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Der Kampf der Geschlechter steuert seinem Höhepunkt entgegen. Als die Frauenarmee immer tiefer ins Herz der Männerstadt vorrückt, treffen ein alter Mann und eine alte Frau aufeinander - und machen eine unglaubliche Entdeckung: Magda, die oberste Heilerin, und Benedikt, der Prior der Abtei, waren vor fünfundsechzig Jahren ein junges Paar, das durch den Virus auseinandergerissen wurde. Inzwischen trennen sie Welten. Ob sie nach all den Jahren noch immer etwas füreinander empfinden? Kann es gelingen, die Zeit zurückzudrehen und den blutigen Konflikt beizulegen? Wenn es eine Kraft gibt, die das möglich macht, so ist es die Liebe. Der fulminante Abschluss der EDEN-Trilogie.
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Seitenzahl: 521
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Thomas Thiemeyer
Das verbotene Eden III(Entscheidung)
Band 3 der ReiheDas verbotene Eden
Roman
Thomas Thiemeyer geboren 1963, studierte Geologie und Geografie, ehe er sich selbstständig machte und eine Laufbahn als Autor und Illustrator einschlug. Mit seinen Wissenschaftsthrillern und Jugendbuchzyklen, die etliche Preise gewannen, sich über eine halbe Million Mal verkauften und in viele Sprachen übersetzt wurden, ist er eine feste Größe in der deutschen Unterhaltungsliteratur. Seine Geschichten stehen in der Tradition klassischer Abenteuerromane und handeln des Öfteren von der Entdeckung versunkener Kulturen und der Bedrohung durch mysteriöse Mächte. Thomas Thiemeyer lebt in der Nähe von Stuttgart.
Mehr Infos über den Autor und Künstler unter:www.thiemeyer.de
Thomas Thiemeyer
Magda und Ben
Liebt ich wohl je? Nein, schwör es ab, Gesicht!
Du sahst bis jetzt noch wahre Schönheit nicht.
William Shakespeare: Romeo und Julia
© 2013 Thomas Thiemeyer
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nurmit Genehmigung des Autors wiedergegeben werden.Covergestaltung: Thomas Thiemeyer / Midjourney
ISBN: 9783948093587
eISBN: 9783948093570
Prolog
Teil 1
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Teil 2
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Teil 3
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Danksagung
2080, unterhalb der alten Stadt …
Die Finsternis drang wie Rauch aus den Tunneln. Das wenige Licht, das durch Risse und Spalten in der Decke fiel, reichte gerade aus, um ein kurzes Stück des Weges zu beleuchten. Silbriges Wasser tropfte aus Belüftungsschächten und landete platschend auf dem mit Müll und Unrat übersäten Boden.
Mordra verlangsamte ihren Schritt, dann blieb sie stehen. Vor ihr war ein besonders großes Stück Beton aus der Decke gebrochen und auf dem Boden gelandet. Graues Tageslicht schien auf ein verbogenes Kinderspielzeug, ein Dreirad oder Roller. Der rote Lack war an vielen Stellen abgesplittert, und rostiges Eisen kam zum Vorschein. Wie lange es wohl schon hier lag? Ob jemals ein Kind damit gefahren war? Wer hatte das Spielzeug hier heruntergeschleppt und warum?
Mordra versuchte, sich vorzustellen, wie der Roller wohl in den Händen eines Kindes ausgesehen haben mochte. Hatte er einem Jungen oder einem Mädchen gehört? Vielleicht einer kleinen Furie, so wie sie selbst eine gewesen war, kraftstrotzend, pausbäckig und mit abstehenden Zöpfen? Roller gab es auch in Glânmor, allerdings waren sie aus Holz und furchtbar teuer. Nur die Wohlhabenden konnten sich so etwas leisten.
Sie selbst hatte nie so ein Spielzeug besessen, schon gar nicht aus Metall. Der Gedanke an die Abenteuer, die sie damit hätte bestehen können, zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht.
Bewaffnet mit Knie- und Ellbogenschützern, wäre sie die Oststraße bis ans Ende gerannt und dann in einem Affenzahn den Hügel hinuntergebrettert. Vorbei am Stelkinghof, auf dem sie und ihre beiden Schwestern geboren und aufgewachsen waren, vorbei an den Gerbereien mit ihrem durchdringenden Gestank, vorbei am Schlachthof und an den lederverarbeitenden Betrieben bis hinunter zum See. Ein langer, schnurgerader Kilometer, ohne zu bremsen. Danach wäre sie vermutlich in hohem Bogen ins Wasser gesegelt. Vielleicht hätten aber auch ihre Schwestern versucht, sie aufzuhalten, doch Mordra war schon immer gut darin gewesen, Dinge, die ihr gehörten, zu verteidigen. So gesehen war es vielleicht besser, dass sie nie ein solches Spielzeug besessen hatte.
Der Gedanke an ihre Familie ließ sie schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkehren. Ihre Schwester Kendra war verschwunden, überwältigt und entführt von den Bleichen. Schrecklichen Kreaturen, die hier, unterhalb der alten Stadt, in den Schächten der U-Bahn und der Kanalisation hausten.
Kendra war schlanker und sehniger als Mordra, aber mindestens ebenso tödlich. Eine Meisterin des Bogens, die ein Kaninchen auf eine Entfernung von fünfzig Metern erlegen konnte. Zu dumm, dass ihr diese Fähigkeiten hier unten nichts genutzt hatten.
Mordra schüttelte den Kopf, als sie daran dachte, wie naiv sie in dieses Abenteuer gestolpert waren. Ohne zu überlegen, nur beseelt von dem Gedanken, den Inquisitor zu töten, hatten sie die dunklen Schächte betreten und waren in Richtung Stadtzentrum vorgerückt. Selbst ihre Pferde hatten sie mitgenommen, ohne darüber nachzudenken, dass der Lärm vielleicht Feinde auf den Plan rufen konnte. Fünf stolze Brigantinnen, die sich selbst für unbesiegbar hielten. Aber Hochmut kommt vor dem Fall, hieß es nicht so?
Bereits in der ersten Nacht hatten sie die Quittung für ihr leichtfertiges Verhalten erhalten. Der Angriff der Bleichen war heftig und unerwartet erfolgt. Diese Kreaturen konnten sich beinahe lautlos bewegen und waren überdies zäh und schnell. In dem darauffolgenden Kampf waren die Brigantinnen von Anfang an die Unterlegenen gewesen. Jetzt waren Mildred, Josepha und Gwen vermutlich tot, und Kendra war irgendwohin verschleppt worden. Dass es Mordra gelungen war zu überleben, grenzte schon fast an ein Wunder. Ein Pferd hatte sie getreten und sie aus dem Kreis der Angreifer hinausbefördert. Die furchtbare Prellung an ihrer linken Schulter schmerzte immer noch wie die Hölle. Sie war aus der Gefahrenzone in eine Ecke geschleudert worden und von dort aus weitergekrochen. Warum die Kreaturen von ihr abgelassen hatten, würde vermutlich für immer ein Geheimnis bleiben. Hatten sie nicht mitbekommen, wie Mordra in den Abwasserkanal gefallen war? Vielleicht hatten sie auch geglaubt, sie sei tot, und daraufhin beschlossen, sich später mit ihr zu befassen.
Einerlei.
Die Ohnmacht hatte alles, was danach geschehen war, ausgelöscht und durch gnädiges Vergessen ersetzt. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als sie wieder erwacht war. Da hatte sie feststellen müssen, dass die Bleichen zwar fort waren, dass aber auch vom Rest der Brigantinnen jede Spur fehlte.
Was war mit ihnen geschehen? Waren sie getötet worden, verschleppt, gefressen? Mordra hatte den Kampfplatz untersucht, war jedoch nicht fündig geworden. Nirgendwo war Blut zu erkennen, dafür eine Unmenge Kampf- und Schleifspuren, die allesamt über die Barrikade auf die andere Seite führten. Sie erinnerte sich, dass Gwen in diese Richtung geflohen war. Mordra sah noch vor sich, wie das Mädchen davongerannt war, zwei von diesen widerwärtigen Kreaturen im Schlepptau. Sie hatte ihr noch eine Warnung hinterhergerufen, aber Gwen war wie von Sinnen gewesen. War einfach immer weitergerannt, tiefer und tiefer hinein in diese Welt aus Dunkelheit und Verzweiflung.
Was wohl aus ihr geworden war?
Vermutlich tot, genau wie die anderen.
Mordra wandte den Blick von dem Spielzeug ab und folgte dem Schacht tiefer ins Herz der Stadt.
Rost, Müll, Verwesung – die alte Stadt glich einem Friedhof. Ein Mahnmal aus einer Zeit, in der die Menschen in Wohlstand und Überfluss gelebt hatten. Schwer zu glauben, dass an der Oberfläche immer noch Menschen wohnten. Männer zwar, Teufel, aber trotzdem Menschen. Dabei war der Unrat ja nicht einmal das Schlimmste. Woran Mordra sich einfach nicht gewöhnen konnte, war der Gestank. Eine Mischung aus Moder und Fäulnis, die wie der Atem eines Sterbenden roch. Er durchdrang die Kleidung, heftete sich an ihre Haut und machte das Atmen zur Qual. Selbst wenn sie danach tagelang badete, diesen Gestank würde sie nie wieder loswerden.
