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Klara ist nicht wie andere Kinder in einem stinknormalen Haus aufgewachsen. Denn Klaras Vater gehört eine Geisterbahn, und ihr Zuhause ist der Freizeitpark Fabelville. Außerdem hütet sie ein Geheimnis: Die Gespenster aus der Geisterbahn sind nicht nur echt, sondern auch ihre besten Freunde! Doch der geliebte Freizeitpark ist in die Jahre gekommen und steht kurz vor dem Aus. Als sich dann auch noch ein fieser Parkkritiker ankündigt und Klara ein böser Geist entwischt, müssen sie und ihre Gespensterfreunde alles geben, um Fabelville zu retten!
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Seitenzahl: 205
Cover
Über die Autoren
Titel
Impressum
Widmung
Karte
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Epilog
Lea Melcher, geboren 1994, illustriert und schreibt in Mainz. Nach einem Masterstudium in Mediendramaturgie, einer Zwischenstation in Paris und einem Job beim Fernsehen hat sie sich selbstständig gemacht. Seitdem arbeitet sie als Illustratorin und Autorin für verschiedene Verlage. Immer dabei: Ihre flauschigen Katzenhelfer Dino und Kobold.
Jonas Hoppe, geboren 1993, hat Mediendramaturgie studiert, liebt Videospiele und arbeitet seit mehreren Jahren beim Fernsehen. Gemeinsam mit Lea Melcher schreibt er Kinderbücher, die er als Kind selbst gerne gelesen hätte. Er lebt mit Lea und seinen beiden Katzen in Mainz.
Larisa Lauber ist Illustratorin und lebt in Berlin. Nach ihrem Diplom im Jahr 2000 arbeitete sie viele Jahre als Animatorin für Trickfilme. 2014 war es an der Zeit, etwas Neues auszuprobieren, und so hat sie begonnen, Kinderbücher zu illustrieren.
Klara und die Geisterbahn
Mit Illustrationen von Larisa Lauber
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Baumhaus in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Die Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: Tanja Østlyngen unter Verwendung einer Illustration von Larisa Lauber
Vorsatzmotiv und Kapitelanfangsillustrationen: Lea Melcher, Mainz
eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-0961-3
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Sie finden uns im Internet unter luebbe.de
Für unsere beiden Geisterkatzen
»Willkommen, meine Damen und Herren, am wohl gruseligsten Ort der Welt: Klaras Gruselkabinett! Es erwartet Sie ein noch nie empfundenes Grauen und ein Schrecken, von dem manch einer sich bis heute noch nicht erholt hat!« Theatralisch riss Klara ihre Arme über den Kopf und sah dabei zu, wie die vor ihr versammelten Besucher vor wohliger Angst zurückwichen. Auch wenn sie nach außen hin eine furchterregende Grimasse aufsetzte, grinste sie in sich hinein. Ottilie hatte mit ihrer Geisterschminke mal wieder ganze Arbeit geleistet und Klaras elfjähriges Gesicht in eine fürchterliche Fratze verwandelt. Dazu ein altes Bettlaken, ein paar Ketchup-Flecken, und sie sah fast schon aus wie ein echtes Gespenst (zumindest für Leute, die nicht wissen, wie ein echtes Gespenst aussieht). Manchmal fragte sie sich, warum ihr Vater eigentlich darauf bestand, dass sie sich abends abschminkte, nur um den ganzen Grusel am nächsten Morgen wieder in ihr Gesicht zu pinseln.
Schließlich war heute der erste Tag der Herbstferien, was bedeutete, dass zwei Wochen voll Spuk und Schabernack vor ihr lagen – oder anders ausgedrückt: die beste und gruseligste Zeit des Jahres!
Es war gerade einmal elf Uhr am Morgen, aber in der Geisterbahn war es trotzdem stockdunkel. Die Ahnengalerie, in der sich die Besucher vor Klara in die Ecke kauerten, war nur durch flackerndes Kerzenlicht erhellt, das die Spinnweben glitzern ließ, die sich um die alten Gemälde rankten.
