht unbedingt ihre Stärke, aber das hier war einfache Addition. »Wartet mal …«, sagte sie. »Der Komet kam doch im Jahr 2035 runter. Gesetzt den Fall, dass damit der Hammerfall gemeint ist, dann befänden wir uns jetzt im Jahr … 2599!«

»Alter.« Marek sah sie entgeistert an. »Wir sind von zweihundert Jahren ausgegangen. Wie es aussieht, haben wir uns mal eben um mehr als dreihundert Jahre verschätzt.«

»Murphys Gesetz«, murmelte Arthur. »Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen. Jetzt sind wir so weit gefahren, nur um festzustellen, dass alles noch viel schlimmer ist. Ganz schön frustrierend.«

Lucie schluckte schwer. Das konnte doch nicht sein! Zweihundert Jahre waren schon ein Zeitraum, den sie sich unmöglich vorstellen konnte, aber fünfhundert? Wenn der Gode nicht so streng geguckt hätte – Lucie hätte das Ganze für einen üblen Scherz gehalten. Wenn es jemals einen Weg zurückgegeben hatte, wie konnten sie allen Ernstes zu hoffen wagen, fünfhundert Jahre durch die Zeit zu reisen? So etwas gab es doch nicht mal in Science-Fiction-Filmen. Jedenfalls nicht in denen, die Lucie kannte.

»Aber das ist ja schrecklich«, stieß sie aus. »Wir müssen das unbedingt den anderen erzählen. Sie haben ja keine Ahnung …«

»Andere?« Nimrod sah sie prüfend an. »Von wem redet ihr da? Gibt es noch mehr von euch?«

»Aber ja. Ich rede von unseren …«

Zoe tappte ihr auf den Fuß.

»Aua. Was soll denn das? Ich darf doch wohl noch …«

»Halt deinen Mund«, zischte Zoe, woraufhin Lucie betreten schwieg.

Nimrod sah sie der Reihe nach an, dann erschien wieder dieses unnahbare Lächeln. »Nun, wie mir scheint, besteht hier noch einiger Erklärungsbedarf. Ich habe eure Fragen beantwortet, jetzt seid ihr an der Reihe. Erzählt uns, was ihr wisst. Woher ihr kommt, wie ihr hierher gelangt seid und wo sich der Rest von euch aufhält.« Er deutete einladend auf eine Gruppe von Steinbänken seitlich neben dem Kamin. »Kommt. Im Sitzen spricht es sich leichter.« Er stieg die Stufen herab und wandte sich den Bänken zu. Etwas Kaltes umwehte ihn wie ein winterlicher Wind.

6

Ragnar stand draußen auf dem Platz und musterte argwöhnisch das gelbe Ungetüm. Dunkle Technologie, schoss es ihm durch den Kopf. Ein Relikt aus alter Zeit. Randvoll mit Magie.

Von Osten trieb ein kühler Wind die ersten Schneeflocken vor sich her. Die Luft schmeckte nach Eis.

Seit die Fremden den Bus gestern Abend hier abgestellt hatten, war niemand ihm zu nahe gekommen. Dieses Fahrzeug stammte aus einer fremden Welt, aus einer fernen Zeit. Auch wenn Ragnar selbst die Geschichten und Warnungen für übertrieben hielt, so empfand er doch gehörigen Respekt davor. Er selbst war noch niemals mit so etwas gefahren und hatte keine Ahnung, ob es nicht über einen verborgenen Abwehrmechanismus verfügte. Andererseits hatte sein Vater ihm aufgetragen, alles darüber in Erfahrung zu bringen, weswegen er jetzt in einer Zwickmühle steckte.

Noch befanden sich Fürst Ansgar und die anderen in der Ratshalle, doch sie konnten jeden Moment herauskommen. Vater wäre sehr enttäuscht, wenn er bis dahin noch kein Ergebnis vorzuweisen hätte. Ragnars Hände waren schweißnass.

»Sei vorsichtig«, flüsterte Alrik. »Du weißt nicht, was dich erwartet.«

»Wann weiß man das schon?«, murmelte Ragnar. Er spürte die Blicke der versammelten Krieger in seinem Rücken. Jede seiner Bewegungen wurde mit Argusaugen verfolgt.

»Ich denke, ich sollte es mal auf einen Versuch ankommen lassen«, sagte er.

»Das ist doch Wahnsinn«, zischte Alrik. »Sollen die Fremden uns doch dieses Ding erklären. Sie haben es schließlich gezähmt.«

Kein ganz dummer Gedanke, dachte Ragnar. Andererseits … was, wenn sie die Gelegenheit nutzten und damit flohen? Er konnte den Befehl seines Vaters nicht einfach ignorieren.

Ohne groß darüber nachzudenken, legte er seine Hand auf die glänzende silberne Fläche neben der Tür. Er hatte gesehen, dass die Fremden es gestern so gemacht hatten.

Zischend glitten die beiden Flügel auseinander.

Ragnar nahm seinen ganzen Mut zusammen und stieg ein.

Überall lagen Glassplitter herum. Auf dem Boden, den Bänken, sogar auf dem Fahrersitz. Ragnar sah Blutstropfen, dort, wo der dicke Junge gelegen hatte.

Er nahm auf dem Fahrersitz Platz und betrachtete die Armaturen. In alten Manuskripten hatte er Bilder gesehen, in denen Menschen in solchen Fahrzeugen gesessen hatten. Hier vorne war die Führungsposition. Hier saß der Fahrer, der Steuermann.

Die Hände am Lenkrad, die Füße auf den seltsamen Pedalen, wartete er, dass irgendetwas geschah. Doch nichts passierte. Was war mit all den Anzeigen und was mit diesem Knüppel, der rechts von ihm aus dem Boden ragte? Buchstaben befanden sich daneben. P, R, N und D.

Ragnar runzelte die Stirn. Er konnte sich auf all das keinen Reim machen. Die schweigsamen Blicke der Männer nervten ihn.

Auf gut Glück trat er auf eines der Pedale. Es ließ sich ganz leicht zu Boden drücken. Auf und ab. Nichts passierte. Auch das Drücken verschiedener Knöpfe brachte ihn nicht weiter. Wahllos betätigte er den Schalthebel.

Nichts. Das Ding war tot wie ein bemooster Findling.

In diesem Moment ging drüben bei der Ratshalle die Tür auf. Sein Vater verließ in Begleitung der sechs Wanderer sowie des Goden das Gebäude. Auch Erin, der Archivar, war bei ihnen sowie einige Kaufleute und andere Würdenträger der Stadt.

Neben Erin sah Ragnar den Sohn des Archivars. Leòd besaß dunkle, kurz geschnittene Haare, eine Brille sowie leichte Abstehohren. Nicht unbedingt der bestaussehende Vertreter ihres Geschlechts, aber ein guter Freund. Und vertrauenswürdig.