Einen Moment lang war sie in Gedanken versunken und beachtete nicht, wo sie hintrat. Es platschte, und ein großer Schwall gelbliches Wasser schwappte in ihren Schuh. Einen unterdrückten Fluch ausstoßend, wich sie links auf einen kleinen Schutthügel aus. Sie durfte jetzt nicht unvorsichtig werden. Geräusche wie dieses würden die Bleichen schnell wieder auf den Plan rufen. Vielleicht wären die Brigantinnen weitergekommen, wenn sie versucht hätten, sich ihrer Umgebung anzupassen. So wie Mordra es jetzt tat: leise, heimlich, verstohlen. Ihre Augen vermochten die Dunkelheit zu durchdringen, und auch ihr Gehör war um ein Vielfaches schärfer geworden. Kein noch so kleines Geräusch – mochte es nun das Tropfen von Wasser oder das Rascheln einer Ratte sein – blieb ihr verborgen. Sie konnte fühlen, wenn sich in ihrer Nähe etwas bewegte, und spüren, wie groß ein Raum war, nur anhand von Temperaturänderungen oder dem Hall ihrer Schritte. Ihr Körper war zu etwas anderem geworden, zu einem feinen Messinstrument, das sich mehr und mehr der fremdartigen Umgebung anpasste. Geschmeidig, still und tödlich. Ob das ausreichen würde, blieb abzuwarten. Dies war das Reich der Bleichen. Hier bestimmten sie die Regeln. Sie zog sich bis zur Seitenwand zurück und atmete leise und geräuschlos. Es war hier zwar dunkler, dafür konnte sie trokkenen Fußes weiterlaufen. Weniger Gefahr, in eine Pfütze zu treten.
Was für ein Tag war heute?
Sie hatte ihr Zeitgefühl verloren. Ob Tag oder Nacht, ließ sich nur erahnen. Hier unten herrschte immerwährende Dunkelheit. Sie schlief, wenn sie müde war, und aß, wenn sie Hunger hatte. Wasser gab es genug, und von ihrem Proviant war auch noch einiges übrig.
Den Spuren der Entführer folgend, setzte sie ihren Weg fort. Die Markierungen waren nicht zu übersehen. Schleifspuren, Blutflecken, hin und wieder Kleidungsfetzen. Irgendwo war sie auf Kendras Messer gestoßen, das halb versunken in einer Pfütze lag. Die Klinge war abgebrochen, und der lederumwickelte Griff sah aus, als wäre daran herumgenagt worden. Ohne lang darüber nachzudenken, hatte sie es eingesteckt. Kendra hätte sich niemals freiwillig von dieser Waffe getrennt. Ihre Schwester war hier irgendwo, das spürte sie. Sie würde sie nicht den Bleichen überlassen.
Sie war etwa einen Kilometer gegangen, als sie eine Veränderung bemerkte. Es wurde heller. Auch der Gestank nahm zu. Sie duckte sich in die schwärzesten Schatten und zog ihr Schwert. Das Metall schimmerte wie Sternenlicht.
Vor ihr, auf den ersten Blick schwer zu erkennen, lag ein riesiger, offener Raum. Eine Höhle oder etwas Ähnliches, aber von gewaltigen Ausmaßen. Mehrere Stockwerke tief und so breit, dass man kaum auf die andere Seite blicken konnte. Die Zwischenböden waren herausgebrochen, und aus den Betonplatten ragten krumme, rostige Eisenträger. Die Luft war nebelig und feucht. Das Rauschen von Wasser drang an ihr Ohr.
Mordra versuchte, mit der Wand zu verschmelzen, während sie langsam auf den Rand der Öffnung zukroch. Die Höhle sah aus, als wäre sie durch eine Katastrophe entstanden, eine Explosion oder dergleichen. Sie hatte die Zwischenebenen herausgerissen und einen gewaltigen Innenraum erschaffen. Ungewöhnlich war auch, dass das Licht, anstatt von oben, aus der Tiefe kam. Feuer oder dergleichen.
Für einen kurzen Moment war sie von Hoffnung ergriffen. Eine Menschensiedlung? Schatten zuckten über die Wände. Nebelfetzen waberten wie blutige Tücher durch die Luft.
Mordra hielt den Atem an. Der Abgrund war bodenlos. Ein feuriges Loch ohne Anfang, ohne Ende. Ein Ort, der aussah wie die leibhaftige Hölle. Das Licht entsprang eisernen Tonnen, in denen kränkliche Feuer brannten. Aus einer geborstenen Rohrleitung tröpfelte übelriechendes Wasser. In der Mitte der Höhle befand sich ein See, aus dem ein Schutthaufen herausragte. Die Form dieser Insel war zu gleichmäßig und symmetrisch, als dass sie rein zufällig entstanden sein konnte. Auch die brennenden Tonnen waren nicht willkürlich angeordnet. Sie umschrieben einen Kreis, der so bemessen war, dass die Flammen zwar genügend Licht spendeten, jedoch das Herz der Anlage – den mächtigen Hügel – nicht allzu stark ausleuchteten. So als würde jemand das Licht hassen, jedoch nicht zur Gänze darauf verzichten können.
Wenn nur der verdammte Nebel nicht wäre! Die wabernden Schleier schoben sich immer wieder vor ihr Blickfeld. Bisher hatte sie noch keine lebende Seele gesehen. Waren das Öffnungen auf der Oberseite? Doch, es stimmte schon: Löcher – wie in einem Ameisenhügel.
Plötzlich bemerkte sie eine Bewegung. Irgendetwas krabbelte über die Oberseite des Schutthaufens. Sie kniff die Augen zusammen. Auf allen vieren, den Kopf vorgereckt, tastete sich das Ding voran. So bleich und durchscheinend, dass es vom Untergrund kaum zu unterscheiden war. Ein Mensch war das gewiss nicht. Wie eine Made kroch die Kreatur auf dem Hügel herum, tauchte in eines der Löcher ab und kam an anderer Stelle wieder hervor.
Oder war es ein Artgenosse?
Jetzt, wo sie endlich einen Anhaltspunkt hatte, konnte Mordra abschätzen, wie groß die gesamte Anlage war. Ein leiser Fluch huschte über ihre Lippen.
Kein Zweifel, dies war das Nest, nach dem sie so lange gesucht hatte. Der Bau war riesig. Mindestens dreißig Meter im Durchmesser und zehn Meter hoch. Wobei es schien, dass er in der Tiefe sogar noch weiterging. Den vielen Löchern nach zu urteilen, hatten die Kreaturen den gesamten Untergrund ausgehöhlt und ein Labyrinth aus Stollen und Gängen erschaffen. Bestimmt war der Bau durchzogen von Wohnhöhlen und Schlafräumen, ganz zu schweigen von der wichtigsten Kammer: der des Anführers. Mordra konnte sich zwar nicht vorstellen, dass diese Kreaturen auf irgendeine Weise organisiert waren, andererseits besaßen selbst so hirnlose Kreaturen wie Ameisen eine Organisation. Wenn es also eine Struktur gab, dann musste es auch einen Anführer geben, das war ein Naturgesetz.
Langsam und vorsichtig zog sie sich zurück. Sie spürte, dass ihre Schwester noch am Leben war. Sie und Kendra hatten schon immer eine starke Verbindung gehabt. Ein Band, das nicht mal der Tod würde durchschneiden können.
Mordra ließ ihr Schwert durch die Luft pfeifen. Was immer in der nächsten Stunde geschehen würde, es würde gewiss nichts sein, was man seinen Kindern vor dem Zubettgehen erzählte. Mit einem grimmigen Lächeln machte sie sich an den Abstieg.
65 Jahre zuvor …
Das Schwert pfiff durch die Luft, landete mit hartem Aufprall auf dem Schild des Gegners und prallte federnd davon ab.
Ben lächelte unter seinem Helm. Das neue Schwert war gut ausbalanciert. Nicht so wie diese Bastardklinge vor einem Jahr, bei der ihm nach einer Stunde Kampftraining schier der Arm abgefallen war. Dieses hier war leicht. Leicht, kompakt und gutaussehend. Französischer Stahl, gefertigt von einem Hobbyschmied in einem kleinen Nest im Elsass. Natürlich war es stumpf, so wie alle Turnierwaffen, aber im Fernsehen würde das nicht zu sehen sein. Für die Zuschauer des WDR-Regionalprogramms würde es so wirken, als schlügen sie hier tatsächlich mit echten Waffen aufeinander ein.
»Halt, stopp, kurze Pause.« Der Regisseur, der für die Sendung Lokalzeit einen Beitrag über das alljährliche Mittelalterfest auf der Burg Satzvey drehte, klatschte in die Hände.
»Stopp. Alle mal herhören, bitte. Das war sehr schön eben, wir benötigen aber noch einen Gegenschuss. Wir werden die Kamera dort drüben auf der Treppe postieren und eine letzte Aufnahme mit der Burg im Hintergrund machen. Wir sagen euch Bescheid, sobald wir wieder drehbereit sind, okay?«
Die sechs Kämpfer, unter ihnen Ben, ließen ihre Waffen sinken.
»Alter, das ist ja Schwerstarbeit«, kam es unter einem prächtig verzierten Kreuzhelm hervor.
»There’s no business like show business.« Ben grinste.