Noch bevor die Besucher kapierten, was geschah, spürte Klara, wie der Boden unter ihren Füßen vibrierte. Schreie ertönten, als der Raum sich auf einmal knarzend und quietschend zu drehen begann und die gerade noch bewegungslosen Gemälde auf einmal flackerten. Bläuliche Geisterkreaturen waberten von einem Gemälde ins nächste. Sie versetzten die edle Lady im ersten und die Kinder im dritten Rahmen in Angst und Schrecken, während der Mann mit Zylinder im mittleren sich auf einmal in ein Skelett verwandelte.
Aber Klara hatte nur Augen für die Gesichter der Besucher, die sich voller Angst verzerrten. Nichts an der Geisterbahn kam ihr nach all den Jahren noch gruselig vor, und sie fand es immer wieder spannend, wie sich das Publikum des Geisterspektakels vor den einfachsten Effekten erschreckte.
Wobei das dem ausgeklügelten System des Gruselkabinetts vielleicht nicht ganz gerecht wurde – schließlich gehörte Klaras Vater nicht irgendeine Geisterbahn, sondern die gruseligste in ganz Europa!
Immer wieder wurde er nach seinem großen Geheimnis gefragt, wie er es schaffte, auch den hartgesottensten Freizeitpark-Liebhabern einen Schrecken einzujagen. Und er hatte meist nur mit den Schultern gezuckt und geantwortet: »Davon müssen Sie sich schon selbst überzeugen!«
Dabei wusste er selbst überhaupt nicht, was diesen speziellen Zauber seiner Geisterbahn ausmachte. Er glaubte immer noch, dass es einfach die Kombination aus moderner Tricktechnik und liebevoll gestalteten, sich mechanisch bewegenden Puppen war, an denen er über die Jahre hinweg mit Leidenschaft gefeilt hatte.
Ein Grinsen schlich sich auf Klaras Gesicht, das sie schnell versuchte zu unterdrücken. Nur sie kannte das Geheimnis dieser Geisterbahn.
In diesem Augenblick ging das Licht aus, gleich darauf fiel der Admiral an einem Seil von der Decke. Die Besucher pressten sich an die Wände des Raumes, der mit einem Mal von einem bläulichen Schimmer erhellt wurde. Der buschige Geisterschnurrbart des Admirals tanzte wild in seinem Gesicht auf und ab, als er den Mund aufriss und ein Lachen ausstieß, das Klara immer noch eine Gänsehaut bereitete, egal wie oft sie es hörte. Okay, vielleicht ließ sie der Grusel der Geisterbahn doch nicht ganz kalt, aber anders als bei den erschrockenen Besuchern war die Gänsehaut auf ihren Armen Klaras absolutes Lieblingsgefühl. Die mutigen Besucher, die noch nicht die Hände vor das Gesicht geschlagen hatten, kauerten sich jetzt doch auf dem Boden zusammen, als der Admiral wie ein kapernder Pirat an seinem Seil durch den Raum fegte. Er zwinkerte Klara zu, und sie nickte. Der Admiral gehörte zu ihren ganz speziellen blauen Freunden – echten Gespenstern, die in der Geisterbahn ihres Vaters hausten und ihr jenen Charme verpassten, der sie über die Jahre so berühmt gemacht hatte. Klara und die Geister waren ein eingespieltes Team!
Aber dann fiel Klara der Junge auf, der mitten im Raum stehen geblieben war. Sein rotes Haar trotzte dem bläulichen Schimmer, der vom Admiral ausging, wild stand es in alle Richtungen ab, als wäre sein Kopf selbst eine Art wirbelnder Morgenstern. Er wirkte vollkommen unbeeindruckt und starrte mit in den Nacken gelegtem Kopf zum Admiral hinauf, sodass Klara sein Gesicht nicht sehen konnte. Sie rümpfte die Nase und machte den Admiral mit wilden Gesten auf den Ungegruselten aufmerksam. Dass jemand den ersten Raum des Gruselkabinetts unerschrocken überstand, kam vielleicht höchstens einmal im Jahr vor – und dann handelte es sich dabei meist um eine abgebrühte alte Lady und nicht um einen Jungen, den Klara kaum älter schätzte als sich selbst. Das war ja geradezu eine Frechheit! Der Admiral stieg bis unter die hohe Decke des Ahnensaals empor und schoss dann auf den Jungen zu, sein geschwungener Schnurrbart rotierte wie ein wild gewordenes Sägeblatt.
Normalerweise war das sogar bei den heldenhaftesten Besuchern ausreichend, aber der Junge rührte sich noch immer nicht von der Stelle. Der Admiral zögerte, warf Klara einen zerknirschten Blick zu und raste dann direkt in den Jungen hinein.
Selbst Klara sprang zurück, als der Admiral mit gezogenem Säbel durch den Jungen hindurchfegte, obwohl sie bei ihm schon einige Kampfstunden mit einem Holzbesenstiel bestritten hatte. Wenn es mal vorkam, dass einer der Geister durch Klara glibberte, wie sie und die Geister es nannten, dauerte es einen ganzen Abend voll heißem Tee, Wärmflaschen und Daunendecken, bis sie aufgehört hatte zu schlottern. Aber der Junge drehte sich einfach nur um und sah dem Admiral nach, als er durch die Decke wieder in der Dunkelheit verschwand. Bevor Klara sich sein Gesicht jedoch näher angucken konnte, hatte der bläuliche Lichtschein mit dem Admiral den Raum verlassen. Es folgte ein Moment der Dunkelheit, in dem nichts zu hören war außer dem Zähneklappern der verängstigten Geisterbahnbesucher. Klara versuchte, das Gesicht des Jungen mit heftigem Blinzeln in der Dunkelheit auszumachen – vergebens! Als sich mit einem unheimlichen Säbelrasseln eine der Wände als Tür entpuppte und rot flackerndes Licht in die Ahnengalerie fiel, sah sie sich hektisch nach dem Jungen um, aber er war wie vom Erdboden verschluckt. Plötzlich spürte Klara eine eiskalte Hand durch die Wand hinter sich gleiten und hörte den Admiral flüstern: »Los, Klara, weiter geht’s!«
Sie stolperte nach vorne. »Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, folgen Sie mir!«, rief sie mit ihrer besten Grabesstimme. »Der einzige Weg aus diesem verfluchten Gebäude führt … mitten in es hinein!« Aus dem Gesicht des Mannes vor ihr war bei diesen Worten jede Farbe gewichen, und er klammerte sich ängstlich an seine Tochter, die für diese Attraktion eigentlich noch viel zu klein war. Klara zwinkerte ihr zu und setzte die Reise in das verfluchte Gebäude fort. Als Klara die Besucher den schmalen Gang entlangführte, durch den immer nur eine Person nach der anderen passte, schaffte sie es kaum, nicht ständig über ihre Schulter zu lugen und nach dem Jungen Ausschau zu halten. Mit jahrelanger Routine wich Klara den mechanischen Händen aus, die aus den Wänden kamen, und hechtete in genau jenem Moment nach vorn, als eine Wasserfontäne von der Decke schoss. Durch die Schreie der Besucher hörte sie schon Ottilies Klagegesänge.
Die wartete bereits bei den Kutschen auf die Verängstigten, das zerschlissene Königinnengewand in ihren typischen bläulichen Schein getaucht, eine scharfzackige Krone auf dem Kopf. Blitze zuckten auf der Leinwand hinter ihr, die den Eindruck erweckte, als würde die Geisterbahn mitten in einem gruseligen Moor stehen und nicht in der hintersten Ecke eines alten Freizeitparks namens Fabelville. Künstliches Blut tropfte von den Zipfeln von Ottilies Kleid herab, als sie sich mit hohen Klagelauten in die Luft erhob und über die verängstigte Meute hinwegglitt.