»Ach, sei doch still.«
Der Mittelalterverein »Alt-Lindenthal e. V.« existierte seit zehn Jahren. Eine Gruppe junger Männer und Frauen, die Spaß daran hatten, sich zu verkleiden, Rollenspiele zu veranstalten, sich mit stumpfen Waffen zu prügeln und für ein paar Wochen im Jahr der Zivilisation den Rücken zu kehren. Um unter Gleichgesinnten zu sein und sich nebenher etwas dazuzuverdienen, bestritten sie regelmäßig Auftritte auf Straßenfesten, Umzügen oder Ritterspielen, so wie hier auf der Burg Satzvey in der Eifel. Natürlich waren sie nicht mit den französischen Stuntleuten zu vergleichen, die die richtigen Turniere abhielten, aber ihre Truppe war farbenfroh genug, um ins Vorabendprogramm zu kommen. Marten – Bens Gegner – war erst ein Jahr dabei und noch relativ unerfahren. Hätte Ben ihm einen Ratschlag erteilen sollen, hätte er ihm gesagt, dass es für einen Anfänger nicht unbedingt ratsam war, den Kreuzritter zu wählen. Aber dafür war es jetzt zu spät. Die Ausrüstung hatte einen Großteil von Martens Erspartem verschlungen, und er konnte es sich nicht leisten, jetzt noch einmal in etwas Neues zu investieren. Viele Anfänger machten den Fehler, dass sie nur auf die Optik und nicht auf Praktikabilität achteten. Die Kreuzritterrüstung eignete sich nur für erfahrene Veteranen. Bei einem Gesamtgewicht von knapp zwanzig Kilogramm war sie etwas für Leute, die nicht nur über genügend Muskeln, sondern auch über Hornhaut und eine gewisse Leidensfähigkeit verfügten. Schon allein der Beidhänder wog gut und gerne sechs Kilogramm. Wer ihn fünfzigmal geschwungen hatte, würde das nächste Mal mit anderen Augen durch die Waffenkammer eines Rüstungsschmiedes gehen und vielleicht, so wie Ben, lieber auf die leichtere Normannenrüstung in Lederausfertigung und mit Eisenbeschlägen zurückgreifen.
Ben nahm den Helm vom Kopf, strich durch seine verschwitzten Haare und gönnte sich einen Schluck aus seinem Wasserschlauch. Das kühle Nass lief ihm übers Gesicht und tropfte von seinem Kinn. Wie jedes Jahr begannen die Ritterspiele Anfang September und zogen sich durch den ganzen Monat. Bis auf wenige Ausnahmen war das Wetter um diese Jahreszeit gut – um nicht zu sagen, heiß, was sich an stetig steigenden Besucherzahlen niederschlug. Ben konnte sich noch erinnern, dass früher Juli und August die klassischen Sommermonate gewesen waren. Jetzt waren es der Juni und der September. Klimawandel, klare Sache. Der Mensch würde es schon hinbekommen, den Karren in den Dreck zu fahren, und man musste schon ein echter Optimist sein, um vor dem Mist, der überall auf der Welt passierte, die Augen zu verschließen.
»Eh, sag mal, Alter, siehst du die heiße Schnalle da drüben? Ich meine die, die immer zu uns rüberschaut?« Marten deutete mit dem Daumen über seine Schulter. »Ich glaube, die steht da schon seit einer halben Stunde. Sieht echt toll aus, die Kleine.«
Ben reckte den Kopf. Das Mädchen war gerade abgelenkt und tippte mit ihren grünlackierten Fingernägeln auf ihrem iPhone herum. Sie trug ein rosafarbenes Kleid, flache Stoffschuhe und neonfarbene Armbänder. Ihre blonden Haare ruhten sanft auf ihren Schultern, während ihre Augen unentwegt auf das Display ihres Handys starrten.
»Keine Ahnung«, sagte er. »Sieht nett aus. Nicht unbedingt das, was man auf einem Mittelalterfestival erwarten würde. Aber nett.«
»Nett?« Marten schüttelte den Kopf. »Die Braut ist der Hammer. Sieh doch nur mal, wie sie mit ihrem Hintern an dem Cabrio lehnt. Ich glaube, das ist das erste Mal, dass ich mir wünsche, ich wäre der Kotflügel eines Autos.«
Ben kniff die Augen zusammen. »Ich glaube nicht, dass wir ihr aufgefallen sind. Sie scheint sich mehr für ihr Handy zu interessieren.«
»Das kommt dir so vor, weil du keine Augen im Kopf hast. Vorhin, während der Dreharbeiten, da hat sie uns die ganze Zeit zugesehen. Sie hat jede unserer Bewegungen verfolgt.«
»Ach so, deshalb warst du nicht bei der Sache, jetzt wird mir einiges klar«, sagte Ben grinsend. »Ich musste ein paarmal echt aufpassen, dass ich dir nicht den Schädel abrasiere.«
»Das lag nur an dem Helm. Ich kann in dem Teil nicht besonders gut sehen.«
»Vielleicht gehört sie zu der WDR-Truppe …«, sinnierte Ben.
»Vom Outfit her würde sie gut zu diesen Medienfuzzis passen.«
»Glaube ich nicht«, sagte Marten. »Die kam vorhin mit so einem Kerl an, der aussah wie ein Banker. Weißes Hemd, Sakko, Herrenslipper.«
»Ihr Freund?«
»Ach was, viel zu alt. Ich schätze, ihr Vater. Einen Mercedes SLK kannst du dir erst ab ’ner bestimmten Einkommensstufe leisten. Er steht da drüben bei dem Metzelt und säuft sich einen an, siehst du?« Marten deutete hinüber. »Ich frage mich, was so’n Typ wie der hier verloren hat.«
»Vielleicht liebt er guten Met.« Ben stützte sich auf sein Schwert und blickte versonnen zu dem Mädchen hinüber.
»Ich frage mich, ob ich bei der Kleinen wohl eine Chance hätte. Was meinst du?«
Um ein Haar hätte Marten sich an seiner eigenen Spucke verschluckt. Ben musste ihm kräftig auf den Rücken klopfen, bis er wieder reden konnte.
»Vergiss es«, sagte er, immer noch hustend. »Die ist ’ne Nummer zu groß für dich. Sieh dir nur mal die Klamotten an. Typisch It-Girl. Jede Woche ein neuer Style. Die steht auf Typen mit Ferraris, Chromfelgen und Subwoofern. So einen komischen Kauz wie dich würde die nicht mal mit ’ner Manikürezange anfassen.«
»Aber du sagst doch, sie hätte uns beobachtet. Vielleicht steht sie auf unrasierte, schwitzende Kerle mit Muskeln. Ich glaube, ich werde mal mein Glück versuchen.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, marschierte er zu dem Mädchen hinüber. Er hatte zwar keine Augen im Hinterkopf, konnte aber trotzdem sehen, wie Marten der Unterkiefer runterklappte. Als er bei dem Mädchen eintraf, stellte er sich vor sie und stemmte eine Hand in die Hüfte. »Hi.«
»Hi, Großer.« Sie wandte ihren Blick nicht vom Display ihres Handys ab.
»Heiß heute, oder?«
»Das kannst du laut sagen.« Sie drückte den Aus-Schalter und ließ das iPhone in ihrer Handtasche verschwinden. Das Taubeneiblau der Tasche harmonierte perfekt mit dem Kleid und den grünen Fingernägeln.
Als sie ihren Blick hob, fühlte Ben, wie seine Knie weich wurden. Sein Herz puckerte wie ein Schiffsmotor.
»Wartest du auf jemanden?«
»Ja, auf meinen Dad. Er ist da drüben, siehst du? Ich hoffe, dass er lange genug bleibt, um sich einen Schwips anzutrinken, damit ich nach Hause fahren kann. Führerschein ab siebzehn, du verstehst?« Sie zwinkerte ihm zu und neigte den Kopf ein wenig. »Du siehst abgekämpft aus. Wenn du hier fertig bist, könnte ich dich mitnehmen.«
»Sorry, aber ich fürchte, daraus wird nichts«, sagte Ben. »Das Filmteam will noch eine Aufnahme machen, und ich habe meinen Freunden versprochen, dass wir anschließend noch ein bisschen feiern.«
»Schade.« Sie sah ihm tief in die Augen, dann packte sie ihn und zog ihn zu sich herunter. Ihre Lippen waren wunderbar weich und schmeckten nach Kirschen.
Ben konnte hören, wie Marten im Hintergrund ein ungläubiges Grunzen ausstieß. Es war förmlich zu spüren, wie seine kleine heile Welt zusammenbrach. Ben spürte einen kurzen Anflug von schlechtem Gewissen, doch das wunderbare Mädchen in seinen Armen vertrieb das Gefühl.
Der Kuss währte eine gefühlte Unendlichkeit und war in jeder Hinsicht sensationell. Ben fing schon an, Sternchen zu sehen, so lange hatte er bereits den Atem angehalten. Als sie sich voneinander lösten, taumelte er leicht zur Seite.
Sie lächelte ihn an. »Alles klar?«
»Mmh? Oh ja, sehr. Ich bin ein bisschen beschwipst, das ist alles.«
Sie nickte. Dann holte sie einen Taschenspiegel heraus und zog ihren Lippenstift nach. Als sie fertig war, sah sie ihn an und lachte.
Ben runzelte die Stirn. »Was ist los?«
»Hier.« Sie hielt ihm den Spiegel entgegen.
Sein Mund war voller Lippenstift mit Glitzerpigmenten.
»Dagegen sollten wir etwas unternehmen«, sagte sie. »Wir wollen doch nicht, dass deine Freunde dich für eine Tunte halten, oder?« Sie nahm ein Taschentuch und wischte ihm über den Mund. »So ist’s gut. Schaden bereinigt. Nun geh wieder zurück zu deinen Kumpanen und zieh ihnen dein Schwert über den Schädel. Ich werde zusehen, dass ich meinen Dad loseise und zum Heimfahren bewege. Ich werde mir den Rest eurer Show in ein paar Tagen im Fernsehen anschauen. Man sieht sich.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging zum Metstand hinüber.
Ben sah ihr noch eine Weile hinterher, dann ging auch er zurück.
Das Kamerateam war inzwischen fertig mit der Einstellung und wartete darauf, dass sie wieder ihre Positionen einnahmen.
Marten starrte ihn an wie eine Kuh, wenn es blitzt.
»Alter, was war das denn gerade? Wüsste ich es nicht besser, ich könnte schwören, du hast sie geküsst.«
»Habe ich auch. War ziemlich schön«, sagte Ben und zog seinen Helm wieder auf. »Nur diesen Glitzerlippenstift kann ich nicht leiden. Das Zeug nervt.«
»Aber wie … ich meine … was …?«
»Sie ist seine Freundin, du Idiot«, dröhnte es von nebenan unter Steffens prächtigem Wikingerbart hervor. »Die beiden sind schon seit einem Jahr zusammen, wusstest du das nicht?«
Einen Moment lang stand Marten da und blickte sprachlos zwischen Ben und Steffen hin und her.
»Sie ist deine … Freundin?«
Ben nickte. Marten war noch nicht lange genug dabei, um Magda zu kennen. Sie kam nur selten zu ihren Vereinstreffen und war der Meinung, der Karnevalsverein müsse ohne sie auskommen. Und eigentlich fand Ben das ganz gut. Er vertrat die Theorie, dass eine gute Partnerschaft nur dann funktionierte, wenn man nicht symbiotisch aneinanderklebte, sondern wenn jeder nebenher noch ein eigenes Leben führte.
Der Spaß war ihm gelungen, er hoffte nur, dass er es nicht zu weit getrieben hatte. Er mochte Marten und wollte ihn nicht brüskieren.
»So, die Herrschaften«, rief ihnen der Regisseur zu und klatschte in die Hände. »Bitte wieder Aufstellung nehmen, wir drehen weiter. Letzte Einstellung für heute, danach gibt es für jeden ein kühles Blondes.«
Ben grinste. Ein kühles Blondes hatte er ja gerade im Arm gehabt, aber die Aussicht auf ein frisch gezapftes Kölsch war auch nicht schlecht. Er duckte sich hinter seinem Schild und hob sein Schwert.
Benedikt?«
Die Stimme sickerte mit öliger Langsamkeit durch seine Gehörwindungen. Nicht laut genug, um wirklich zu stören, aber doch so hartnäckig, dass er sie nicht gänzlich ausblenden konnte.
Draußen auf der Wiese waren ein paar Frisbeewerfer damit beschäftigt, Kunststücke einzuüben. Die Scheibe flog in weitem Bogen durch die Luft und wurde fachkundig aufgefangen. Der Fänger ließ sie eine Weile auf seinem Finger rotieren, dann packte er sie und schleuderte sie zurück.
»Erde an Benedikt, ist jemand zu Hause?«
Bens Kopf wanderte im Zeitlupentempo herum. Die Frisbeespieler verblassten, die Realität hatte ihn wieder.
»Wie schön, Sie wieder bei uns zu wissen, Herr Eigel. Ich freue mich immer, wenn die Schüler meinem Unterricht mit so viel Begeisterung folgen.«
Montagmorgen, dritte Stunde. Bio bei Oberstudienrat Greipel. Der Mann, der dafür verantwortlich war, dass Bens Zensur im vergangenen Jahr erdrutschartig abgesackt war, und einer der wenigen, die ihn immer noch beharrlich Benedikt nannten, obwohl er des Öfteren darum gebeten hatte, mit Ben angesprochen zu werden. Natürlich tat Greipel das nur, weil er auf diese Art weiterhin Papstwitze auf Bens Kosten reißen konnte, obwohl selbst die ja mittlerweile veraltet waren. Als ob Ben etwas mit der katholischen Kirche am Hut gehabt hätte! Aber vielleicht gerade deshalb. Bei manchen Leuten war Sadismus untrennbar mit Infantilität gekoppelt.
Eigentlich mochte Ben Biologie. Es war eines der wenigen naturwissenschaftlichen Fächer, denen er folgen und für die er sich sogar begeistern konnte. Doch Greipel hatte eine Art, selbst den spannendsten Stoff zu Staub werden zu lassen. Er benutzte immer noch den guten alten Overhead-Projektor, teilte Kopien auf gelblichem Billigpapier aus und pflegte den klassischen Frontalunterricht. Dabei ging er unentwegt auf und ab, presste seine Fingerspitzen aufeinander und ratterte die Fakten herunter, dass es klang, als würde man an einer Gebetsmühle drehen.
Bens Augenlider waren schwer wie Blei. Das Wochenende steckte ihm in den Knochen. Das Kampftraining, die viele Sonne, das Bier am Abend. Vielleicht hätte er doch Magdas Angebot, ihn mitzunehmen, annehmen sollen. Andererseits war es schön gewesen, mit seinen Kumpels abzuhängen, zuzusehen, wie die Sonne hinter der Burg verschwand, und sich wieder wie ein kleiner Junge zu fühlen.
Greipel schnürte auf ihn zu und pflanzte sich breitbeinig vor ihm auf.
»Und, sind Sie wieder bei uns, Benedikt?«
»Voll und ganz, Sir.« Ben deutete einen militärischen Gruß an.
»Schön.« Auf Greipels kleinem Erdnussgesicht erschien ein durchtriebenes Grinsen. »Dann erklär uns doch mal bitte, was ein Virus ist. Definition, Morphologie, Klassifizierung, Replikation. Zack, zack, zack.« Er klatschte in die Hände.
Einige Lacher ertönten.
»Da gibt es nichts zu lachen, Herrschaften«, schnauzte Greipel. »Der Stoff wird Teil der Klausur nächste Woche, also passt jetzt besser auf. Leg los, Benedikt.«
»Also ein Virus ist …«
»Vorne an der Tafel, bitte.« Greipel machte eine einladende Geste, als würde er Ben zum Tee bitten. »Ich möchte Skizzen, Tabellen, Skalen. Das ganze Programm.«
Seufzend schlurfte Ben nach vorne. Er spürte die Blicke des gesamten Kurses in seinem Rücken, einschließlich Magdas, die wie immer in der zweiten Reihe saß. Greipel ging offenbar davon aus, dass Ben hoffnungslos versagen würde. So wie die meisten an der Schule wusste auch er, dass Ben das Wochenende mit seiner LARP-Gruppe in der Eifel verbracht hatte.
Der Mittelalterverein war allgemeines Schulthema, solche Dinge blieben nie geheim. Was Greipel allerdings nicht wusste: Ben hatte sich erst am Donnerstag zuvor intensiv mit dem Thema beschäftigt. Der Grund dafür war ein Artikel auf Spiegel-Online über ein in Rotterdam entwickeltes Supervirus gewesen; es sollte so gefährlich sein, dass die US-Regierung an Forscher und Fachjournale appellierte, Daten darüber unter Verschluss zu halten. Der Vorgang sei einzigartig, erklärte Chefredakteur Bruce Alberts von der amerikanischen Fachzeitschrift Science. Noch nie zuvor habe sich die US-Regierung in die Veröffentlichung einer Studie eingeschaltet und Geheimhaltung empfohlen. Bei dem überaus gefährlichen und hochansteckenden Virus handele es sich um eine Variante des Schweinegrippe-Erregers H1N1, und die Regierung in Washington befürchtete, Terroristen könnten damit neue Biowaffen bauen.
Ben hatte das Thema interessiert, und so hatte er sich binnen kürzester Zeit alles Wissenswerte darüber angeeignet. Im Handumdrehen war er zu einem Experten in Sachen Virologie geworden, was Greipel unmöglich wissen konnte. Sein Lächeln zeugte jedenfalls davon, dass er mit der baldigen Kapitulation des renitenten Schülers rechnete.
»Ich warte.« Sein Fuß wippte ungeduldig auf und ab.
Ben nahm die Kreide und zeichnete mit ein paar schnellen Strichen den klassischen sechseckigen Umriss eines Virions auf die Tafel.
»Viren sind ansteckende Partikel, die sich außerhalb von Zellen durch Übertragung verbreiten, sich aber nur innerhalb einer sogenannten Wirtszelle vermehren können«, sagte er.
»Es sind bisher um die dreitausend Virenarten identifiziert worden. Ihre Struktur ist denkbar einfach. Sie bestehen aus Virusnukleinsäure, die das Virusgenom bildet, also die Erbinformation. Sie wird von einem Kapsid umschlossen, das aus viruskodierten Kapsomeren besteht. Manche Virusarten sind zusätzlich von einer Virushülle umgeben; daran befinden sich Beinchen oder Fühler, die sogenannten Spikes.« Er zeichnete einen Kreis um das Virus und vervollständigte ihn mit kleinen Strichen. Das Ganze sah aus wie eine missgestaltete Sonne. Zufrieden mit seinem Werk, trat Ben einen Schritt zurück.
»In welcher Form liegt die Nukleinsäure im Inneren vor?«
Greipel schien langsam aufzugehen, dass sein Triumph vielleicht doch verfrüht gewesen war.
»Unterschiedlich«, erläuterte Ben. »Das Genom besteht aus RNA oder DNA, die einzelsträngig oder doppelsträngig, linear oder zirkulär vorliegt. Von den RNA-Viren gibt es vierzehn Familien, von den DNA-Viren allerdings nur sechs. Ein Virus ist im Wesentlichen ein einfaches stoffliches Programm, das zur Eigenreproduktion dient. Es besitzt selbst keinen Stoffwechsel. Ob es somit die Kriterien eines Lebewesens erfüllt, ist immer noch umstritten. Wie auch immer, es gibt verschiedene Formen und Größen. Da ist einmal die kubische Form, so wie beim Poliovirus«, er tippte auf die sechseckige Form, »heliokal, wie beim Grippe-, Mumps- oder Masernvirus«, er tippte auf die runde Form, »oder komplex wie bei Pockenvirus oder Bakteriophagen.« Er zeichnete eine paar senkrechte Striche unter das Kapsid und ergänzte es mit Beinchen, die es aussehen ließen wie eine Mondlandefähre.