»Bitte steigen Sie ein!«, grollte Klara, als die schwarz lackierten Kutschen auf ihren Metallschienen vor den Besuchern zum Stehen kamen. Während sie ihnen beim Einstieg half, blickte Klara sich im Halbdunkel wieder nach dem Jungen mit den roten Haaren um. Dann setzten sich die Gruselkutschen in Bewegung. Aus den versteckten Lautsprechern im Hintergrund tönte ein Pferdewiehern – und Klara sah auf einmal tatsächlich den roten Haarschopf des Jungen in einem der Gefährte davongleiten. Er hatte sich irgendwie an ihr vorbeigeschlichen!
»Wieso ist deine Stimme so tief, du bist doch nur ein kleines Mädchen!«, spottete ein Teenager, der im letzten der Gefährte saß und kurz darauf mit diesem in der Dunkelheit verschwand. Eigentlich sollte sich Klara über eine solche Reaktion nicht mehr wundern. Das war nicht das erste Mal, dass jemand so reagierte, wenn er merkte, dass ein Kind in der Geisterbahn arbeitete. Der Admiral gab Klara vor jedem Durchlauf der Geisterbahn deshalb ein Bonbon aus seinem nie ausgehenden Vorrat an Geistersüßigkeiten, das ihre Stimme tiefer machte und ihren Mund bläulich zum Leuchten brachte, wenn sie ihn in der Dunkelheit öffnete. Was konnte sie denn dafür, dass sie erst elf Jahre alt war? Ihr Alter würde Klara auf dem Weg zur perfekten Gruselshow jedenfalls nicht im Wege stehen – dafür würde sie schon sorgen!
Bevor Klara wieder die Schienen erreichte, bog sie durch eine kleine Tür ab und fand sich in einem Raum wieder, der mindestens so staubig war wie der Rest des Kabinetts, aber hier gehörte es nicht zur Show. Sie musste heftig niesen und rutschte dann auf den riesigen alten Bürostuhl, hinter dem sie sich immer vorkam wie ein Bösewicht, der einen dunklen Plan ausheckte. Die Monitore vor ihr, die ihr die Geisterbahn aus allen möglichen Winkeln zeigten, verstärkten dieses Gefühl: Schwarz-weiß flimmerten die angstverzerrten Gesichter der Besucher über die Bildschirme. Klara beugte sich vor und suchte einen Wagen nach dem anderen nach den wirren Haaren des Jungen ab.
Ihr Blick blieb kurz am Gruselwald hängen, wo ihr Vater mal wieder irgendwelche Schrauben festdrehte, während die Geisterbahn fuhr. Der hatte Nerven! Mit seinen grauen Locken und dem mit Schmieröl befleckten Gesicht konnte er aber fast als eine der Attraktionen durchgehen.
Doch bevor die ersten Besucher ihren Vater durch die monsterhaft verformten Bäume samt ihrer dürren Spinnenäste entdecken konnten, ließ ein Schrei alles um Klara herum erzittern. Das Blut gefror in ihren Adern. Sie begann auf der Stelle am ganzen Körper zu schlottern. Sie kannte diesen Schrei. Das letzte Mal hatte sie ihn vor einem Jahr gehört: Als ihre Mutter von einem Tag auf den anderen verschwunden war und Olaf realisierte, dass sie nie mehr zurückkommen würde. Der Schrei war so Furcht einflößend, wie ihn nur echte Geister ausstoßen können – so voller Angst und Horror, dass Klara augenblicklich von ihrem Bürostuhl hochschoss. Denn wenn selbst Gespenster Angst hatten, dann musste etwas wirklich Furchtbares geschehen sein!