»Der Vermehrungsvorgang beginnt damit, dass sich das kleine Virus an die Oberseite der runden, einladend aussehenden Wirtszelle heftet, Körperkontakt aufnimmt und mit ihm verschmilzt. Ob aus Anziehung oder Liebe, wissen wir nicht, der Fachausdruck dafür lautet jedenfalls Penetration.«
Einige der Mädchen tauchten kichernd hinter ihren Büchern ab.
»Herrschaften!« Greipel presste die Lippen zusammen, konnte aber nichts unternehmen. Es war tatsächlich der korrekte Fachterminus, und Ben hatte nichts weiter getan, als aus dem Schulstoff zu zitieren.
Als Ruhe einkehrte, fuhr Ben fort: »Wenn das Virus die Verteidigungseinrichtungen der Wirtszelle erst einmal umgangen und sie willenlos und gefügig gemacht hat, setzt es zum eigentlichen Vorstoß an. Es nimmt sich den Zellkern vor, packt ihn, streift seine Hülle ab und dringt in ihn ein. So.« Er skizzierte den Vorgang mit ein paar gekonnten Strichen, die es wie einen Liebesakt aussehen ließen.
Wieder war Gekicher zu hören, diesmal lauter.
Greipel verlor sichtlich die Geduld. »Herr Eigel, ich würde es begrüßen, wenn Sie den Vorgang etwas sachlicher darstellen würden.«
»Aber das tue ich doch. Ich beschreibe einen alltäglichen biologischen Vorgang, der bei jedem von uns wirksam ist. Bei manchen mehr, bei manchen weniger.« Er zwinkerte Magda zu. Sie bekam rote Wangen und senkte den Blick.
»Das Virus dringt also in den Kern ein, fest entschlossen, sich zu vermehren. Es entmantelt sich – lässt also umgangssprachlich gesprochen die Hosen runter – und entlädt sein Erbmaterial in einer schnellen heftigen Kontraktion ins Zellinnere.« Lautstarkes Gelächter brandete auf. Manche bekamen sich überhaupt nicht mehr ein.
»Ruhe«, donnerte Greipel. »Herr Eigel, wenn Sie weiter darauf bestehen, hier den Klassenclown zu spielen, muss ich Sie mit einem Empfehlungsschreiben zu unserem Direktor schikken.«
»Ich habe mich nur bemüht, den Vorgang möglichst sachgerecht zu beschreiben …«
»Ich weiß genau, was Sie hier versuchen, Herr Eigel, aber das wird Ihnen nicht gelingen. Noch ist die Schule ein Ort des Anstands und der Moral. Schwerterschwingende Hippies wie Sie werden es bei uns nicht weit bringen. Und jetzt fahren Sie fort. Sollte ich noch einmal irgendwelche anstößigen Bemerkungen aus Ihrem Mund hören, wird Ihnen das leidtun, das verspreche ich Ihnen.«
Ben war klug genug, seine Strategie zu ändern, und übernahm für den Rest seines Vortrags denselben langweilig pastoralen Ton wie Greipel. Damit schaffte er es zwar, sich einigermaßen glimpflich aus der Affäre zu ziehen, doch der Spaß war dahin. Na ja, wenigstens würde es sich Greipel das nächste Mal zweimal überlegen, ob er Ben nach vorne an die Tafel holte.
»Mann, das war ja megaunfair«, sagte Konrad eine Viertelstunde später auf dem Pausenhof. »Drei plus. Mit deinem Fachwissen hätte er dir eigentlich eine Eins geben müssen. Woher weißt du all das Zeug? Ich kann mir nicht mal den inneren Aufbau merken.«
Ben schob den letzten Rest seiner hausgemachten Falafel in den Mund und sagte: »Zufall. Neulich kam etwas darüber in den Nachrichten. Die haben drüben in Rotterdam ein Killervirus zusammengebaut. Es soll so tödlich sein, dass sie selbst die Berichterstattung darüber verbieten. Damit keiner auf die Idee kommt, das Virus nachzubauen, versteht ihr?«
»Kranke Leute gibt’s«, sagte Konrad kopfschüttelnd. »Wieso züchten sie überhaupt so einen gefährlichen Mist? Man muss doch immer damit rechnen, dass so etwas mal ausbricht und sich fröhlich vermehrt.«
»Ich glaube, so weit denken die gar nicht. Hauptsache, forschen, züchten, zum Leben erwecken. Wie einst der gute Dr. Frankenstein. Schauen, was machbar ist, und dann publizieren. Heutzutage musst du auch als Wissenschaftler ständig in den Medien sein, sonst kürzen sie dir die Fördergelder.«
»Geld regiert die Welt.«
»Du sagst es, Alter.« Ben wischte sich den Mund ab. »Die Frage, ob man tun sollte, was man zu tun vermag, stellt sich nicht. Ethische Beweggründe, Moral, Verantwortung? Pfft.
Aber wetten, dass diese Typen in der Kirche immer vorne sitzen? Genau wie unser werter Herr Greipel. Ich habe rausbekommen, dass er nebenberuflich im Pfarramt tätig ist. Der hat bestimmt keine schlaflosen Nächte, wenn er tagsüber Schüler quält. Zum Glück müssen wir ihn ja nicht mehr lange ertragen. Ein Jahr noch, dann sind wir aus dem Irrenhaus raus, dann beginnt das wahre Leben.«
»Was hast du denn vor, wenn du dein Abi hast?«
Ben richtete seinen Blick nach oben. Zwischen den Zweigen der Bäume schimmerte der blaue Himmel durch. Anmutige, weiße Wolken zogen darüber.
»Zuerst mal reisen«, sagte er lächelnd. »Einfach mal etwas von der Welt sehen. Vielleicht ein freiwilliges soziales Jahr machen, in Afrika, Asien oder Südamerika. Die haben da eine Menge spannender Projekte. Man kann mit den Menschen dort zusammenarbeiten, etwas über ihre Kultur lernen, ein Teil ihrer Welt werden, ohne sich Gedanken über Bausparverträge und Rentenversicherungen zu machen.«
Konrad kicherte.
»Im Ernst, Mann. Wie sehr ich diese armen Schweine bedauere, die nach dem Abi sofort ins Studium wechseln. G8, Bachelor, Master, du wirst da durchgeschleust wie durch eine Autowaschanlage. Da paukst du dir Wissen in den Schädel, schreibst Klausuren, hältst Referate und merkst gar nicht, wie die besten Jahre deines Lebens an dir vorüberziehen. Am Ende hast du vielleicht deinen Abschluss, aber du stellst fest, dass du die ganze Zeit nur funktioniert hast. Keine Freiheit, nichts. Tja, und dann erwartet alle Welt, dass du mit deinem Abschluss gleich in den Job wechselst. Und da geht die Tretmühle dann erst richtig los.« Er schüttelte den Kopf. »Ohne mich, Freunde.«
»Nette Ansage, Ben, aber findest du nicht, dass du es dir ein bisschen zu leicht machst?« Martin, ein blasser Rotschopf, der grundsätzlich nur in Hosen mit Hosenträgern herumlief, war Chef der Schülerzeitung und obendrein in der Literatur-AG. Ein netter Kerl, aber für Bens Geschmack ein bisschen spießig. »Ich meine, du hast leicht reden. Dein Vater ist ein hohes Tier an der Uniklinik, du hast jetzt schon eine eigene Wohnung, und finanziell bist du bestens versorgt. Da ist es leicht, von der großen weiten Welt zu träumen. Ich wette, Magda genießt diesen Luxus auch, oder? Sie wohnt ja schon praktisch bei dir. Mit so einer Freundin und so einer Wohnung würde es mir auch leichtfallen, von der großen weiten Welt zu träumen.«
»Höre ich da einen leichten Anflug von Neid?«, witzelte Konrad. »Fühlen wir uns etwa einsam, seitdem Isabel uns verlassen hat?« Er formte seinen Mund zu einem Kuss und machte laute und vernehmliche Schmatzgeräusche.
»Blödmann«, erwiderte Martin.
Ben grinste. Die Geschichte, wie er und Magda zusammengekommen waren – das war typisch für ihre Beziehung. Eine Verkettung seltsamer Zufälle, die aber irgendwie doch zum Guten geführt hatte. Vor einem Jahr stand in Ethik das Thema Zukunft an. Sie sollten aufschreiben, wie sie sich die Zukunft in zehn, zwanzig, hundert Jahren vorstellten. Es waren Projektgruppen gebildet worden, und da Ben und Magda niemanden fanden, der mit ihnen zusammenarbeiten wollte, wurde aus ihnen kurzerhand ein Team gebildet. Was anfangs nach einer totalen Katastrophe aussah, entpuppte sich nach und nach als echter Glücksfall. Sie entdeckten völlig neue Seiten aneinander. Seiten, mit denen vorher niemand gerechnet hatte. Zum Beispiel war Magda erstaunlich belesen und konnte in den Themenbereichen Wirtschaft und soziale Entwicklung punkten. Ben hingegen war gut in Evolution und Geschichte. Außerdem waren sie beide Einzelkinder. Gute Voraussetzungen!