Auf den Monitoren sah Klara, wie die Besucher panisch aus den Gruselkutschen kletterten und durch die Tunnel der Geisterbahn rannten. Sie griff nach dem Mikrofon, hielt den Sprechknopf gedrückt und sagte mit ihrer besten Erwachsenenstimme: »Bleiben Sie bitte ruhig. Es ist alles in Ordnung, das war nur ein besonderer Trick, der aber vollkommen harmlos ist.«
Das Licht der Monitore ließ ihre Gänsehaut auf den Unterarmen erstrahlen. So fühlte es sich also an, wenn man Angst hatte. Was war nur geschehen?
Sie riss die Tür vom Kontrollraum auf und kletterte in die Geisterbahn zurück. Klara lief die nur schwach erleuchteten Schienen entlang, bis im Halbdunkel die letzte Gruselkutsche auftauchte. Einer der Besucher hatte wohl die dort platzierte Notausgangstür gefunden. Tageslicht ergoss sich quer über die Schienen und ließ die alte Geisterbahn völlig ramponiert aussehen – und überhaupt nicht mehr gruselig.
»Hallo, ist da jemand?«, rief Klara, vom Tageslicht geblendet. Als niemand auf ihre Rufe reagierte, schloss sie mit einer energischen Bewegung die Notfalltür und schaltete das Innenlicht ein, das den Tunnel gerade genug erhellte, dass man etwas erkennen konnte. Der Admiral, Ottilie und Olaf waren ziemlich sonnenempfindlich.
Plötzlich hörte sie hinter sich ein Knurren. Klara fuhr herum und erwartete schon, dass sie von einem Monster überfallen würde, aber dann sprang der Geisterkater Schleck mit einem Maunzen auf ihren Arm.
»Ach, du bist es nur!«
Er begann direkt zu schnurren, und Klara fragte sich, warum sie auf einmal so schreckhaft geworden war. Etwas stimmte in dieser Geisterbahn nicht, aber niemand kannte sich hier so gut aus wie sie, und sie würde der Sache jetzt auf den Grund gehen!
Es war immer wieder ein seltsames Gefühl, einen Geisterkater auf dem Arm zu halten, insbesondere wenn er schnurrte. So stellte sie es sich ungefähr vor, wie es sich anfühlen musste, einen kuscheligen Wackelpudding mit sich herumzutragen. Schleck leckte ihr mit seiner schleimigen Geisterzunge über die Wange, bei der sie immer noch nicht herausgefunden hatte, ob es sich nicht vielleicht doch um eine lebendige Nacktschnecke handelte. Klara verzog das Gesicht und wischte es an ihrem Gespensterkostüm-Bettlaken ab.
»Hast du den Schrei gehört, Schleck?«, flüsterte sie, während sie sich vorsichtig den Geisterkutschen näherte. Außer ein paar heruntergefallenen Popcorn-Brocken, die Schleck mit seiner ewig langen Zunge wie ein Frosch vom Boden putzte, fand Klara alles so vor, wie es sich gehörte. Gemeinsam mit Schleck passierte sie das Zelt der mechanisch betriebenen Wahrsagerin, wo es immer nach Zimt und Nagellack duftete und sich ihr Gesicht in der milchigen Glaskugel spiegelte. In Fabelville gab es auch eine echte Wahrsagerin, Madame Esmeralda, aber die fand Klara ein bisschen seltsam – ihr war die mechanisch betriebene Version einer Wahrsagerin deutlich lieber.
Schleck kroch zitternd unter ihr Bettlakenkostüm. Das hier war Klaras Zuhause. Hier hatte sie an Tagen außerhalb der Parksaison mit ausrangierten Puppenteilen neue Kreaturen erschaffen (ihr erklärter Favorit: der dreiarmige Kürbisvogel mit Schielaugen).