Als sie ihr Wissen zusammenwarfen, stellten sie fest, dass ihr Projekt wie von allein voranschritt. Niemand fühlte sich überfordert oder hatte den Eindruck, der andere wolle ihm etwas aufhalsen. Sie hatten eine klare Arbeitsteilung, und am Schluss holten sie sich die beste Note des gesamten Kurses, was natürlich ausgiebig mit Freunden im Merlin gefeiert werden musste. Dann ging alles sehr schnell. Magda war kein Mädchen, das lange um den heißen Brei herumredete. Sie erklärte Ben, dass sie ihn attraktiv fand und ihn gerne näher kennenlernen möchte. Ben wusste, dass sie sich gerade von ihrem Freund getrennt hatte und die Gefahr bestand, nur eine Übergangslösung zu sein, aber das war ihm egal. Allein die Aussicht, mit einer Frau wie Magda zusammen zu sein, sie in seiner Nähe zu wissen, mit ihr zu lachen, zu reden und sie zu berühren, war etwas, das ihm zu unwirklich erschien, als dass er es mit kühlen Wahrscheinlichkeitsrechnungen zerstören wollte. Seine Maxime war: Lebe den Augenblick und mach dir keine Sorgen um die Zukunft. Und genauso hatte er es auch mit Magda gehandhabt. Eine Entscheidung, die er nie bereut hatte.
»Lass Magda aus dem Spiel«, sagte Ben. »Sie hat nichts damit zu tun. Ihre Eltern sind beide im Immobiliengeschäft tätig und haben genug Geld. Glaub mir, die sind nicht gerade glücklich über einen Schwiegersohn wie mich.« Er grinste.
»Dass mein Vater diese Wohnung als Geldanlage gekauft hat, kann man mir wohl kaum zum Vorwurf machen. Natürlich bin ich froh darüber, dass es sie gibt. Was sollte ich allein in dem großen Haus? Seit Mum weg ist, kommt er kaum noch nach Hause, und wenn, dann nur zum Essen und Schlafen. Vermieten oder verkaufen will er die Wohnung nicht, also warum sollte ich sie dann nicht nutzen? Sein Geld kann er behalten. Wenn ich etwas brauche, jobbe ich, ansonsten lebe ich sparsam. Wenn er will, kann er die Kohle dem WWF oder Greenpeace spenden.«
»Das sagst du jetzt«, sagte Martin. »Aber warte mal, bis du älter bist. Dann steigen deine Ansprüche, und du wirst froh sein, dass dein alter Herr etwas für dich auf die Seite gelegt hat.«
»Ich habe mittlerweile die Hoffnung aufgegeben, dass wir beide uns noch mal einig werden, Martin«, sagte Ben. »Wir leben einfach in unterschiedlichen Welten. Für mich ist Kohle nichts, wonach es sich zu streben lohnt. Reichtum macht einen nicht reicher, er beschäftigt einen nur mehr. Wenn du einen Job hast, der dir Spaß macht, kommt das Geld von allein. Aber ihm hinterherhecheln wie ein Hund?« Er schüttelte den Kopf. »Ohne mich.«
Martin blickte ihn verständnislos an. »Ehrlich, ich habe bis heute nicht begriffen, was Magda überhaupt an dir findet. Sie mag teure Klamotten, schnelle Autos und High Heels. Du stehst auf Mittelalter, Rollenspiele und Heavy Metal. Ich meine, schau dich doch mal an. Dass du nicht in einem schottischen Kilt herumläufst, ist gerade noch alles. Es ist mir ein Rätsel, wie ihr beide zueinandergefunden habt.«
Ben blickte einen Moment lang nachdenklich zu Boden, dann sagte er: »Soll ich dir etwas sagen? Mir auch.«
Es war schon Abend. Ben hatte gerade seine Schürze umgebunden und war auf dem Weg in die Küche, als es an der Wohnungstür klingelte. Er stoppte und benutzte die Gegensprechanlage. »Hallo?«
»Ich bin’s. Ich habe beide Hände voll, lässt du mich rein?«
»Soll ich dir tragen helfen?«
»Nein, geht schon, nur aufmachen.«
Bens Herz klopfte, während er den Türöffner drückte.
Obwohl Magda praktisch schon bei ihm wohnte und einen eigenen Schlüssel besaß, war er immer noch aufgeregt, wenn sie kam. Es stimmte schon, er wusste selbst nicht, was sie an ihm fand. War es seine unkonventionelle Art, seine Selbständigkeit oder sein Humor? All das waren Dinge, die ein anderes Mädchen vermutlich abgeschreckt hätten. Aber nicht Magda. Sie war selbstbewusst genug, um zu lächeln, wenn andere sich über sie und Ben das Maul zerrissen.
Ihre Beziehung hielt immerhin schon knapp ein Jahr, und noch immer wunderten sich viele Leute über dieses ungleiche Paar. Ihre Freunde hatten die Verbindung natürlich längst akzeptiert, aber hin und wieder fielen auch hier Worte der Verwunderung. Die gängige Meinung ging dahin, dass Gegensätze sich eben anzögen. Dieses Argument schien unverrückbar wie ein Naturgesetz. Obwohl es eigentlich Quatsch war. Freundschaft oder Liebe fußte auf Gemeinsamkeiten, nicht auf Gegensätzen. Außerdem waren die Gegensätze bei ihnen nur optischer Natur. In ihrem Wesen, ihrer Seele, waren sie einander sehr ähnlich. Sie sahen die Dinge auf dieselbe Weise, sie dachten ähnlich, sie hatten ähnliche Interessen. Ja, sie lachten sogar über dieselben Witze. In ihrer Jahrgangsstufe wurden sie schon fast als altes Ehepaar belächelt. Wäre da nicht die Tatsache gewesen, dass sie es beide mit dem Heiraten nicht eilig hatten, hätte man es schon beinahe eine Ehe nennen können. Sie wohnte bei ihm, er kochte, sie jobbte, um die Wohnung kümmerten sie sich gemeinsam, die Kosten für Lebensmittel und andere Einkäufe wurden gerecht geteilt, selbst beim Putzen übernahm jeder seinen Teil.
Irgendwie spießig. Aber auch wunderschön.
Es klopfte, und Ben machte auf. Magda trug eine Einkaufstasche in der Rechten und ihren Fahrradhelm in der Linken. Sie hatte sich umgezogen und sah einfach umwerfend aus. Nicht aufgedonnert, im Gegenteil: ein Shiroi-Neko-T-Shirt, abgeschnittene Jeans und bordeauxrote Chucks. Um ihren Hals trug sie an einer Kette ein streichholzschachtelgroßes Goldkreuz.
»Na, zum Glück bin ich kein Vampir«, sagte Ben mit Blick auf das christliche Symbol. »Sonst könnte ich kaum das hier tun, oder?« Er beugte sich vor, umschlang sie mit seinen langen Armen und küsste sie zärtlich und inniglich. Sie roch heute irgendwie anders: nach Bratapfel mit Zimt. Sehr verführerisch. Es fiel ihm schwer, sich wieder von ihr zu lösen, doch als er es tat, lag ein gewisses Funkeln in ihren Augen.
»Du hast eine äußerst charmante Art, dich über mich lustig zu machen, weißt du das?«
»Was, wegen des Kreuzes? Nichts läge mir ferner, als mich darüber lustig zu machen.« Er zwinkerte ihr zu. »Komm doch rein. Warte, ich nehme dir die Tasche ab.«
Magda schnürte in die Wohnung und hob die Nase. »Mmh, was riecht denn hier so lecker?«
»Spaghetti mit Meeresfrüchten. Ich dachte, ich überrasche dich mit einem kleinen Abendessen.«
»Überraschung gelungen. Ich liebe Meeresfrüchte, aber noch mehr liebe ich Knoblauch. Zum Glück bist du wirklich kein Vampir, auch wenn du manchmal so aussiehst. Ich habe noch einen Salat gekauft, den können wir dazu machen.«
»Perfekt. Übrigens, die Sache mit dem Kreuz hat ja auch ihre Vorteile. Man kann die größten Schweinereien anstellen und kommt trotzdem ins Himmelreich. Man braucht hinterher nur zu beichten.« Er lächelte schelmisch.
»Aber nur bei uns Katholiken. Die armen Protestanten müssen zeit ihres Lebens mit dieser Schuld leben.«
»Weswegen sie auch immer so miesepetrig aus der Wäsche gucken.«
»Mann, bist du fies.« Magda lachte. »Aber jetzt lass uns zusammen kochen. Vor lauter Knoblauch und Schweinereien läuft mir schon das Wasser im Mund zusammen.«
Zwei Stunden später lagen sie immer noch im Bett. Es war schon fast halb neun, und draußen hinter den Fenstern gingen die ersten Lichter an. Ein wundervoller Spätsommerabend! Eigentlich hatten sie vorgehabt, sich noch mit Freunden im Biergarten vom Merlin zu treffen, doch Ben verspürte gerade keine Lust, seinen Fuß vor die Tür zu setzen. Seine Haut kribbelte immer noch von den zärtlichen Berührungen Magdas, und auf seinem Gesicht lag dieses Dauergrinsen, das seine Freunde einfach nur dämlich fanden. Er war so glücklich, dass von ihm aus die Welt hätte untergehen können.
Hauptsache, er und Magda waren beisammen.
Sie lag neben ihm, ihren Kopf auf seiner Brust, den Körper nur von einem dünnen Laken bedeckt, während ihre Finger über das Display ihres iPhones huschten.
»Ich habe uns übrigens noch einen Film ausgeliehen«, sagte er. »Wenn du Lust hast, können wir uns einen gemütlichen Abend zu Hause machen. Ich serviere uns ein paar Cocktails, wir hängen hier ab, später gehen wir noch duschen und verkriechen uns dann wieder ins Bett.«
Magda hob ihren Kopf leicht an, wandte ihren Blick aber nicht vom Handy ab. »Faulpelz.«
Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Ach, weißt du, nach dieser Sache mit Greipel habe ich geschworen, es mir heute richtig gutgehen zu lassen. Im Merlin sind sowieso nur wieder dieselben Nasen, es gibt Bier, und aus den Lautsprechern tönt Duran Duran.«
»Es sind unsere Freunde …«
»Ja klar, aber das sind sie doch morgen auch noch. Lass uns heute eine Ausnahme machen, bitte. Lass uns hierbleiben, nur wir zwei – wie ein altes Ehepaar.«
Sie drehte sich zu ihm um und blickte ihn aus ihren unergründlichen Augen an. »Würdest du mich denn heiraten, wenn ich dich fragte?«
Sein Grinsen verschwand. »Du meinst, so richtig? Mit allem Drum und Dran?«
»Bis dass der Tod uns scheidet.«
Er überlegte kurz, dann nickte er. »Würde ich. Ohne mit der Wimper zu zucken. Du bist meine große Liebe. Ich will den Rest meines Lebens mit dir verbringen.«
Sie sah ihn eine Weile ernst an, dann erschien plötzlich dieses schalkhafte Lächeln auf ihrem Gesicht, bei dem er immer so ein Kribbeln im Bauch bekam. »Dann sei froh, dass ich nicht frage – noch nicht. Ich glaube, meine Eltern würden das nicht überleben. Also schön, bleiben wir eben hier. Was hast du denn für einen Film? Ich hoffe, keine langweilige Liebesschnulze, dabei schlafe ich nämlich ein.«
»Keine Sorge. Ein echter Kultfilm. The Wicker Man aus dem Jahre 1973 mit Christopher Lee in der Hauptrolle.«
»Horror?«, fragte sie hoffnungsvoll.
»Eher Mystery. Der Film handelt von einem katholischen Polizisten, der nach einem verschwundenen Mädchen sucht und dabei auf eine schottische Insel gerät, deren Bewohner einem seltsamen, archaischen Heidenkult angehören.«
»Klingt gut.«
»Ist allerdings in Englisch mit Untertiteln. Der Film hat in Fachkreisen einen absoluten Kultstatus, und ich wollte ihn immer schon mal sehen.«
Magda richtete sich auf. »Na schön, gib mir noch eine Viertelstunde im Bad, dann können wir deinen Wicker Man anschauen. Und ich will einen von deinen Cocktails haben, okay?«
»Ist gebongt.«
Er schaute ihr hinterher, wie sie im Bad verschwand, dann schaltete er den Fernseher ein.
Die Abendnachrichten waren gerade vorbei, als die Sprecherin eine Sondersendung ankündigte. Wie es aussah, war es mal wieder irgendwo zu einer Grippeepidemie gekommen, die nun auch nach Deutschland zu schwappen drohte. Ben wollte auf den DVD-Kanal wechseln, blieb aber dann doch bei der Sendung hängen.
Das Thema Viren ließ ihn einfach nicht los. Außerdem klang es ernst.
»… Dutzende neuer Verdachtsmomente in den letzten paar Stunden«, sagte der Reporter. »Im Universitätskrankenhaus Motol, einem der größten Krankenhäuser der Tschechischen Republik, laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren, um die Bevölkerung mit dem neuentwickelten Grippemittel FLU-VACC zu impfen. Laut Berichten hat der Impfstoff gegen den extrem hartnäckigen Erreger H1N1, im Volksmund auch Schweinegrippevirus genannt, bisher sehr gute Erfolge gezeigt. Prag dürfte damit zur ersten Großstadt Europas werden, bei der die Impfung nicht auf freiwilliger Basis, sondern per staatlicher Verordnung stattfindet. Ein Vorgang, der in der Geschichte der Medizin bisher einmalig ist. Und damit zurück ins Studio.«
In diesem Moment kam Magda aus dem Bad, ihre Haare mit einem Handtuch abrubbelnd. »Was ist denn los? Ich dachte, wir gucken einen Film.«
»Gleich. Ich wollte nur noch schnell die Sendung anschauen. Sie sagen, dass eine neue Grippeepidemie im Anmarsch ist. Angeblich ein Ableger des Schweinegrippevirus.«
»Was denn, zu dieser Jahreszeit?« Sie setzte sich neben ihn aufs Bett. »Das ist aber höchst ungewöhnlich. Normalerweise treten diese Epidemien doch erst Dezember bis Februar auf. In der klassischen Erkältungszeit eben.«
Magda arbeitete seit einiger Zeit aushilfsweise an der Uniklinik Köln und kannte sich in Gesundheitsdingen recht gut aus. Eingefädelt hatte das Bens Vater, und Magda mochte den Job. Sie konnte schon immer gut mit Leuten umgehen, und außerdem brachte die Arbeit Geld. Nicht, dass sie es unbedingt benötigte – ihre Eltern verdienten gut –, aber es war eben doch ein Unterschied, ob man selbst verdiente oder seinen Eltern auf der Tasche lag. Wieder so ein Punkt, der sie und Ben miteinander verband.
»Es scheint sich um das Schweinegrippevirus zu handeln, mit dem wir 2009 schon mal Probleme hatten«, sagte Ben. »Aber warte, ich glaube, sie sagen gerade etwas darüber.«
Im Studio war ein Mann mittleren Alters und mit lichtem Haar erschienen, der von der Moderatorin als Professor Grubinger von der Berliner Charité vorgestellt wurde. Offenbar eine Instanz in Sachen Virenforschung.
»Herr Professor Grubinger, Statistiken besagen, dass in den Erkältungs- und Grippezeiten einer von sechzig Menschen mit Viren infiziert ist. Ist das wahr?«
»Das ist richtig. Ein infizierter Mensch kann andere Menschen auch dann schon anstecken, wenn er selber noch gar nichts von der Krankheit bemerkt hat. Die Inkubationszeit beträgt ein bis fünf Tage. Die echte Grippe ist eine hochansteckende Krankheit mit einem sogenannten Kontagiositätsindex von fünfzehn bis fünfundsiebzig Prozent. Das heißt, fünfzehn Prozent der gesunden Erwachsenen mittleren Alters, die mit einem Influenza-Virus in Kontakt kommen, stecken sich an. Bei Personen mit schwachem oder geschwächtem Immunsystem klettert der Anteil auf fünfundsiebzig Prozent.«
»Trifft das auch auf dieses Virus zu?«
Der Mann nickte, und seine Sorgenfalten schienen dabei noch ein bisschen tiefer zu werden. »Das stimmt. Die Inkubationszeit, also der Zeitraum, der zwischen der Infektion und dem Auftreten der ersten Symptome liegt, ist kürzer als bei der normalen Influenza. Er liegt zwischen einem und drei Tagen. Neu ist auch der Anstieg der Latenzzeit, also die Dauer, nach der ein infizierter Mensch selber Viren absondert und damit andere Menschen infizieren kann. Sie beträgt in diesem Fall bis zu sechs Tage. Rechnet man dann noch die Schwere der Infektion hinzu, die einen Anstieg der Körpertemperatur auf bis zu 42 °C bewirkt, kommen wir in Bereiche, die für jeden von uns lebensgefährlich werden.«
»Wie kommt die Übertragung zustande? Wie kann man sich schützen?«
»Die Ansteckung erfolgt über Tröpfcheninfektion. Wenn jemand, der infiziert ist, niest oder hustet, fliegen die Viren mit einer Geschwindigkeit von einhundertsechzig Stundenkilometern und bis zu vier Meter weit durch die Luft. Über die Mund- oder Nasenschleimhaut sowie die Bindehaut geraten die Viren in der Folge in den Blutkreislauf und beginnen, sich zu vermehren. Insbesondere in Zeiten, wo beinahe jeder hustet oder niest, sollte man daher Menschenansammlungen meiden. Wenn das nicht möglich ist, wäre es ideal, eine Grippeschutzmaske zu tragen, oder zumindest darauf zu achten, dass man den Mund geschlossen hält, sich möglichst wenig ins Gesicht fasst und niemandem die Hand gibt.«
»Herr Professor Grubinger, können Sie uns etwas über diesen speziellen Erreger sagen? Ist ein Ausbruch in dieser Jahreszeit und in dieser Heftigkeit nicht sehr ungewöhnlich? Was ist das für ein Erreger, der um diese Jahreszeit auftritt?«
Eine kurze Pause entstand. Ben glaubte, ein kurzes Flackern in Grubingers Augen zu sehen. Sein Blick wanderte nach rechts, als würde er nach jemandem suchen, der irgendwo hinter der Kamera stand. Um was zu tun – sich die Erlaubnis zum Weitersprechen zu holen? Als er endlich antwortete, wählte er seine Worte mit Bedacht.