Sie hatte mit ihren Eltern Verstecken gespielt, und an ihrem Geburtstag durfte sie sich immer einen Ort in der Geisterbahn aussuchen, um dort zu übernachten. Das Zelt der Wahrsagerin war einer ihrer Lieblingsorte, weil sich über ihrem Zelt ein künstlicher Sternenhimmel drehte und ihre Samtkissen unfassbar weich waren. Als Nächstes folgte ihr absoluter Lieblingsraum: der Ballsaal, in dem der Admiral mit Ottilie immer seine neu erfundenen Schrittkombinationen auf das Parkett brachte und die reich gedeckte Tafel aussah, als hätte dort soeben noch ein rauschendes Fest stattgefunden. Hier war es Olafs Aufgabe, Orgel zu spielen und den Besuchern den ein oder anderen Streich. Aufgrund seiner kreativen Einfälle (er war zu Lebzeiten Hofnarr gewesen) war der Ballsaal eine der beliebtesten Stationen in Klaras Gruselkabinett.
Doch sofort merkte Klara wieder, dass heute etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Schlecks kleiner Körper spannte sich unter ihrem Gespensterbettlaken an, noch bevor sie sah, was hier überhaupt los war. Das gebratene Ferkel (für die Geisterbahn natürlich aus Plastik angefertigt) thronte nicht wie sonst immer in der Mitte der Tafel, umgeben von Blutwein und Glasaugen, die wie Trauben angeordnet waren. Stattdessen schwebte es unter der aufwendig verzierten Decke und drehte sich dort, als würde es noch immer über dem Spieß brutzeln. Wie ein nebliger Schleier hingen dabei Spinnenweben vom Ferkel herab, die sich ebenfalls langsam mitdrehten. Das sah nach der Arbeit eines ganz bestimmten Gespenstes aus! Ein bläulicher Schleier umgab das Ganze, wodurch Klaras Verdacht sich erhärtete.
»Olaf?« Klara baute sich direkt unter dem sich drehenden Spanferkel auf, die Hände in die Hüften gestemmt, und versuchte, wie eine wirklich vernünftige Erwachsene zu klingen. Das funktionierte leider nicht besonders gut, da das Geisterbonbon des Admirals beinahe zu Ende gelutscht war.
Trotzdem erklang aus dem Spanferkel ein Schluchzen, das den ganzen Ballsaal erzittern ließ. »Klaaaraaaaa!«
Olafs Stimme klang kein bisschen gruselig, weshalb sich Schleck endlich aus Klaras Kostüm traute und sich maunzend unter dem Spanferkel positionierte, als wollte er es im nächsten Moment verspeisen.
»Olaf, was ist denn passiert?«
Noch ein Schluchzen ertönte aus dem Ferkel – und dann ein ohrenbetäubendes Geisterniesen, das die Glasmurmeln auf dem Tisch zum Klirren brachte. Klara hob die Hände schützend über ihren Kopf, als der dadurch aufgewirbelte Staub von der Decke fiel. Schleck dagegen streckte seine Zunge aus und ließ die Staubkörner mitten in sein geöffnetes Maul herabregnen. Dieser Kater fraß einfach alles!
Schleck schmatzte genüsslich und rollte sich anschließend auf der Platte zusammen, auf die eigentlich der Schweinebraten gehörte. Wenn es nach ihm ginge, hätte die Bahn wohl direkt wieder geöffnet.
»Olaf«, säuselte Klara beruhigend. »Willst du mal da runterkommen?«
»Neeeein«, heulte Olaf bitterlich. »Ist er denn weg?«
»Wer?« Klaras Augen huschten durch den Ballsaal, in dem sich außer dem Spanferkel und Schlecks schnarchender Brust nichts bewegte. »Wen meinst du, Olaf?«
»Na, den Juuuungen.« Sein Geheule hallte von den hohen Wänden wider. Wenn sich noch irgendjemand außer Klara in der Geisterbahn befand, dann hörte er gerade garantiert jedes Wort.