»Sie haben recht«, sagte er zu der Moderatorin. »Es ist eine ungewöhnliche Jahreszeit und ein ungewöhnliches Virus. Die Quelle, den Ursprung, konnten wir noch nicht ermitteln, doch wir vermuten, dass es in einem der großen Viehhöfe in der Tschechischen Republik entstanden ist. Im Moment findet eine intensive Überprüfung aller in Frage kommenden Betriebe statt. Was das Virus so gefährlich macht, ist seine relativ kurze Inkubationszeit. Die Ansteckungsrate – der sogenannte R-Null-Wert – liegt bei zwei und ist damit doppelt so hoch wie bei der normalen Influenza. Dieser Wert, der die Reproduktionsrate des Virus, die Inkubationszeit und die Empfänglichkeit bei den Betroffenen einkalkuliert, liefert uns einen Anhaltspunkt für das Ausmaß der Epidemie. In unserem Fall kommen auf tausend erkrankte Personen dreitausend neue Ansteckungen binnen der nächsten achtundvierzig Stunden. Das klingt nicht nach viel, aber rechnen Sie das mal mit dem Faktor hundert oder tausend hoch, dann kommen Sie in astronomische Dimensionen. Daran können Sie ermessen, wie gefährlich diese Seuche ist. Bei Pocken liegt der Wert übrigens noch höher, nämlich bei drei, bei Polio sogar bei vier bis sechs.«
»Gilt nicht das Grippevirus als eines der gefährlichsten überhaupt, weil es sich ständig verändert?«
»Das ist genau der Punkt. Auch wenn wir die Gründe für erhöhte Mutationsraten bei Influenzaviren kennen und feststellen, warum diese genetischen Veränderungen auftreten, so ist es doch fast unmöglich, daraus Vorhersagen abzuleiten. Das führt dazu, dass aus einfachen Epidemien häufig Pandemien werden. Ein klassisches Beispiel ist die Spanische Grippe, die zwischen 1918 und 1920 einige Millionen Todesopfer forderte. Offizielle Quellen sprechen von fünfundzwanzig, inoffizielle von bis zu fünfzig Millionen Toten. Das ist durchaus vergleichbar mit der Pest von 1347, die damals ein Drittel der europäischen Bevölkerung dahingerafft hat. Das Schweinegrippevirus A / H1N1 ist übrigens ein Subtyp genau dieser Spanischen Grippe und damit ein äußerst gefährlicher Kandidat. Doch zum Glück konnte ein Pharmakonzern, dessen Namen ich aus rechtlichen Gründen hier nicht nennen darf, ein Gegenmittel entwickeln, das bereits in großem Maßstab hergestellt wird, so dass es zu keinerlei Engpässen bei den Gesundheitsämtern kommen dürfte. Das ist ein riesengroßes Glück, da sich die bisherigen Virenstämme gegen den gängigen Impfstoff als resistent erwiesen haben. Ich kann nur jedem Zuschauer dringend raten: Gehen Sie zu Ihrem Hausarzt, lassen Sie sich impfen, und empfehlen Sie diesen Schritt auch Ihren Freunden, Bekannten und Familienangehörigen. Je eher wir diese Krankheit im Keim ersticken, desto besser.«
»Herr Professor Grubinger, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.«
Ben schaltete den Receiver aus und den DVD-Player an. Dann nahm er die Silberscheibe aus der Hülle und legte sie ein.
»Komische Sache, oder?«
»Was meinst du?«
Er zögerte. »Ich weiß nicht genau, wie ich das beschreiben soll. Fandest du es nicht komisch, wie er reagierte, als er zu diesem speziellen Erreger befragt wurde? Als stünde da noch jemand im Hintergrund, der erst sein Okay geben müsse.
Und ist es nicht ein riesengroßer Zufall, dass zu dem Zeitpunkt, an dem die Epidemie ausbricht, bereits das Gegenmittel vorhanden ist? Normalerweise dauert es Wochen oder Monate, bis ein Impfstoff freigegeben wird. Da sind zig Durchläufe und Testverfahren nötig.« Er drückte den DVD-Player auf Start. »Und noch etwas irritiert mich. Es mag ein Zufall sein, aber diese Sache mit Rotterdam will mir einfach nicht aus dem Kopf. Ein Virus, das so gefährlich ist, dass die amerikanische Regierung um Nachrichtensperre bittet? Und plötzlich, aus heiterem Himmel, bricht irgendwo eine neuartige, tödliche Krankheit aus?«
»Kein Grund, paranoid zu werden.« Magda strich ihm über den Rücken. »Ist bestimmt nur ein Zufall. Wenn es dich beruhigt, kann ich deinen Vater ja mal fragen. Ich habe morgen wieder Schicht an der Uniklinik. Wäre das okay?«
Ben nickte. »Aber sag ihm nicht, dass das von mir kommt. Er hält mich sonst für verrückt.«
»Das tut er eh schon«, sagte sie lachend. »Aber ich werde so tun, als wäre ich diejenige, die sich Sorgen macht, wenn dich das beruhigt. Er hält uns Frauen sowieso alle für hysterisch. Und jetzt leg los mit deinem Wicker Man. Ich will endlich wissen, was es mit diesem Heidenkult auf sich hat.«
Am nächsten Tag …
Es war kurz nach vier, als Magda in der Uniklinik eintraf. Sie drückte ihren Ausweis gegen die Stempeluhr, meldete sich beim Pförtner, zog sich schnell um und betrat dann den Aufzug, der sie nach oben brachte. Die Stationen für stationäre Behandlungen lagen im siebzehnten Stock des Bettenhauses; von dort hatte man einen phantastischen Blick über die Stadt. Richtung Nordosten waren der Dom und der Fernsehturm zu sehen, an schönen Tagen konnte man sogar bis hinüber zur Eifel und zum Hohen Venn blicken. Bens Vater, Professor Sebastian Eigel, war leitender Oberarzt in der Poliklinik für Strahlentherapie und eine absolute Koryphäe auf seinem Gebiet. Er betreute das sogenannte Cyberknife, eine Vorrichtung zur hochpräzisen strahlentherapeutischen Behandlung von Tumoren und Metastasen im Kopf- und Halsbereich. Mit ihm konnten auch Eingriffe an Lunge, Leber und Rückenmark vorgenommen werden. Das Cyberknife-System war eine revolutionäre Erfindung im Bereich der Medizin: ein leichtes und kompaktes Bestrahlungsgerät, das an einem Roboterarm befestigt war und jede Bewegung des Patienten im Sub-Millimeterbereich verfolgen und ausgleichen konnte, weswegen man auf belastende Kopf- oder Körperbefestigungen verzichten konnte. Der Operationsraum erinnerte an die Brücke eines Raumschiffs aus Star Trek und war mit Sicherheit ebenso teuer. Ein quadratischer weißer Raum mit einer runden Deckenbeleuchtung, die wie ein riesiges Auge wirkte.
In der Mitte stand die Liege, daneben befand sich das Herzstück der Anlage: der Computerarm. Voll ausgefahren gute drei Meter hoch, mit einer Hülle aus weißem Kunststoff und einem Kopf, der an das Alien aus dem gleichnamigen Kinofilm erinnerte. Obwohl Magda wusste, dass dieses Gerät eine großartige Erfindung war, lief ihr bei seinem Anblick jedes Mal ein kleiner Schauer über den Rücken. Hätte man den Arm nicht irgendwie sympathischer gestalten können? In warmen Farben und mit einem Gesicht, das einen nicht gleich vor Angst zusammenzucken ließ? So ein nettes kleines Robotergesicht wie bei Wall-E. Niemand hätte Angst, von Wall-E behandelt zu werden, oder? Wenn das Gerät dann noch während der Behandlung beruhigende Laute ausstieß, würde sich sogar Magda probehalber auf die Behandlungsliege legen.
Aber niemand außer ihr schien sich über solche Details Gedanken zu machen. Effizient musste so ein Apparat sein, präzise, ergonomisch und effektiv. Und vor allem musste er die enormen Kosten wieder hereinholen, weswegen er rund um die Uhr in Betrieb war. Bens Vater war einer der wenigen, die dieses Gerät bedienen konnten. Seine Arbeit entsprach mehr der eines Programmierers als eines Arztes, aber natürlich konnte er, wenn es darauf ankam, auch selbst operieren. Als Magda ihn eines Tages gefragt hatte, ob er eventuell einen Job für sie hätte, hatte er ihr überraschend einen Platz in seiner Abteilung angeboten. Klar, Magda war keine ausgebildete Krankenschwester, aber sie konnte gut mit Leuten umgehen, und in Anwesenheit eines hübschen Mädchens trauten sich die wenigsten, sich von ihren Ängsten und Bedenken runterziehen zu lassen. Magda war unkompliziert, lachte gerne und brachte mit ihrer offenen Art Schwung in den Laden. Auch wenn Professor Eigel es nicht gerne sah, wenn sie allzu sexy herumlief.
Als sie den Fahrstuhl verließ, rannte sie Kurt über den Weg. Der Chef des Pflegeteams schob einen Wagen mit sterilen Bandagen vor sich her und schien augenscheinlich bester Laune zu sein. Als sein Blick zu ihr herüberwanderte, erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht. »Hallo Magda, schön, dich zu sehen. Na, wie sieht’s aus, nettes Wochenende gehabt?«
»Ist leider schon wieder viel zu lange her«, antwortete sie.
»Aber ja, es war schön. Ich war mit Ben auf dem Ritterfest in Satzvey. Schon mal davon gehört?«
»Gehört? Ich war sogar selbst schon dort. Nette Location. Sehr pittoresk. Ich wusste gar nicht, dass du dich so fürs Mittelalter interessierst.«
»Tue ich eigentlich auch nicht. Ben war mit seinem Verein da. Sie haben ein paar Schaukämpfe veranstaltet und wurden dabei vom WDR gefilmt. Der Beitrag müsste diesen Freitag auf Sendung gehen. Wenn du Lust hast, schicke ich dir mal einen Link.«
»Das würde mich freuen. Bei mir war es auch sehr schön. Ich habe Veronika einen Antrag gemacht, und stell dir vor, sie hat angenommen.«
Magda riss die Augen auf. »Du heiratest?«
»Am 31. Oktober. Halloween. Ein Termin, den man sich gut merken kann, wie ich finde.«
»Aber das ist ja großartig. Ich freue mich so für dich.« Sie umarmte ihn und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Sie mochte Kurt, er war immer nett zu ihr gewesen.