Sie verengte ihre Augen zu Schlitzen. »Hatte er rote Haare, die wie Kraut und Rüben in alle Richtungen abstehen?«
Olaf heulte zur Antwort nur auf, was ungefähr so klang, wie wenn man mit Fingernägeln auf einer Tafel kratzte. Klara hielt sich die Ohren zu. Das war Antwort genug. Noch einmal sondierte sie den Raum und kletterte dann zu Schleck auf den Tisch, um einen besseren Überblick zu haben. »Jetzt komm schon raus, Olaf«, rief sie. »Hier ist niemand!« Nichts rührte sich. Die Drehbewegung des Spanferkels wurde langsamer.
»Siehst du, Olaf? Alles ruhig. Willst du jetzt runterkommen und mir sagen, was er dir getan hat?«
Ein herzzerreißendes Seufzen ertönte, dann segelte das Spanferkel von der Decke herab und landete sanft wie eine Feder in Klaras Armen.
»Olaf?«, sang sie und strich dem Plastikferkel über die Wangen.
Der blaue Schein begann zu glibbern wie Schlecks Geisterfell, wenn man es streichelte. Dann erklang ein schmatzendes Geräusch, und auf einmal wog das Ferkel schwer in Klaras Armen.
Olaf war herausgeschlüpft und kauerte sich jetzt unter dem Tisch zusammen. Nur noch die Zipfel seiner Narrenmütze guckten hervor. Klara hievte das Spanferkel auf die Servierplatte zurück und musste Schleck dafür zur Seite schieben. Er schlief jedoch ungestört weiter und kuschelte sich sogar an seinen neuen Ferkelfreund.
Klara sprang vom Tisch und ging in die Knie. »Olaf, jetzt ist doch alles gut. Was ist passiert?«
Olafs Gesicht war noch leichenblasser, als es bei einem Geist ohnehin schon der Fall war.
»Der Junge …«, stotterte Olaf. »Er ist ausgestiegen!«
»Aus der Kutsche?« Klaras Stimme überschlug sich bei diesen Worten. »Wo ist er hingelaufen?«
»Ich habe mir solche Mühe gegeben, schrecklich Furcht einflößend zu sein.«
»Schsch«, beruhigte sie ihn. »Du hast dein Bestes gegeben. Nein, das lag ganz bestimmt nicht an dir. Das lag an ihm! Da hat von Anfang an was nicht gestimmt.«
Olaf schluchzte erbärmlich, blau leuchtende Tränen flossen durch die Ritzen im Parkett. »Und … und dann ist er auf mich zugekommen, als ich gerade dabei war, der Puppe hier an der Tafel die Spaghetti aus der Nase zu ziehen. Und … und er hat…«
»Er hat was?«, fragte Klara und gab sich alle Mühe, ruhig zu klingen, dabei schlug ihr Herz bis zum Hals.
»Er ist auf mich zugekommen … und hat mich erschreckt!«
»Wie bitte?« Klara fuhr auf. »Er hat dich erschreckt?«
»Jaaa, erinnere mich nicht daran«, wimmerte Olaf, »Das ist ein schreckliches Gefühl, mir ist fast das Herz stehen geblieben.«
»Olaf, du hast kein Herz.«
»Das ist doch egal«, schluchzte Olaf. »Er hatte die Nerven, mir einen … mir einen Zaubertrick vorzuführen!«
Klara schüttelte empört den Kopf, aber ihre Gedanken fuhren die Strecke der Geisterbahn ab. Was, wenn der Junge tatsächlich noch hier war und irgendwas in der Geisterbahn anstellte?
Klara formte mit ihren Händen einen Trichter um ihren Mund. »Admiral? Ottilie? Könnt ihr mich hören?«
»Sie sind auf der Suuuuche nach dem Jungen«, heulte Olaf. Noch einmal beugte Klara sich zu ihm runter. »Ich verspreche dir, dass er dich nie mehr erschrecken wird, aber ich muss ihn schnappen, bevor er noch was Böses anrichtet. Du kannst ja einfach hier unter dem Tisch bleiben, bis ich wiederkomme, okay?«
Olaf nickte. »Bitte sei vorsichtig, Klara, er ist ganz und gar schauerlich und hat schreckliche Teufelsaugen.«
Sie nickte. »Mach dir keine Sorgen um mich. Ich habe ja Schleck dabei.«
Klara schnappte sich den noch schlafenden Kater von der Spanferkelplatte. Schleck ließ sich davon normalerweise nicht beirren. Es gab wenige Dinge, die ihn aus der Ruhe brachten, solange immer etwas zu fressen in der Nähe war und er seine tägliche Ration Popcorn bekam. Deswegen war Klara auch umso beunruhigter, als er sofort wieder aus dem Schlaf schreckte, sobald sie den Ballsaal verließen.
Kurz darauf gelangten sie in den Gruselwald, wo eine Armee aus knorrigen Bäumen auf sie wartete, aus denen gelbe Augen glommen. Der Kunstnebel, der immer noch über den Boden waberte, verwandelte die Szenerie in ein Dickicht, in dem man sich unglaublich gut verstecken konnte.
»Hallo?«, rief Klara ins Halbdunkel. Ihre Stimme hallte durch die verwinkelten Tunnel der Geisterbahn. Vorsichtig trat sie weiter in den Raum hinein, Schleck kauerte sich auf ihrem Arm zusammen. Er hätte sich auflösen oder verschwinden können, aber Klara rechnete es ihm hoch an, dass er sie trotz seiner Angst nicht verließ. Sie war nämlich ziemlich froh, in dieser Situation nicht allein zu sein. Im nächsten Moment musste sie über diesen Gedanken fast ein bisschen lachen. Klara, wovor hast du denn Angst?, fragte sie sich, hier geht es um einen Jungen, der so alt ist wie du, nicht um ein Jahrhunderte altes Gruselmonster.
»Hallo!«, rief Klara deswegen etwas bestimmter, aber nur die gelben Augen in den Astlöchern blinzelten ihr zu. Mit ausladenden Schritten teilte sie die dichte Nebeldecke und starrte angestrengt ins Nichts.
»Komm raus!«, rief sie, aber wieder rührte sich niemand, schon gar kein Junge mit wild abstehenden roten Haaren. Also änderte sie ihre Taktik und blieb ganz ruhig stehen. Vielleicht lief er hier ja irgendwo rum, und sie konnte ihn zwischen den knorrigen Bäumen überraschen. Schleck wollte allerdings nicht so richtig und zappelte auf ihrem Arm – bis ein Rascheln Klara auf einmal herumfahren ließ.
Eine Horrorfratze hing direkt vor ihrer Nase, nur wenige Zentimeter entfernt. Ihr Herz sprang gegen ihren Brustkorb, als wollte es am liebsten schleunigst das Weite suchen. Aber sie widerstand dem Impuls, öffnete ihren Mund und schrie der Fratze mitten ins Gesicht. Als sie sich nicht rührte, kapierte Klara schließlich, dass es sich um eine der mechanischen Puppen ihres Vaters handelte. Um genau zu sein um einen Sensenmann mit schwarzer Kutte, der sich zu Betriebszeiten der Geisterbahn abwechselnd nach links und rechts drehte. Bei ihrer Schleichtour durch den Wald war sie wohl an ihm hängen geblieben und hatte dadurch die Bewegung ausgelöst. Wie vieles in der Geisterbahn waren auch die Gruselpuppen teilweise eingerostet, obwohl ihr Vater wirklich alles daransetzte, sie gut in Schuss zu halten. Nur dafür reichte ein Paar Hände einfach nicht aus.
»Schleck, wenn wir so weitermachen, ertappen wir den Übeltäter niemals auf frischer Tat«, flüsterte sie dem kleinen Geisterkater zu, der sich mittlerweile wieder unter ihrem Bettlakenkostüm verkrochen hatte. Er gurrte nur tief, während Klara zwischen den knorrigen Ästen hindurch zu den Schienen zurückkletterte.